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Der Froschkönig Liebe mit Hindernissen Märchenbetrachtung von Chrisane Raeder

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Der Froschkönig Liebe mit Hindernissen

Märchenbetrachtung von Christiane Raeder

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Der Froschkönig – Liebe mit HindernissenMärchenbetrachtung von Christiane RaederHrsg.: StrohzuGold – Institut für Märchen & GestaltBurscheid, September 2012. www.strohzugoldspinnen.de

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Der Froschkönig – Liebe mit HindernissenEine Märchenbetrachtung

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5

„Das allerälteste und schönste Märchen“ 6 Die Grimms und ihr Märchen Worum es geht Die (Märchen-)Welt ist voll von Fröschen

Des Vaters schönstes Töchterlein 8 Die schöne Königstochter und ihr Ball Der Verlust der goldenen Kugel

Der Mutter Sohn 9 Einsam im Brunnen sitzt der Frosch

Es kann nicht bleiben, wie es ist 10 Klopfenden Herzens Die Stimme der Vernunft

Schöne Prinzessin, garstiger Frosch 11 Mach mir dein seiden Bettlein zurecht! Er nutzt die Chance, sie fügt sich – widerwillig

Das hat er nun davon! 13 Entzaubert Gegensätze ziehen sich an – oder?

Ende gut – alles gut? 14 Lieber ein Ende mit Schrecken... Zum guten Schluss

Anhang: Märchentext 16

Literatur 19

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Wenn ich Märchen tiefer verstehen möchte, habe ich verschiedene Möglichkeiten. Zunächst kann ich mich mit den Symbolen und Symbolfiguren des Märchens vertraut machen. In vorliegenden Beispiel sind es die Königstochter, der König, der Frosch und am Ende der treue Heinrich. Das Schloss spielt eine Rolle, der Wald, der Brunnen, die goldene Kugel und der Wagen mit acht wei-ßen Pferden ebenso wie die eisernen Ringe des Dieners. Weitere Hinweise kann mir der Märchentext selbst geben, wenn ich meinen Fragen folge: 1. Was sehe oder höre ich?2. Was fühle ich, was regt sich da in mir, was noch

nicht so genau zu benennen ist, mich aber irgendwie berührt?

3. Was denke ich? Welche Ideen habe ich zu dem, was ich im Märchen erkenne? Welche Meinung habe ich aus meiner Rolle heraus dazu?

Wenn diese drei Fragen beantwortet sind, kann ich mich mit der 4. Frage am roten Faden entlang hangeln: Was erschließt sich mir aus all dem, was ich bis hierher zusammen getragen habe?Damit werde ich zur Expertin meines Märchens. Ich kann mich nun mit Historikern und anderen Deutern an einen Tisch setzen, um mit ihrer Hilfe Lücken zu schließen, meine Deutung zu überprü-fen, zu bestätigen oder zu modifizieren. Grundsätzlich gilt: Es gibt so viele Deutungen, wie es Menschen gibt. Manches ist universell ähnlich zu deuten und allgemein gültig, anderes ist individuell zu sehen, hängt von der Situation ab, in der ich mich gerade befinde und vor den

Erfahrungen, die ich mitbringe. Auch der Hinter-grund meiner beruflichen, praktischen und the-oretischen Überlegungen, wird mich in meiner Deutung beeinflussen. Es macht einen Unterschied, ob ich Märchen als Lebensberater und -begleiter, als Spiegel der Sehn-süchte, Träume und Entwicklungsphasen meines Lebens betrachte, ob ich aus therapeutischer oder tiefenpsychologischer Sicht draufschaue, ob als Frau oder als Mann. Es macht einen Unterschied, ob ich mich in meinem Leben als Frosch fühle, als Prinzessin oder als König. Immer kann sich etwas Ähnliches oder etwas ganz anderes ergeben. Und schließlich: Ob es mit mir zu tun hat oder wie tief ich einsteigen möchte, das entscheide ich als Hö-rerin immer selbst.

In meiner Betrachtung wandere ich Schritt für Schritt durch das Märchen. Ich richte meinen Blick auf die Ereignisse und lasse auch andere zu Worte kommen. Hans Jellouschek und Bruno Bettelheim seien hier genannt. Jellouschek hat sich aus Sicht des Therapeuten mit dem Frosch-könig beschäftigt. Ihm verdanke ich hilfreiche Hinweise auf die Frosch-Prinzessin-Beziehung. Was für Sie als Leserin oder Hörerin von Bedeu-tung ist und Ihre Sicht auf das Märchen prägt, das entscheiden Sie selbst. Vielleicht ergibt sich der eine oder andere ganz neue Gedanke, dem es sich zu folgen lohnt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannen-de Reise durch des Froschkönigs Reich.

Christiane Raeder

Vorwort

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1 „Das allerälteste und schönste Märchen“

1.1 Die Grimms und ihr Märchen

Es ist die Nummer eins in der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen, und nach den Brü-dern Grimm eins der allerältesten und schönsten Märchen. Kaum ein Märchen und seine Bilder sind in so vielen Varianten und Kulturen erzählt worden wie Der Froschkönig. Eine Version ist be-reits im 13. Jh. erwähnt. Wesentlich älter ist das Bild vom Frosch, der zum König wird. Im antiken Werk des Petronius „Das Gastmahl des Trimal-chio (Kap. 77, über einen Neureichen) heißt es: Qui fuit rana, nunc est rex – Der ein Frosch war, ist jetzt König.

Dortchen Wild hat ihrem späteren Mann Wilhelm Grimm das Märchen – vermutlich in Fragmenten – zugetragen. Er hat daran gefeilt wie an keiner an-deren Geschichte und uns damit einen der schöns-ten Märchenanfänge beschert. Ursprünglich hieß es: Es war einmal eine Königstochter...; Wilhelm Grimm machte daraus: In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat...

1.2 Zusammenfassung des MärcheninhaltsDer Inhalt ist schnell erzählt. Die jüngste Tochter eines Königs spielt mit ihrer goldenen Kugel. An heißen Tagen geht sie in den Wald, setzt sich an den Rand eines Brunnens, wirft und fängt die Kugel, und das ist ihr liebster Zeitvertreib. Aber einmal kann sie die Kugel nicht fangen. Diese

rollt in den Brunnen und ist bald in der Tiefe verschwunden. Da beginnt sie zu weinen und zu jammern, bis ein Frosch seinen hässlichen Kopf aus dem Wasser streckt. Er bietet ihr seine Hilfe an, verlangt aber eine Gegenleistung. Sie verspricht ihm alles. Er holt die goldene Kugel aus der Tiefe. Kaum hat sie sie in ihren Händen, springt sie auf und davon. Der Frosch kann ihr nicht folgen.

Am nächsten Tag sitzt sie mit ihrem Vater und den Hofleuten zu Tisch. Da klopft es an die Tür. Sie öffnet, sieht den Frosch, schlägt die Tür wieder zu. Der Vater spricht ein Machtwort. Sie fügt sich widerwillig, lässt den Frosch herein. Lässt ihn am Tisch sitzen und von ihrem goldenen Teller essen. Aber dann will er auch noch in ihr Bett, und noch bevor sie sich weigern kann, droht er, es ihrem Vater zu sagen. Sie wird bitterböse und wirft ihn an die Wand. Als er herab fällt, wird aus dem Frosch ein schöner Königssohn. Er erklärt ihr, wie es zu seiner Verwünschung kam und wird ihr lieber Geselle und Gemahl.

Am nächsten Morgen machen sie sich auf den Weg in sein Königreich. Sein Diener, der treue Heinrich kutschiert den Wagen. Er ist es auch, dem die eisernen Bande vom Herzen gesprengt wer-den. Mit der Freude und dem Glück des Dieners endet das Märchen. (Märchentext siehe Seite 16ff)

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1.3 Die (Märchen-)Welt ist voll von Fröschen

Allein lebende Frauen wissen ein Lied davon zu singen. Sie bekommen Frösche in allen Varianten geschenkt: aus Stoff, Porzellan, Weichplastik, sogar in Schneekugeln. Frösche zum Küssen, zum Kne-ten, an die Wand zu klatschen und immer mit dem augenzwinkernden Hinweis: Vielleicht findest du ja noch mal einen Prinzen.

In Presse und Literatur heißt es in provozierenden Hinweisen: Man (in diesem Fall ‚frau’ A.d.V.) muss viele ‚Frösche’ küssen, bevor sich der richtige als Prinz entpuppt. Es gibt geradezu eine Froschkönig-Epidemie: In Gartencentern, Dekoläden, auf Post-karten und an vielen anderen Orten stehen sie und scheinen zu bitten: Nimm mich mit! Oder: Küss mich! Ich bin ein verzauberter Königssohn.

So muss es auch dem Prinzen in unserem Märchen ergangen sein. Einsam und zur Untätigkeit verur-teilt sitzt er tief unten im Brunnen. Die Chancen auf eine Erlösung sind gering. „Sei kein Frosch!“ möchte man ihm zurufen. Aber ach! Er ist ein Frosch, er wartet auf seine Erlösung und hat nur wenige Möglichkeiten, diese in die Wege zu leiten.

Wer sich in der Märchenwelt umsieht, kann so manchen Frosch entdecken. Auch Froschbräute oder Froschprinzessinnen kommen vor. Sie sind in der Regel von ihrem Vater verzaubert, weil sie

klüger wurden als er. Aber es gibt auch Frösche und Kröten als Helfer. In Dornröschen kriecht der Frosch aus dem Wasser ans Land und verspricht der Königin ein Kind. In Die drei Federn ist es eine Kröte, die dem jüngsten Königssohn zu einer Braut verhilft, und die wiederum ist niemand anderes als eine verwandelte Itsche (Kröte).

Therapeuten berichten, dass es Beziehungen zwi-schen Mann und Frau gibt, die der Beziehung im Froschkönig ähneln. Hans Jellouschek zum Beispiel hat sich ausführlich mit dem Thema befasst und spricht von einer Frosch-Prinzessin-Beziehung. Auch diesen Gedanken will ich mit meinem Vortrag folgen und herausfinden: Worin liegt die tiefere Bedeutung dieses Märchens, und was hat es uns heute noch zu bieten?

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2 Des Vaters schönstes Töchterlein

2.1 Die schöne Königstochter und ihr Ball

Die schöne Königstochter ist die jüngste Tochter, gut behütet, der Stolz ihres Vaters, des Königs. Sie ist gewöhnt, alles zu haben oder zu bekommen, was sie braucht, alles was man sich nur wünschen kann. Das symbolisiert sich in der goldenen Kugel. Bruno Bettelheim sieht den Ball in doppelter Weise als Symbol der Vollkommenheit…als Kugel und dann, weil er aus Gold, dem kostbarsten Material besteht. Der Ball steht für eine noch unentwickelte narziss-tische Psyche: er enthält alle noch nicht realisierten Möglichkeiten.Eine Königin wird in dem Märchen nicht erwähnt, vielleicht lebt sie nicht mehr oder hat am Hof nicht viel zu sagen. Das Märchen spricht i. d. R. nur von dem, was für den Fortgang der Geschichte wichtig ist. Das ist in diesem Fall die Vater-Tochter-Beziehung. Die Prinzessin scheint so eine Vater-Tochter zu sein. Sie lebt in seinem Schloss und dort gilt sein Wort. Aber die Ablösung von ihm, der Weg ins Erwachsen-werden kündigt sich schon an. Nahe beim Schloss liegt ein großer, dunkler Wald, ein Symbol für das Unbekannte, Unbewusste, Neue, Fremde, Unüberschaubare aber auch für die Natur und damit für das Mütterliche. Dorthin geht die Königstochter und setzt sich an den kühlen Brunnen. Der Brunnen steht für den Übergang in eine andere Welt, in eine andere Entwicklungsstufe, für Verände-rungen und ebenso wie der Wald für das Unbewuss-te und Mütterliche. Mit dem Gang in den Wald und zum Brunnen wird etwas eingeleitet, was neu ist im Leben der Königs-tochter und was sie herausfordern wird. Sie beginnt,

erwachsen zu werden und sich aus der engen Vater-Tochter-Beziehung zu lösen.Ihr ist heiß – an heißen Tagen, so heißt es – ihr ist langweilig und diese Langeweile überlagert alle an-deren Gefühle. Es ist eine Zeit der Pubertät, eine Zeit zwischen dem Wissen der Kindheit und dem Noch-nicht-Wissen der Erwachsenenwelt. Es ist eine Zeit der geheimen Sehnsüchte, mit denen sie sich immer wieder auf den Weg in den Wald macht. Sie spielt mit der Kugel. Immer höher wirft sie sie. Noch ist es ein Spiel, ihr liebstes Spiel. Plötzlich passiert es. Eine kleine Unachtsamkeit, und die Kugel fällt nicht in ihre Hand zurück. Die Königstochter muss in Gedanken oder in Tagträumen versunken gewesen sein, dass sie es nur langsam begreift. Im Märchen heißt es: Sie folgt ihr mit den Augen nach. Aber sie tut nichts, um sie aufzuhalten.

2.2 Der Verlust der goldenen KugelDie goldene Kugel ist ins Rollen gekommen und in der Tiefe des Brunnens verschwunden. Der Königs-tochter ist die behütete Unschuld der Kindheit aus den Händen geglitten. Sie beginnt, wie ein kleines Kind zu weinen und zu jammern. Die verwöhnte Prinzessin hat nur eines im Sinn. „Ich will meine goldene Kugel wiederhaben!“Bruno Bettelheim meint dazu: Als er (der Ball) in den Brunnen fällt, geht die Naivität verloren... Die Königs-tochter beklagt den Verlust ihrer kindlichen Unschuld ebenso verzweifelt wie den Verlust ihres Balls. [… Das Leben ist hässlich und kompliziert geworden, nachdem es angefangen hat, seine dunklen Seiten zu enthüllen.Aus dem Spiel ist Ernst geworden.

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3 Der Mutter Sohn

3.1 Einsam im Brunnen sitzt der Frosch

Dem Frosch dagegen ist die goldene Kugel direkt vor die Füße gerollt. Günstiger hätte es nicht laufen können. Nicht einmal ein Frosch kann das übersehen, und das Leid und die Hilflosigkeit der schönen Prinzessin rufen ihn auf den Plan. Er nutzt die Gelegenheit und das gar nicht ungeschickt, sondern sehr mitfühlend. „Warum weinst du, dass es einen Stein erbarmen möchte?“ fragt er, und die Königstochter schüttet ihm ihr Herz aus.

Der Frosch weiß Rat, aber er kommt auch gleich zur Sache: „Was gibst du mir dafür?“ „Was du willst, lieber Frosch“, sagt sie schnell und bietet ihm ihre Perlen, Edelsteine und ihre goldene Krone an. Aber all das will er nicht. Er braucht Erlösung, und die ist nur zu bekommen durch Liebe und Freundschaft mit einer Partnerin, die all das ver-körpert, was er nicht hat: Schönheit, Weiblichkeit, königliche Unschuld. Er wittert seine Chance. Er möchte sie, und dabei geht er nicht gerade zurück-haltend vor. Er sagt es unmissverständlich: „Ich will dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tisch sitzen, vom goldenen Teller essen und im seidenen Bett mit dir schlafen.“

Die unerfahrene Prinzessin hat nur den Verlust ihrer goldenen Kugel im Kopf. Sie ist es gewohnt, bedient zu werden. Die Forderung des Frosches kommt ihr so absurd vor, dass sie nicht an die Fol-gen denkt. Sie verspricht unüberlegt: „Ach ja, alles, was du willst, lieber Frosch“, und denkt: „Was der einfältige Frosch schwätzt!“ Sie nimmt ihn nicht

ernst, kann ihn nicht ernst nehmen. Sie will ihre goldene Kugel wiederhaben, ihr Lieblingsspiel-zeug, ihre Kindheit, und sie weiß noch nicht, dass sie genau das in diesem Moment verspielt.

Er hat ihr Versprechen, taucht tief hinunter, holt die goldene Kugel herauf und wirft sie ins Gras. Sie nimmt sie auf und läuft davon. Sie hat, was sie will. Er noch nicht, und so ruft er hinter ihr her: „Warte, warte, nicht so schnell!“ Aber sie hört ihn nicht mehr, er kann ihr nicht folgen. Bald ist sie verschwunden und er muss wieder in seinen Brunnen hinabsteigen.

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4.1 Klopfenden Herzens

Am nächsten Tag sitzt die Prinzessin mit dem König und den Hofleuten zu Tisch. Es scheint alles wie immer. Die Prinzessin ist schön und vor allem Tochter ihres Vaters, sein Liebling. Auf sie kann er stolz sein, mit ihr kann er sich zeigen, und sie ist die brave Tochter. Der Vater ist auch ihr König. Aber noch ist sie abhängig. Abgesehen von den gelegentlichen Ausflügen in den Wald lebt sie im Schloss, wo das Wort des Königs gilt.

Nun klopft es an die Tür. Die Prinzessin – neugierig und unbedarft – läuft hin, um zu sehen, wer dort ist. Der Frosch! Sie schlägt die Tür hastig wieder zu und setzt sich zurück an ihren Platz. Kindliches Verhalten: was nicht sein soll, darf nicht sein. Aber es funktioniert nicht mehr. Es ist ihr anzuse-hen, dass ihr Herz gewaltig klopft. Auch der König sieht es und fragt sie: „Mein Kind, was fürchtest du dich, steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?“ Da erzählt sie ihm alles, schüttet ihr Herz aus. Das spricht von einem großen kindlichen Vertrauen, das sie zu ihrem Vater hat.

4.2 Die Stimme der VernunftDer König bleibt zunächst ruhig, aber er fordert etwas von ihr. Sie als Prinzessin, kann nicht ein-fach etwas versprechen und dann nicht halten. Von einer Prinzessin kann man mehr verlangen. Damit geht er über ihre Angst hinweg und traut ihr gleichzeitig zu, dass sie die Verantwortung für ihr Verhalten übernimmt. Und sie, die brave Tochter, folgt ihm.

Das Märchen beschreibt, wie schwer es ihr fällt und wie sie zaudert. Da befiehlt der König, die Wünsche des Frosches zu befolgen. Und sie fügt sich. Doch während der Frosch vor ihrem goldenen Teller sitzt und alles in sich hineinschlingt, bleibt ihr jeder Bissen im Halse stecken. Sie hat – so zu sagen – den Frosch im Hals . Als er dann auch noch in ihr Zim-mer getragen werden will, beginnt sie zu weinen. Sie fürchtet sich vor dem kalten Frosch. Zum ersten Mal kommen Gefühle ins Spiel. Sie weint und fürch-tet sich, der königliche Vater wird zornig. Aber auch hier folgt sie und wagt nicht, sich zu widersetzen.

Ich habe mich an dieser Stelle gefragt: Weiß der König eigentlich, wen er ihr mit seinem Befehl be-schert? Oder ist das nur die Stimme der Vernunft oder des Ehrenkodex, dessen Bedeutung am königlichen Hof über alles gestellt wird, auch über die Gefühle seiner jüngsten Tochter? „Was du versprochen hast, musst du auch halten“, sagt er. Er hört nicht hin, wie dieses Ver-sprechen zustande gekommen ist, sagt Jellouschek. Er interessiert sich nicht dafür, was am Brunnen wirklich vor sich gegangen ist. Er weiß schnell und klar die Lösung des Problems. Wie es der Königstochter dabei geht, fällt nicht ins Gewicht.

Er ist ein Mann. Er ist Vater und König. Seine Auf-gabe ist das Regieren und Befehlen. Und er fügt hinzu: „Wer dir in deiner Not geholfen hat, den sollst du hernach nicht verachten.“ Es ist nicht leicht, eine Prinzessin zu sein.

4 Es kann nicht bleiben, wie es ist

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Der Frosch nutzt die Situation ausgiebig. Er hat lange Zeit im tiefen Brunnen gesessen, von einer Hexe ver-wünscht. Jetzt kommt ihm die männliche Kraft (des Königs) zu Hilfe. Hans Jellouschek weist darauf hin, dass der Frosch vermutlich ohne – zumindest prä-senten – Vater aufgewachsen ist und in einer symbio-tischen Beziehung zur Mutter gelebt hat. Die hat ihn einerseits verwöhnt, andererseits überfordert. Er hat sich um sie gekümmert, hat Verantwortung über-nommen und sich bemüht, den Vater zu ersetzen. Er ist der König, der Prinzgemahl. Andererseits wird er ihre Erwartungen nie ganz erfüllen können und schwankt nach Jellouschek zwischen Minderwertig-keitsgefühlen und erhöhten Über-Ich-Idealen.

Er ist es gewohnt, von der Mutter verwöhnt zu werden und zu bekommen, was immer er ver-langt. Weil er nichts anderes gelernt hat, versucht er das nun auch bei der Königstochter. Am Brun-nen hat er noch den mitfühlenden und hilfreichen Partner gespielt, der ihr die goldene Kugel wie-derbringen kann. Von dem Moment an, als er die

Marmortreppe hinauf gekrochen war, macht er nichts mehr selbst. Er fordert nur noch: „Heb mich hinauf, schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, trag mich in deine Schlafkammer, mach

mir dein seiden Bett zurecht.“

Unter dem prüfenden Blick ihres Vaters folgt die Königstochter. Widerwillig, mit Ekel und Abscheu. Es wird deutlich, dass sie (noch) nicht in der Lage ist, das zu tun, was von ihr erwartet wird. Den

Frosch interessiert das nicht. Ihm geht es um sei-ne Belange, und danach handelt er auch.

5.1 Mach mir dein seiden Bettlein zurecht

Der Frosch bietet sich als Geselle und Spielkame-rad an, was soviel heißt: Ich will dein Liebhaber sein. Er geht nicht zimperlich vor. Trag mich in dein Zimmer, mach dein seiden Bettlein zurecht, wir wollen uns schlafen legen. Die Königstochter und ihre goldene Kugel verkörpern für den Frosch die strahlende, weibliche Anziehungskraft.

Die Prinzessin scheint völlig unvorbereitet. Zudem wirkt der Frosch in seiner wenig attraktiven männ-lichen Pubertät auf das Mädchen eher zudringlich, befremdlich und unheimlich. Was als Spielerei begann, ist ernst geworden. Das Auftauchen (im wahrsten Sinne des Wortes) männlicher Triebe wird zunächst als eklig und wenig anziehend erlebt. Bruno Bettelheim meint, das Märchen biete Mög-lichkeiten, Kindern das Thema Sexualität mit den damit verbundenen Gefühlen nahe zu bringen. Er schreibt: Man kann sich nur schwer eine bessere Art ausdenken, dem Kind beizubringen, dass es vor den … abstoßenden Aspekten der Sexualität keine Angst zu haben braucht … Die Geschichte vom Frosch … bestätigt, dass Widerwillen angebracht ist, wenn man noch nicht reif ist für die Sexualität, und bereitet darauf vor, dass sie etwas sehr Wün-schenswertes ist, sobald die Zeit reif ist.

5.2 Er nutzt seine Chance, sie fügt sich - widerwillig

Mit der goldenen Kugel kam alles ins Rollen. Aber das Mädchen ist noch nicht soweit, alles aufzu-

5 Schöne Prinzessin, garstiger Frosch

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geben. Noch ist ihr Vater die moralische Instanz, der beste aller Männer, auch wenn er sie nun gerade in diese Situation gebracht hat. Aber an ihm zweifelt sie nicht. Keiner kann dem Vergleich mit ihm standhalten. Solange sie ihren Vater im Herzen und im Kopf hat, hat ein anderer Mann keine Chance. Aber die goldene Welt ihrer Kindheit geht gerade verloren. Noch ist sie nicht bereit, sich hinzuge-ben, sich zu verschenken. Noch glaubt sie, sie könne weiterhin die Prinzessin bleiben, um die sich alles dreht. Unter dem Blick des Vaters fügt sie sich dem, was von ihr verlangt wird. In ihrer Schlafkammer, den prüfenden, königlichen Blicken entkommen und ziemlich ratlos, setzt sie den Frosch in eine Ecke. Damit meint sie Ruhe vor ihm zu haben. Aber da kommt er (gekrochen) und quakt: „Heb mich herauf“, und als sie zögert, droht er: „Oder ich sag’s deinem Vater!“ Da bricht es aus ihr heraus. Der Zorn auf ihren Vater, der Zorn, ihr Ekel und ihre Abscheu vor diesem kalten Frosch und vor seinem nicht enden wollenden Gequake. Die Prinzessin gibt ihr Prinzessinnen-gehabe auf. Sie lässt die aufstei-gende Wut zu und setzt sie um, kraftvoll und klar, in Wort und Tat. Die heile Kinderwelt ist zerbrochen, sie lässt sich auch mit Anstrengung nicht weiterführen. Mit dem Neuen und Unbekanntem fühlt sie sich überfordert. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, möchte man meinen. Sie ist bereit zu verletzen, so wie der Vater und der Frosch ihre Gefühle verletzten. Sie

ist bereit – nicht aus Rache, sondern um sich abzu-grenzen und Klarheit zu schaffen. Sie ist bereit, um die eigenen Verletzungen nicht unendlich ertragen zu müssen. Nun fasst sie ihn nicht mehr nur mit zwei Fingern an. Entschlossen packt sie zu und wirft ihn mit allen Kräften an die Wand. So nicht!Jellouschek meint: Noch bevor der Frosch sich ver-wandelt, hat die Königstochter einen Wandlungs-prozess durchgemacht. Sie habe zu ihren eigenen dunklen Seiten gefunden, zu ihrer Wut, zu ihrem Egoismus. Damit sei sie ein Stück mehr Mensch geworden.

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6.1 Entzaubert

Das hat er nun davon, könnte man denken. Die Prinzessin klatscht ihn an die Wand. Ihr Zorn und ihre Entschlossenheit haben eine Grenze gesetzt. Das verändert alles, und das Wunder geschieht. Der Frosch fällt herab und verwandelt sich in einen Prinzen mit schönen freundlichen Augen. Hier beginnt er wirklich aus der Tiefe des Brunnens zu steigen, sagt Jellou-schek, und damit wird der Weg zu sich selbst als Mann frei. Dagegen hat die Königstochter gar nichts und er wird – nach ihres Vaters Willen, wie es im Mär-chen heißt – ihr lieber Geselle und Gemahl. Ihr Liebhaber erzählt ihr, dass er verwünscht worden war. Nur sie hätte ihn erlösen können, und er stellt in Aussicht: „Morgen wollen wir zusammen in mein Reich gehen.“ Was für ein Versprechen!

6.2 Gegensätze ziehen sich an – oder?Gegensätze ziehen sich an oder Gleich und gleich gesellt sich gern, heißt es. Äußerlich können Prin-zessin und Frosch kaum gegensätzlicher sein. Was sie verbindet, ist ihre Bedürftigkeit. Sei brauchen sich gegenseitig. Jellouschek formuliert es so: Ich liebe dich, weil ich dich brauche.

Eine liebevolle, abhängige Beziehung zur Mut-ter brauche ein Kind, meint Bettelheim, um ein ganzer Mensch zu werden. Es möchte auf ihrem

Schoß sitzen, von ihrem Teller essen, aus ihrem Glas trinken und in ihrem Bett zu schlafen. Aber um unabhängig zu werden und nicht Frosch zu bleiben, muss es von der Mutter nach einiger Zeit hinausgeworfen werden. Wie ein Kind richtet sich der Frosch mit seinen Wünschen an die Prinzessin. Für die aber ist er nichts weiter als ein fremdartiges Tier. Forsch und quakend tritt er auf und ist damit weit entfernt von dem Bild eines Prinzen, den sie sich mögli-cherweise erträumt. Ihr werden die Forderungen zuviel. Sie wandelt sich von der passiv duldenden zur aktiv handelnden Person. Sie löst sich vom Vater und erkennt die männlichen Züge in sich selbst. Damit kann sie den Frosch erlösen. Er wird

zum realistischen Bild eines Mannes – ein Prinz mit freundlichen Augen.

6 Das hat er nun davon

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7.1 Lieber ein Ende mit Schrecken...

Ende gut, alles gut? Nein, mit der Erlösung des Prin-zen ist es noch nicht getan. Dem treuen Heinrich fällt nicht nur ein Stein vom Herzen. Drei eiserne Ringe, die er sich um sein Herz geschmiedet hat, werden gesprengt. Es kracht ordentlich, und zeigt, wie er-leichtert er über die Erlösung des Prinzen ist.

Wenn man den Deutungen von Bruno Bettelheim, Eugen Drewermann und Hans Jellouschek folgt, ist der Froschkönig ein sehr modernes Beziehungs-märchen. Beide, Frosch und Prinzessin, sind jeweils sehr verbunden mit ihren gegengeschlechtlichen Elternteilen. Der Frosch, verwöhnt und abhängig von seiner Mutter, kommt aus dem tiefen Brunnen nicht heraus. Die Prinzessin ist eng mit ihrem Vater verbunden. Er ist der König, an ihn reicht niemand heran. Sie ist stolz auf ihn wie er auf sie.

Schwierig wird es, wenn Frosch und Prinzessin beginnen erwachsen zu werden. Die Prinzessin hat ihren Vater, den König als Vorbild. Kein Bewerber kann ihm gerecht werden, und nun gar ein Frosch! Das Wort des Vaters gilt, und das des Frosches wird abgetan mit „Was der einfältige Frosch schwätzt!“

Auch der Frosch kann sich noch nicht lösen. Ei-nerseits kann er, wie er es von seiner Mutter her kennt, mitfühlend reagieren und hilfreich ein-greifen. Andererseits will er wie bisher verwöhnt werden und alles bekommen. Doch: je mehr er bekommt, umso mehr verlangt er.

Beide, Prinzessin und Frosch, haben sie eine große Sehnsucht nach Veränderung, nach Befreiung, nach Entwicklung und nach Liebe. Aber die alten Erfahrungen, die einmal gelernten Maßstäbe und Angst vor dem Neuen halten sie fest. Sie sind wie Eisenringe, die der treue Heinrich sich um sein Herz schmieden ließ.

Die Entwicklung, die am Brunnen begann, war nicht aufzuhalten. Noch ehe beide es bemerkt haben, haben sie ihren jeweils möglichen Beitrag dazu geleistet. Die Prinzessin hat die Kugel ins Rol-len gebracht. Sie ist hinaus in den Wald gegangen, hat am Brunnenrand sitzend mit ihrer goldenen Kugel gespielt und sie aus der Hand gegeben. Der Frosch hat sie heraufgeholt und sich auf den müh-samen Weg aufs Schloss gemacht. Er hatte sie (die Prinzessin) in der Hand und konnte sie erpressen.

Sie hat nach einem angepassten Prinzessinnen-leben endlich die Wut gepackt. Und sie hat sie genutzt, um diesem verwöhnten, unaufhörlich fordernden Muttersöhnchen zu zeigen: So nicht! Der Frosch hat’s kapiert und sich in einen Prinzen verwandelt. Aus den verwöhnten Kindern wird ein Liebespaar – und das alles nach dem Willen des Königs. In der Nacht geben sie sich der Lust und der Liebe hin.

Am Tag aber müssen die Eisenringe der Kümmer-nis (die alten Muster) gesprengt werden. Dass dies auf ihrer Fahrt in ihr gemeinsames Leben geschieht, geschehen muss, ist von nicht geringer Bedeutung. In einer Kutsche mit acht weißen Pfer-

7 Ende gut, alles gut?

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den geht es voran, aber nicht ohne Hindernis. Drei mal kracht es und jedes Mal schreckt der Prinz auf und glaubt, der Wagen bräche. Aber die männliche Kraft des Dieners beruhigt ihn. Es geht voran auf dem Weg in sein königliches Reich.

7.2 Zum guten SchlussDie gemeinsame Kugel auszuspielen und die noch nicht entwickelten Möglichkeiten zu gestalten – ein schönes Bild für Partnerschaft. Es hat sich aus der Betrachtung des Froschkönig-Märchens ergeben. Die Geschichte lehrt: Es kann gelingen, auch wenn es zunächst fast aussichtslos beginnt. Gerade noch rechtzeitig hat die Königstochter dem fordernden Frosch die Grenzen aufgezeigt.

Der Frosch war klug genug, diese Chance zu sehen und sich in den Königssohn zu verwandeln, der in ihm steckte und der er eigentlich war. Was wäre geschehen, hätten sie es nicht getan? Nun, das ist eine andere Geschichte. Die kann an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit und von einer anderen Erzählerin erzählt werden. Oder auch nicht.

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Anhang – Märchentext

Der Froschkönig oder Das Märchen vom treuen Heinrich

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch gehol-fen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, dass die Sonne selbst, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag sehr heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens: und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk. Nun trug es sich einmal zu, dass die goldene Kugel nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradewegs ins Wasser hineinrollte. Die Kö-nigstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, dass man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so klagte, rief ihr jemand zu ‚was hast du vor, Königstochter, du schreist ja, dass sich ein Stein erbarmen möchte.’ Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken hässlichen Kopf aus dem Wasser streckte. ‚Ach, du bist‘s, alter Wasserpatscher’, sagte sie, ‚ich weine um meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinab gefallen ist.’ ‚Sei still und weine nicht‘, antwortete der Frosch, ‚ich kann

wohl Rat schaffen, aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?’ ‚Was du haben willst, lieber Frosch‘, sagte sie, ‚meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, auch noch die gol-dene Krone, die ich trage.’ Der Frosch antwortete: ‚deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und deine goldene Krone, die mag ich nicht: aber wenn du mich lieb haben willst, und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel wieder heraufholen.’ ‚Ach ja‘, sagte sie, ‚ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur die goldene Kugel wiederbringst.’ Sie dachte aber ‚was der einfältige Frosch schwätzt, der sitzt im Wasser bei seinesgleichen und quakt, und kann keines Menschen Geselle sein.’ Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab, und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert; hatte die Kugel im Maul und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf und sprang damit fort. ‚Warte, warte‘, rief der Frosch, ‚nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie du.’ Aber was half ihm, dass er ihr sein quak quak so laut nachschrie, als er konnte! Sie hörte nicht darauf, eilte nach Hause und hatte bald den armen Frosch vergessen, der wieder in seinen Brunnen hinabsteigen musste.Am anderen Tag, als sie mit dem König und allen Hofleuten sich zu Tafel gesetzt hatten und von ihrem goldenen Tellerlein aß, da kam, plitsch

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platsch, plitsch platsch, etwas die Marmortreppe herauf gekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an der Tür und rief ‚Königstochter, jüngs-te, mach mir auf.’ Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und war ihr ganz angst. Der König sah wohl, dass ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach ‚mein Kind, was fürchtest du dich, steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen? ‚Ach nein‘, antwortete sie, ‚es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch.’ ‚Was will der Frosch von dir?’ ‚Ach lieber Vater, als ich gestern im Wald bei dem Brunnen saß und spielte, da fiel meine goldene Kugel ins Wasser. Und weil ich so weinte, hat sie der Frosch wieder heraufgeholt, und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm, er sollte mein Geselle werden, ich dachte aber nimmermehr, dass er aus seinem Wasser heraus könnte. Nun ist er draußen und will zu mir herein.’Indem klopfte es zum zweiten Mal und rief ‚Kö-nigstochter, jüngste, mach mir auf, weißt du nicht, was gestern du zu mir gesagt bei dem kühlen Brunnenwasser? Königstochter, jüngste, mach mir auf.’ Da sagte der König ‚was du versprochen hast, das musst du auch halten; geh nur und mach ihm auf.’ Sie ging und öffnete die Tür, da hüpfte der Frosch herein, ihr immer auf dem Fuße nach, bis zu ihrem Stuhl. Da saß er und rief ‚heb mich herauf zu dir.’ Sie zauderte, bis es endlich der König be-fahl. Als der Frosch erst auf dem Stuhl war, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er ‚nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen.’ Das tat sie zwar, aber man

sah wohl, dass sie es nicht gerne tat. Der Frosch ließ sich’s gut schmecken, aber ihr blieb fast jedes Bisslein im Halse. Endlich sprach er ‚ich habe mich satt gegessen und bin müde, nun trag mich in dein Kämmerlein und mach dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.’ Die Königstochter fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie nicht anzurühren getraute, und der nun in ihrem schönen, reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber ward zornig und sprach ‚wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.’Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauf und setzte ihn in eine Ecke. Als sie aber im Bette lag, kam er gekrochen und sprach ‚ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du: heb mich herauf, oder ich sag’s deinem Vater.’ Da ward sie erst bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften wider die Wand, ‚nun wirst du Ruhe ha-ben, du garstiger Frosch.’Als er aber herab fiel, war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe erwünscht worden, und nie-mand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. Dann schliefen sie ein, und am anderen Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen he-rangefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußenfedern auf dem Kopf und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue

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Heinrich. Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, dass er drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich wieder hin-ten auf und war voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, dass es hinter ihnen krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief ‚Heinrich, der Wagen bricht.’ ‚Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als Ihr in dem Brunnen saßt, als Ihr eine Fretsche (Frosch) wast (wart).’Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer, der Wa-gen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.

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Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1980.

Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe, mit einer Einleitung von

Herman Grimm und der Vorrede der Brüder Grimm zur ersten Gesamtausgabe von 1819. Mit 184 Textillustrationen zeitgenössischer Künstler.

Winkler Verlag, München, 1949. 14. Auflage 1991.

Diederichs, Ulf: Who’s who im Märchen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1995.

Gutter, Agnes: Es ist ein Band von meinem Herzen… Zur Bedeutung des Märchens „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“ für die Psychohygiene. Antonius-Verlag Solothurn, 1976.

Jellouschek, Hans: Der Froschkönig. Ich liebe dich, weil ich dich brauche. Weisheit im Märchen. Kreuz Verlag, Zürich, 1985.

Kraneburg, Marcus: Grimmsche Märchen als Spiegel der Seele. Ein Arbeitsbuch für Eltern, Erzieher und Lehrer.

Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart · Berlin, 2008

Lenz, Friedel: Bildsprache der Märchen. Verlag Urachhaus Johannes M. Mayer, Stuttgart.

1984.

Röhrich, Lutz: Wage es, den Frosch zu küssen. Das Grimmsche Märchen Nummer Eins in seinen Wandlungen.

Eugen Diederichs Verlag, Köln, 1987

Hein, Till: „Es war einmal“ in Afrika. Froschkönig und Aschenputtel sind Weltstars. Die Volkskundlerin Sabine Wienker-Piepho untersucht das Universel-le an Märchen und warum sich die Motive überall gleichen.

ZEIT ONLINE Wissen, 17. August 2006

Wikipedia: Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Wikipedia: Brunnen als Motiv

http://www.traumdeuter.ch/texte/2446.htm

http://www.durchblick-filme.de/froschkoenig/2_5_Deutung.htm

Literatur

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Der Froschkönig - nach Ansicht der Brüder Grimm eines der ällerältesten und schönsten Märchen - hat uns auch heute noch viel zu sa-gen. Zumindest bedient es eine Sehnsucht, die zeitlos zu sein scheint. Froschkönige blicken von Postkarten, aus Schaufenstern und Verkaufsre-galen und bitten: Nimm mich mit, ich bin ein ver-zauberter Königssohn! Aber der Erlösungsweg ist nicht einfach. Nicht nur das Froschsein hat seine Tücken, auch Prinzessin zu sein ist nicht leicht. Am Ende geht es darum, die gemeinsame Kugel auszuspielen und die noch nicht realisier-ten Möglichkeiten zu entwickeln. Es kann gelin-gen - das jedenfalls erzählt uns das Märchen - auch wenn es scheinbar aussichtslos beginnt.