Der Jovialismus - oder die Freiheit, 'Nein' zu sagen · Dann bedeutet Jovialismus: die Freiheit,...

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Projekt Jovialismus © 2007, Matthias Dilthey, Jörg Drescher Website: http://www.iovialis.org Dieses Dokument steht unter der GNU Free Documentation Partei sozial gerechter Demokratie (PsgD) Licence. Das Kopieren und Verbreiten ist unter Nennung Website: http://www.psgd.info der Quellen ausdrücklich gestattet und erwünscht. Email: [email protected] [email protected] Der Jovialismus oder die Freiheit „Nein“ zu sagen Ein Lösungsvorschlag für eine demokratisch politische Philosophie, die sich mit globaler Gleichheit und globaler Herrschaft beschäftigt Kiew, Juli bis September 2007 Jörg Drescher Sollte Ihnen diese Arbeit etwas Wert sein, haben Sie die Möglichkeit mir etwas zu spenden: Bank: Deutsche Bank, Kontonummer: 2009819, BLZ: 63070024 SWIFT: DE06630700240200981900, BIC/IBAN: DEUTDEDB630 Kontoinhaber: Jörg Drescher, Verwendungszweck: Staatstheorie

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Der Jovialismus

oder die Freiheit „Nein“ zu sagen

Ein Lösungsvorschlag für eine demokratisch politische

Philosophie, die sich mit globaler Gleichheit und globaler Herrschaft beschäftigt

Kiew, Juli bis September 2007

Jörg Drescher

Sollte Ihnen diese Arbeit etwas Wert sein, haben Sie die Möglichkeit mir etwas zu spenden: Bank: Deutsche Bank, Kontonummer: 2009819, BLZ: 63070024

SWIFT: DE06630700240200981900, BIC/IBAN: DEUTDEDB630 Kontoinhaber: Jörg Drescher, Verwendungszweck: Staatstheorie

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 2 Vorwort 3 Teil 1 4 Einleitung 5 Der Mensch für sich allein 6 Der Mensch unter Seinesgleichen 9 Das Konzept des „unbeteiligten Dritten“ 13 Konflikte 14 Erste Zusammenfassung 15 Der Mensch in Gruppen 16 Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft 19 Zweite Zusammenfassung 21 Macht 22 Organisation der Macht: Herrschaft 25 Der joviale Staat 27 Staatsgewalten 29 Demokratische Globalphilosophie 31 Umsetzungsvorschlag 32 Abschluss 33 Teil 2 34 Einleidung 35 Vorbereitung und Reise zu unserem Freund 36 Gleichheit und Wertigkeit 37 Selbstwert und Wertschätzung 38 Auswirkung im System 39 Verantwortung 40 Wert, Kapital und Macht 41 Machtmissbrauch und Korruption 42 Die Freiheit, „Nein“ zu sagen 44 Die Grenzen der Freiheit 44 Die Bedeutung des Todes 45 Naturzustand 46 Naturrecht 47 Ideologien 48 Falsch verstandene „Ismen“ 48 Religionen – die Frage nach „Gott“ 49 Information 50 Wahrheitsgehalt von Informationen 50 Direkte Zensur 51 Indirekte Zensur 52 Demokratie 52 Abschluss 54 Anhänge 55 Anhang 1 – Menschenbilder 56 Anhang 2 – verschiedene Amtseide 57 Anhang 3 – Gerechtigkeit und Garantismus 59 Anhang 4 – Tauschsystem und Naturzustand 63 Anhang 5 – Anmerkungen zum Dilthey-Modell 64

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Vorwort Der Titel dieses Aufsatzes lautet „Der Jovialismus oder die Freiheit, ‚Nein’ zu sagen“. Damit wird schon sehr viel über den Inhalt gesagt. Er drückt etwas über den Menschen aus, der Gewalt, Armut, Fremdbestimmung, Hass, Intoleranz und vieles mehr verneinen kann.

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, dass im Titel ein Widerspruch besteht: entweder man nimmt den Jovialismus an (was auch immer das sein mag), oder man hat die Freiheit, „Nein“ zu sagen. Dieser Widerspruch kommt dadurch, dass man Dinge in Entweder/Oder trennt. Er löst sich auf, wenn man den Titel so versteht, dass „oder“ zur Interpretation des „Jovialismus“ dient. Dann bedeutet Jovialismus: die Freiheit, „Nein“ zu sagen.

Das hier beschriebene Menschenbild bezeichne ich als „joviales Menschenbild“, wobei ich den Menschen nicht „Homo Iovialis“ nennen will (es würde einfach nicht der Wahrheit entsprechen, dass der Mensch nur wohlwollend und leutselig ist). Vielmehr versuche ich durch den vorliegenden Text das Bild eines „Homo Informaticus“ zu erklären: Der Mensch als Lebewesen, das Informationen verarbeiten kann, um zu überleben und dafür die Freiheit hat, zwischen „Ja“ und „Nein“ zu wählen.

Vorliegender Aufsatz war unter anderem als „Staatstheorie“ zum Bedingungslosen Grundeinkommen gedacht. Mir geht es beim Bedingungslosen Grundeinkommen weder um Finanzierbarkeit, noch um die politische Beherrschbarkeit, sondern um die Frage: Sind wir bereit und haben wir die Möglichkeit, die Notwendigkeit einzusehen, zu arbeiten, zu wählen, zu entscheiden... und zu leben?

In einem Vorwort gehört es sich, den Personen zu danken, die bei der Entstehung des Werks mitgewirkt haben. Es ist unmöglich, alle Menschen aufzuzählen, die Einfluss auf diese Arbeit hatten, weshalb ich eine kleine Auswahl vornehmen will.

Zuerst danke ich dem Netzwerk Grundeinkommen, bei dem mir insbesondere Robert Ulmer den Existenzialismus tiefer erklärte. Gleichfalls will ich Attac Deutschland meinen Dank aussprechen, wo ich heftige, aber wichtige Kritik zu Inhalten dieses Aufsatzes erhielt. Die Mitarbeiter des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) in Kiew leisteten ebenfalls unschätzbare Hilfe durch die Diskussionen mit verschiedenen Gäste am „deutschen Stammtisch“. Ihnen danke ich herzlich, sowie allen Freunden und Bekannten in der Ukraine für die unzähligen Gespräche in den letzten fünf Jahren über die Sowjetzeit und das Heute.

Besonderen Dank spreche ich Herrn Prof. Dr. Michael Opielka aus, der mich mit wichtigem Informationsmaterial versorgte und mir damit tiefere Einblicke in die Soziologie gewährte.

Der größte Dank kommt allerdings Matthias Dilthey zu. Ohne seine Unterstützung, würde der vorliegende Aufsatz nicht in der Form existieren. Es war ein Zusammentreffen von Geistes-, Natur- und Wirtschaftswissenschaften, was sich auf synergetische Art ergänzte. Er brachte dadurch das „Dilthey-Modell zur Ausgestaltung eines Emanzipatorischen Bedingungslosen Grundeinkommen“ hervor und ich diese „Staatstheorie“.

Dieser Aufsatz ist Ihnen als Leser gewidmet und keiner speziellen Person. Ich hoffe, mir ist es gelungen, dass Sie mehr über das Wesen des Zusammenlebens, des menschlichen Seins, und vielleicht sogar mehr über sich selbst daraus erfahren können.

Kiew, 09. September 2007 Jörg Drescher

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Teil 1

Grundzüge

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Einleitung Vorliegender Aufsatz soll ein Lösungsansatz auf die Frage von Prof. Dr. Yehezkel Dror sein, der in dem Buch „Demokratie am Wendepunkt“ von Werner Weidenfeld die Aufgabe stellte, eine demokratische politische Philosophie zu entwerfen, die sich mit globaler Gleichheit und globaler Herrschaft beschäftigt.1

Um dazu einen Antwortvorschlag zu unterbreiten müssen meiner Meinung nach sehr grundsätzliche Fragen beantwortet werden. Darunter die Frage, was man sich unter Demokratie vorzustellen hat. Gleichzeitig muss der innere Widerspruch aufgelöst werden, der sich durch globale Gleichheit auf der einen Seite und globaler Herrschaft auf der anderen Seite ergibt. Widerspruch deshalb, weil Gleichheit eigentlich Herrschaft ausschließt.

Da sich die Aufgabenstellung um eine politische Philosophie dreht, können wir davon ausgehen, dass wir uns mit einer Art Staatstheorie auseinandersetzen müssen. Durch diese Sichtweise entsteht ein scheinbarer Widerspruch mit der Globalität, denn diese Auffassung würde beinhalten, dass die gesamte Welt ein einziger Staat wäre.

Wie lassen sich nun aber diese Widersprüche auflösen? Sind es überhaupt Widersprüche? Entstehen diese vielleicht nur deshalb, weil wir von gewissen Voraussetzungen ausgehen?

Hierzu führe ich den Relativismus auf, der besagt, dass jede Betrachtung von Voraussetzungen abhängt (relativ ist). Globale Herrschaft schließt sich aus, wenn man eine globale Gleichheit der Herrschaft über Menschen fordert. Eine Staatstheorie für die Welt muss nicht zwingend die Betrachtung der Welt als einen Staat voraussetzen, vielmehr stellt sich die Frage, was „Staat“ eigentlich ist und vor allem, welche Aufgaben ihm zukommen.

Wenn wir den Relativismus anführen, müssen wir einen geeigneten Bezugspunkt wählen, um Antworten auf diese Fragen zu geben. Wer oder was soll global gleich sein? Wer oder was soll global herrschen, bzw. beherrscht werden? Wer oder was macht einen Staat aus?

Im Russischen gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass die richtige Fragestellung schon die halbe Antwort enthält. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Fragen „richtig“ sind, sollte sich darin schon ein Teil der Antwort finden lassen. Und tatsächlich deutet das Fragewort „wer“ auf den gesuchten Bezugspunkt hin: den Menschen.

Somit dreht sich vorliegender Aufsatz immer wieder um die Betrachtung des Menschen in Bezug auf die jeweiligen Aspekte der Gleichheit, Herrschaft und des Staates. Deshalb soll der Einstieg in den Lösungsvorschlag eine Beschreibung des Menschen sein. Daraus leiten sich andere Aspekte wie Gleichheit, Herrschaft und Staatsaufgaben ab, die sich wiederum gegenseitig bedingen. Die Erklärung, warum dies der Fall ist, nehme ich hier vorweg: Ein Mensch für sich allein und isoliert betrachtet, erfordert keine Überlegung, was Gleichheit, Herrschaft oder Staatsaufgabe bedeutet. Erst das Hinzukommen mindestens eines zweiten „gleichen“ Menschen macht diese Überlegung erforderlich. Der oben genannte scheinbare Widerspruch, die Welt als einzigen Staat zu betrachten, löst sich dadurch auf, indem man „Welt“ definiert: Im folgenden ist hier mit „Welt“ das Zusammentreffen mindestens zweier „gleicher“ Individuen gemeint.

Ungeklärt blieb bisher die Definition, was Demokratie dabei für eine Rolle spielt. Dies habe ich auch bewusst außen vor gelassen, weil ohne die aufgeführten Vorüberlegungen keine 1 Demokratie am Wendepunkt; Werner Weidenfeld (Hrsg.); Siedler Verlag, Berlin 1996; Seite 386, ISBN: 3-

88680-605-7

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Definition für Demokratie zulässig wäre. Erst durch das Zusammentreffen von mehr als zwei „gleichen“ Individuen sind hierzu Überlegungen nötig. Und dieses „Mehr“ kann bis zu allen reichen – eben zu der gesuchten demokratischen Globalphilosophie.

Bei all diesen Überlegungen will ich noch zwei weitere Bedingung einführen, die vorliegender Aufsatz erfüllen soll: die Ewigkeits- und Ortsunabhängigkeitsklausel.

Mit Ewigkeitsklausel ist gemeint, dass die gemachten Aussagen zu allen Zeiten gelten können sollen (um Nachhaltigkeit auf die Zukunft zu garantieren) und die Ortsunabhängigkeitsklausel ist nötig, um dem Anspruch der Globalität gerecht zu werden. Sie sollen Grundlage zur Erfüllung der gestellten Aufgabe sein.

Der Mensch für sich allein Wie in der Einleitung herausgearbeitet, bedarf es zur Entwicklung einer demokratischen Globalphilosophie oder einer Staatstheorie der Betrachtung, was der Mensch ist. Es gibt in der Geschichte mehrere Ansätze für ein solches Menschenbild. Manche gehen davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut sei, andere wiederum, dass der Mensch von Natur aus schlecht wäre.2 Ich will hier einen anderen Ansatz nehmen und gut und schlecht vollkommen ausklammern.

Was ist aber der Mensch?

Die Antwort auf diese Frage ist einfach und kann von jedem überprüft werden, wenn er das nächste Mal die Auswirkungen seines Stoffwechsels zu spüren bekommt. Der Mensch ist ein Lebewesen und muss zum Überleben Stoffwechsel betreiben. Durch den Verdauungsvorgang erlebt der Mensch immer wieder das Gefühl von Hunger und Durst. Gleichzeitig ist Luft, besser gesagt, Sauerstoff, zur Atmung notwendig, um diesen Stoffwechsel zu gewährleisten. Zu guter Letzt kommen noch die Ausscheidungsprodukte hinzu. Dieser urbiologische Stoffwechsel ermöglicht es dem Menschen, für eine gewisse Zeit auf der Erde zu leben. Hier unterscheidet er sich weder von anderen Lebewesen, noch von seinen Artgenossen.

Mich hat es bei all meinen Recherchen zum Thema gewundert, weshalb diese biologische Gleichheit bisher vernachlässigt wurde und in keiner mir bekannten Philosophie Einfluss genommen hatte.

Sich damit zu begnügen, dass der Mensch ein Lebewesen mit Stoffwechsel ist, würde der Wahrheit wohl kaum gerecht werden. Schließlich kann man ein Tier oder eine Pflanze näher beschreiben und voneinander unterscheiden. Somit hat auch der Mensch gewisse Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihn als Mensch und als Individuum definieren.

Um auch den Streit vorwegzunehmen, ob die Eigenschaften und Fähigkeiten nun angeboren oder anerzogen seien, verzichte ich auf diese Überlegung. Sie würde zum einen den Rahmen meines Aufsatzes sprengen und zum anderen ist dies für die nachfolgenden Betrachtungen nicht relevant, wie sich zeigen wird. Somit will ich mich bei der Beschreibung des Menschen auf zwei Dinge konzentrieren:

1.) die rein biologische Ebene (Gleichheit der Menschen)

2.) die Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen (jedem individuell gegeben)

2 vgl. Anhang 1 - Menschenbilder

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Ganz neu ist meine Überlegung (natürlich) nicht. So findet sich bei Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik die sogenannte Entelechie – der natürliche Selbstzweck: Der Mensch strebt seiner Natur nach dahin, die Anlagen und Fähigkeiten seines Charakters und vor allem seines Geistes zu entfalten. Darin liegt sein eigentliches Ziel; es ist Selbstzweck, ist das unbedingt Gute für ihn. Eben darin, und nicht im platten Vergnügen, liegt für den Einzelnen auch das wahre Glück.3

Ich gehe mit Aristoteles nicht ganz konform, weil der Mensch als Lebewesen zuerst danach strebt, überhaupt zu leben (biologische Grundbedingung). Erst dann kann er seine Anlagen und Fähigkeiten entfalten. Hier will ich mich nicht auf den Charakter oder Geist beschränken, denn schließlich hat der Mensch auch andere Organe (z.B. Muskeln) als nur ein Gehirn. So findet sich bei Karl Steinbuch die Aussage: das menschliche Gehirn ist nicht dazu geschaffen, rationale Prozesse zu veranstalten, sondern das Überleben eines Organismus zu bewirken.4

Steinbuch hat mit seiner Aussage Recht, wobei nichts darüber steht, für was das menschliche Gehirn existiert, wenn das Überleben gesichert ist. Erst dann würde ich der menschlichen Zweckbestimmung von Aristoteles zustimmen, denn Aristoteles setzte (bei oben zitierter Aussage) das Überleben stillschweigend voraus (was zur Zeit Aristoteles auch nicht verwundert, da im antiken Griechenland das Überleben weitgehendst über Sklavenhaltung gesichert war).

Um nun eine Synthese dieser Aussagen zu vollziehen, will ich behaupten, dass der Mensch, wie alle Lebewesen, Eigenschaften und Fähigkeiten besitzt, um vorrangig sein Überleben zu sichern. Sobald das menschliche Überleben gesichert ist, kann das Ziel darin bestehen, seine Eigenschaften und Fähigkeiten optimalst zur Entfaltung zu bringen. Die Erfahrung, dass es auch Menschen gibt, die sich lieber „berauschen“ (allgemein Konsum von z.B. Drogen, aber auch Fernsehen, Reisen, Einkaufen...), zeigt, dass diese Aussage nicht für alle Menschen gültig ist.

Bisher wurde der Mensch isoliert betrachtet und ich möchte noch einen weiteren Punkt in diesem Zusammenhang abhandeln, bevor ich dazu übergehe, die gemachten Aussagen auf zwei Menschen zu erweitern. Bei diesem Punkt dreht es sich um den Begriff der Freiheit.

Mit Freiheit ist gemeint, ohne Zwang frei zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden und sie auszuwählen. Dazu zählt auch die Nichtwahl oder Schöpfung neuer Möglichkeiten. Allgemein bedeutet es die Autonomie eines Individuums im Sinne von Selbstverwaltung, Selbständigkeit und Unabhängigkeit.

Wie bisher dargelegt, gibt es biologische Bedingungen, die einen Menschen „unfrei“ machen: Ohne Stoffwechsel ist der Mensch auf Dauer nicht in der Lage, zu leben. Die Freiheit des Menschen endet mit dem Tod.5 Davor ist er (isoliert gesehen) absolut frei.

Um die gemachten Aussagen an einem Beispiel zu verdeutlichen, betrachten wir einen Menschen auf einer einsamen Insel:

3 Geschichte der Staatstheorien, Reinhold Zippelius, 10. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Verlag C.G.

Beck 2003, Seite 27, ISBN: 3-406-494943 4 Falsch programmiert, Karl Steinbuch, 4. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, Januar 1970 5 Im alten Rom stand hinter einem siegreichen Feldherren, dem ein Triumphzug gewährt worden war, ein

Sklave und hielt ihm einen Lorbeerkranz über das Haupt. Der Sklave wiederholte dabei ununterbrochen die Worte: „Memento mortis. Memento te hominem esse. Respice post te, hominem te esse memento“ (Bedenke den Tod. Bedenke, dass Du ein Mensch bist. Sieh dich um; denke daran, dass auch du nur ein Mensch bist.)

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Unabhängig davon, wie der Mensch auf die Insel kam (woher), unterstelle ich, dass der Mensch leben will. Dazu ist er gezwungen, sich Nahrung zu suchen. Natürlich hat er auch die Freiheit, dies nicht zu tun. Dann muss er allerdings mit den Konsequenzen, wie z.B. Hunger leben, die bis zum (Hunger)Tod führen. Diese Unfreiheit ist durch die biologische Komponente gegeben.

Damit er überhaupt Nahrung suchen und finden kann, besitzt der Mensch Eigenschaften und Fähigkeiten (z.B. Wahrnehmung des Hungergefühls, Füße zum Herumgehen, Hände zum Greifen).

Gehen wir also davon aus, dass der Mensch leben will und auch Nahrung sucht und findet. Nehmen wir weiter an, dass die dafür benötigte Zeit nicht den ganzen Tag ausmacht. Betrachten wir also die Zeit, die nicht zur Nahrungssuche verwendet wird als tatsächliche Freiheit. In dieser Freizeit hat er die Möglichkeit, mehr über sich selbst zu lernen (z.B. welche Eigenschaften und Fähigkeiten er besitzt) und das erlernte auszubauen.

Solange der Mensch auf der einsamen Insel für sich isoliert lebt, kann es keinerlei Konflikte mit einem anderen Menschen geben, der gleichfalls gezwungen ist, sich Nahrung zu suchen und genauso Freizeit hat, in der er absolute Freiheit genießt.

Nun lebt unser Freund also allein auf der Insel, ist absolut frei und akzeptiert den natürlichen Zwang, essen zu müssen. Er sieht also ein, dass dieser Zwang überlebensnotwenig ist und übernimmt die Verantwortung dafür, täglich Nahrung aufzunehmen.

Von unserem Standpunkt aus betrachtet, gibt es für den Menschen auf der einsamen Insel genau zwei Dinge: sich selbst (mit seiner Innenwelt, wie Gedanken, Gefühle, Träume, Wünsche, Vorstellungen...) und seine Umwelt. Unser Freund lebt nun in dieser Umwelt – wir können auch sagen, dass er interagiert, denn schließlich haben seine Handlungen Rückwirkung auf ihn selbst, bzw. auf die Umwelt.

Unser Freund nimmt in jedem Fall alles über eigene Sinnesorgane wahr und diese Interaktionen werden im Gehirn „gespeichert“. Wir nennen das im allgemein Wissen. Nun kann es natürlich auch sein, dass jener Mensch aus einer ganz anderen Welt stammt und auf der einsamen Insel gestrandet ist. Vielleicht hat der Mensch auch Bücher und die Fähigkeit zu lesen. So findet er also „gespeichertes Wissen“ in einer externen Form vor – das „gespeicherte Wissen“ will ich Erfahrung nennen.

Verknüpft unser Freund nun Wissen mit seiner Erfahrung kommt er zu Erkenntnissen. Hat er zum Beispiel einmal eine Frucht nicht gegessen sondern in der Nähe seiner Behausung vergraben, weil er den Gestank nicht ertragen konnte, und merkt, dass nach einer gewissen Zeit an dieser Stelle eine Pflanze entsteht, kann er zu der Erkenntnis gelangen, dass es einen Zusammenhang zwischen Frucht und Pflanze gibt. Er kann diese Erkenntnis über gezielte Versuche überprüfen, wobei er sich nie sicher sein kann, dass seine Erkenntnis objektiv richtig ist (schließlich kann der Versuch unter anderen Bedingungen scheitern). Aber ich möchte später nochmals auf die objektive Richtigkeit zurückkommen.

Damit will ich fürs Erste die individuelle Betrachtung des Menschen abschließen, denn wir sollten unseren Freund nicht länger so einsam auf der einsamen Insel sitzen lassen, damit er sich und seine Welt alleine wahrnimmt und zu Erkenntnissen gelangt. Vielleicht möchte er sein Wissen, seine Erfahrung und seine Erkenntnisse mit anderen teilen... Vielleicht ist er sich nicht sicher und möchte herausfinden, ob sie für andere Menschen nachvollziehbar sind... Vielleicht möchte er mehr über andere Menschen lernen, um sich selbst besser zu verstehen...

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Im nächsten Abschnitt wird deshalb ein anderes, aber „gleiches“ Individuum unseren Freund besuchen. Dann werden wir uns ansehen, wie sich diese Situation verhält.

Der Mensch unter Seinesgleichen Eines Tages rudert also ein anderer Mensch, mit seinen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten aber den gleichen Stoffwechselvorgängen auf die Insel zu. Schon von weitem erkennt unser Freund das Boot und ist ganz aufgeregt, wer ihn denn besuchen kommt. Seit Jahren hat er niemanden zu Gesicht bekommen, aber für sich alleine herausgefunden, welche Nahrung er verträgt und ihm schmeckt. Zur Feier des Tages bereitet unser Freund also ein Festmahl vor.

Das Boot kommt mit jedem Ruderschlag näher und näher. Dann denkt sich unser Freund auf einmal, wie er denn eigentlich mit dem Gast kommunizieren soll. Wird er die gleiche Sprache sprechen? Wie soll er ihn überhaupt anreden? Ist es vielleicht ein General, ein einfacher Matrose, ein Politiker oder was es sonst noch für gesellschaftliche Beschreibungen eines Menschen geben mag? Oder ist es gar eine Frau?

Beim Gedanken, dass der Gast weiblich sein könnte, schlägt ihm das Herz über. Ich muss wohl hier aufführen, dass ich unseren fiktiven Freund als Mann erdacht hatte. Aber würde sich etwas an den bisher gemachten Aussagen ändern, wenn es sich bei dem Inselbewohner um eine Frau handeln würde?

Ich hatte behauptet, dass die biologischen Funktionen von allen Menschen gleich wären. Es ist nun an der Zeit, diese Aussage zu relativieren. Mir wird wohl jeder zustimmen, dass es zwischen Mann und Frau gewisse (biologische) Unterschiede gibt. Somit will ich die biologischen Grundfunktionen aller Menschen auf den Stoffwechsel beschränkt betrachtet verstehen. Dann ist auch Mann und Frau „gleich“. Die Zeugungsfähigkeit des Mannes, aber auch die Gebärfähigkeit der Frau, sind nicht für das eigene Überleben wichtig, sondern zur Fortpflanzung und Erhaltung der Art. Dafür haben die beiden Geschlechter unterschiedliche Funktionen, die ich den Eigenschaften und Fähigkeiten des jeweiligen Menschen zurechnen möchte. Solange wir den Menschen als Einzelwesen betrachten, spielt das Geschlecht keine Rolle. Und als Mann will ich behaupten: Frauen sind Menschen – schließlich treffen alle Aussagen in Bezug auf die isolierte Betrachtung eines Menschen auch auf Frauen zu.

Nun gibt es bestimmt jene aufmerksamen Leser, die sich die Frage stellen werden, was den Mensch denn eigentlich vom Tier unterscheiden würde. Das Meiste, was ich hier bisher ausgesagt hatte, trifft genauso auf Tiere zu – vor allem, was Stoffwechsel, Fähigkeiten oder Eigenschaften betrifft. Ist der Mensch dann nur ein „besseres Tier“?

Würde ich anführen, dass sich der Mensch durch „Denken“, durch „Selbsterkenntnis“ oder andere „Freizeitaktivitäten“ vom Tier unterscheidet, müsste ich zum einen erläutern, was ich unter „Denken“, „Selbsterkenntnis“ oder sonstigen „Freizeitaktivitäten“ verstehe und gleichzeitig den Nachweis führen, dass dies nur dem Menschen eigen ist. Ist der Mensch also doch nur ein „Tier“? Was charakterisiert den Menschen?

Die Antwort findet sich schon in dem, was ich bisher geschrieben hatte und hat etwas mit der Freiheit zu tun, die meines Wissens sonst nicht in der Natur vorkommt: Die Freiheit, „Nein“ zu sagen und damit Verantwortung für sich selbst, seine Umwelt und seine Interaktion zu tragen. Nur der Mensch kann trotz Nahrungsangebot bewusst auf die Nahrungsaufnahme verzichten. Und mit „bewusst“ meine ich, dass ihm die Konsequenzen seines Handelns bekannt sind.

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Aber wir schweifen gerade vom Thema ab, denn schließlich wartet unser Freund aufgeregt am Strand seiner einsamen Insel und wünscht sich sehnlichst, dass eine Frau in dem Boot sitzt. Dabei geht ihm durch den Kopf, woher eigentlich dieses Boot kommt. Er erinnert sich, wie er selbst auf der einsamen Insel gestrandet war. Zuvor lebte er wo ganz anders und unter anderen Umständen. Seine Existenz verdankt er hauptsächlich seiner Mutter, die ihn gesund zur Welt brachte. Aber auch seinem Vater musste er dankbar sein, denn wie wir aus dem Biologieunterricht wissen (sollten), gehören zum natürlichen Zeugungsvorgang Mann und Frau (auch wenn die Wissenschaft inzwischen so weit ist, dass der Mann nicht mehr aktiv gebraucht wird und der ganze natürlich gedachte Spaß an der Sache verloren geht).

Nun könnte sich unser Freund mit seiner Herkunft aus dem Mutterleib zufrieden geben und auch akzeptieren, dass es vielleicht in Zukunft möglich werden könnte, dass selbst dieser Mutterleib nicht mehr benötigt wird. Damit wäre allerdings nicht die Frage beantwortet, woher der Mensch kommt, obwohl wir inzwischen sagen können, was der Mensch ist und wie er sich vom Tier unterscheidet. Dabei sollte dieser Aufsatz eigentlich eine Staatstheorie werden, die sich mit der Aufgabe beschäftigt, eine demokratische Globalphilosophie zu entwerfen.

Kommen wir also auf die Herkunft des Besucherboots und zu unserem Freund zurück. Um ehrlich zu sein, entsprangen der Freund und das Boot zuerst meinem Gedanken. Durch Sie, den Leser, wird es in Ihrer Vorstellung zu einer Art Realität. Will ich damit nun ausdrücken, dass wir – Sie als Leser und ich als Autor – das Resultat eines Gedankens sind, der einem „höheren Wesen“ entspringt? Was ist dann mit der genannten Freiheit, „Nein“ zu sagen? Wenn wir mit „Ja“ antworten, bleibt die Frage, woher das „höhere Wesen“ stammt, dessen Gedanken wir sind; sind dann unsere Gedanken wirklich unsere? Antworten wir mit „Nein“, haben wir weiterhin das Problem, woher der Mensch, bzw. das Sein kommt. Ist es aber unser „Nein“?

Um der Sache ein sanftes Ende zu bereiten, betrachten wir noch kurz das Sein und wollen uns dann wieder unserem Besucher widmen. Im bisher Geschriebenen stellte ich heraus, dass der Mensch isoliert betrachtet in seiner eigenen Erfahrungswelt lebt und diese durch Interaktion wahrnimmt. Somit wird etwas für den isoliert betrachteten Menschen dann wirklich, wenn er es gedanklich oder sinnlich erfasst. Und das Erfasste ist für ihn Objekt – nicht Teil seiner selbst. Sich selbst erlebt z.B. unser Freund auf der einsamen Insel als Subjektiv. Woher das erfasste Objekt stammt und wie es in die Welt des Subjekts kam und welchen Sinn dieses alles hat, lässt sich nur durch den Fragenden beantworten. Von uns (Autor und Leser) hat unser Freund maximal eine vage Vorstellung. Würde ich hier eine Antwort auf die Herkunft des Menschen, bzw. des Seins im Allgemeinen geben, wäre das eine subjektive Antwort, die andere vielleicht annehmen und bejahen könnten, oder ihre Freiheit nutzen, sie abzulehnen.

Inzwischen ist das Boot bis auf mehrere Meter an den Strand herangekommen. Zur großen Enttäuschung unseres Freundes sitzt in dem Boot keine Frau, sondern ein älterer Herr mit grauem Bart, krausen Haaren und sonnengegerbter Haut. Unser Freund ist deshalb enttäuscht, weil er eine andere Hoffnung oder Erwartungshaltung hatte. Aber nach kurzem Trübsal freut er sich schließlich und ruft dem Fremden etwas zu.

Mein Erfindungsgeist wäre wahrscheinlich sehr einfältig, wenn ich nun so weiter machen würde, dass der Fremde unseren Freund verstehen würde. Natürlich versteht der Fremde die Worte nicht. Damit habe ich nämlich jetzt die Möglichkeit, auf die Wichtigkeit und Rolle der Sprache einzugehen und laufe gleichzeitig nicht Gefahr, den vorliegenden Aufsatz durch fiktive Dialoge zu stören.

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Der alte Mann legt an und steigt mit wackligen Füßen aus dem Boot. Unser Freund hilft ihm unaufgefordert das Boot festzumachen und plappert wie wild los. Während der gesamten einsamen Zeit behielt er sich seine Sprache durch Selbstgespräche in Erinnerung. Aber der Alte schaute ihn nur verdutzt an und sagte in seiner Sprache, dass er unseren Freund nicht verstehen würde.

Letztlich benutzen sie eine Art Zeichensprache, mit der unser Freund den Alten zum Essen bat. Schließlich ging unser Freund davon aus, dass der Alte nach der langen Reise hungrig sein müsse. Er schloss von sich selbst auf seinen Gast und nahm seine eigenen menschlich-biologischen Stoffwechseleigenschaften als (vielleicht eher unterbewussten) Beweggrund für die Einladung. Und tatsächlich war der Besucher hungrig, verstand die Zeichensprache und ging mit unserem Freund zu dessen Behausung mit.

Egal was sie zu sprechen versuchten – die andere Partei verstand das Gesagte nicht. Aber trotzdem war z.B. eine Mango für beide das Gleiche – nicht in Worten, sondern in Form, Gestalt und Eigenschaften. Unser Freund liebte Mangos, aber der Besucher wehrte ab. Er zog Bananen vor, weil er bei Mangos Probleme mit dem Magen bekam. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass zwar Form, Gestalt oder Eigenschaften von Dingen durchaus für alle Menschen gleich sein können, aber die jeweiligen Vorzüge (der Wert) unterschiedlich ausfallen. So hat eine Mango für unseren Freund einen sehr hohen Stellenwert, für den Besucher das genaue Gegenteil.

Was bringen aber die Beiden mit ihren Worten zum Ausdruck – und sei es in Zeichensprache?

So gesehen denken beide Personen auf unserer fiktiven Insel. Und sie drücken das Gedachte in ihrer Sprache aus. Natürlich denken sie auch in einer Sprache.6 Sprache kann man mit ihren Regeln (Grammatik) und Worten (Semantik) als Ausdrucksform für Gedanken, Gefühle oder Wünsche bezeichnen. Dabei würde ich behaupten, dass sich Gedanken und Sprache gegenseitig beeinflussen. Sprache ist mitunter Ausdruck des jeweiligen Kulturkreises, innerhalb dessen die entsprechende Sprache gesprochen wird. Sprache dient als Kommunikationsmittel, wobei Empfänger (Hörer) und Sender (Sprecher) die Grundregeln der Sprache einheitlich verstehen müssen. Und ich will behaupten, dass weltweit Hunger (als Gedanke) verstanden wird, weil jeder Mensch dieses Gefühl kennt (oder haben Sie schon einmal ein Baby erlebt, das nie schreit?).

Sprache ist deshalb die Hauptschwierigkeit bei der Kommunikation und wichtigste Quelle für Probleme. Werden die ausgedrückten Worte nicht in den richtigen, gedachten Zusammenhang gebracht, verursacht Sprache beim Empfänger etwas ganz anderes als vielleicht beabsichtigt. Das kann auch innerhalb der gleichen Sprache geschehen.

Wie wir bei der Betrachtung eines einzelnen Menschen gesehen haben, gibt es eine objektive Zielsetzung im Leben – nämlich dessen Erhalt. Zielsetzung der Sprache, wenn man sie als menschliche Eigenschaft oder Fähigkeit betrachtet, ist demnach, sie als Mittel zu verstehen, durch Kommunikation dieses Lebensziel zu erreichen.

Wie am Beispiel unserer zwei Inselbewohner bisher gezeigt reicht eine minimalste Sprachverständigung zur Überlebensfähigkeit. Tiere, sofern sie eine Art Sprache haben, kommunizieren fast ausschließlich deshalb, um sich gegenseitig darüber zu informieren, dass

6 Ich unterhielt mich mit einigen Personen, die mehrere Sprachen konnten. Sie meinten, dass Inhalte in

Erinnerung bleiben, aber nicht die zugehörige Sprache. Diese Erfahrung kann ich nach fünf Jahren Auslandsaufenthalt bestätigen.

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Gefahr existiert oder wo es Nahrungsmittel gibt. Die menschliche Sprache kann weitaus mehr Informationen (Gedanken) übermitteln.

Kommen wir aber zu den Beiden auf der Insel zurück und belassen das Thema Sprache. Unser Freund war durch den Besuch sehr glücklich, obwohl er sich mit seinem Gast nicht unterhalten konnte. Bei einem Sturm wurde das Boot zerstört. So waren sie gezwungen, auf der Insel zu bleiben.

Tag um Tag verging, ohne dass sich die beiden unterhalten konnten. Der Alte hatte auch kein Interesse daran, sondern fühlte sich durch die Aufopferung unseres Freundes geehrt. Unser Freund wurde aber mit jedem Tag frustrierter und fing an, den Alten zu hassen. Ihm war die lang ersehnte Gesellschaft unerträglich und plante, den Eindringling, wie er ihn inzwischen empfand, umzubringen.

Zwar hatte er sich über Jahre selbst am Leben erhalten, doch lag ihm nicht mehr viel daran, wie es weitergehen sollte. Seine letzte Hoffnung, endlich wieder unter Menschen zu sein, erweist sich durch jenen Gast als Enttäuschung. Wobei ich hier auf den kategorischen Imperativ von Kant hinaus möchte: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Wenn sich unser Freund also erlauben würde, den Alten umzubringen, müsste er dem Besucher nach der Kant’schen Maxime auch das Recht einräumen (seine Handlungsmaxime ist das Töten des Gastes und wäre damit nach Kant ein allgemeines Gesetz), dass der Alte unseren Freund tötet. Unser Freund hat die spezielle menschliche Eigenschaft, zu der Tötungsabsicht „Nein“ zu sagen. Seine Entscheidung unterliegt dem freien Willen. Die Einschränkung dieser Freiheit nennen wir im allgemeinen Moral, bzw. Ethik.

Der Kant’sche Imperativ ist durchaus sinnvoll, aber wie in diesem Beispiel dargelegt, setzt er voraus, dass das Lebensziel (den Fortbestand der Art) gewollt ist. Der kategorische Imperativ darf allerdings nicht als subjektive Maxime verstanden werden, sondern als objektives Handlungsziel. Gemeint ist, dass ein zweites Wesen die gleiche Überlegung als allgemeines Gesetz anerkennen soll (in unserem Beispiel: Dass der Alte damit einverstanden ist, unseren Freund töten zu dürfen, aber mit der Einschränkung, auch selbst durch unseren Freund getötet zu werden).

Letztendlich bedeutet Moral (bzw. Ethik): der gesellschaftliche (bzw. individuelle) Umgang mit Traditionen, Normen und Regeln (die teilweise in Gesetzen verankert sind). Dieser Umgang hängt vom jeweils individuellen Gewissen ab. Das Gewissen gründet wiederum auf dem eigenen Verhältnis zu Handlungen und deren denkbaren Folgen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, Handlungen zu beurteilen und Folgen abzuschätzen. Dieses individuelle Gewissen wird dabei von den jeweils gültigen Moral- und Ethikvorstellungen beeinflusst.

Ist z.B. Mord an Ausländern in einer Gesellschaft toleriert und unser Freund stammt aus einer solchen Gesellschaft, wird er wahrscheinlich weniger Gewissenskonflikte haben, als wenn er eine andere Vorstellung über die Gleichheit des Menschen hat. Es ist noch zu früh, um auf diesen Punkt näher einzugehen – vor allem auch deshalb, weil unsere zwei Bekannten auf der Insel alleine sind und wir bisher gesellschaftliche Aspekte ausgeklammert haben.

So langsam kommen wir auf einen wichtigen Punkt unserer Aufgabenstellung zu sprechen: den Gerechtigkeitsbegriff. Nachdem wir uns darüber klarer geworden sind, dass wir eigentlich alles dürfen, was wir können und nur unserer Selbsteinschränkung unterliegen, die sich in der Moral, bzw. Ethik ausdrückt, können wir dazu übergehen, uns die Frage zu stellen, was

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gerecht ist. Wie bisher gezeigt, hängt unsere Antwort zur Moral, bzw. Ethik vom individuellen Gewissen ab. Für die Gerechtigkeit will ich ein Gedankenmodell konzipieren, um zu zeigen, was gerecht ist.

Das Konzept des „unbeteiligten Dritten“ Würde ich fragen, was Sie, lieber Leser, von der Tötungsabsicht unseres Freundes halten, habe ich es mit einem „unbeteiligten Dritten“ zu tun. Zudem sind Sie mir mit Ihrer Erfahrung, Ihrem Wissen und den daraus resultierenden Erkenntnissen unbekannt. Das „unbeteiligt“ steht hier für Neutralität.7 Aber wieso nenne ich Sie einen „Dritten“?

Ich, als Autor, bin eine Person. Der Sachverhalt (nämlich die von mir erdachte einsame Insel mit den zwei Menschen) ist eine Art zweite Person. Deshalb nenne ich Sie „Dritten“. Wir könnten auch nur die zwei Personen auf der Insel fragen, wer für sie ein „unbeteiligter Dritter“ ist. Und das wäre sowohl ich als Autor, aber auch Sie als Leser, obwohl wir in diesem Fall nicht auf der Insel sind. Würden wir uns allerdings dort befinden und einen neutralen Standpunkt einnehmen, wären wir ein „unbeteiligter Dritter“.

Die Überlegung basiert unter anderem auf der schon gemachten Aussage, dass sich unser Freund auf der Insel allein keine Gedanken machen muss, was gerecht sei. Erst durch das Hinzufügen eines zweiten Akteurs stellt sich die Frage nach Gerechtigkeit.

Nun will ich Sie also fragen, ob die Tötungsabsicht gerecht sei – die Antwort kann nur Ja oder Nein lauten. Ich wünschte mir natürlich, dass Sie Nein sagen. Gehen wir also davon aus, dass es nicht gerecht sei, wenn unser Freund den Alten umbringt.

Diese Entscheidung treffen wir aufgrund unserer vorliegenden Informationen. Denn wir wissen bisher nur, dass sich unser Freund auf der Insel von dem Alten gestört fühlt. Dies allein wäre für viele noch kein Grund, den Alten aus der Welt zu schaffen. Was aber, wenn der Alte die Dinge zerstört, die sich unser Freund aufgebaut hatte? Was, wenn der Besucher anfängt, die Lebensgrundlage unseres Freundes anzugreifen? Dann wäre der Besucher eine Bedrohung für unseren Freund.

Mit jeder weiteren Information ändert sich unser Gerechtigkeitsverständnis. Damit ist Gerechtigkeit etwas Relatives – abhängig von den Informationen, die zur Beurteilung nötig sind.

Ich möchte deshalb Gerechtigkeit in drei Bereiche einteilen:

1.) subjektive Gerechtigkeit

2.) objektive Gerechtigkeit

3.) absolute Gerechtigkeit

Für unseren Freund mag es subjektiv gerecht sein, seinen Besucher umzubringen. Für uns, als „unbeteiligte Dritte“ mag dies (egal, wie unser Kenntnisstand über die Hintergründe ist) auch subjektiv gerecht sein, wenn unser Freund seinen Besucher umbringt. Objektiv gerecht wird es dann, wenn es alle als gerecht empfinden, was unser Freund vorhat. Dazu müssten wir auch den „Umzubringenden“ fragen, ob er es als gerecht empfindet, umgebracht zu werden. Absolut gerecht wäre, wenn man zudem alle „unbeteiligten Dritten“ fragen würde und eine einheitliche und gemeinsame Antwort erhalten würde. Dafür müssten auch noch alle 7 In früheren Publikationen wurde das Konzept als „unbekannter Dritter“ beschrieben, wobei damit nicht klar

war, ob der „Unbekannte“ Teil des Systems sein kann oder nicht. Die Umbenennung macht es klarer.

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relevanten Informationen einfließen. Da dies praktisch nicht möglich ist, weil jeder in irgendeiner Form „beteiligt“ ist8, kann man zumindest versuchen, so nah, wie nur möglich an diese Gerechtigkeit zu gelangen, indem man so neutral, wie nur möglich ist.

Dieses Konzept des „unbeteiligten Dritten“ lässt sich auch auf Wahrheit anwenden. Im Allgemeinen hat Gerechtigkeit und Wahrheit sehr viel miteinander zu tun – es geht im Prinzip um die Richtigkeit.

Ich verwies bei dem Beispiel, als unser Freund auf der Insel die Richtigkeit überprüfen wollte, ob es einen Zusammenhang zwischen vergrabener Frucht und Pflanze gibt, auf später. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, es unter den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit zu betrachten.

Für unseren Freund ist es subjektiv richtig. Stellt sein Gast fest, dass durch Vergraben einer Frucht eine Pflanze aus der Frucht entsteht, ist dies auch erst einmal subjektiv richtig. Für beide gemeinsam ist es unter den gegebenen Umständen objektiv richtig. Wir, als „unbeteiligte Dritte“ können es nur durch die Informationen der Beiden subjektiv bewerten und als objektiv richtig anerkennen.

Ändern sich z.B. die Voraussetzungen für den Versuch (anderes Klima, andere Bodenbedingungen...) heißt das nicht, dass es keinen Zusammenhang zwischen Frucht und Pflanze gibt, sondern wie bei der Gerechtigkeit, dass die Richtigkeit relativ ist.9

Inzwischen sind einige Monate auf unserer Insel vergangen während derer sich unser Freund Gedanken machte, ob er nun seinen Gast umbringen soll und ob er das auch darf. Wäre es gerecht? Wäre es richtig? Auf diese Tötungsabsicht möchte ich nun näher eingehen.

Konflikte Wie wir die Beiden auf unserer gedachten Insel bisher kennen gelernt haben, reichen die natürlichen Ressourcen ohne Probleme für beide. Die Tötungsabsicht unseres Freundes führt dann zu einem realen Konflikt, wenn der Alte beginnt, die Lebensgrundlage unseres Freundes zu vernichten. Ich nenne dies „realen Konflikt“, weil der eine Konfliktpartner in die Lebensgrundlage des anderen massiv eingreift und damit dessen Überleben gefährdet. In unserem Fall ist herauszustellen, dass sich der Besucher auch seine eigene Lebensgrundlage zerstören würde. Auf der einen Seite kann sich der Besucher dessen bewusst sein; auf der anderen Seite nicht.

Was könnte unseren Freund noch bewegen, seinen Besucher zu töten?

Da wäre zum Beispiel das Boot, das bei einem Sturm zerstört wurde. Unser Freund könnte nun annehmen, dass der Alte das Boot zerstört hätte. Mit dem Boot hätten sie aufs Meer hinausrudern können und dort angeln. Demnach stellt das Boot ein Mittel dar. Im Allgemeinen kann man hier von einem Mittelkonflikt sprechen.

Wenn ich nun sage, dass in dem Boot Werkzeug war, um ein neues Boot zu bauen, handelt es sich dabei auch um Mittel. Den Alten interessiert es allerdings nicht, was unser Freund mit

8 Vgl. Unschärferelation von Werner Heisenberg aus der Quantenphysik, die (einfach ausgedrückt) besagt, dass

man durch Messung eines Ereignisses, die Ergebnisse eines anderen (damit verbundenen) stört. 9 Die Mathematik gilt als exakte Wissenschaft. Sie ist nur deshalb exakt, weil exakte Definitionen vorliegen (die

Axiome der Mathematik). 1+1 ist nur dann 2, wenn es so definiert wurde. Schüttet man einen Liter Wasser und einen Liter reinen Alkohol zusammen, ist die neue Flüssigkeitsmenge nicht 2 Liter; anders wenn man ein Kilogramm Wasser und ein Kilogramm Alkohol zusammenschüttet – die neue Flüssigkeitsmenge beträgt 2 Kilogramm.

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dem Werkzeug vorhat. Er liegt den ganzen Tag faul in der Sonne und kommt abends in die Hütte, um sich das zu nehmen, was unser Freund tagsüber gesammelt hat.

Unser Freund macht dem Alten klar, dass er ein Boot bauen will, aber dafür die Hilfe des Besuchers benötigt. Der Alte geht darauf nicht ein und liegt weiter am Strand. Hier haben wir es mit einem Zielkonflikt zu tun.

Letztlich nimmt der Alte die Mangos, die er nicht mag und fängt an, diese gegen die Wand zu werfen. Unser Freund tobt, denn wie wir wissen, liebt er Mangos – den Alten interessiert es nicht. Diese Konfliktart beruht auf unterschiedlichen Werten. Für unseren Freund zerstört der Alte etwas für ihn sehr wertvolles, das für den Besucher keinen wirklichen Wert besitzt.

Erschwerend bei allen aufgeführten Konfliktarten kommt hinzu, dass sich die beiden Konfliktparteien gar nicht verstehen können – schließlich hatte ich das Szenario so gewählt, dass es keine gemeinsame Sprache gibt.

Damit haben wir verschiedene Konfliktarten, weshalb unser Freund diese Tötungsabsicht hegt. Unabhängig, ob das nun gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch ist, will ich noch auf einen besonderen Punkt der Konfliktlösungsmöglichkeit eingehen:

Unser Freund hat sich entschieden, den Alten umzubringen. Allerdings will er dies nicht direkt tun und selbst Hand anlegen, sondern stellt tödliche Fallen. Er ist sich über die Folgen im Klaren und beabsichtigt diese auch.

Zwar bin ich nicht immer ein Freund des Happyends, aber ich beschrieb den Alten als faul und träge, weshalb der Besucher erst gar nicht in die Fallen unseres Freundes treten konnte. Also entschließt sich unser Freund, um des lieben Frieden willen, seine Behausung zu verlassen und auf die andere Seite der Insel zu ziehen. Er fürchtet sein Gewissen mehr, als die Suche nach einer neuen Heimat. Und möglicherweise wird der Alte dann merken, dass er (auf sich allein gestellt) nicht den ganzen Tag faul am Stand herumlungern kann.

Erste Zusammenfassung Der Mensch ist ein Lebewesen, das zum Überleben Stoffwechsel betreiben muss. Primäres Ziel eines jeden Lebewesens ist, zu überleben. Wie alle anderen Lebewesen hat der Mensch zum Betreiben seines Stoffwechsels, Eigenschaften und Fähigkeiten. Der Unterschied zu anderen Lebewesen ist, dass der Mensch zusätzlich über einen freien Willen verfügt. Dieser freie Wille macht den Menschen von Bedürfnissen unabhängig – der Mensch kann bei Hunger auch „Nein“ zu einem Essensangebot sagen. Statt einer instinktiven Reaktion bei aufkommenden Gefühlen tritt die freie Entscheidung und mit ihr verbunden die Verantwortung für deren Folgen. Eingeschränkt wird diese Freiheit durch ein Gewissen, welches durch Moral- und Ethikvorstellungen geprägt ist.

Gerechtigkeit, Wahrheit und Richtigkeit sind relativ. Jeder Mensch hat von seinem Standpunkt aus Recht, da er durch seine Erfahrung, sein Wissen und damit durch seine Erkenntnis zu diesem Standpunkt gelangte. Die Verknüpfung von Erfahrung und Wissen haben wir als Erkenntnis definiert. Objektiv gerecht, wahr oder richtig ist, wenn ein „unbeteiligter Dritter“ zu den gleichen Ergebnissen bei mindestens gleichem Informationsstand kommt.

Zwischen Männern und Frauen existieren biologische (zweckgerichtete) Unterschiede, die allerdings nichts mit der Eigenschaft eines Menschen zu tun haben. Demnach gelten die Aussagen für Männer und Frauen.

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Der Mensch kommuniziert über Sprache mit Mitmenschen, um Informationen auszutauschen. Die Informationen sind vom ursprünglichen Zweck der Lebewesen entkoppelt (sie bestehen in der Tierwelt hauptsächlich darin, um das Überleben der Art zu sichern).

Zwischen Menschen kann es auf vier Ebenen zu Konflikten kommen: Den einen Konflikt nannte ich realen Konflikt, der das Überleben aller Konfliktparteien gefährdet; den Mittelkonflikt (Streit über den Besitz von Ressourcen); den Zielkonflikt (Streit über die Nutzung von Ressourcen) und den Wertkonflikt (Streit über die subjektive Wertschätzung von Ressourcen).

Dieses Menschenbild bezeichne ich als „joviales Menschenbild“. Jovial im Sinne von freundschaftlich und wohlwollend. Der große Unterschied zu einem „sozialen Menschenbild“ besteht darin, dass der Mensch gleichzeitig als reines, isoliertes Individuum, aber auch in Bezug auf seine Mitmenschen betrachtet wird. Damit soll verdeutlicht werden, dass es um den Fortbestand des einzelnen Menschen, aber auch um den Fortbestand aller Menschen geht.

Wir verlassen nun vorerst unseren Freund und seinen Gast. Wir werden allerdings im Folgenden immer wieder auf die beiden zurückkommen. Ich hoffe, dass damit die erste große Aufgabenstellung gelöst ist, wie ich die Gleichheit der Menschen verstehe: Alle wollen leben.

Der Mensch in Gruppen Wird ein Mensch geboren, erfährt er unterbewusst, dass er von seinen Mitmenschen abhängig ist und dass diese Einfluss auf ihn haben. Die Abhängigkeit in den ersten Lebensjahren äußert sich bezüglich Nahrung und seiner allgemeinen Versorgung, denn der Mensch kann in seinen Anfängen nicht ohne Mitmenschen leben.

Daraus leitet sich ab, dass der Mensch ein Sozialwesen ist. Selbst unser Freund auf der einsamen Insel erinnerte sich, woher er ursprünglich kam, und dass für sein eigenes Leben andere notwendig waren. Er hatte allerdings gelernt, allein in der Inselumgebung zu bestehen. Dies war ein von mir konzipierter Sonderfall, um den Menschen isoliert zu betrachten, der durchaus real vorkommen kann.

Im Normalfall ist der Mensch Mitglied in einer Vielzahl von Gruppen. Dabei stellt sich die Frage, was eine Gruppe ausmacht. Die Antwort darauf kann knapp gegeben werden, indem eine Gruppe als Zusammenfassung von Menschen mit einer bestimmten Struktur und bestimmten Wechselbeziehungen ist. Sie unterscheidet sich in Größe, Zusammensetzung, Zweck/Ziel, Geschichte, Tradition und Organisation.

Gruppen entwickeln eigene Normen und bestimmen damit das Verhalten ihrer Mitglieder mit. Umgekehrt beeinflussen die Gruppenmitglieder wiederum die Gruppennormen und -ziele. Es besteht eine dynamische Wechselbeziehung.

Warum mir der Mensch in Gruppen so wichtig ist, dass ich ihn hier in diesem Aufsatz erwähne, ist relativ einfach: Ich betrachte einen Staat als Art Gruppe.

Nun mag jemand einwenden, dass der Staat das Gegenüber des Volks sei. Das Volk lebt auf einem abgegrenzten Gebiet und der Staat hat nur dort seine sich daraus ergebenen Machtstrukturen. Weiter besteht das Volk aus einzelnen Individuen, die Mitglieder in vielerlei Gruppen sind.

Diesem Einwand gebe ich historisch gesehen Recht, als die Welt noch als Verbund von Territorialstaaten verstanden wurde. Eben aus diesem Grund will ich (noch) nicht von einem Staat sprechen, sondern von Gruppen. Durch die Globalisierung verliert nämlich der

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Territorialstaat an seiner ursprünglichen Bedeutung – vor allem deshalb, weil transnationale Wirtschaftsunternehmen scheinbar unabhängig eines Staates agieren können. Die Sichtweise von Gruppen lässt es zu, transnationale Unternehmen als eigenen „Staat“ zu betrachten.

Wie Sie sehen, sind wir gerade auf dem Weg, die einsame Insel zu verlassen und uns direkt mit dem eigentlichen Thema dieses Aufsatzes zu beschäftigen. Trotzdem dürfen wir die Erkenntnisse der einsamen Insel nicht vergessen.

Aus diesem Grund will ich mit der kleinsten Gruppe beginnen: dem Paar. Es gibt einige Arten von Paarbeziehungen und das besondere daran ist, dass sich dort anhand der Anzahl keine Minderheit bilden kann. Trotzdem ist Unterdrückung möglich. Zum Beispiel durch geistige oder körperliche Überlegenheit des einen oder anderen. Eine Paarbeziehung kann auch auf „Besitzansprüchen“ des einen Partners auf den anderen entstehen, sowie durch gegenseitige Abhängigkeiten.

Das Gegenteil solcher Paarbeziehungen ist die Anerkennung der individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten, aber auch der gleichen Freiheit des anderen. Es geht nicht darum, den anderen zu besitzen, zu beherrschen oder zu dominieren, vielmehr dreht sich eine solche Paarbeziehung um die Unterstützung zur optimalen Entfaltung des anderen nach dessen eigener Meinung und Vorstellung.

Wir hatten hier schon über Aristoteles gelesen, dass nach seiner Auffassung das wahre Glück des Einzelnen darin liege, seine Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten. Zu jenem Zeitpunkt, als ich Aristoteles aufführte, ging es um das Individuum. Nun kann ich weiterzitieren und verraten, dass Aristoteles darin das höchste Gut sah, welches durch Politik zu verwirklichen sei.10

Hier taucht zum wiederholten Mal das Wort Politik in meinem Aufsatz auf, weshalb ich mein Politikverständnis näher erklären will: Politik bedeutet für mich ein vorrausschauendes, zielgerichtetes Verhalten, von dem die Gruppe betroffen wird. Und damit ist für mich jeder Mensch Politiker, denn eine Vielzahl von Handlungen des Einzelnen betreffen auch Gruppen.

Aber ich bin in meiner Ausführung etwas zu schnell. Wir waren bei der kleinsten Menschengruppe, dem Paar. Ich will nun das Paar auf eine größere Gruppe erweitern.

Für alle Gruppen gilt, dass sie ein verbindendes Gruppenziel besitzen – manche bewusst, manche unbewusst, andere kurz-, andere langfristig und das Ziel kann ein- oder mehrdeutig sein.

Die größte denkbare Gruppe ist die gesamte Menschheit. Was kann aber deren verbindendes Gruppenziel sein?

Ich will hier keinen Idealismus an den Tag legen und Aristoteles höchstes Gut als globales Menschheitsziel definieren: nicht alle Menschen streben nach der Verwirklichung ihrer Fähigkeiten und Eigenschaften. Das hatte ich bei der Synthese von Aristoteles und Steinbuch angesprochen. Aber ich unterstelle dem Menschen einen (zumindest unterbewussten) Überlebenstrieb, der jedem Lebewesen eigen ist. Das ist das gemeinsame Ziel – und damit auch das oberste politische Ziel (jedes einzelnen).

Sehen wir uns nun allerdings zuerst Gruppen etwas näher an, denn das primäre Gruppenziel ist nicht immer, das Überleben der Mitglieder zu sichern. Dies aus dem Grund, weil Gruppen 10 Geschichte der Staatstheorien, Reinhold Zippelius, 10. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Verlag C.G.

Beck 2003, Seite 27, ISBN: 3-406-494943

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entweder homogen (gleichartig, einheitlich) oder heterogen (unterschiedlich) sein können. Homogene Gruppen bestehen aus Mitgliedern, die in vielerlei Hinsicht gleiche, oder zumindest gleichartige Vorstellungen haben. Heterogene Gruppen bestehen aus Mitgliedern, deren Vorstellungen durchaus unterschiedlich sein und zu Spannungen führen können. Allerdings ist der genannte Zusammensetzungsaspekt relativ. So kann eine politische Partei heterogen sein (in Bezug auf das Geschlecht, Alter, Konfession), aber gleichzeitig homogen (in Bezug auf die politische Zielsetzung).

Ein weiterer Aspekt von Gruppen ist die Dauer. Akute Gruppen kommen eher zufällig und spontan zusammen und bestehen kurz (z.B. ein Musikkonzert, eine Demonstration), deren Ziel häufig darin besteht, an einem Ereignis teilzuhaben oder einer gemeinsamen Meinung kurzfristig Gewicht zu geben. Permanente Gruppen sind hingegen für länger ausgelegt und halten durch langfristige, gemeinsame Ziele zusammen. Diese Ziele können natürlich je Gruppe sehr unterschiedlich sein.

Das Leben eines Menschen spielt sich zum Teil in Intimgruppen ab. Diese Art von Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie meist relativ klein ist und in der sich ihre Mitglieder geborgen fühlen. Es herrscht gegenseitiges Vertrauen und Zusammenhalt. Solche Intimgruppen können auch durch Ausschluss aus größeren Gruppen entstehen (z.B. Widerstandsbewegungen).

Großgruppen, wie politische Parteien, Vereine, Konzerne, Gewerkschaften uvm. zeichnen sich zwar durch gemeinsame Ziele aus, aber auch in der Unmittelbarkeit der Gruppenmitglieder. Durch die große Masse ist es nicht möglich, dass alle Mitglieder direkt miteinander in Kontakt stehen. Ein weiterer Aspekt der Gruppengröße besteht in der Dynamik: die freie Willensentscheidung eines Einzelnen wird dabei durch die Gruppe gebündelt.

Deshalb können Gruppen als eigenständiges Lebewesen gesehen werden. In der Natur gibt es zum Beispiel Einzeller und Mehrzeller. Der Hauptgrund zur Gruppenbildung (die soweit reicht, dass eine einzelne Zelle des Organismus nicht mehr allein lebensfähig ist) ist mit dem Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Lebewesen verbunden. Es gibt in der Natur Beispiele, dass sich Gruppen, ja sogar Staaten bilden, wie das bei Wolfsrudeln oder einem Ameisenstaat der Fall ist.

Beim klassischen Beispiel Ameisenstaat wird auch von kollektiver Intelligenz gesprochen. Durch das Zusammenspiel der einzelnen, relativ unintelligenten Individuen innerhalb einer Gruppe (hier Ameisenstaat) wird durch Kommunikation (Austausch von Informationen) eine Art „Überorganismus“ gebildet. Dieser weist neue und intelligente Verhaltensweisen auf.

Doch intelligentes Verhalten hat nicht zwingend etwas mit bewusstem Verhalten zu tun. So unterstelle ich dem „Gruppenlebewesen“ keinen freien Willen, sondern die Bündelung der einzelnen freien Willen zu einem „tierischen“. Die Gruppe (als Gesamtwesen) verfügt über keine Selbstkontrolle (diese wird über die Gruppendynamik gesteuert), über kein Selbstbewusstsein (wobei durchaus von kollektivem Bewusstsein gesprochen wird, wie dies z.B. C. G. Jung tat oder auch bei Fichte und Hegel im „Weltgeist“ auftaucht) und über keine Selbstbeherrschung (später dazu mehr bei Demokratie).

Das „Gruppenwesen“ hat nicht die Freiheit „Nein“ zu sagen – dazu müssen die einzelnen Mitglieder ihre Freiheit nutzen, dieses „Nein“ auszusprechen. Deshalb ist es schwierig, Gruppen von einer bestimmten Zielrichtung (dem „Ja“ der Mitglieder) in eine andere umzulenken. Dabei gilt: je größer die jeweilige Gruppe ist, desto schwieriger (schließlich

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müssen alle Gruppenmitglieder über die neue Zielrichtung informiert werden und diese mittragen).

Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft Ich habe bisher bewusst auf zwei Worte verzichtet, die mit Großgruppen zusammenhängen: Gemeinschaft und Gesellschaft. Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies (1855-1936) beschäftigte sich in seinem Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“11 von 1887 intensiv mit diesem Thema und begründete im Wesentlichen die deutsche Soziologie. Voraussetzung für seine Betrachtung ist die Bejahung anderer Gruppenmitglieder (das Zugeständnis, dass jene auch leben wollen). Diese Bejahung ist für Tönnies das Grundproblem und Thema der Soziologie.

Eine Verneinung kann natürlich ebenfalls vorausgesetzt werden, wie ich schon bei der Definition des Menschen geschrieben hatte (das bewusste „Nein“) – die Konsequenz daraus wäre allerdings, wie bei der Darlegung zum Kant’schen Imperativ, dass das eigene Leben mitverneint würde. Damit wären wir beim „Krieg aller gegen alle“, wie ihn Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem Werk „Leviathan“ als Naturzustand postulierte.12

Tönnies ging in seiner Schrift davon aus, dass es zwei Antriebe für die Mitgliedschaft gibt, die sich definieren lassen:

Das Individuum ist dann (für sich gesehen) in einer Gemeinschaft, wenn es sich in dieser Gruppe als Teil eines größeren sozialen Ganzen sieht und sich als „dienendes Mittel“ für einen übergeordneten Zweck versteht. In dieser Gruppe existiert für das Individuum eine emotionale Bindung und ein Zusammengehörigkeitsgefühl (Wir-Gefühl). Die Gemeinschaft genügt sich selbst. Beispiele für Gemeinschaften sind (ähnlich, wie die bereits genannten Intimgruppen): Familie, bzw. Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Schiffsmannschaft, Sportmannschaft.

Die Gesellschaft stellt sich aus Sicht des Individuums als Mittel zu seinen eigenen individuellen Zwecken dar. Es benutzt diese Gruppe, um sich selbst zu verwirklichen. Das Individuum kann ohne die Gesellschaft sein – sie ist Mittel zum Zweck. Beispiele für Gesellschaften sind: Aktiengesellschaften, neuzeitlicher (Territorial-)Staat, Menschheit.

Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Charles Horton Cooley (1864-1929) entwickelte eine ähnliche Sichtweise, indem er Gruppen in Primär- (Tönnies: Gemeinschaft), und Sekundärgruppen (Tönnies: Gesellschaft) unterschied.13

Eine objektive Aufteilung in diese Gruppen ist nicht möglich, denn der Einzelne kann eine Gruppe sowohl als Gemeinschaft und gleichzeitig als Gesellschaft sehen. Trotzdem lässt sich in unserer globalisierten Welt die Tendenz feststellen, dass ein Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft stattfindet. Gruppenbeziehungen werden rationaler und distanzierter. Der Individualisierungsprozess sieht Gruppen immer mehr als Mittel zum Zweck und empfindet Gemeinschaften eher störend.

Ich will den Individualisten damit keinen Egoismus unterstellen, denn schließlich sind sie auch für eine Gesellschaft wichtig. Doch wenn die Gesellschaft nicht mehr für das Mitglied 11 Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, Nachdruck: Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt 12 Geschichte der Staatstheorien, Reinhold Zippelius, 10. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Verlag C.G.

Beck 2003, Seite 93, ISBN: 3-406-494943 13 Cooley, Charles H. (1909): Social Organization. A Study of the Larger Mind. New York.

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wichtig ist und das Mitglied auch ohne Gesellschaft auskommt, wird sich das Mitglied auch nicht mehr um die gesellschaftlichen Belange kümmern.

So kann zum Beispiel Gewalt in Gesellschaften, in denen das Überleben größtenteils gesichert ist, durch Aristoteles begründen: Sie ist der Versuch, seine Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten (sich dadurch selbst kennen lernen), indem die Grenzen ausgetestet werden, die durch die Gruppe vorgegeben werden. Der Einzelne versucht für sich die Frage zu klären, wie weit seine Freiheit tatsächlich reicht.

Dabei fühlt sich niemand wirklich verantwortlich oder gar berechtigt, in die Freiheit des anderen einzugreifen. Für den Gemeinschaftsbesitz (das Individuum sieht den Besitzer als Gesellschaft) soll auch die Gemeinschaft Verantwortung tragen (als dessen Teil es sich nicht sieht). Man wird sich eher um das Eigene kümmern, als um Dinge der Gemeinschaft, und wenn, dann doch nur soweit, wie es einen selbst angeht (dann ist es nämlich für das Individuum direktes Mittel zum Zweck).

Der umgekehrte Fall: in Regionen wird die Gemeinschaft wichtig, in denen nur über die Gemeinschaft das Überleben gesichert ist. Dort muss das Individuum, egal, ob es die Gemeinschaft akzeptiert oder nicht, seinen Beitrag leisten, um das gemeinsame Überleben zu sichern. Hier ist die Gemeinschaft eine Bedarfsgemeinschaft (nicht zu verwechseln mit dem Begriff aus dem deutschen Sozialhilferecht14, das allerdings wegen dieses Sachverhalts das Individuum aus der Gesellschaft in die Gemeinschaft zurückdrängt).

Wer nun meint, die Gemeinschaft sei der Gesellschaft absolut zu bevorzugen, verkennt gewisse Zusammenhänge. Vor allem der Kommunismus (der lateinischen Übersetzung von „Gemeinschaft“) mag dazu ermuntern, die Gemeinschaft der Gesellschaft vorzuziehen.

Ein Punkt, der durch Tönnies Modell verkannt wird, ist, dass „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ gedanklich konstruiert sind, um die Beweggründe für eine Gruppenzugehörigkeit getrennt zu erklären. Es ist auch nicht verwunderlich, denn wie ich allgemein über Gruppen schrieb, ist ein Individuum ein wechselndes Mitglied verschiedenster Gruppen – und die eine Mitgliedschaft kann der Definition „Gemeinschaft“ entsprechen, die andere (des gleichen Individuums) der „Gesellschaftsdefinition“.

Will man die Gemeinschaft bevorzugen, versucht man die Individualität zu unterdrücken. Die Gesellschaft macht gerade die Individualität des Einzelnen aus. Erst durch Abgrenzung zu anderen Individuen wird die Individualität bewusst wahrgenommen. Und genau das heißt, dass Gesellschaft nötig ist.

Gemeinschaft beinhaltet auch eine Gefahr für solche Menschen, die nicht mit ihrer Individualität umgehen können. In jedem Menschen existiert der Wunsch irgendwo „dazu zu gehören“. Ist dabei die Individualität nicht ausgeprägt genug, sucht der Mensch seine Identität in einer Gruppe – die Gemeinschaft bietet hierfür einen positiven Raum. Driftet der Mensch allerdings in eine „kollektive Identität“, besitzt die Gruppe Macht über diesen Menschen.15

14 Bedarfsgemeinschaft ist ein Begriff aus dem deutschen Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Dem

Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft liegt die Prämisse zu Grunde, dass Personen, die besondere persönliche oder verwandtschaftliche Beziehungen zueinander haben und die in einem gemeinsamen Haushalt leben, sich in Notlagen gegenseitig materiell unterstützen und ihren Lebensunterhaltsbedarf gemeinsam decken. Daraus wird gefolgert, dass Angehörige einer solchen Bedarfsgemeinschaft weniger sozialstaatliche Hilfe benötigen als Personen, die nicht in einer solchen Gemeinschaft leben.

15 Vgl. Bernhard Giesen: Kollektive Identität, Suhrkamp, 1999, ISBN: 3-518-29010-X

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Früher bedeutete der Verstoß aus einer Gruppe für viele den sicheren Tod. Deshalb wird ein Mensch, dessen Individualität nicht genügend ausgeprägt ist, einen solchen Verstoß um jeden Preis zu verhindern suchen. Er wird sich die Wiederaufnahme in die Gruppe im Tausch gegen seine eigene Persönlichkeit erkaufen und so gezwungen, sein eigenes Selbst aufzugeben.

Umgekehrt kann es auch „geschlossene Gemeinschaften“ geben. Man spricht auch von „verschworenen Gemeinschaften“ oder „Geheimgesellschaften“, die weder ihre Gruppenziele nach Außen kommunizieren, oder keine neuen Mitglieder zulassen. Diese Gruppen unterstützen oder tolerieren fast ausschließlich ihre eigenen Mitglieder. So spricht man zum Beispiel bei Akademikern vom „Elfenbeinturm“.

Rufen wir uns hier noch einmal die Überlegung in Erinnerung, dass eine Gruppe als eigenständiges Lebewesen betrachtet werden kann. Es ist dann nicht verwunderlich, dass eine Gemeinschaft eher um ihr Überleben kämpfen wird, als eine Gesellschaft. Dieser „Kampf“ kann sogar soweit führen, dass die einzelnen Gruppenmitglieder unwichtig werden und dem „Überlebenskampf“ zum Opfer fallen – dies findet man zum Beispiel in Kriegen.

Ich halte Gemeinschaft und Gesellschaft für wichtig, wobei jeder Einzelne für sich entscheiden können soll und muss, wie er seine Gruppenzugehörigkeit gewichtet. Eine Gesellschaft ohne Gemeinschaft wird nicht existieren können, denn zumindest die Organisation der Gesellschaft bildet eine Gemeinschaft.16

Mit den Gruppen treffen wir nun auf die Begriffe, wie Organisation, Herrschaft und Macht. Zur Verwirklichung eines langfristigen Gruppenziels hängt es von der Organisation ab, wie alle Gruppenmitglieder an diesem beteiligt werden. Organisation wird häufig mit hierarchischer Herrschaft in Verbindung gebracht und von dort gelangen wir direkt zur Macht. Ich werde zuerst die Macht, dann die Herrschaft und Organisation behandeln.

Zweite Zusammenfassung Der einzelne Mensch befindet sich in Gruppen, weil er ein soziales Wesen ist. Gruppen können von zwei Menschen bis hin zur gesamten Menschheit reichen.

Der Grund zur Gruppenbildung liegt in der Erleichterung der Zielerreichung. Dabei können Gruppen als eigenständige Lebewesen betrachtet werden, obwohl ein einzelner Mensch in mehreren Gruppen Mitglied sein kann.

Je größer die Gruppe wird, desto weniger sind alle Mitglieder an der Zielerreichung der jeweiligen Gruppe direkt beteiligt. Die Mitgliedschaft in solchen Gruppen können in zwei Begründungen geteilt werden: das Gruppenziel steht im Vordergrund oder das individuelle Ziel lässt sich (erst) durch die Gruppe erzielen.

Die Gruppenmitgliedschaft, in denen das Gruppenziel im Vordergrund steht, nannte ich (nach Tönnies) Gemeinschaften; die Gruppenmitgliedschaft, in denen das individuelle Ziel im Vordergrund steht (nach Tönnies) Gesellschaften.

Gruppenmitgliedschaft kann freiwillig erfolgen (z.B. in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, bei Konzerten, Demonstrationen usw.) oder sich natürlich ergeben (z.B. der Familie, Staatsangehörigkeit, Menschheit usw.).

16 vgl. „Gemeinschaft in Gesellschaft“ von Prof. Dr. Michael Opielka; VS-Verlag 2004, ISBN: 978-3531142258

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Gruppen als Lebewesen betrachtet, haben ein „tierischen Willen“ und keinen freien Willen – sie agieren über die Zielsetzung der einzelnen Individuen. Diese Zielsetzung nannte ich Dynamik und ich sagte: je größer die Gruppe, desto schwieriger wird die Zielumstellung.

In Gruppen trifft man auf Organisation, Herrschaft und Macht. Die Organisation von Gruppen kann man als eigenständige Gruppe sehen, die oft Aspekte einer Gemeinschaft aufweist.

Macht Um das Thema Macht zu behandeln, sollten wir uns zuerst einig werden, was Macht eigentlich ist. Damit definiere ich Macht als Möglichkeit, den Willen eines einzelnen oder einer Gruppe einem anderen Menschen oder einer anderen Gruppe aufzuzwingen und deren Verhalten in einer gewünschten Richtung zu beeinflussen.17 Damit wird die menschliche Eigenschaft unterschlagen, dass jeder Mensch über die Eigenschaft, bzw. Fähigkeit eines eigenen freien Willen verfügt.

Zur Durchsetzung des Willens, können verschiedene Machtmittel benutzt werden, wie zum Beispiel Stellung (Vater eines Kindes, Vorgesetzter in einer Firma etc.). Diese Stellung kann rechtlich gewährleistet sein (z.B. ein Polizist in einem Staat) und nach Außen durch besondere Kleidung (z.B. Uniform) kenntlich gemacht werden. Damit wird die Kleidung Ausdruck der Stellung und kann als Machtmittel gesehen werden. Machtmittel sind mitunter auch Werte, die für die Person/Gruppe erstrebenswert sind.

Machtmittel können allerdings ihre Wirksamkeit verlieren, wenn ihnen die betreffende Person oder Gruppe nicht dieselbe Bedeutung zumisst, wie der Machtausübende. Wie im Abschnitt über Konflikte erklärt, können unterschiedliche Wertebemessungen zu Konflikten führen.

Manche sehen Macht als Fähigkeit, was hieße, dass man sie möglicherweise als Besitz betrachtet, der unabhängig von Machtmitteln wäre. So findet sich zum Beispiel bei Niccolò Machiavelli (1469-1527) in seinem Werk „Der Fürst“18 (im Original „Il Principe“) keine Beschreibung der Macht. Vielmehr beschreibt Machiavelli verschiedene Machtpositionen (in Form von Fürstentümern) und wie man zu jenen Positionen gelangen kann. Der Schwerpunkt in dem Buch liegt auf dem richtigen Verhalten des Machthabenden (des Fürsten) und welche Eigenschaften dieser aufweisen sollte, um die Machtposition zu erhalten.

Noch heute gilt „Der Fürst“ als Pflichtlektüre für alle, die sich mit Politik beschäftigen (z.B. im Studium der Politikwissenschaft). Das Werk ist eine Anleitung für Politiker, die nach persönlichem Erfolg und Macht streben. „Der Fürst“ beinhaltet, dass für einen Machthaber alle Mittel recht sind, um die Machtempfänger in Ruhe und Frieden zu führen.

Die Sicht von Machiavelli zeigt, dass es einen Unterschied zwischen der tatsächlichen Macht (Machtmitteleinsatzmöglichkeiten) und der Macht gibt, die in konkreten Situationen angewandt wird.

Macht ist deshalb Ausdruck einer sozialen Beziehung und nicht zwingend Merkmal eines Beteiligten. Es ist ein dynamischer Prozess, der sich ständig ändert. Macht ist sehr subjektiv, da es für den einen Macht ist, für den anderen selbstverständlich. Dadurch wird das subjektive Empfinden und wahrnehmen von Macht entscheidender als die objektiv ausgeführte Macht.

17 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, Tübingen 1956/1980:

http://de.wikisource.org/wiki/Wirtschaft_und_Gesellschaft/Teil_1_Kapitel_1#.C2.A7_16._Macht.2C_Herrschaft 18 Niccolò Machiavelli: Il Princip/Der Fürst; italienisch/deutsch; Reclam; ISBN: 3-15-001219-8

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Machtverhältnisse sind stets an aktuelle Situationen gebunden und nicht konstant. Das Machtverhältnis wird durch Machtausübende und Machtempfänger bestimmt. Es gibt freiwillige Machtverhältnisse, die akzeptiert sind (teils durch Vernunft) und unfreiwillige, bestimmende Verhältnisse, die untoleriert bleiben (teils durch Unvernunft des Mächtigen oder Machtempfängers).

Die Sozialpsychologen French und Raven haben 1959 in einer Studie Macht und deren Mittel in verschiedene Kategorien eingeordnet.19

• Legitime Macht: Man lässt sich beeinflussen, wenn man der Ansicht ist, der Beeinflussende habe ein Recht dazu, Entscheidungen oder Verhaltensweisen zu beeinflussen. Die legitime Macht bezieht sich z.B. auf die Macht von Vorgesetzten, aufgrund ihrer relativen Position in einer Organisationsstruktur. Legitime Macht ist identisch mit Autorität und abhängig von der Überzeugung der Individuen, vom Recht eines Vorgesetzten, seine Stellung innezuhaben und deren Akzeptanz des Stelleninhabers.

• Macht durch Belohnung: Belohnungsmacht hängt von der Fähigkeit des Machtausübenden ab, Belohnungen zu vergeben. Neben materiellen oder finanziellen Belohnungen können auch Aufmerksamkeit, Lob und Zuwendung zur Anwendung kommen. Die Macht durch Belohnung bezieht sich z.B. auf die Möglichkeit von Vorgesetzten, den Mitarbeitenden Vorteile, Wohlstand oder Beförderung zu verschaffen oder ihren Lohn oder Verantwortungsbereich zu vergrößern.

• Macht durch Zwang: Macht durch Zwang meint die Anwendung von negativen Einflüssen. Sie kann sich auf die Möglichkeit einer Degradierung oder Entlassung beziehen oder auf die Zurückhaltung von Belohnungen. Der Gehorsam der Abhängigen wird durch den Wunsch nach wertgeschätzten Belohnungen oder die Angst vor deren Entäußerung erreicht.

• Macht durch Identifikation: Diese Form der Macht bezieht sich auf die Fähigkeit des Machtausübenden, bei den Bezugspersonen ein Gefühl der Verbundenheit hervorzurufen. Sie beeinflusst Einstellungen gegenüber sich selbst, dem Machtausübenden und den Emotionen über dessen Ziele und Absichten. Sie basiert auf dem Charisma des Machtinhabers. Die zu beeinflussenden Personen wollen sich mit den persönlichen Eigenschaften und Qualitäten des Machtinhabers identifizieren und gewinnen Befriedigung aus ihrer Akzeptanz als Mitläufer und Nachfolger. Dies kann dazu führen, dass bei Meinungsverschiedenheiten schneller nachgegeben wird oder dass es schon gar nicht zu Diskussionen kommt.

• Macht durch Wissen: Hier entsteht Macht durch situationsbezogenes, wertvolles Wissen des Machtausübenden. Diese Macht der Experten beruht auf deren Fähigkeiten oder Erfahrungen. Anders als die anderen Machtbasen ist diese hochspezifisch und auf den speziellen Bereich eingeschränkt, auf welchem der Experte erfahren und qualifiziert ist.

19 French and Raven's Bases of Social Power in a Not-for-Profit Health Care Facility: Perceptions and

Satisfaction. Dissertation Abstracts. 59, no. 07A: 2605. French, J. P. R. Jr., and Raven, B. (1960). The bases of social power. In D. Cartwright and A. Zander (eds.), Group dynamics (pp. 607-623). New York: Harper and Row Dieser Abschnitt wurde von WikiPedia zum Thema Macht entnommen: http://de.wikipedia.org/wiki/Macht#Machtbasen_.5Bnach_French_und_Raven_.281959.29.5D

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Ich möchte dabei betonen, dass Autorität („Legitime Macht“ nach French/Raven) aufgrund der fachlichen oder menschlichen Kompetenz des Inhabers, des allgemeinen Ansehens oder durch die Verfügbarkeit von Machtmitteln entstehen kann. Die autoritäre Macht kann auf Sachkenntnis, Wissen und Erfahrungen beruhen. Ihrem Einfluss folgt man meist freiwillig, weshalb sie nicht unbedingt als Machtausübung verstanden wird.

Beruht jedoch Autorität auf Regeln oder Positionen, welche nichts mit den persönlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten zu tun haben, liegt sie der Macht näher. Autorität stellt dann eine Form der Macht dar, wenn sie keine freiwillige Verhaltens- oder Einstellungsänderung nach sich zieht. Besonders wenn sie gesetzlich verankert ist, kann sie missbraucht werden.

„Legitime Macht“ (nach French/Raven) kann auch Status sein. Status bezeichnet die Position in einer Gruppe, deren Rangordnung sich nach bestimmten Werten orientiert. An jenen Rang können Ansehen, Rechte und Pflichten gebunden sein. Der soziale Status geht selten von persönlichen Eigenschaften oder Begabungen aus, sondern eher von Einkommen, Herkunft oder Beruf. Unterstützt wird dies durch Statussymbole, teils materieller Art, teils durch Titel, bzw. Abzeichen, welche insbesondere zur Erkennung, bzw. Unterscheidung dienen.

Der Status kann ererbt, übertragen oder erworben werden. Je höher der gesellschaftliche Status, desto mehr Rechte, Freiheiten und damit mehr Macht hat die betreffende Person. Dies bedeutet, dass ein Status ermöglicht, Macht auszuüben.

Ich möchte die Ausführung über Macht noch erweitern:

Dominanz hat nicht direkt etwas mit der Ausübung oder Möglichkeit von Macht zu tun. Vielmehr beschreibt sie das Streben einer Person (oder Gruppe) nach einer Machtposition innerhalb einer Gruppe. Dominanz bezieht sich auf das Streben des Überlegenseinwollens.

Umgekehrt gibt es die Möglichkeit, dass jemandem Macht zugesprochen wird, ohne dass die jeweilige Person die Macht tatsächlich will.20

Gewalt kann als Methode angesehen werden, Macht auszuüben. Die Formen können in physische (von mild bis brutal) und psychische (subjektiv und nicht offen) eingeteilt werden. Gewalt wird oft mit Gegengewalt beantwortet und steigert sich dadurch, weil die verschiedenen Parteien die Aktivitäten ihres Gegners zu übertreffen versuchen.

Manipulation ist ein Begriff für verschiedene Formen der Einflussnahme. Er stellt eine verdeckte, meist unbemerkte Form der Macht dar. Manipulation arbeitet mit Werbung, Politik, Pädagogik und Medien, um durch Anreize, Gruppenzwang und Prestigesuggestion bei den Betroffenen bestimmte Bedürfnisse zu erzeugen.

Wie dargestellt ist Macht ein zweischneidiges Schwert und hängt jeweils von der Auffassung des Machtausübenden und Machtempfängers ab. Macht muss beim Empfänger nicht unbedingt als aufgezwängter Wille ankommen. Vielmehr kann der Empfänger die Macht auch als Pflicht empfinden, dem Willen eines anderen nachzukommen. Pflicht ist dann etwas, das aus einer inneren Einsicht heraus freiwillig (permanent) gemacht wird (z.B. in die Schule gehen, anderen Menschen helfen, essen, nicht töten...). Sie setzt Verstand (innere Einsicht) voraus.

Tatsächlicher Zwang ist etwas von äußeren (vermeintlichen) Einsichten, dem sich ein Mensch beugen muss, solange es nicht selbst eingesehen wurde (in die Schule gehen, arbeiten, essen,

20 vgl. Monty Python „Das Leben des Brian“ (Film 1979)

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nicht töten...). So ist zum Beispiel „Hunger“ ein natürlicher Zwang, solange keine innere Einsicht dafür besteht.

Machtausübung ist aus Sicht des Machtinhabers dann nötig, wenn die permanente Nutzung eines Rechts (in die Schule gehen, arbeiten, essen...) oder die dauerhafte Einhaltung eines Verbots (töten, stehlen...) nicht über Einsichten des Machtempfängers geschieht. Machtausübung heißt in diesem Fall, einer Pflicht nicht durch eigene Einsicht freiwillig zu folgen und die negativen Auswirkungen der Machtausübung in Kauf zu nehmen.

Machtmittel können belohnend oder bestrafend sein, die jemanden (teils trotz gegenteiliger Einsicht) zu einem bestimmten Handeln „zwingt“. Dabei gilt aus der Verhaltenstheorie:

Belohnungen sind alle Sachverhalte, die dazu dienen, Mangel- und Spannungszustände, die ihrerseits als „Bestrafung“ empfunden werden, abzubauen oder zu reduzieren.21

Belohnung oder Bestrafung können demzufolge auch von anderen benutzt werden, um jemanden zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Solange das Verhalten nicht aus einer inneren Einsicht heraus geschieht, sind diese Mittel Machtmittel (siehe auch French/Raven).

Anders herum kann eine Person, die belohnt oder bestraft wird, Mittel als Machtmittel sehen, wenn die innere Einsicht für den Einsatz dieser Mittel fehlt. Auch die Person, welche die Mittel verwendet, muss sich nicht unbedingt darüber bewusst sein, dass die eingesetzten Mittel Machtmittel sind.

Organisation der Macht: Herrschaft Machtverhältnisse existieren unabhängig von Herrschaftsverhältnissen. Machtverhältnisse sind dynamisch und situationsabhängig. Jeder Mensch verfügt über Macht, wenn man darunter den freien, eigenen Willen meint, der nötig ist, ihn einer anderen Person oder Gruppe aufzuzwingen, um diese in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen.

Max Weber (1864-1920), der als bedeutender Mitbegründer der deutschen Soziologie gilt, definierte Herrschaft in dem Vorhandensein mindestens eines Befehlenden gegenüber einem Befehlempfängers; ein Verwaltungsstab oder Verband sei zur Ausübung der Herrschaft nicht zwingend erforderlich.22

Das ist nicht verwunderlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie wir Gruppen definiert hatten. Der Verwaltungsstab oder Verband wäre in diesem Fall eine eigene Gruppe innerhalb einer übergeordneten Gruppe. Deshalb definiere ich Herrschaft als Organisation der Macht.

Selbst innerhalb einer Gruppe, die aus mehr als zwei Mitgliedern besteht und in der nur ein Befehlsgeber (=Machtinhaber) existiert, kann von einer Organisation der Macht gesprochen werden - z.B. dass der Machtinhaber von allen als solcher akzeptiert wird und damit die Legitimation erhält, Befehle auszugeben.

Hier taucht zum ersten mal der Begriff Legitimation auf. Damit ist die Rechtmäßigkeit oder Rechtfertigung (Ableitung von lat. Lex = „Gesetz“) gemeint. Hier im Speziellen bezogen auf die Rechtfertigung, weshalb ein Einzelner (oder auch eine Gruppe) Macht durch Befehl über andere ausüben kann/darf. 21 „Basale Soziologie: Theoretische Modelle“; vierte, neubearbeitete Auflage, von Horst Reimann, Bernhard

Giesen, Dieter Hoetze und Michael Schmid; erschienen 1991 im Westdeutscher Verlag; Opladen 22 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, Tübingen 1956/1980:

http://de.wikisource.org/wiki/Wirtschaft_und_Gesellschaft/Teil_1_Kapitel_1#.C2.A7_16._Macht.2C_Herrschaft

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Was legitimiert allerdings Herrschaft im allgemeinen?

In dem Beispiel wurde die Herrschaft durch die Akzeptanz aller Mitglieder legitimiert. Im Tierreich gibt es auch Herrschaftsformen, um Tiergruppen zu organisieren (bei Ameisen die Ameisenkönigin, bei Wolfsrudeln das Alphatier) und zur „Legitimation“ (wenn man bei Tieren von einer solchen sprechen will) dienen unterschiedliche Methoden (z.B. Nachkommenschaft, Stärke ua.). Ziel dieser natürlichen Herrschaftsformen ist die Gruppenorganisation, um die Überlebensfähigkeit der Gruppe zu erhöhen.

Der Mensch sieht sich allerdings dem Tierreich oft überlegen, weil er über einen freien Willen verfügt. Der Anarchismus lehnt zum Beispiel jede Art von Autorität als Form der Herrschaft von Menschen über Menschen ab und will das Zusammenleben nach den Grundsätzen von Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit ohne alle Zwangsmittel verwirklichen.23

Ich persönlich bin ein Freund dieser Idee, doch musste ich aufgrund meiner Erfahrungen einsehen, dass dieses Gesellschaftsideal nur unter der Voraussetzung realisierbar ist, wenn sich alle Menschen danach richten würden24. Aber das Problem daran ist, dass jeder Mensch über einen eigenen freien Willen verfügt und unterschiedliche Fähigkeiten und Eigenschaften hat. Und die Akzeptanz von Macht ohne diese organisiert zu haben, setzt Verständnis voraus. Wie allerdings im Eingang dieses Aufsatz schon beschrieben, ist das menschliche Gehirn dazu ausgelegt, das Überleben eines Organismus zu sichern und dient nur sekundär dazu, Denkprozesse zu veranstalten (vgl. Zitat von Karl Steinbuch).

In der Einführung zu diesem Aufsatz hatte ich geschrieben, dass die Dror’sche Forderung nach globaler Gleichheit und globaler Herrschaft sich dann gegenseitig ausschließen, wenn sich die Gleichheit auch auf die Herrschaft über Menschen bezieht. Da sich der Mensch aber in seinen Fähigkeiten und Eigenschaften unterscheidet (und damit auch in der Akzeptanz von Herrschaftsverhältnissen), legitimiert sich Herrschaft als Organisation der Macht. Sie dient dazu, den Menschen vor der Freiheit eines anderen Menschen zu beschützen.

Gemeint ist damit: wenn alle Menschen gleich frei sind, hat jeder die Möglichkeit und im Grunde genommen auch das Recht, einen anderen Menschen zu töten. Damit greift er allerdings in die Freiheit des anderen ein, leben zu können. Wenn wir uns nochmals meine Ausführungen zum Kant’schen Imperativ ins Gedächtnis rufen, heißt das, dass nicht jeder Mensch in der Lage ist (aufgrund seinen Eigenschaften und Fähigkeiten), nach dem Kant’schen Grundsatz (unter Vorraussetzung der allgemeinen Lebensbejahung) zu leben.

Die letztgenannte Unfähigkeit legitimiert für viele Herrschaftsstrukturen von Menschen über Menschen. Hermann Hesse (1877-1962) schrieb in seinem Steppenwolf (1927), dass das Mehrheitsverfahren die Macht ersetzt, das Gesetz an Stelle der Gewalt tritt und das Abstimmungsverfahren die Verantwortung übernimmt.25 Manche wollen tatsächlich beherrscht werden, aber sie unterdrücken mit ihrem (bewussten) „Nein“ zur (Eigen-) Verantwortung ihres freien Willens jene, die dieses „Nein“ nicht akzeptieren. Dadurch üben sie gleichfalls Macht aus, indem sie ihre Macht an Repräsentanten delegieren.

Die Herrschaftsorganisation in Gruppen soll nach unserm bisherigen Kenntnisstand dazu dienen, Bedingungen zu schaffen, die ein friedliches Zusammenleben (innerhalb der Gruppe

23 Duden: Das Fremdwörterbuch, Band 5, Stichwort „Anarchismus“; ISBN: 3-411-20915-1 24 Der „Preis der Anarchie“ aus der Spieltheorie stellt eine Kenngröße dar, die den Verlust in einem Spiel

anzeigt, wenn die Spieler eigennützige Ziele verfolgen anstatt zu kooperieren. 25 vgl. „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 1999; ISBN 3-518-36675-0

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und damit deren „legitimierten“ Einflussbereichs) ermöglichen, um die Überlebenschancen durch die Gruppe (und damit auch für die Gruppe) zu erhöhen.

Nun klingt diese Aussage sehr ideal, obwohl sie innerhalb mancher Gruppen (z.B. Mafia) Gültigkeit hat. Die Probleme entstehen erst im Zusammentreffen von Gruppen und deren einzelnen Herrschaftsstrukturen (unabhängig, wie diese organisiert sind).

Ein zweiter Hemmschuh der Gruppen ist, dass diese nicht immer diese „ideale Zielsetzung“ beinhalten, weil sie als selbstverständlich (vgl. Ausführung zu Aristoteles) vorausgesetzt wird. Gruppen bilden sich nicht immer, um z.B. die Überlebenschancen durch eine Gruppenmitgliedschaft zu erhöhen, sondern, um z.B. gemeinsam einen Sportverein zu betreiben. Trotzdem ist innerhalb solch einer Gruppe eine gewisse Herrschaftsorganisation vorhanden, damit die Macht strukturiert wird.

Wir haben also zwei wesentliche Herrschaftsmerkmale von Gruppen: die eine Gruppe dient dem Überleben (ich will sie nach Tönnies weiter Gemeinschaft nennen, allerdings nicht als Gruppenmitgliedschaftsmotivation, sondern als Zielsetzung) – die andere Gruppe dient dem Ansatz von Aristoteles (wieder nach Tönnies: Gesellschaft).

Ich will behaupten, dass Gemeinschaft um so stärker abnimmt, je besser das Überleben gesichert ist; dann beginnt der Individualisierungsprozess und die Vergesellschaftung nimmt zu – die Gruppe wird immer unwichtiger. Die Machtorganisation einer Gesellschaft richtet sich nicht mehr dem Überleben, sondern der Verwirklichung höherer, eigener individueller Ziele.

In meiner Gruppenbetrachtung hatte ich darauf hingewiesen, dass man eine Gruppe auch als selbständiges Lebewesen sehen kann. Ist das Überleben der Gruppenmitglieder gesichert, ist das Überleben des „Lebewesen Gruppe“ gesichert – und damit erklärt sich auch, weshalb das „Gruppenlebewesen“ nach „Selbstverwirklichung“ strebt. Es ist der angemerkte Übergang von Gemeinschaft zur Gesellschaft, wobei die Gesellschaften neue, übergeordnete Gemeinschaften bilden (z.B. die USA, die Europäische Union, die Postsowjetischen Staaten in der GuS...).

Damit kommen wir nun zum eigentlichen „Staat“ als besondere Form von Gruppen. Dem aufmerksamen Leser sollte aufgefallen sein, dass ich zwar die Herrschaft als Machtorganisation definiert hatte, aber keinerlei Methode dieser Organisation. Das ist im Prinzip auch gar nicht notwendig, weil ich die Vielzahl der Umsetzungsmöglichkeiten nicht einschränken will. Die Zielsetzung von Herrschaft (als Organisation von Macht) reicht für meine weiteren Gedanken völlig aus.

Der joviale Staat Meinen Sie, dass es wichtig ist, ob eine Herrschaftsform monarchistisch, aristokratisch, „demokratisch“, diktatorisch oder sonst wie ist, wenn unter dieser Herrschaft das Überleben gesichert ist und sich die Menschen frei entfalten können?26 Wenn Sie mit „Ja“ antworten, frage ich mich, welches Ziel und welche Aufgabe Sie sich unter Herrschaft vorstellen.

Wenn Sie mit „Nein“ antworten, stimmen Sie mir bestimmt bei folgender Aussage zu:

26 Vgl. den Ausspruch „panem et circenses“ (Brot und Spiele) des römischen Dichter Juvenal (Satiren, 10, 81)

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Das Ziel und die Aufgabe des Staats bestehen darin, Bedingungen zu schaffen, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen und dabei jedem die Chancengleichheit bieten, sich frei zu entfalten und zu verwirklichen, solange er niemanden im gleichen Recht einschränkt.

Mir wurde einmal gesagt, dass ich mit der Idee, eine Staatstheorie auf Basis eines Menschenbildes zu entwerfen, zwangsläufig bei den Naturrechten landen würde. Der Nachteil dieser Naturrechte sei die absolute Vergeistigung des Menschen, ohne ihn so zu nehmen, wie er in Wirklichkeit ist.

Dabei verstehe ich Gesetze, bzw. Rechte als Art Vertrag, bei dem die Konsequenzen jedem Vertragsnehmer bewusst gemacht werden sollen. Diese Vertragstheorie geht auf das antike Griechenland im 4. vorchristlichen Jahrhundert zurück. Man versuchte den Frieden im kriegserschütterten Griechenland über Verträge zu sichern. Ihr wesentlicher Inhalt bestand darin, dass der Vertrag zwischen allen Polis als Vertragspartner abgeschlossen wurde und jeder Polis ihre Autonomie zusicherte. Diese ersten Friedensverträge bildeten die Grundlage des Völkerbunds und der UNO.

Die Vertragsidee geht darauf zurück, dass der Naturzustand Krieg sei (vgl. Hobbes: „Krieg aller gegen alle“). Die ersten Verträge in Griechenland waren tatsächlich darauf ausgelegt, diesen Naturzustand nur für eine bestimmte Zeit zu unterbrechen. Dabei machten die Griechen die Erfahrung, dass der Friede nur durch eine starke Hegemonialmacht (einem „starken Führer“) auf Dauer gesichert wurde.

Die Ablehnung der Naturrechte verstehe ich im Hinblick darauf, dass sie bis heute noch nie funktioniert hatten. Die Vertragstheorie geht davon aus, dass der Gesellschaftszustand auf einem Gesellschaftsvertrag beruht und dieser sich aus den Naturrechten begründet. Zum „allgemeinen Frieden“ führte er allerdings nicht.

Tatsächlich halte ich aber die allgemeinen Menschenrechte nach der UN-Resolution 217 A (III)27 vom 10.12.1948 als Rechtsgrundlage für sinnvoll. Ein Staat muss diese Rechte garantieren, wenn er sich lebensbejahend nennen will. Das besondere am jovialen Staat ist allerdings, dass er Möglichkeiten schaffen soll, diese Rechte zu verwirklichen.

Hintergrund ist folgendes Extrembeispiel: Ich gebe einem Menschen das Recht auf Leben, nehme eine Pistole und schieße ihm in den Kopf. Damit habe ich dem Menschen nicht das Recht auf Leben genommen, denn selbst der Tote hat ein Recht auf Leben, für das ihm allerdings die Möglichkeiten fehlen. Räume ich einem Menschen allerdings die Möglichkeit zu leben ein, kann ich ihn nicht erschießen, denn der Tote hat keine Möglichkeit mehr zu leben. Das alleinige Recht ohne die zugehörigen Möglichkeiten bringt nichts.

In fast allen Staatsverfassungen findet sich ein Amtseid28 der höchsten Regierungsbeamten, der im deutschen Grundgesetz vom 23.05.1949 für Bundespräsident, -kanzler und -minister in Artikel 56 und 64(2) folgendermaßen lautet:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und

27 http://de.wikisource.org/wiki/Allgemeine_Erklärung_der_Menschenrechte 28 vgl. Anhang 2 - Auswahl verschiedener Amtseide

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verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.

Mit diesem Amtseid verbindet die Bundesrepublik eine alte Tradition, die in die Zeit der Aufklärung zurückreicht. Der preußische Kaiser, Friedrich der Große (1740-1786) definierte in seinem Staat das Wohl des Einzelnen als oberstes Prinzip im Land, das er rechtlich im allgemeinen Landrecht (1794) festlegte. Die Deutsche Reichsverfassung von 1849 enthält einen ähnlichen Eid und in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 befindet sich die Eidesformel inhaltlich gleich im Artikel 42.

Nach einer Randbemerkung von Maunz/Dürig/Herzog/Scholz ist der Eid nicht strafbewährt, weil sich das Wohl aus dem jeweiligen subjektiven Ermessen des Einzelnen (Eidesleistenden) für alle ergibt. Dies deshalb, weil es an einer allgemeingültigen und anerkannten Definition, was Wohl, Nutzen, Schaden ist, fehlt. Diesem Umstand versuchte ich unter anderem im vorliegenden Aufsatz gerecht zu werden, indem ich zum einen die Überlebensmöglichkeit, sowie freie Entfaltungsmöglichkeit einräume (die gesetzlich garantiert sind – Art. 2 GG).

Im Prinzip sehe ich durch diesen Eidesinhalt die Aufgabe des jovialen Staates beschrieben, wobei ich wegen der Globalisierung eine Anpassung vorschlage. Das einzelne Volk soll nicht mehr alleinig im Zentrum des Gelöbnisses stehen, sondern die Menschheit als Ganzes:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle der Menschheit widmen, ihren Nutzen mehren, Schaden von ihr wenden und Gerechtigkeit im Sinne der allgemeinen Menschenrechte gegen jedermann üben werde.

Der Eid bietet die Möglichkeit, die Amtshandlungen des Eidesleisters auf folgende Fragen zu überprüfen und damit einklagbar zu machen. Der Vertrag des Machthabers wird nicht mit seinem Gewissen geschlossen, sondern mit dem Volk, bei dem der einzelne die Möglichkeit bekommt, folgende Punkte einzuklagen:

• Hat der Eidesleistende zum Wohl der Menschheit gehandelt?

• Hat der Eidesleistende ihren Nutzen gemehrt?

• Hat der Eidesleistende Schaden von ihr abgewendet?

• Wurde der Eidesleistende gegenüber jedem gerecht?

• Hat der Eidesleistende im Sinne der allgemeinen Menschenrechte gehandelt?

Möglicherweise ist es etwas abgehoben, dass sich ein einzelnes Staatsoberhaupt um die gesamte Menschheit kümmern soll. Dies wird wohl kaum möglich sein. Trotzdem obliegt es einem Staatsoberhaupt, die Verantwortung für sein Volk in Bezug auf die Menschheit als Ganzes zu übernehmen, denn schließlich ist sein Volk Teil der Menschheit. Wie lässt sich ein Krieg rechtfertigen, wenn nicht mehr das eigene Volk, sondern die Menschheit im Vordergrund steht? Doch nur dann, wenn ein anderes Volk die Menschheit als Ganzes gefährdet (vgl. realer Konflikt, den es absolut zu vermeiden gilt).

Wie Sie an dem Eid und der Formulierung der Staatsaufgabe sehen können, werden damit die Herrschaftsstrukturen in dem jeweiligen Staat überhaupt nicht berührt. Ich degradiere damit Herrschaft als Mittel zum Zweck, indem ich sie als reine Organisation der Machtverhältnisse betrachte. Damit kommen wir zu den speziellen Machtverhältnissen in einem Staat.

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Staatsgewalten Dem Staat steht heute sein Volk gegenüber, das die erste Gewalt ausmacht. Das Volk ist eine heterogene Gruppe aus einzelnen Individuen und Untergruppen dieser. Der Staat befindet sich auf einem bestimmten (historisch) abgegrenzten Gebiet. Teilweise wird das „Volk“ durch transnational operierende Gruppen erweitert, die versuchen, Einfluss auf den Staat zu nehmen (Macht auszuüben); andererseits befinden sich einzelne Individuum nicht innerhalb des Staatsgebiets (z.B. durch Auswanderung oder Auslandsaufenthalte).

Traditionell wird seit John Locke (1632-1704) und Montesquieu (1689-1755) von drei Staatsgewalten gesprochen: der Gesetzgebung (Legislative), Vollziehung (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative). Diese Gewaltenteilung basiert auf dem (berechtigten) Misstrauen gegenüber den Machthabern.

Gerade solche Staatsüberlegungen, die im voraus ethische Minderwertigkeiten einkalkulierten und ihnen institutionelle Schranken zu setzen versuchten, waren gegenüber idealistischen Entwürfen, die der Vernunft und dem Gemeinsinn vertrauten, überlegen.

Ziel der Dreigewaltenteilung ist, eine gemäßigte Regierung zu bilden, um dem Volk die Freiheit zu erhalten. Montesquieu geht davon aus, dass jeder, der in den Besitz von Macht gelangt, zu deren Missbrauch neigt. Dieser Missbrauch reicht bis zu den Schranken, die der jeweiligen Macht gesetzt werden. Deshalb sollten die drei Gewalten sich gegenseitig im Zaum halten.29

Die drei Gewalten werden durch Gruppen repräsentiert, wobei man ihnen Eigenschaften (Gesellschaft und Gemeinschaft) beimessen kann. Da es sich um Teilgruppen der Herrschaft handelt, ist es möglich, sie als eine Gruppe zu verstehen (aus drei „Individuen“). Bildet diese eine Herrschaftsgruppe eine „verschworene Gemeinschaft“, werden die ursprünglichen Überlegungen von Montesquieu untergraben.

Heute werden Medien manchmal als vierte Macht im Staat den drei Gewalten gegenübergestellt.30 Im Zeitalter des Internets zählen dazu auch Blogs (manchmal fünfte Gewalt genannt), was eine Art Privat-Journal/Tagebuch darstellt. Gerade durch das Internet ist die „Qualität der Information“ sehr schwierig, weil oft Quellenangaben fehlen und jeder eigentlich schreiben kann, was er will. Dabei möchte ich betonen, dass die „traditionellen Medien“ mit ihrer Berichterstattung gleichfalls geprägt sein können (vgl. Manipulation). Das Hauptproblem ist der Wahrheitsgehalt der Information, der, wenn überhaupt, nur mit Zeitaufwand geprüft werden kann. Zusätzlich ist die Informationsflut zu nennen.

Als fünfte Macht im Staat will ich die Wirtschaft aufführen.31 Damit ist die wirtschaftliche Komponente in Form von Unternehmen, Märkten und Finanzen gemeint. Diejenigen, die über ökonomische Machtmittel verfügen, können damit größeren Einfluss auf den Staat nehmen. Zwar ist diese Macht als Lobbyismus bekannt, taucht allerdings in keiner mir bekannten Staatstheorie auf.

29 Geschichte der Staatstheorien, Reinhold Zippelius, 10. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Verlag C.G.

Beck 2003, Seite 122, ISBN: 3-406-494943 30 Julia Risch: "Die vierte Macht im Staat" an der Universität Trier, Medienwissenschaft:

http://medien.uni-trier.de/leben/medienmenschen/nachgefragt-recherche/thomas-reutter.html 31 Interview mit dem Ökonom Elmar Altvater: http://www.freitag.de/2005/45/05450301.php

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Damit haben wir also sechs Gewalten in einem Staat, deren Macht „gebremst“ werden muss, wenn wir das Misstrauen gegenüber den Mächten aufrechterhalten wollen.

Zur Zeit von Locke und Montesquieu gab es noch eine weitere Macht im Staat, die man heute zwar vernachlässigen sollte, aber im globalen Kontext durchaus eine Rolle spielt. Es geht um Religionen. Seit der Zeit der Aufklärung wird Religion als persönliche Angelegenheit gesehen und jedem wird in einer überwiegenden Zahl von Staaten die Religionsausübung so zugestanden, solange sie nicht das Leben oder Eigentum anderer gefährdet. Es ist nicht Aufgabe des Staates, für das Seelenleben seiner Einwohner zu sorgen. Glaubensüberzeugungen lassen sich nicht erzwingen.

Ich will hier noch keinen Vorschlag in Bezug auf die Staatsgewalten machen. Vielmehr will ich die „demokratische Frage“ als Kernthema behandeln.

Demokratische Globalphilosophie Demokratie wird im allgemeinen so verstanden, dass sich das Volk durch Wahlen und Abstimmungen an den Entscheidungen eines Staates beteiligt. Der Begriff „Demokratie“ stammt aus dem Griechischen und bezeichnet im antiken Griechenland die direkte Volksherrschaft. Nach dem Fremdwörterbuch des Duden kann Demokratie auch bedeuten: Prinzip der freien und gleichberechtigten Willensbildung und Mitbestimmung in gesellschaftlichen Gruppen.32

In der Einleitung zu diesem Aufsatz stellte ich die Frage, „wer oder was herrschen, bzw. beherrscht werden soll“. Der Demokratiebegriff meint im allgemeinen, dass sich das Volk selbst beherrschen soll. Wie allerdings in der Beschreibung gezeigt, dass Gruppen als eigenständige „Lebewesen“ gesehen werden können, hat eine Gruppe – und damit auch das Volk – kein eigenes Selbstbewusstsein und keine Selbstbeherrschung.

Damit ist die demokratische Frage nicht mehr, wer beherrscht werden soll, sondern was. Dieses „Was“ sind die jeweils entstehenden Machtverhältnisse durch Gruppen in Bezug auf den Einzelnen, der zu den Machtmitteln gleichberechtigt Zugang haben soll (ohne sie tatsächlich besitzen zu müssen). Diese Machtmittel sind dazu notwendig, um gemeinschaftlich Lösungen für Konflikte (ich zähle hier Problemstellungen zu Konflikten) zu finden. Konflikte sind dabei wichtig für die Entwicklung des Einzelnen und der Menschheit als Gesamtheit. Lösungen dürfen allerdings nicht dazu führen, dass ein Einzelner oder die Menschheit gefährdet wird oder sogar daran zugrunde geht.

Meine Demokratieauffassung wird (hoffentlich) an folgendem Beispiel deutlich: In einem Gymnasium wird das Mathematikabitur durchgeführt. Würde man das Abitur durch ein Abstimmungsverfahren machen, hieße dies, dass über jede Einzellösung abzustimmen sei, welche davon richtig wäre. Kann man aber zum Beispiel demokratisch entscheiden, wie viel 19+15 ist? Heißt Demokratie im Mathematikabitur nicht vielmehr, den Abiturienten die Möglichkeit zu geben, die Aufgabe einem einzelnen oder einer Gruppe zu übertragen und das Ergebnis gemeinsam zu überprüfen? Damit ist zwar nicht garantiert, dass die Problemlösung richtig ist, aber damit ist jeder an der Entscheidung über richtig und falsch beteiligt.

32 Duden: Das Fremdwörterbuch, Band 5, Stichwort „Demokratie“ (3); ISBN: 3-411-20915-1

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Das bedeutet, dass die Aufgabe, eine globale Demokratieform zu finden, nicht darin besteht, ein Herrschaftssystem zu etablieren, sondern wie es möglich wird (zu organisieren ist), dass sich zum Beispiel ein einfacher Bauer aus Spanien mit einem Lösungsvorschlag für Südeuropa (länderübergreifend) an die richtigen (zuständigen) Stellen wenden kann. Die „richtigen Stellen“ können, dürfen und sollen dann über die notwendigen Machtmittel verfügen, den Lösungsvorschlag gegebenenfalls umzusetzen. Damit hätte ein Einzelner die Chance der gleichberechtigten Mitbestimmung und die indirekte Macht zur Verwirklichung (globale Gleichheit in einer Demokratie als globale Herrschaft).

Herrschaft dient (wie im Amtseid beschrieben): dem Wohle des Volkes (Bedingungen zu schaffen, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen und dabei jedem die Chancengleichheit bieten), seinen Nutzen zu mehren (sich frei zu entfalten und zu verwirklichen) und Schaden von ihm zu wenden (solange niemand im gleichen Recht einschränkt wird).

Umsetzungsvorschlag Drei Gewalten: Durch die Einführung der „Strafbarkeit“ des Amtseids bekommt das Volk ein Instrument, die drei Gewalten zu kontrollieren, indem der Eid einen Vertrag zwischen dem Volk (besser dem Einzelnen) und der Staatsgewalt beschreibt.

Medien: Es gibt heute schon das staatliche Fernsehen, staatliche Informationsmaterialien (auch im Internet), deren „Informationsqualität“ nur noch als „gesichert“ gekennzeichnet werden muss. In Deutschland wacht das Bundesverfassungsgericht über die Einhaltung der drei Gewalten und es wäre vorzuschlagen, ein ähnliches Organ für Medien im allgemeinen zu schaffen. Auch hier muss die Kontrolle durch das Volk gewährleistet werden.

Wirtschaft: Über die Wirtschaftsordnung wurde in Bezug auf ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) in letzter Zeit viel geschrieben.33 Grundsätzlich lässt sich dies wie folgt zusammenfassen: Die Forderung einer jovialen Wirtschaftsordnung sieht vor, dass jeder Mensch ein Auskommen hat. Der Staat soll in diesem Fall eine gerechte Verteilerrolle einnehmen, um jedem Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglicht.

Dafür werden Rahmenbedingungen für die Wirtschafts- und Steuerpolitik gefordert. Einerseits soll die Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen gesichert sein und andererseits sollen Menschen diese Güter und Dienstleistungen konsumieren können.

Volksbeteiligung: Zur direkten Volksbeteiligung empfehle ich ein Vorschlagswesen, wie es heute in der freien Wirtschaft (zum ersten Mal 1888 von Bosch eingeführt) breite Anwendung findet. Die Idee dahinter ist, dass Menschen, die mit Problemen zu tun haben, auch die besten Lösungen dafür entwickeln werden. Das Vorschlagswesen muss Informationen zu Problemstellungen bereit stellen (die auch aus der Bevölkerung stammen können) und Möglichkeiten bieten, dass Lösungsvorschläge nicht nur eingereicht, sondern auch gegebenenfalls umgesetzt werden.

Bildung: Um dies alles zu gewährleisten, ist Bildung Grundvoraussetzung. Dabei soll anwendbares Wissen vermittelt werden, das hilft, Problemzusammenhänge zu erkennen, um dafür Lösungsstrategien erarbeitet zu können. Darauf aufbauend werden Themen 33 Eine Auswahl, die für diesen Aufsatz relevant sind:

Anhang 3 – Gerechtigkeit und Garantismus (von Prof. Dr. Michael Opielka) Anhang 4 – Tauschsystem und Naturzustand Anhang 5 – Anmerkungen zum Dilthey-Modell

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vorgeschlagen, die Wissen über sich und andere vermitteln und zur Konfliktbewältigung, zum Stressabbau und zum Umgang mit eigenen oder fremden Aggression dienen. Hierzu wird ein Weltanschauungsunterricht angeregt, sowie Psychologie. Staatliche Bildungseinrichtungen und -angebote sollen für jedermann offen zugänglich sein.

Mit der Bildung wird der „siebten Macht“ im Staat Einhalt geboten, indem dadurch die Möglichkeit geschaffen wird, dass jeder aus dem „Weltanschauungsmarkt“ für sich die beste Lösung finden kann und gleichzeitig das vielfältige Angebot kennen lernt.

Abschluss Somit schafft der Jovialismus34, wie ich diese Philosophie nenne und in diesem Aufsatz beschreibe, eine Brücke zwischen Liberalismus und Sozialismus. Die Freiheit und Individualität des Individuums (Liberalismus) wird im Jovialismus genauso berücksichtigt, wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität (Sozialismus). Bisher stand nur noch der Konservatismus als weitere große politische Ideologie den beiden gegenüber.

Ich hoffe, mir ist es gelungen, diesen Spagat mit vorliegendem Ansatz zu vollziehen.

Da sich die Welt in einem sehr dynamischen Prozess befindet, wurde der Jovialismus nicht als feststehende Philosophie entworfen, sondern vielmehr als offenes philosophisches Projekt. Die Aufgabenstellung lautet dazu, andere Denkrichtungen und Auffassungen auf die Grundzüge des hier vorgestellten Denkansatzes zu untersuchen und die Ergebnisse praktisch anzuwenden. Ich gehe damit von der Annahme aus, dass die Wahrheit schon immer und zu allen Zeiten bekannt war. Sie wurde nur auf die unterschiedlichsten Weisen beschrieben, aber oftmals falsch verstanden oder wissentlich missbraucht.

Deshalb ist der Jovialismus eine Philosophie des „ewigen Zweifelns“ und der Suche nach „Wahrheit“, wobei sich die Menschheit als Ganzes emanzipieren soll.

34 Die Wortbedeutung geht auf das lateinische Wort „iovialis“ zurück, das „zu Jupiter gehörend“ bedeutet und in

dem die Eigenschaften des römischen Göttervaters zusammengefasst sind, wie z.B. gönnerhaftes, wohlwollendes, freundschaftliches, leutseliges Verhalten.

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Teil 2

Nähere Ausführungen zu den Grundzügen

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Einleitung Noch während ich am ersten Teil als Grundzug des Jovialismus schrieb, war mir klar, dass es einen zweiten Teil geben muss. Zwar kann der erste Teil als eigenständiger Lösungsvorschlag betrachtet werden, doch stellen sich einige Fragen, die mit der Gleichheit des Menschen verbunden sind.

So gibt es in der Realität tatsächlich „wichtigere Menschen“, obwohl sie gleich sind. Diesem Umstand will ich in diesem zweiten Teil gerecht werden, indem ich auf den Wert des Menschen eingehe und hierfür die Überlegungen zur Gerechtigkeit, bzw. Wahrheit heranziehe. Damit verbunden sind Begriffe, wie Macht, Verantwortung oder auch Machtmissbrauch und Korruption.

Außerdem ist der Freiheitsbegriff im ersten Teil nur vage beschrieben. Eine nähere Ausführung in Bezug auf die Grenzen der Freiheit ist nötig, da nicht nur moralische und ethische Rahmenbedingungen der Freiheit Grenzen setzen, sondern auch andere Faktoren, die hier beschrieben werden. In diesem Abschnitt stelle ich auch den Naturzustand und das Naturrecht vor, auf dem die Idee des Jovialismus basiert.

Mir wurde bei meiner Ankündigung des Jovialismus immer wieder vorgeworfen, dass ich einen „Ismus“ entwerfen würde, den man als Dogma missbrauchen könnte. Diesen Vorwurf versuche ich hier näher zu beschreiben und auch an Beispielen anderer „Ismen“ zu begründen. Dabei behandle ich auch Religionen.

Wie im ersten Teil beschrieben, ist für Gerechtigkeit und Wahrheit Information sehr wichtig. Deshalb gehe ich hier tiefer auf dieses Thema ein. Vor allem auf Medien, die in einem Staat zur Verbreitung von Informationen zuständig sind. Aus dem ersten Teil könnte leicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei dem Vorschlag eines Mediengrundgesetz um eine Zensurstelle oder Propagandainstitution handelt.

Als Abschluss werde ich nochmals auf Demokratie eingehen und wesentliche Probleme des Entscheidungsverfahrens ansprechen. Im ersten Teil haben wir zwar das Beteiligungsverfahren (Vorschlagswesen) kennen gelernt, aber kaum etwas über das Entscheidungsverfahren gesagt.

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Vorbereitung und Reise zu unserem Freund Nachdem Sie sich durch den ersten Teil meiner Gedanken zum Jovialismus tapfer geschlagen haben, wird es Zeit, uns zu überlegen, wie wir zu unserem Freund auf der einsamen Insel kommen. Wir haben also ein Ziel, aber bisher keine Mittel dafür.

Am einfachsten wäre wohl ein Schiff. Antoine de Saint-Exupéry, ein französischer Pilot und Schriftsteller, schlug einmal folgendes vor: Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.

Wir sitzen mit 20 Personen an einem Strand und setzten die Sehnsucht voraus, dass wir zu der einsamen Insel mit unserem Freund fahren wollen. Saint-Exupéry ging davon aus, dass sich so ein Schiff durch Selbstorganisation bei einem gemeinsamen Ziel baut. Was aber, wenn wir genug Holz haben und das Werkzeug vorbereitet ist? Wie sieht es mit den Aufgaben und der Arbeit aus?

Alle sind motiviert, aber niemand weiß so richtig, wie man ein Schiff baut. Meinen Sie, dass das etwas werden kann? Trotz der hohen Motivation und allen Materialien, die für das Schiff nötig sind, fehlt ein Plan.

Da sagt einer in unserer Gruppe, er sei Ingenieur, habe allerdings noch kein Schiff gebaut, dafür aber Maschinen entworfen. Wir anderen jubeln und ernennen ihn zum „Manager“ für die Planentwicklung und Arbeitseinteilung. In diesem Fall lassen wir uns von jemandem sagen, was wir zu tun haben und was richtig oder falsch ist. Schließlich haben wir ein gemeinsames Ziel und wir trauen dem Ingenieur zu, dass er weiß, was er tut.

Der Ingenieur findet in der Bibliothek einen Schiffsbauplan und kommt damit stolz zurück. Er sagt, dass diese und jene Arbeit erledigt werden müsse. Und tatsächlich melden sich einzelne Mitglieder aus der Gruppe, die meinen, dass sie die genannten Arbeiten erledigen könnten.

So machten sich Frauen an die Arbeit, das Segel zu nähen; andere arbeiteten am Rumpf und nach und nach entstand wirklich ein Schiff. Wir erregten mit unserem Schiffsbau einiges Aufsehen am Strand. Mancher kam und meinte, dass wir das nicht richtig machen; der eine versuchte sich einzumischen und uns Ratschläge zu geben, als ob er es besser wisse; andere meinten, dass wir das nie schaffen würden. Von ihnen kam massive Kritik, um uns von der Idee mit dem Schiff abzubringen.

Trotz all dieser Widrigkeiten war das Schiff nach einigen Wochen fertig und wurde zu Wasser gelassen. Es schwamm. Wir freuen uns riesig. Keiner aus der Gruppe hätte die Arbeit aus eigener Kraft erledigen können, aber gemeinsam war es möglich, weil jeder seine individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften zielgerichtet zum Schiffsbau einsetzte. Zudem hatten wir einen Ingenieur, der die Arbeit und Aufgaben einteilen konnte. Alle waren auf die Gruppe und sich selbst stolz. Die Besserwisser und Kritiker gingen stumm am Ufer entlang oder blieben ganz weg.

Wir allerdings überlegten uns, wie wir denn nun mit dem Schiff überhaupt zu unserem Freund kommen könnten. Zwar hatten wir jetzt ein funktionsfähiges Schiff, aber wer von uns war in der Lage, dieses Schiff zu führen? Wer hatte Erfahrung, das Schiff übers Wasser zu steuern?

Logischerweise fragten wir unseren Ingenieur, denn wenn er ein Schiff bauen konnte, sollte er auch ein Schiff führen können. Der lehnte allerdings entschieden ab und meinte, er habe jetzt

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zwar Ahnung vom Schiffbau, aber bestimmt nicht davon, wie man ein Schiff auch tatsächlich führt.

Wenn wir uns an den ersten Teil des Jovialismus erinnern, fällt uns ein, dass jeder Mensch individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten hat. Das heißt allerdings auch, dass nicht jeder Mensch, der ein Schiff bauen kann, gleichzeitig ein Schiff führen kann.

Ein Mitglied unserer Gruppe sagte auf einmal, er würde es sich zutrauen. Schließlich sei er Millionär und könne ein Schiff führen. Manch einer schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie diese Aussage hörten. „Was hat Reichtum mit Eigenschaften und Fähigkeiten zu tun?“, wurde gefragt.

Da kam jemand auf die Idee, die Sache demokratisch zu entscheiden. So wurde der Ingenieur und der Millionär als Kandidaten aufgestellt.

Die Wahl fiel mit knapper Mehrheit auf den Millionär, wobei sich sieben Personen aufgrund der Absurdität des Entscheidungsverfahrens enthielten – darunter der Ingenieur.

Letztlich machte einer der Nichtwähler den Vorschlag, dass der Millionär doch einen erfahrenen Steuermann anheuern solle, statt selbst das Schiff zu lenken. Nach einigem hin und her willigte der Millionär ein. In der kleinen Stadt fand sich auch jemand, der Erfahrung als Kapitän hatte und dem Vorhaben gegen Bezahlung zustimmte. Ein anderer, der gleichfalls Erfahrung hatte, lehnte aufgrund der Schiffsbauweise ab, denn schließlich war das Schiff von einem Ingenieur gebaut worden, der noch nie ein Schiff entworfen hatte.

Nun waren alle einigermaßen zufrieden. Zur vollkommenen Zufriedenheit fehlte einfach das Vertrauen in das Schiff und zum Steuermann. Aber die Sehnsucht, auf die einsame Insel zu kommen war stärker, weshalb sich alle auf das Abenteuer einließen.

Es waren Frauen und Männer an Bord, sowie der Millionär und Ingenieur. Der angeheuerte Kapitän erwies sich allerdings als menschlich untragbar. Er hatte stetig etwas zu bemängeln und nach nur zwei Wochen auf See, vergewaltigte er eine junge Frau, was öffentlich bekannt wurde.

Wir tobten und wollten den Kapitän über Bord werfen. Doch was sollte dann aus uns werden? Der Ingenieur weigert sich das Schiff zu führen und dem Millionär traut es niemand zu. Doch der Kapitän hatte – auch wenn er in einer besonderen Stellung war – kein Recht, sich deshalb so zu benehmen.

Es wurde beratschlagt und letztlich entschieden, den Kapitän einzusperren, dem Millionär das Kommando zu übergeben und den Ingenieur als Berater zu beauftragen. Im Zweifelsfall sollte der wirkliche Kapitän gefragt werden, denn schließlich hing auch sein Leben davon ab, ob wir alle zusammen bei unserem Freund ankommen.

Damit will ich es fürs Erste bei dieser Geschichte als Einstieg belassen und einige Punkte abhandeln, die sich daraus ergeben.

Gleichheit und Wertigkeit Wie Sie im ersten Teil zu diesem Aufsatz gelesen haben, besagt der Jovialismus, dass alle Menschen aufgrund ihres Stoffwechsels gleich sind. Hier taucht nun ein Ingenieur, ein Millionär und ein bösartiger Kapitän auf. Allen drei ist gemeinsam, dass sie den genannten Stoffwechsel betreiben müssen, um zu leben. Sind sie deshalb „gleich“?

Als Lebewesen: ja - nicht aber ihre jeweils individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten.

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Wenn Sie nun meinen, dass ein Mensch durchaus mehr „wert“ haben kann, als ein anderer, so ist das Ihre subjektive Betrachtung. Sie bewerten den Menschen aufgrund seinen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. Diese Bewertung löst sich auf, wenn wir unsere Schiffsbesatzung in ein Flugzeug setzen. Dort wird weder der Ingenieur, der Millionär, noch der Schiffskapitän mit ihren individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten den gleichen Wert haben, wie auf dem Schiff.

Somit ist der subjektive Wert relativ. Auf dem Schiff hat z.B. der Kapitän „mehr wert“, als in einem Flugzeug. Darauf fragen Sie bestimmt, ob sich ein Mensch objektiv „bewerten“ lassen kann? Was lässt sich objektiv bewerten?

Stellen Sie sich dazu vor, ein Außerirdischer würde auftauchen. Was kann dieser Außerirdische bewerten?

Er kann feststellen, was durch die Eigenschaften und Fähigkeiten eines einzelnen Menschen entsteht. So ist z.B. die Bewertung der Fähigkeit, das genannte Schiff zu lenken, erst dann möglich, wenn es derjenige auch tatsächlich tut. Damit bewertet man nicht die Eigenschaft oder Fähigkeit eines Menschen, sondern deren Auswirkung.

So wäre der objektive Wert eines Menschen, welche Leistungen und welcher Nutzen durch seine Eigenschaften und Fähigkeiten entstehet.

Die Idee mit dem Außerirdischen entspricht dem Konzept des „unbeteiligten Dritten“. Im ersten Teil stellten wir fest, dass es auch etwas Absolutes gibt. Dazu müssten wir, nach den Aussagen im ersten Teil, alle Eigenschaften, Fähigkeiten, Leistungen und deren Nutzen des jeweiligen Menschen hernehmen. Allerdings gilt: wenn ein Mensch für mindestens einen anderen Menschen einen subjektiven Wert darstellt, hat dieser Mensch einen Wert (der nur subjektiv, aber auch objektiv oder absolut sein kann).35

Selbstwert und Wertschätzung Nun wird sich ein Mensch auch selbst etwas wert fühlen (wollen). Wie bisher aufgezeigt, stehen ihm seine Eigenschaften und Fähigkeiten zur Verfügung. Aus der Nutzung dieser Eigenschaften und Fähigkeiten entsteht sein Selbstwertgefühl. Wenn wir dies mit der Entelechie vergleichen, die wir im ersten Teil kennen lernten, würde das bedeuten, dass Aristoteles im Selbstwertgefühl eines Menschen den natürlichen Zweck sah.

Vergleicht sich ein Mensch mit anderen Menschen, kann er sich dadurch ab- oder aufwerten. Der objektive, aber auch absolute Wert ist hier nicht gemeint, da es das Selbstwertgefühl des jeweiligen Menschen in Relation zu anderen Menschen ist.

Ohne Relation hängt das Selbstwertgefühl vom Selbstbewusstsein ab (Bewusstheit der eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten), sowie vom Selbstvertrauen (Bewusstheit der eigenen Leistungsfähigkeit und des eigenen Nutzens). Dann entsteht das Selbstwertgefühl aus der jeweiligen Person heraus. Es kann durch andere über Anerkennung und Wertschätzung aufgewertet, sowie durch Kritik und Geringschätzung abgewertet werden.

35 In der katholischen Kirche wird vor der Kommunion folgender Satz gesprochen: „Herr ich bin nicht würdig,

dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Der erste Teil stellt nach genannter Auffassung die „subjektive Wertlosigkeit“ dar und durch ein Wort (Gottes) wird dem Mensch wieder ein „objektiver Wert“ beigemessen, was ihn (seine Seele) „gesunden“ lässt.

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In Freundschaften und Familienverhältnissen ist die Wertschätzung sehr häufig unabhängig von den Leistungen oder dem Nutzen des einzelnen, sondern geht von der reinen Existenz eines Individuums aus (Sie erinnern sich an Intimgruppen?).

Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang stellt das Wort „wollen“ dar, das man als Ausdruck des Selbstwertgefühls interpretieren kann. Wenn ich sage „ich will“, kann dies als „ich bin es mir wert“ gesehen werden.36

Dass „ich will“ mit der Wertschätzung anderer zu tun haben kann, ergibt sich auch aus anderen Satzkonstruktionen mit „ich will“. So betrifft zum Beispiel der Satz „Ich will etwas erklären“ nicht die eigene Wertschätzung („ich bin es mir wert“), sondern die Wertschätzung anderer („Du bist es mir wert, das zu verstehen“). Aber auch die Konstruktion „Ich will, dass Du etwas machst, arbeitest, wirst...“ („Du bist mir es wert, etwas zu machen, zu arbeiten, zu werden...“).

Wir werden später noch einmal auf die Wertung zurückkommen und belassen es vorerst bei den bisherigen Aussagen. Halten wir fest: Gleichheit bedeutet nicht Gleichwertigkeit. Selbstwert und Wertschätzung anderer entsteht aus der Kenntnis der eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten, sowie dem Wissen über deren Nutzen, aber nicht aus dem Vergleich dieser mit anderen Menschen.

Der Selbstwert, welcher aus dem Vergleich mit anderen Menschen gezogen wird, oder durch Ab-, aber auch Aufwertung anderer (z.B. bei Minderwertigkeitsgefühlen), hat nichts mit dem tatsächlichen Wert (der nur subjektiv, aber auch objektiv oder absolut sein kann) eines Menschen zu tun, den ein „unbeteiligter Dritter“ dem jeweiligen Menschen beimessen kann.

Auswirkungen im System Wundern Sie sich nicht auch manchmal, dass es Menschen gibt, denen man nachsagt, sie würden nach Macht streben? In dem Szenario, das ich für den zweiten Teil entworfen habe, stehen drei Personen zur Betrachtung, die für eine Machtposition in Frage kommen: der Ingenieur, der die Macht aufgrund seiner Selbsteinschätzung ablehnt; der Millionär, der aufgrund seiner Selbsteinschätzung die Macht haben will; und der Kapitän, der aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung die Macht bekommen soll.

Mit dem Schiffsbeispiel wird klar, dass manche Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen für das Überleben der gesamten Schiffsbesatzung sehr wichtig sind. Der häufige Irrtum daraus ist, dass dieser Mensch auch mehr Wert haben müsse und deshalb anders zu behandeln sei, als andere Menschen. Das kann durch die eigene Person erfolgen, die eine solche Position inne hat (in unserem Beispiel der Kapitän) oder durch die Gruppe (hier Schiffsbesatzung). Das Streben nach solchen Positionen erklärt sich oftmals daraus, dass der jeweilige Mensch durch die Gruppe aufgewertet wird.

Ist sich der Machtinhaber seiner Position bewusst, kommt es auf seine Fähigkeit und Eigenschaft an, wie er mit der jeweiligen Macht umgeht. Dabei landen wir bei der Verantwortung gegenüber der Gruppe.

36 Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich berichten, dass ich im realen Leben mehrere Frauen kennen lernte,

die mir folgendes erzählten: „Bei Liebeskummer oder Problemen in der Partnerschaft, gehe ich einkaufen, um mir etwas zu gönnen.“ Das würde obige Aussage von „ich will“ als „ich bin es mir wert“ bestätigen und eine Begründung sein, weshalb der Kapitalismus so erfolgreich ist.

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Verantwortung In unserem Beispiel ist die Verantwortung des Kapitäns nur auf die Schiffsbesatzung begrenzt. Ich will sogar behaupten, dass er gegenüber der Schiffsbesatzung durch die Vergewaltigung kein „Verbrechen“ begangen hat, sondern nur gegenüber der jungen Frau. Die Schiffsbesatzung ist sich allerdings einig, dass die junge Frau alleine keine Kraft hatte, sich gegen den Kapitän zu wehren.

Der Kapitän mag nun aus dem Wissen über seine Wichtigkeit (Mehrwert für die Gruppe) diese Tat begangen haben und damit spekuliert haben, dass er „straffrei“ ausgeht, oder aber er war sich seiner Wichtigkeit nicht bewusst und hat die Folgen gar nicht abgeschätzt. In beiden Fällen spielt das Gewissen (wie im ersten Teil beschrieben) eine wesentliche Rolle.

Ist nun die Gruppe für die Tat verantwortlich?

Auf der einen Seite kann man hier mit „Nein“ antworten. Nur einzelne Gruppenmitglieder können für die beschriebene Tat verantwortlich sein – allen voran der Kapitän. Andere deshalb, wenn sie zum Beispiel dem Kapitän zugeredet haben, die Tat zu begehen, indem sie ihm klarmachten, dass er so wichtig sei und deshalb keine Sanktion befürchten müsse.

Der Kapitän kann keinem anderen die Verantwortung für seine Tat zuschieben und ist in letzter Instanz selbst für sein Tun selbst verantwortlich.37

Die Gruppe hat allerdings eine Art Verantwortung: erst durch die Gruppe bekommt der Kapitän eine Position, die sein Gewissen möglicherweise beeinflusst. Wie im ersten Teil beschrieben, kann eine Gruppe allerdings kein eigenes Gewissen haben – vielmehr trägt jedes einzelne Gruppenmitglied für die Gruppe Verantwortung mit. Dieses „Mittragen“ kann von der Gruppe (besser deren „Führung“) oder des Einzelnen unerwünscht sein. Damit verlagert 37 In einem Mailaustausch mit Robert Ulmer (Mitglied des Sprecherrats des Netzwerk-Grundeinkommens)

schrieb er in Bezug auf den Existenzialismus (Satre: „Das Sein und das Nichts“): „[...] Jeder Mensch ist ein für sich und die Welt verantwortliches Individuum, nicht als Leibnizsche Monade, sondern eingebunden in Kommunikation mit anderen Menschen, sowohl im kleinen Kreis (Familie, Geliebte, Freunde, Bekannte), als auch gesellschaftlich. Sartres Philosophie bestreitet auch keineswegs, dass es so etwas wie sinnvolle gesellschaftliche Normen gibt, oder vorgegebene Sinn-Inhalte, auch Religionen. Er weist nur mit großem Nachdruck darauf hin, dass diese Normen nicht von alleine gelten, sondern dass jeder Mensch, jedes Individuum dafür verantwortlich ist, ob es diese Normen anerkennt oder nicht. Wenn ich an einen allmächtigen Gott glaube und mein Leben in Furcht vor diesem Gott verbringe, bin ich genau dafür verantwortlich. Die anderen sind dafür verantwortlich, wenn sie versuchen, mich mit ihrem Gott (oder, moderner, z.B. mit ihrer Arbeits-Religion) einzuschüchtern, aber ich bin dafür verantwortlich, inwieweit ich mich einschüchtern lasse! Da liegt meiner Ansicht nach die große Stärke seiner Gedankenwelt: wer sich beklagt, in eine falsche (repressive, arbeitsfixierte, verlogene, prüde, ...) Gesellschaft hineingeboren zu sein, muss sich von Sartre vorhalten lassen, dass er oder sie genau dafür verantwortlich ist, in welchem Ausmaß er die (repressiven, arbeitsfixierten, verlogenen, prüden, ...) Normen übernimmt oder inwieweit er oder sie rebelliert, Widerstand leistet, Subversion praktiziert etc. Es ist übrigens nicht die Frage, ob wir [...] „in der Lage sind“, Verantwortung zu übernehmen oder nicht. Verantwortlich sein ist keine Frage der Kompetenz. Auch wenn ich ein kleinmütiges, konformistisches Mitläufer-Leben führe, dann bin ich eben genau dafür verantwortlich. [...] Sartres Gedanke der individuellen Verantwortung ist hart und unbequem und zerstört die üblichen Ausreden, „eigentlich wollte ich ja immer, aber die Umstände, die Familie, die Gesellschaft ...“. Eine zugegebenermaßen ungemütliche Gedankenwelt, insbesondere auch für alle Zeitgenossen historischer Katastrophen (wie z.B. des Nationalsozialismus), die gerne in dem Gefühl leben möchten, dass nicht sie, sondern nur andere (Hitler, Himmler, Goebbels, Göring ...) verantwortlich gewesen seien, und die sich nun von Sartre vorhalten lassen müssen, dass sie sehr wohl für das verantwortlich sind, was sie alles unterlassen haben, verantwortlich dafür, dass sie Hitler etc. nicht umgebracht (oder anderweitig aus dem Verkehr gezogen) haben, dass sie die Juden nicht gerettet haben.“

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sich die Verantwortung auf die Gruppe, obwohl die Verantwortung mit dem persönlichen Gewissen verknüpft ist.

Dadurch entsteht ein Gewissens-Konflikt, der von den einzelnen Gruppenmitgliedern entweder durch Umgehung des eigenen Gewissens (z.B. „ich habe auf Befehl gehandelt“) oder durch Ausgrenzung von der Gruppe gelöst wird. Diese Ausgrenzung kann sowohl durch die Gruppe als auch durch das Individuum selbst erfolgen.

Wert, Kapital und Macht Im ersten Teil haben wir gelesen, dass der Mensch sich von anderen Lebewesen dadurch unterscheidet, weil er das einzige Lebewesen ist, das die Freiheit hat, „Nein“ zu sagen (Freiheit definierte ich dabei als Fähigkeit, zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden und sie auszuwählen, bzw. die Nichtwahl oder Neuschöpfung von Möglichkeiten). Auf diese Freiheit werde ich in Kürze noch genauer eingehen, aber wir benötigen jetzt diese menschliche Eigenschaft, um zu klären, was dies mit Wert, Kapital und Macht zu tun hat.

Wenn wir uns überlegen, was „bewerten“ genau bedeutet, kommen wir darauf, dass es eine „Wertung“ von mindestens zwei verschiedenen Dingen ist, von denen eine Sache bevorzugt wird (zu der/den anderen wird „Nein“ gesagt). „Bewertung“ ist dann nötig, um gewisse Dinge in eine bestimmte (subjektive) Reihenfolge zu bringen, aus denen man auswählen kann/soll.

Nun hat der Mensch als einziges Lebewesen einen freien Willen: „Die Freiheit 'Nein' zu sagen“. Und wenn wir „wollen“ (der Wille), wie weiter oben dargestellt, mit „bewerten“ gleichsetzen, ist der Mensch ein Lebewesen, das „frei bewerten“ kann.38 Diese Bewertung muss allerdings nicht rational begründet sein.

Im Gegensatz zur Bewertung eines Menschen, spreche ich hier nur von Wert, weil er subjektiv, objektiv oder absolut sein kann. Werte, die sich irgendwie in einen Gegenwert tauschen lassen, nenne ich Kapital.39

So ist meine Arbeitskraft z.B. mein Kapital für das jemand etwas hergibt. Dieses „Etwas“ kann z.B. Geld, Gold, Nahrung oder ein sonstiges Tauschmittel sein, das einem Anderen subjektiv gleichwertig erscheint. Das Tauschmittel hat damit selbst einen Wertcharakter und stellt gleichfalls Kapital dar.40

Nun hat allerdings nicht alles einen Tauschwert (ist nicht Kapital): zum Beispiel Kinder, Alte, Kranke, Behinderte, neuerdings Arbeitslose usw. Allerdings hatte ich weiter oben erwähnt, dass in Freundschaften oder Familien oft die alleinige Existenz als Wert gilt. Und solange nur eine Person jemanden wertschätzt, hat auch dieser Mensch einen Wert (der nur subjektiv, aber auch objektiv oder absolut sein kann).

Kommen wir aber auf das Kapital zurück und vergleichen es mit dem Machtbegriff aus dem ersten Teil. Man kann nämlich Kapital und Macht irrtümlicherweise gleich setzen und 38 Nietzsche: „Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das

Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen“ (Friedrich Nietzsche, G.D, S. 86); Martin Heidegger: „Die Werte entspringen nicht aus dem an sich bestehenden Übersinnlichen, sondern Werte sind Bedingung des Lebens, d.h. der Lebenssteigerung, und entspringen nur aus diesem Leben und gelten nur für dieses.“ (Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 48, S. 17)

39 vgl. Anhang 5 – Anmerkungen zum Dilthey-Modell 40 Werner, Götz W.; Presse, André (Hrsg.) Grundeinkommen und Konsumsteuer (2007), Universitätsverlag

Karlsruhe, ISBN 978-3-86644-109-5 Seite 107

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glauben, dass man Macht besitzen kann (wie Kapital). Kapital verliert aber seine Macht, wenn es beim Kapitalbesitzer nicht mehr die gleiche Wertigkeit hat, wie beim Kapitalempfänger.

Kapital sieht dabei eigentlich immer Kapital als Gegenwert vor. Ein „Kuss auf die Arschbacke“ (sofern es für den Geküssten keinen Wert darstellt) dürfte kaum jemanden dazu bewegen, seinen „Arsch“ für etwas zu bewegen, was der „Küssende“ geleistet haben will (außer, der Geküsste sieht die Notwendigkeit der Tätigkeit selbst ein).

So gesehen ist Kapital eine „Kraft“ (im physikalischen Sinn), die durch „wollen“ über eine „subjektive Bewertung“ (der „subjektive Wert“ kann auch einen „objektiven Wert“ darstellen) aktiviert wird. Die „Fähigkeit zu Arbeiten“ (Arbeitskraft) heißt nämlich noch lange nicht, dass ich auch tatsächlich arbeite und im allgemeinen tauscht man auch nichts für diese „Fähigkeit“, sondern für den Nutzen, den ein anderer aus dieser Fähigkeit bekommt (und was er subjektiv als „wertvoll“ ansieht).

Macht und Kapital sind sehr nahe Verwandte, wobei Kapital nur dann ein Machtmittel darstellt, wenn es vom Machtempfänger als erstrebenswert gesehen wird. Kommen wir deshalb auf Machtmissbrauch und Korruption zu sprechen.

Machtmissbrauch und Korruption

Zwar liegt Machtmissbrauch und Korruption sehr eng beieinander, aber sie sind nicht das Gleiche. Beim Machtmissbrauch hat jemand Macht und nutzt diese für moralisch/ethisch41 verwerfliche Zwecke. Bei Korruption versucht jemand einen Machtinhaber dazu zu bringen, seine Macht für moralisch/ethisch verwerfliche Zwecke zu benutzen.

Beiden ist gemein, dass es je vier Dinge gibt: den Machtinhaber (oder der Korrumpierende), den Machtempfänger (oder der Korrumpierte), ein Machtmittel (oder ein Korruptionsmittel) und einen Machtgegenstand (oder Korruptionsgegenstand). Missbrauch und Korruption funktioniert nur dann, wenn im Machtmittel (oder im Korruptionsmittel) ein Wert gesehen wird, der subjektiv höher steht, als der Machtgegenstand (oder der Korruptionsgegenstand). Eine Person (oder auch Gruppe) wird damit in einen Wertekonflikt gebracht.

Nehmen wir das Vergewaltigungsbeispiel auf unserem Schiff: der Machtinhaber ist der Kapitän; das Machtmittel seine persönliche Stärke oder aber auch seine Position auf dem Schiff (ohne Kapitän sind alle gefährdet); der Machtgegenstand die Vergewaltigung; und der Machtempfänger die Frau oder auch die Schiffsbesatzung. Sieht die Schiffsbesatzung nämlich in der Vergewaltigung kein wirkliches Verbrechen und „duldet“ die Handlung des Kapitäns, weil sie sonst dem Untergang geweiht wäre, steht die Besatzung vor dem Konflikt der Duldung und dem Überleben.

Konstruieren wir noch ein weiteres Beispiel für Korruption: Sie fahren in Deutschland mit 120 km/h durch ein Dorf (wo nur 50 km/h erlaubt sind) (Korruptionsgegenstand). Ein Polizist hält sie an. Sie haben 1000 Euro in der Tasche und wollen so schnell wie möglich weiter. Nun können Sie dem Polizist anbieten (Korrumpierte), von einer Strafe abzusehen (Korruptionsgegenstand), indem Sie ihm die 1000 Euro geben (Korruptionsmittel). Welche Möglichkeiten hat der Polizist und welche Beweggründe können ihn treiben? 41 Wie im ersten Teil beschrieben, definierten wir Moral/Ethik als gesellschaftlicher (bzw. individueller)

Umgang mit Traditionen, Normen und Regeln. Dieser Umgang hängt vom jeweils individuellen Gewissen ab. Das Gewissen gründet wiederum auf dem eigenen Verhältnis zu Handlungen und deren denkbaren Folgen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, Handlungen zu beurteilen und Folgen abzuschätzen. Dieses individuelle Gewissen wird dabei von den jeweils gültigen Moral- und Ethikvorstellungen beeinflusst.

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Er könnte bei 1000 Euro in einen Wertekonflikt geraten – vor allem dann, wenn er das Geld wirklich dringend benötigt. Damit würde er im Korruptionsmittel einen Wert sehen, der höher steht als der Strafbestand (Korruptionsgegenstand). Liegt ihm allerdings etwas an seinem Beruf (der seinen Lebensunterhalt darstellt), könnte die Wertigkeit wieder ein anderes Gewicht bekommen, sobald er Angst hat, dass die Geschichte herauskommt (und entsprechend geahndet wird).42

Wenn nun alle Polizisten korrupt sind, verschiebt sich die Wertigkeit wieder. Wer in einer solchen Gruppe nicht korrupt sein will, gefährdet seine Mitgliedschaft in der Gruppe, was in manchen Gesellschaften eine Frage des Überlebens darstellt.

Korruption kann auch (staatlich) organisiert sein, indem es z.B. Geld kostet, überhaupt Polizist zu werden. Dabei wird eine Vorauswahl getroffen und das Korruptionsverhalten in eine bestimmte Richtung gelenkt (der Korruptionswert steigt gegenüber dem Korruptionsgegenstand deshalb, weil sich die Investition amortisieren soll)43.

Allgemein lässt sich Machtmissbrauch und Korruption daran festmachen, dass der Macht/Korruptionsgegenstand dem Machtmissbraucher/Korrumpierenden „relativ egal“ ist – er übernimmt keine Verantwortung dafür, weil er selbst nicht direkt davon betroffen ist. Machtmissbrauch und Korruption ist möglich, wenn der jeweilige Machtmissbrauchende, bzw. Korrumpierte keine Einsicht in die jeweilige Vorschrift hat. Ist kein entsprechend ausgeprägtes Gewissen vorhanden, kann man von Prostitution sprechen (im Sinne eines unmoralischen/unethischen Verhaltens).

Um auf unser Schiff zurückzukommen, verhält es sich dort deshalb anders, weil der Besatzung die Vergewaltigung nicht egal ist und sie dafür Verantwortung übernimmt. Dies auch deshalb, weil jeder der Besatzungsmitglieder zum „Machtgegenstand“ werden könnte.

Es gibt noch ein weiteres Thema, das ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte: Vetternwirtschaft, das im Deutschen auch als „Vitamin B“ bezeichnet wird.

Dabei handelt es sich um eine Gruppe, deren einzelne Mitglieder oft untereinander verwandt sind (deshalb Vetternwirtschaft) und sich gegenseitig fördern, was häufig ohne Gegenleistung abläuft. „Vitamin B“ (B = Beziehung) steht dabei für vorteilhafte, berechnende und informelle Verbindung zur Erlangung persönlicher Vorteile. Die gegenseitige Unterstützung basiert auf dem persönlichen Bekanntschafts-/Verwandtschaftsverhältnissen. Außenstehenden fällt es dabei sehr schwer, in solche Gruppen zu kommen. Im ersten Teil habe ich solche Gruppen als „verschworene Gemeinschaften“ erwähnt, deren Aktivitäten bei Außenstehenden oft durch Verschwörungstheorien interpretiert werden.

Das System beruht auf gegenseitiger Hilfeleistung und Gefälligkeit, was zur Vermischung von persönlichen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen führen kann. Machtpositionen werden in diesen Fällen oft zugunsten von Bekannten/Verwandten 42 Vgl. dazu die Idee von Kant: „Wenn jemand den Entschluss zu einem Diebstahl nur deshalb aufgibt, weil er

sich beobachtet fühlt und die Strafe fürchtet, so ist dieses Sinnesänderung, die sich in seinem Inneren vollzieht, bloß legal, nicht aber moralisch.“ (Geschichte der Staatstheorien, Reinhold Zippelius, 10. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Verlag C.G. Beck 2003, Seite 147, ISBN: 3-406-494943)

43 In Kiew wurde mir die Situation so beschrieben, dass Richter und Polizisten für die jeweilige Ausbildung (inoffiziell) viel Geld bezahlen müssen, um in diese Kreise zu kommen. Dadurch wird Korruption „instrumentalisiert“. In Deutschland ist Korruption bei Gerichten und Polizei hauptsächlich deshalb „gebannt“, weil Existenzangst eine Rolle spielt und Korruption allgemein nicht so stark „instrumentalisiert“ ist, wie in der Ukraine.

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missbraucht. Das Bekanntschafts-/Verwandtschaftsverhältnis stellt dabei das Macht-, bzw. Korruptionsmittel dar.

Die Freiheit „Nein“ zu sagen „Die Freiheit ‚Nein’ zu sagen“ haben wir hier schon etwas genauer definiert, indem wir sie mit der Wertung in Zusammenhang gebracht hatten. Durch die freie Willensentscheidung (mit vorhergehender Wertung) ist es dem Menschen möglich, sich unabhängig von instinktivem oder triebhaftem Einflüssen zu verhalten.

Der „Preis“ für diese Freiheit ist die Verantwortung für das eigene Verhalten, aber auch für seine Umwelt und sich selbst. Die Freiheit setzt Bewusstheit voraus: Wissen über die möglichen Folgen seines Handelns, wobei hier das Gewissen auf den Plan gerufen wird.

Wie wir im ersten Teil erfahren hatten, ist der Mensch absolut frei und wird nur durch die tatsächlichen Möglichkeiten eingeschränkt. So kann der Mensch von Natur aus nicht fliegen, aber hat es trotzdem geschafft, dass er heute sogar im Weltall präsent ist.

Der Mensch akzeptiert die natürliche Vorgabe nicht, durch natürlichen Fähigkeiten und Eigenschaften eingeschränkt zu sein. Somit schafft er sich durch seine Freiheit (dieser „Nichtakzeptanz“) neue Möglichkeiten.

Aus diesem Grund funktioniert Fortschritt, denn der Mensch glaubt, innerhalb seiner bestehenden Möglichkeiten unfrei zu sein. Er versucht die Grenzen seiner Freiheit kennen zu lernen und erweitert sie damit um neue Möglichkeiten.

Beim Übergang vom Kindesalter zum Erwachsenenalter (Pubertät) erlebt man zum Beispiel diese Grenztestung sehr häufig. Das Problem daran ist, dass der Mensch mit seiner Freiheit auch in die Freiheit anderer Menschen eingreifen kann (z.B. einen anderen töten - einfach nur deshalb, um die Grenzen der Freiheit zu testen44).

Wo liegen aber die Grenzen der Freiheit?

Im ersten Teil nannten wir die Moral- und Ethikvorstellungen des Einzelnen als selbstauferlegte Grenzen und die Vorstellungen der Gesellschaft sind teilweise schriftlich in Gesetzen verankert, die über Machtausübung durchgesetzt werden. Nun möchte ich noch auf weitere Grenzen eingehen.

Die Grenzen der Freiheit Der Mensch ist innerhalb seiner Grenzen absolut frei. So war zum Beispiel Jesus am Kreuz frei, wenn er die Umstände (keine Bewegungsfreiheit, Schmerzen) akzeptierte. Trotzdem konnte er am Kreuz frei entscheiden, wie er seine Peiniger bewerten wollte. In seinem Denken und den Entscheidungen war er frei.

Allerdings gibt es Mittel und Möglichkeiten, diese Freiheit anderweitig zu brechen. Auf der einen Seite seien hier Psychopharmaka oder Drogen (auch körpereigene Drogen, die durch Sport, Tanz, Rhythmen etc. ausgeschüttet werden) genannt, die auf biochemischer Ebene direkt in die Freiheit eines Menschen eingreifen. Auf der anderen Seite kann (physische und

44 Als reale Beispiele: Felix und Florian (beide 17 Jahre) hatten am 13. Januar 2007 in Tessin/Mecklenburg

Vorpommern ein Ehepaar erstochen http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,489623,00.html Kodjo Yenga, 16 Jahre alt, wurde im März 2007 in London auf offener Straße von einer Bande erstochen, die von einem 13jährigen angeführt wurde: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,472205,00.html

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psychische) Folter als weiterer direkter Eingriff betrachtet werden. Hierzu kann man auch Gruppenzwang zählen.45

Auch Informationen können die Freiheit eines Menschen beeinflussen. Als Beispiel einer indirekten Einflussnahme durch Information: die Vergewaltigung auf dem Schiff fand zwischen dem Kapitän und der Frau statt. Sofern es keine Zeugen gab, kann die Frau diese Geschichte erfunden haben, weil sie z.B. dem Kapitän schaden wollte. Egal, ob die Tat wirklich geschehen ist oder erlogen ist: sie greift in die Freiheit des Kapitäns ein, indem die Besatzung des Schiffs auf diese Information reagiert.46

Ein Beispiel für direkte Einflussnahme ist das berühmte Szenario mit dem „Kind und der Herdplatte“: ein Kind will unbedingt auf eine heiße Herdplatte fassen. Sie als Erwachsener stehen daneben und geben dem Kind die Information, dass die Herdplatte heiß sei. Damit beeinflussen Sie die Freiheit des Kindes, selbst die Erfahrung zu machen.

Im allgemeinen kann man sagen, dass die Freiheit durch das Wissen der möglichen Grenzen eingeschränkt wird. Die natürlichen Grenzen der Freiheit sind durch die Naturgesetze gegeben. Durch Verknüpfung von Erfahrungen (im ersten Teil als Erkenntnis definiert) erweitert der Mensch seine Möglichkeiten innerhalb der bestehenden Naturgesetze. Diese stellen die natürlichen Grenzen der menschlichen Freiheit dar.

Im Prinzip sind Naturgesetze Informationen, welche die Freiheit des Menschen definieren. Deshalb ist es möglich, mit Wissen über die Vorgänge im Gehirn, gezielt auf die Bewusstseinsfreiheit des Menschen Einfluss zu nehmen (direkt durch Psychopharmaka oder Drogen; oder indirekt durch Informationen).47

Das Ende der Freiheit ist (bisher) durch den Tod gesetzt.

Die Bedeutung des Todes Wie im ersten Teil schon herausgestellt, endet auch die nun hier relativierte Freiheit mit dem Tod. Dennoch kann der Tod Folgen für ein System haben. Wie wir zum Beispiel an unserer einführenden Schiffsreise ersehen konnten: wenn der Kapitän einfach über Bord geworfen wird, ist das Schiff führerlos und damit wäre die Schiffsbesatzung gefährdet.

45 Auf Grund der menschlichen Instinktausstattung ist - neben der Angst zur unmittelbaren Überlebenssicherung

- der Wunsch nach Verbundenheit die fundamentalste menschliche Emotion. Der Wunsch „dazu zu gehören“ sitzt so tief in der menschlichen Seele, dass all seine latenten Auswirkungen auf das tägliche Leben unübersehbar sind. Das gesamte Sozialverhalten eines Menschen steht im Dienste dieses Wunsches. Daraus resultiert, dass - neben der unmittelbaren Angst in lebensbedrohenden Situationen - die Angst vor Einsamkeit ebenfalls eine mächtige Triebfeder für menschliches Verhalten ist. Ein Verstoß aus der Gruppe bedeutete früher für viele den sicheren Tod. So wird ein Mensch diesen Verstoß um jeden Preis verhindern wollen. Mit dem Schamgefühl greift der Selbsterhaltungstrieb eines Menschen in dessen eigene Persönlichkeit ein, und erkauft sich die Wiederaufnahme in die Gruppe - und so das eigene Überleben - mit einer Art von innerlich erzwungener Selbstaufgabe. Aus einem früheren Aufsatz von mir; Jörg Drescher, 2007: „Verhaltenstheoretische Betrachtung zum Grundeinkommen“

46 Als reales Beispiel: Marko Weiss, ein 17jähriger Schüler aus Niedersachsen, saß (zum gegenwärtigen Zeitpunkt sitzt) wegen einer 13jähigen Engländerin in der Türkei in Untersuchungshaft, die behauptete, er habe sie vergewaltigt: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,498837,00.html

47 Dr. Timothy Leary forderte folgende Ethikgrundsätze: „Du sollst das Bewusstsein Deines Nächsten nicht ohne sein Einverständnis verändern; Du sollst Deinen Nächsten nicht davon abhalten, sein Bewusstsein zu verändern.“ (Timothy Leary „Politik der Ekstase“, Christian Wegner Verlag GmbH, Hamburg 1970)

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Nun ist so ein Schiff kein Staat, sondern eine zeitlich beschränkte Gemeinschaft, die während der Reisezeit existiert. Eine reale Gesellschaft überdauert allerdings im Normalfall mehrere Generationen und besteht länger als ein Menschenleben.

Es gibt Beispiele in der Geschichte, die zeigen, dass beim Wegfall der Führung in einer „geführten Gesellschaft“ ein Machtvakuum entsteht, das bis zum Zusammenbruch des jeweiligen Systems führen kann.48 Gefährdete Systeme sind hauptsächlich solche, die sich an einer einzelnen Person oder Personengruppe festmachen.

Stabile Systeme können demnach existieren, wenn der Tod (als derzeitig gültiges Naturgesetz) miteinkalkuliert wird. Im ersten Teil führte ich deshalb den Spruch „Memento mortis“ (Bedenke den Tod) aus Rom als Fußnote an. Damit ist die Bewusstheit der Sterblichkeit (der Führungskräfte) gemeint und die Forderung, dass sie sich „ersetzbar“ machen sollen.

Ein weiterer Einfluss des Todes ist die Unwissenheit, was und ob danach etwas kommt. Deshalb versuchen sich manche ein Denkmal zu setzen und so „unsterblich“ zu werden. Wenn wir dies in Bezug zur Wertigkeit setzen, so nehmen sich diese Menschen wichtig oder werden von nachfolgenden Generationen wichtig genommen.49

Im Prinzip gibt es nur drei Möglichkeiten, was nach dem Tod passiert. Die erste ist, dass wir einfach tot sind; die zweite ist, dass wir in einen „anderen Zustand“ übergehen; die dritte entspricht eigentlich der zweiten, wobei der „andere Zustand“ die Widergeburt ist. Mich persönlich beschäftigt diese Frage nach mehreren Selbstmordversuchen nicht mehr, weil wir es sowieso einmal erleben werden.

Naturzustand Im ersten Teil schrieb ich über Naturrechte und deren erfolgloser Versuch, sie in der realen Welt praktisch umzusetzen. Lag es an den definierten Naturrechten oder der Herleitung dieser? Alles, was wir bisher erfahren haben, lässt den Naturzustand folgendermaßen definieren:

Menschen sind Lebewesen, die innerhalb eines Gebiets bis zum Tod Stoffwechsel betreiben. Dafür haben sie Fähigkeiten und Eigenschaften, um diesen Stoffwechsel zu gewährleisten. Im Unterschied zu anderen Lebewesen verfügt der Mensch über die „Freiheit ‚Nein’ zu sagen“. Damit ist eine bewusste Entscheidungsfreiheit gemeint, die weitgehendst unabhängig von Trieben oder Instinkten abläuft. „Nein“ deshalb, weil bei der Auswahl von etwas zu allen anderen Möglichkeiten „Nein“ gesagt wird. Die Auswahl findet durch eine individuelle Wertgewichtung statt.

Die Grenzen dieser Freiheit sind von außen durch physikalische Gesetze gegeben (dazu gehört auch der genannte Stoffwechsel). Innere Grenzen setzt sich der Mensch durch Moral- und Ethikvorstellungen. Sie werden größtenteils erlernt und bilden sich während des Lebens.50

48 Ein Beispiel wäre die Partei „Die Grünen“, deren früherer Kopf, Joschka Fischer, aus persönlichen Gründen

diese Rolle nicht mehr weiterführen wollte. Andere Beispiele sind Überlegungen, was passiert wäre, wenn Hitler umgekommen oder ermordet worden wäre. Neuere Beispiele sind Fidel Castro in Kuba oder auch Vladimir Putin in der Russischen Föderation.

49 Selbst Adolf Hitler setzte sich mit seinem menschenverachtenden Verhalten ein Denkmal und bleibt als negatives Beispiel auf der ganzen Welt in Erinnerung.

50 Vgl. Video: http://www.br-online.de/cgi-bin/ravi?verzeichnis=alpha/geistundgehirn/v/&file=spitzer_16.rm&g2=1

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Der „Preis“ für diese Freiheit ist Verantwortung für sich, andere Menschen und die Umwelt. Die „Instanz“, die entscheidet, ob dieser „Preis“ bezahlt wird, nenne ich Gewissen. Das Gewissen entscheidet die Frage, ob der Mensch alles tun darf, was ihm durch die äußeren physikalischen Gegebenheiten möglich ist, bzw. was er sich selbst an Grenzen gesteckt hat.

Naturrecht Das „liberale“ Naturrecht billigt jedem Menschen zu, diese (oben genannten) äußeren und inneren Grenzen der Freiheit selbst kennen zu lernen, bzw. zu definieren. Der Mensch hat aufgrund seines Naturzustands das Recht, sein Gewissen innerhalb des Naturzustands selbst zu bilden und danach zu handeln.

Dieses „liberale“ Recht lässt sich als „soziales“ Naturrecht erweitern, indem es dadurch eingeschränkt wird, dass keiner bei der Anwendung seines „liberalen“ Naturrechts andere bei deren Ausübung behindern darf. Eigentlich ist es eine Rechtfertigungspflicht und kein Recht. Diese Pflicht leitet sich aus dem Naturzustand ab, weil alle Menschen nach dem hier beschriebenen Naturzustand gleich sind und über die Eigenschaft/Fähigkeit verfügen, ein Gewissen zu bilden und danach zu handeln.

Das „joviale“ Naturrecht übernimmt das „liberale“ Naturrecht und beschreibt das „soziale“ Naturrecht als „Recht auf Pflicht“. Die Pflicht besteht darin, Bedingungen zu schaffen, um das „soziale“ Naturrecht verwirklichen zu können. Es lässt sich wie folgt in Worte fassen:

Der Mensch hat durch den Naturzustand das Recht, ein eigenes Gewissen aufgrund seines Wissen über den Naturzustand zu bilden, danach zu handeln und für daraus gewonnene Pflichten Bedingungen zu schaffen, damit dieses Recht für alle Menschen erfüllbar ist.

Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht von Schuld sprechen. Schließlich hat der Mensch die Freiheit, „Nein“ zu sagen und dieses Recht abzulehnen (Naturzustand). Die Schwierigkeit einer objektiven Schuldzuweisung ergibt sich unter anderem durch diese Freiheit.51

Der Vorwurf der objektiven Schuld entsteht, wenn jemand für den Verstoß gegenüber ethisch/ moralischen Wertvorstellungen (die teilweise gesetzlich verankert sind) verantwortlich gemacht wird. Das würde heißen, dass das Naturrecht eine ethisch/moralische Wertvorstellung darstellt. Doch wie hier gezeigt, sind Wertvorstellungen subjektiv.

Ein Mensch, der dieses Naturrecht anerkennt und als Pflicht übernimmt (Verantwortung für sein Gewissen), kann sich subjektiv schuldig fühlen, wenn er gegen diese Pflicht verstößt. Und seine Pflicht besteht darin, Bedingungen zu schaffen, dass dieses Recht für alle Menschen erfüllbar ist (oder erhalten bleibt oder erfüllbar wird).

Mit der Anerkennung dieser Pflicht, steht ein Mensch (subjektiv) „in der Schuld“, dieses Recht anzuwenden. Es ist der im Naturzustand genannte „Preis“ für die Freiheit. Diesen Preis „bezahlt“ der Mensch, indem er sich Wissen über den Naturzustand aneignet und sein eigenes Gewissen bildet (er nutzt sein Recht).

Dieses Naturrecht räumt auch das „Recht auf Widerstand“ ein, da das Recht auf „Bedingungen für aus dem Gewissen gewonnene Pflichten schaffen“ auch die Änderung und Abschaffung von Bedingungen beinhaltet, die keine solchen Möglichkeiten bieten. Allerdings schränkt sich das zur Pflicht gewordene „joviale“ Naturrecht selbst ein, da Handlungen an das eigene Gewissen geknüpft sind. 51 Weitere Beispiele für die Schwierigkeit objektiver Schuldzuweisungen sind Unrechtsbewusstsein, die durch

Krankheit oder Unreife verursacht sind.

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Ideologien Als ich anderen darüber erzählte, dass ich eine Philosophie schreiben wolle, die sich mit Gleichheit, Herrschaft und Demokratie beschäftigen soll, wehte mir enormer Wind entgegen. Manche meinten, dass jeder Mensch seine eigene Philosophie hätte und man keine Philosophie für alle Menschen entwickeln könne; andere blockierten bei dem Wort Jovialismus, weil sie darin einen „Ismus“ sahen und eine dogmatische Umsetzung befürchteten.

Der Jovialismus fordert allerdings aus sich selbst heraus eine wertneutrale Betrachtung und keine dogmatische (bewertende) Richtung einer bestimmten Ansicht. Die Furcht vor dem „Ismus“ kann ich allerdings nachvollziehen, weil der Mensch oftmals nur das für sich heraus nimmt, was ihm genehm erscheint. So sind viele „Ismen“ in der Geschichte falsch verstanden worden und führten zu Extremen, die der eigentlichen Ideologie sogar teilweise zuwider liefen.

Falsch verstandene „Ismen“ Für mich stellt das jüngste Beispiel eines falsch verstandenen „Ismus“ der Existenzialismus dar, den ich als letzte große philosophische Strömung im 20. Jahrhundert betrachte. Der Kern dieser Philosophie beschränkte sich für viele auf die Tatsache, dass es keinen Sinn im Leben gibt und jeder das tun kann, was er will. So gesehen wäre der Existenzialismus eine Individualphilosophie. Wer sich ausführlicher mit dieser Philosophie beschäftigt, wird allerdings feststellen, dass darin auch die Verantwortung für die Gesellschaft enthalten ist. Zudem haben wir im ersten Teil festgestellt, dass der objektive Sinn des Lebens das Überleben der Menschheit bedeuten kann.

Der Liberalismus als eine große politische Strömung scheint die Gemeinschaft auszuschließen, weil darin die Freiheit des einzelnen betont wird. Die Übertreibung der persönlichen Freiheit zeigt (z.B. keine Hilfe für Notbedürftige, weil diese sich selbst zu helfen haben), weshalb manche vor solchen „Ismen“ Angst haben.

Der Sozialismus in seiner Extremform ist dabei auch nicht besser, denn dieser schränkt die Freiheit des Liberalismus ein und unterdrückt damit Individualität.

Der falsch verstandene Utilitarismus (als Philosophie des Nutzens zum Glück) kann dazu führen, dass ein subjektiv definiertes „Glück“ als Dogma für alle gelten soll. So werden Minderheiten übergangen. Auch die Sicht, dass persönliche Freiheit als Nutzen zum Glück führe, kann zu Egoismus und Ellenbogenmentalität führen (oft als Neo-Liberalismus bezeichnet). Vor allem die Idee, dass nur noch das zählt, was nützlich ist, unterdrückt Dinge, die keinen objektiven Wert haben.

Ein weiterer und für Deutschland besonderer „Ismus“ ist der Nationalsozialismus. Dabei wird die eigene Nation (als Rasse verstanden) gegenüber anderen Nationen überbewertet. Wie wir hier herausgearbeitet haben, ist ein relativiertes Selbstwertgefühl (hier einer Gruppe) kein absolutes, denn es könnte ein „unbeteiligter Dritter“ kommen, der anders bewertet.

Im Prinzip stellt der Nationalsozialismus eine Art Narzissmus dar, der auf mangelndes Selbstwertgefühl hindeutet. Es wird ausgeklammert, dass die Vielfältigkeit der Menschen zur besseren Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Umweltbedingungen führte, um das Überleben der Menschheit als Ganzes zu gewährleisten. Trennung oder Erhaltung der Nation

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ist aus diesem Grund eher schädlich, als nützlich, denn erst durch die Mischung ergeben sich neue Möglichkeiten. Dies wurde zum Beispiel beim Adel mit der Inzucht festgestellt.

Im ersten Teil hatte ich unseren Freund auf der Insel Fallen stellen lassen, damit er sich ein „reines Gewissen“ schaffen kann. So kann man den Kapitalismus als „Sozialdarwinismus“ verstehen, indem unsere Gesellschaft das System einführt, bei dem die „Überlebensfähigkeit des Einzelnen durch Kapitaleinkommen“ (Leistung nur für Gegenleistung) geregelt ist.

Die Ausgrenzung von Andersartigen/-denkenden (z.B. „Behinderte“) findet statt, ohne sie tatsächlich vernichten zu wollen. Man betreibt keine wirkliche „Euthanasie“, sondern ruft die Gesellschaft auf den Plan, welche für jene Andersartigen/-denkenden Platz schaffen soll (Im Sinne: „ich will mich nicht um einen ‚Behinderten’ kümmern, das soll ein anderer machen“).

Wenn sich aber keiner um einen „Behinderten“ kümmern will, fehlt der Platz und die Überlebensfähigkeit des „Behinderten“ geht gegen Null. Somit haben wir „indirekte Euthanasie“ (wie im Fallenbeispiel des ersten Teils). Der Unterschied zur „direkten Euthanasie“ ist, dass bei der „direkten Euthanasie“ von vornherein bestimmt wird, wer existenzberechtigt ist und wer nicht. Im Kapitalismus als „Sozialdarwinismus“ regelt der Markt die „Existenzberechtigung“.

Religionen – die Frage nach „Gott“ Neben den „Ismen“ gibt es auch noch Religionen. Der Unterschied zwischen Philosophien (die oft mit „Ismus“ enden) und Religionen besteht darin, dass in der Philosophie die Wahrheit „gesucht“ wird, während man sie in Religionen als „gefunden“ betrachtet. Der Philosoph glaubt an die Existenz einer Wahrheit und sucht danach, während der gläubige Religionsvertreter von einer Wahrheit überzeugt ist.

Religionen dienten geschichtlich betrachtet als Versuch, „einfachen Menschen“ Wahrheiten zu vermitteln. Gewisse Moral- und Ethikvorstellungen innerhalb der Religionen entsprechen mitunter den regionalen Gegebenheiten, wo die Religion praktiziert wurde. Rituale sollten das Gemeinschaftsgefühl stärken, um der Gruppe dadurch die Überlebenschancen zu erhöhen. Zudem wurden philosophische Fragen durch die Religionen beantwortet – einschließlich, was nach dem Tod passiert.

In Religionen wird Wahrheit oft mit „Gott“ umschrieben. In der Philosophie (der Liebe zur Wahrheit) wird gefragt, was diese Wahrheit ist, weshalb ich Philosophie als „Die Frage nach ‚Gott’“ bezeichnen möchte. Damit gehe ich von der Existenz einer Wahrheit („Gott“) aus und kann auch davon überzeugt sein, dass es eine solche gibt. Der Unterschied zur Religion ist allerdings, dass ich diese Wahrheit nicht kenne (deshalb „glaube“ ich, aber ich „weiß“ nicht).

Die Idee der Freiheit „Nein“ zu sagen, basiert auf diesem Ansatz, denn wir haben die Freiheit, die Existenz einer Wahrheit (Gottes) zu verneinen. „Die Frage nach ‚Gott’“ umgeht diese Freiheit, indem a priori davon ausgegangen wird, dass es einen solchen gibt, wir aber nicht wissen (können), wer oder was „Gott“ ist.

Die Konflikte, die sich durch verschiedene Religionen ergeben, basieren auf der dogmatischen Überzeugung, zu wissen, wer oder was „Gott“ sei. „Die Frage nach ‚Gott’“ versucht dieses Dogma zu brechen. Der Jovialismus verlangt mit dem Konzept des „unbeteiligten Dritten“ eine objektive Untersuchung, was „wahr“ ist. Die Freiheit, „Nein“ zu sagen drückt den „ewigen Zweifel“ aus, ob das Ergebnis wirklich „wahr“ ist (schließlich kann ein „unbeteiligter Dritter“ kommen und das Ergebnis mit seiner „Freiheit ‚Nein’ zu sagen“ in Frage stellen).

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Information Wie wir schon im ersten Teil, aber auch hier feststellten, spielt Information immer wieder eine wesentliche Rolle, indem vieles mit Informationen in Bezug gesetzt wird. So stellt auch dieser Text eine Information dar. Solange niemand diesen Text ließt, hat die Information keinerlei Auswirkung – weder im negativen, noch im positiven Sinn. Demnach ist Information im ersten Moment neutral. Erst durch die Verarbeitung von Information kann diese positive oder negative Folgen haben.

Die neuere Biologie besagt, dass auch Lebewesen auf Informationen basieren. Der „Bauplan des Lebens“ ist in der DNS gespeichert. Somit kann man das Ziel des Lebens in der Reproduktion von Information und einer damit verbundenen Weitergabe dieser betrachten. Bei diesem Vorgang kommen mitunter Veränderungen vor, deren Zweck darin besteht, den Informationserhalt zu optimieren.

Der Mensch ist nach diesem Kenntnisstand ein „informationsverarbeitendes Lebewesen“, das zur Informationsverarbeitung Energie verbraucht, welche durch Stoffwechsel entsteht.

Fragt man nach einem „Warum“, kann man mit einer Antwort nur spekulieren. Information hat durch die Neutralität eigentlich keinen Selbstzweck und damit würde sich die Frage nach einem „Warum“ erübrigen. Dies begründet unter anderem die Freiheit des Menschen, zu sich und/oder dem Leben „Nein“ sagen zu können, weil sich ein Tier die Frage nach dem Warum nicht stellt.

Rufen wir uns in Erinnerung, dass diese Freiheit mit Bewertung zu tun hat, können wir sagen: die Antwort auf den Grund des Lebens ist ebenfalls Information und damit neutral. Erst durch Übermittlung der Information (über ein Medium, wie z.B. Sprache) entfaltet sie bei Verarbeitung das in ihr liegende Potential. So hat „Sinnlosigkeit“ oder „Sinnigkeit“ jeweils verschiedenen Einfluss auf die Freiheit „Nein“ zu sagen.52

Wahrheitsgehalt von Informationen In diesem zweiten Teil beschrieb ich zwei Beispiele in Bezug auf Information und deren Einfluss auf die Freiheit. Das erste Beispiel handelte von der Informationsweitergabe bei der Vergewaltigung. Dabei ist festzustellen, dass es sich um die Wahrheit (die Vergewaltigung fand tatsächlich statt) oder um eine bewusste Lüge handeln könnte (zwischen Kapitän und Frau ist nichts passiert) oder um eine unbewusste Lüge (die Frau fasste den Verkehr mit dem Kapitän als Vergewaltigung auf, wobei es der Kapitän anders sah).

Im zweiten Beispiel ging es um das Kind mit der Herdplatte. Auch hier kann die gemachte Aussage des Erwachsenen richtig oder falsch sein. Es gibt drei mögliche Einflüsse auf das Kind: erstens, es überprüft die Richtigkeit und fasst auf die Platte; zweitens, das Kind glaubt dem Erwachsenen und fasst nicht auf die Platte; drittens, der Erwachsene hindert das Kind in irgendeiner Form (physisch, psychisch) daran, die Richtigkeit selbst zu überprüfen.

Die vergewaltigte Frau oder der Erwachsene aus unseren Beispielen entscheiden jeweils subjektiv über die Weitergabe der Information, sowie deren Darstellung und Inhalt. 52 Johann Wolfgang von Goethe legte Mephistopheles im ersten Teil des Faust folgende Worte in den Mund:

„ich bin der Geist, der stets verneint./ und das mit Recht, denn alles, was entsteht/ ist wert, dass es zugrunde geht./ Drum besser wär's, dass nichts entstünde,/ denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt,/ das ist mein eigentliches Element.“ (Zeile 1337-1344) Damit drückt Goethe die „Sinnlosigkeit“ der Existenz aus Sicht von Mephistopheles aus.

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Dementsprechend wird die Information subjektiv durch den Sender gefärbt (wenn auf dem Schiff nichts zwischen Frau und Kapitän war, kann sie eine bewusste Lüge damit unterstreichen, wenn sie einem Besatzungsmitglied unter Tränen den Fall schildert). Medien unterliegen in einem Staat auch diesen „Regeln“. Das Problem daran ist, dass heutige Massenmedien Mitglieder von Gruppen in großer Zahl erreichen und deshalb viel größeren Einfluss haben, als in einem individuellen Gespräch oder beim Lesen eines Briefes. Zudem läuft die Kommunikation häufig nur in einer Richtung. Deshalb obliegt Medien (besser deren Vertretern) eine besondere Verantwortung und sie haben eine Machtstellung im Staat. Die Macht ist dabei ähnlich zu sehen, wie die Machtstellung des Kapitals: Information (durch Medien) hat soviel Einfluss, wie durch den Empfänger zugelassen wird. Misst der Empfänger der Information nicht die gleiche Bedeutung zu, wie der Sender, besteht kein Machtverhältnis. Im Gegensatz zum Kapital ist auch das Zurückhalten von Information ein Machtmittel - dazu mehr unter Zensur. Doch wie in den beiden Beispielen gezeigt, liegt im Wahrheitsgehalt der Information ein Problem. Ein weiteres Problem besteht in der Informationsverarbeitung (weiß das Kind zum Beispiel nicht, wie sich eine „heiße Herdplatte“ anfühlt, wird es mit der Information anders umgehen, als wenn es schon einmal die Erfahrung gemacht hat). Heute spielt auch noch die Informationsflut und der Zeitmangel eine zusätzliche Rolle, um die Richtigkeit einer Information zu überprüfen. Aus diesem Grund entstand der Vorschlag, Informationen als „glaubwürdig“ zu kennzeichnen. Doch entsteht dadurch das Problem, dass die „Beglaubigungsstelle“ dadurch Informationen indirekt zensieren (im Sinne von „bewerten“) kann. Damit kommen wir zum Thema Zensur, denn das Vorenthalten von Information ist nur ein Zensuraspekt.

Direkte Zensur Im allgemeinen versteht man unter Zensur das unterdrücken (verbieten) von Informationen. Was wir hier über den Kapitalismus und das Thema „Euthanasie“ gelesen haben, kann allerdings auch auf Informationen übertragen werden. Damit wäre Zensur als Verbot und Unterdrückung mit „direkter Euthanasie“ gleichzusetzen (jemand entscheidet direkt über den Wert einer Information, bzw. deren Auswirkungspotential). In der heutigen Zeit ist zum Beispiel Kinderpornographie gesetzlich verboten (was nichts anderes heißt, dass die derzeitigen Moral- und Ethikvorstellungen dagegen sprechen). „Direkte Zensur“ bedeutet in dem Fall, dass man den Zugang zu diesem Material zu verhindern versucht. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Bereitsteller des Materials dazu zu bewegen, das Material erst gar nicht (öffentlich) anzubieten. Macht sich der Betrachter des Materials vor seinem Gewissen schuldig oder der Bereitsteller der „Information“? Ist die Nachfrage (entsprechende Moral-/Ethikvorstellung vorausgesetzt) nach der Information oder das Angebot (Neutralität der Information) für die Verbreitung verantwortlich? Oder ist weder der Betrachter, noch der Anbieter der „Information“ nicht verantwortlich, sondern der Produzent? Im globalen Kontext stellt sich die Frage, wie man mit unterschiedlichen Moral- und Ethikvorstellungen der Länder umgeht. Ist zum Beispiel im Land X Kinderpornographie nicht verboten (vielleicht, weil es dort keine Nachfrage danach gibt), kann sich ein Anbieter in dieses Land begeben, um straffrei Nachfragen aus anderen Ländern zu befriedigen. Dies ändert allerdings nichts an der Schuldigkeit vor dem eigenen Gewissen und der Neutralität der Information – weder beim Betrachter, noch beim Anbieter.

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Indirekte Zensur Bei „indirekter Zensur“ verhält es sich ähnlich, wie bei dem „Behinderten“ – derjenige, der die Verbreitung der Information ablehnt, hofft darauf, dass ein anderer die Information weitergibt. Die „indirekte Zensur“ kann sich noch verstärken, wenn der Information ein Gegenwert beigemessen wird.

Nehmen wir als Beispiel ein Musikstück einer unbekannten Band, das ihr Tape an einen Musiksender schickt. Der Musiksender steht in Konkurrenz um Werbeeinnahmen und ist von Einschaltquoten abhängig. Die Unbekanntheit des Tapes kann dazu führen, dass es abgelehnt wird, weil Stücke bevorzugt werden, die von einer Mehrheit gehört werden will. Ein anderer Sender steht vor dem gleichen Dilemma, weshalb das Stück kaum Chancen hat, gespielt zu werden.

Damit regelt der Markt das Informationsangebot (hier das Musikstück) durch „vergleichende Bewertung“ (ein unbekanntes Musikstück bringt kein Geld – ist also „nichts wert“ und wird deshalb nicht gespielt). Das meine ich mit „indirekter Zensur“, wie wir es schon bei der „indirekten Euthanasie“ kennen gelernt hatten. Information (hier ein Musikstück) wird durch geldliche Bewertung unterdrückt (und der Hoffnung, dass andere anders bewerten). Dies lässt sich auf alle Medien übertragen (Bücher, Fernsehsendungen, Zeitungsberichte...).

Die Folge „indirekter Zensur“ ist „Mainstream“. Und diesen „Mainstream“ können im Allgemeinen Menschen definieren, die einen Gegenwert (Kapital) für Informationen besitzen. Doch „Mainstream“ hat nichts mit dem im vorigen Abschnitt behandelten Wahrheitsgehalt oder dem absoluten Wert einer Information zu tun.

Ich möchte das Thema Zensur damit abschließen, dass ich Sie bitte, selbst zu denken, denn keine Zensur der Welt ist besser. Nicht umsonst ist Bildung eine zentrale Forderung der jovialen Staatstheorie.

Demokratie Was wir im ersten Teil über Wahrheit und Gerechtigkeit gelesen hatten, könnte leicht zu der Annahme führen, dass Mehrheiten zu Wahrheiten oder Gerechtigkeiten führen. Dies steht allerdings im Widerspruch zu den Aussagen, wie ich mein Demokratieverständnis beschrieb. Im Prinzip haben wir es bei einem Abstimmungsverfahren mit einem Entscheidungsverfahren zu tun, das in keinem Zusammenhang mit Wahrheitsfindung steht.

Wie im ersten Teil allerdings dargelegt wurde, bezieht sich Demokratie meiner Meinung nach nicht nur auf dieses Entscheidungsverfahren, sondern auch auf die einzureichenden Vorschläge. Ein „staatlichen Vorschlagswesens“ dient dabei zur Informationsgewinnung und deren Verarbeitung. Es werden damit Vorschläge (besser Alternativen) definiert, über die in irgendeiner Form entschieden werden soll.

Die Grundproblematik bei Entscheidungen ist die Freiheit „Nein“ zu sagen. Mit der Wahl einer Alternative verlieren alle anderen Alternativen ihre Möglichkeit, umgesetzt zu werden. Stehen nur zwei Alternativen zur Auswahl (entweder/oder) verhält es sich zusätzlich anders, als wenn mehrere Alternativen (Alternativenhierarchie) vorhanden sind.

Nehmen wir unsere Schiffsreise vom Beginn: Wir wollten auf die Insel und hatten die Wahl, entweder mit dem Schiff zu fahren oder da zu bleiben. Anders würde es sich verhalten, wenn es mehrere Verkehrsmittel zur Auswahl gegeben hätte. In diesem Fall würden Informationen

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über die verschiedenen Verkehrsmittel herangezogen werden, um eine Entscheidung zu treffen.

Dabei handelt es sich erst mal um eine individuelle Entscheidungsfindung, die in Relation zum eigenen Wollen (wir erinnern uns: Der eigenen Bewertung) steht. Die individuelle Bewertung bei mehreren Verkehrsmittel kann dabei unterschiedliche Bewertungsgrundlagen haben. Der eine mag nach dem Aussehen des jeweiligen Verkehrsmittel gehen, der andere nach den technischen Kriterien und wieder ein anderer nach dem Komfort. Vielleicht spielen auch alle Kriterien für den Einzelnen eine Rolle, die er wiederum für alle Verkehrsmittel in eine Rangordnung bringt.

Mit der Entscheidung legt sich derjenige fest und sagt zu allen anderen Alternativen „Nein“.

Anders sieht es aus, wenn es um eine kollektive Entscheidung geht, wie wir das bei der Auswahl des Kapitäns hatten. Die individuelle Entscheidungsfindung läuft dabei gleich ab, wie bei der gerade erwähnten individuellen Auswahl. Doch ist nicht garantiert, dass auch derjenige das Schiff führen wird, der vom Einzelnen gewählt wurde. Das Schiff könnte auch von jemandem geführt werden, zu dem er „Nein“ gesagt hat (vorausgesetzt, dass ein Mehrheitsverfahren verwendet wird).

Bei einem Mehrheitsverfahren wird die Freiheit (und damit das Recht), „Nein“ zu sagen außer Kraft gesetzt. Wir haben es mit einer „Diktatur der Mehrheit“ zu tun.

Nun könnte man meinen, dass ein Einheitsverfahren dieses Problem löst. Dies würde bedeuten, dass man solange wählt, bis es zu einem einstimmigen Ergebnis kommt. Damit hat allerdings ein Einzelner mit seinem „Nein“ so viel Macht, um das Ergebnis zu kippen.

Spätestens nach dem fünften „Wahldurchgang“ dürfte es den Leuten bei diesem Verfahren „zu blöd“ werden. Entweder enthalten sie sich oder schließen sich der Mehrheit an, um zu einer Entscheidung zu kommen.

Nun gibt es auch noch einen Unterschied zwischen dem Auswahlverfahren von Dingen (oder Menschen) und Lösungsvorschlägen. Dinge (oder Menschen) lassen sich im allgemeinen nicht ändern; bei Lösungsvorschlägen ist dies allerdings möglich.

Gilt die Regel, dass bei einem „Nein“ der Lösungsvorschlag überarbeitet werden muss (und zwar nach den Aussagen des „Neinsagers“), ist das Einheitsverfahren eher eine Art Optimierungsverfahren zur Lösungsfindung.

Aber auch hier kann sich das Verfahren als schlecht erweisen, wenn der erste „Neinsager“ etwas am Lösungsvorschlag ändert, das einem zweiten „Neinsager“ zuwiderläuft und zurückgeändert wird. Das Verfahren würde in einer Endlosschleife landen, die erst durch die Aufgabe eines „Neinsagers“ beendet würde.

Fassen wir die Problematik des kollektiven Entscheidungsverfahrens zusammen:

Beim Mehrheitsverfahren handelt es sich um eine „Diktatur der Mehrheit“. Geht es bei der Entscheidungsfindung um Personen oder Dinge, lässt sich das, was zur Entscheidung steht, nicht anpassen. Im Fall einer Lösungsfindung (mit einer Anpassungsmöglichkeit) kann es zu „Endlosschleifen“ des Entscheidungsprozesses kommen, wenn sich ein „Änderungskrieg“ zwischen einzelnen „Neinsagern“ entwickelt.

Kommen wir in diesem Zusammenhang auf die Herrschaft zurück, die wir im ersten Teil als „Organisation der Macht“ beschrieben hatten. Es gilt die Organisationspunkte innerhalb eines

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Staates mit Personen zu besetzen, die das „staatliche Vorschlagswesen“ von dem Dilemma des „Änderungskriegs“ befreien sollen.

Damit hätten wir zur Lösungsentscheidung ein demokratisches Verfahren, wenn der jeweilige Machtinhaber die Aufgabe hat, das „staatliche Vorschlagswesen“ zu verwalten (Lösungen zur Optimierung ausschreiben; Lösungsvorschläge annehmen; jovialer Eingriff bei „Änderungskriegen“, usw.). Der Machtinhaber verpflichtet sich „vertraglich“ über einen Eid (Amtseid), diese Aufgabe entsprechend den Kriterien Wohl, Nutzensteigerung und Schadensabwendung, sowie dem Gerechtigkeitsaspekt und nach bestehenden Gesetzen zu erfüllen. So gesehen ist der Machtinhaber ein „Manager“ für Staatsangelegenheiten.

Letztlich fehlt ein (gerechtes) Verfahren, wie diese Personen das Amt erlangen. Wie wir zu Beginn dieses zweiten Teils erfahren haben, sind nicht alle Personen für solche Ämter geeignet. (Über das Thema Führung, Führungsstile, und Techniken gibt es sehr viel Literatur, weshalb ich nicht näher darauf eingehen möchte.53)

Ein Mehrheitsverfahren ist für die Amtbesetzung geeignet, wenn durch die Vertragsregelung, bei deren Zuwiderhandlung die jeweilige Person aus dem Amt entlassen werden kann. Dies wäre ein „Optimierungsverfahren“ der jeweiligen Stelle. So hat ein einzelner nämlich das Recht, zu einem Amtsträger „Nein“ zu sagen, wenn ein Einzelner eine Zuwiderhandlung nach oben genannten Kriterien nachweisen kann und wie sie im ersten Teil zum Eid beschrieben sind.

Abschluss Ich verzichte auf eine detaillierte Beschreibung solcher Verfahren und der Organisation eines Staates im allgemeinen. Vielmehr sehe ich meinen Lösungsvorschlag zur Aufgabenstellung aus der Einleitung des ersten Teils ausreichend genau beschrieben. Welche Folgen diese Beschreibung haben kann, wage ich nicht abzuschätzen – es wäre nur wünschenswert, dass dieser Aufsatz Beachtung findet.

Kiew, 09. September 2007

Jörg Drescher

53 1998 schrieb ich einen Aufsatz über modernes Management in der Wirtschaft, das auf dem Buch „Positiv

Managen - Mitarbeiter- Qualitäten wirkungsvoll aktivieren“ von Hartwig Martin Herbst, erschienen im WRS-Verlags (ISBN: 978-3809207092) als Quelle beruht. Es gibt noch viele andere Bücher zu diesem Thema.

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Anhänge

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Anhang 1 - Menschenbilder Douglas McGregor prägte erstmals 1960 während seiner Professoren-Zeit am MIT in seinem Buch „The Human Side of Enterprise“ eine Theorie X. Sie wurde von ihm als Grundlage der traditionellen hierarchischen Betriebsführung gesehen. Jedoch lehnte McGregor die Theorie X ab und schlug eine Theorie Y als Alternative vor.

Die Theorie X nimmt an, dass der Mensch von Natur aus faul ist und versucht der Arbeit so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Prinzipiell ist er von außen motiviert, das heißt durch extrinsisch ausgerichtete Maßnahmen zu belohnen, bzw. zu sanktionieren. Im Gegensatz dazu geht die Theorie Y davon aus, dass der Mensch durchaus ehrgeizig ist und sich zur Erreichung sinnvoller Zielsetzungen bereitwillig strenge Selbstdisziplin und Selbstkontrolle auferlegt. Er sieht Arbeit als Quelle der Zufriedenheit und hat Freude an seiner Leistung. Auch Verantwortungsbewusstsein und Kreativität prägen dieses Menschenbild.

Theorie X: Der Mensch hat eine angeborene Abneigung gegen Arbeit und versucht, ihr aus dem Wege zu gehen, wo irgend möglich. Durch seine Arbeitsunlust muss er meistens gezwungen, gelenkt, geführt und mit Strafe bedroht werden, damit er einen produktiven Beitrag zur Erreichung der Organisationsziele leistet. Er will „an die Hand genommen“ werden, da er zu wenig Ehrgeiz besitzt, Routineaufgaben vorzieht und nach Sicherheit strebt. Er scheut sich vor jeder Verantwortung. Deshalb muss der Manager jeden Handlungsschritt detailliert vorgeben, energisch anleiten und führen sowie streng kontrollieren. Nur auf diese Weise ist eine effiziente Arbeitsausführung möglich. Entlohnung alleine kann Menschen nicht dazu bringen, sich genügend zu bemühen. Das heißt bei Zuwiderhandeln gegen die Regeln bedarf es externer Kontrollen und Strafen sowie Zwang. Sein Verhalten richtet sich nach der Mehrheitsmeinung.

Theorie Y: Für den Menschen hat Arbeit einen hohen Stellenwert und ist wichtige Quelle der Zufriedenheit, denn er ist „von Natur aus“ leistungsbereit und von innen motiviert. Die wichtigsten Arbeitsanreize sind die Befriedigung der Ich-Bedürfnisse und das Streben nach Selbstverwirklichung. Daher sind Bedingungen zu schaffen, die den Menschen motivieren, beispielsweise durch intrinsisch ausgerichtete Maßnahmen. Identifiziert sich der Mensch mit den Zielen der Organisation, dann sind externe Kontrollen nicht notwendig. Denn er wird Verantwortung übernehmen sowie Selbstkontrolle und Eigeninitiative entwickeln. Auch Kreativität wird bei dieser Theorie gefördert und gefordert. Da sich dieser Mensch den Zielen seiner Unternehmung verpflichtet fühlt, wird er mit Selbstdisziplin und Selbstkontrolle zugunsten der Organisationsziele handeln und darum ist keine extrinsische Überwachung bzw. Strafe notwendig. Weiter besitzt der Mensch einen hohen Grad an Vorstellungskraft, Urteilsvermögen und Erfindungsgabe um organisatorische Probleme zu lösen. Durch die modernen industriellen Bedingungen im Arbeitsbereich wird das Vermögen an Verstandeskraft des Menschen leider nur teilweise genutzt.

Die Theorie Z, auch „Japanischer Managementstil“ genannt, wurde von William Ouchi, in seinem Buch von 1981 „Theory Z: How American management can meet the Japanese challenge“ vorgestellt.

Sie ist keine Erweiterung der Theorien X und Y von Douglas McGregor. McGregor hatte jedoch kurz vor seinem Tod die Theorie Z als Synthese seiner X-Y-Theorie entwickelt, um der häufigen Kritik zu entgegnen, dass die Theorien X und Y sich gegenseitig ausschließen würden.

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Anhang 2 – Auswahl verschiedener Amtseide Ein Amtseid ist ein Eid oder eine Erklärung (z.B. in Form eines Gelöbnis), den eine Person abgibt, bevor sie die Pflichten eines Amts übernimmt. Normalerweise ist das Amt eine Position innerhalb einer Regierung oder Religionsgemeinschaft, obwohl solche Eide manchmal auch von Beamten anderer Organisationen abgelegt werden müssen.

Der Amtseid ist häufig durch Gesetze eines Staates, von Religionsgemeinschaften oder anderen Organisationen vorgeschrieben, bevor der Amtsinhaber die tatsächlichen Machtbefugnisse ausüben darf. Der Amtseid wird normalerweise bei einer Amtseinführung, Krönungsfeier oder anderer Zeremonie abgelegt, die mit der Amtsübernahme verbunden ist. Allerdings kann die Eidabgabe auch privat durchgeführt werden, um sie später, während einer öffentlichen Zeremonie, zu wiederholen.

Manche Amtseide sind Bekundungen der Loyalität gegenüber einer Verfassung, Gesetzestexten oder gegenüber einer Person oder eines anderen Amtsinhabers (z.B. ein Eid, um die Verfassung eines Staates zu wahren, oder die Loyalität gegenüber einem König). Je nach Gesetzen eines Staates kann ein Verstoß oder eine Zuwiderhandlung rechtliche Konsequenzen des Eidesleistenden nach sich ziehen, wenn er dem geschworenen Amtseid untreu wird.

Es folgt eine Auswahl verschiedener internationaler Amtseide, womit gezeigt werden soll, dass diese inhaltlich sehr ähnlich sind.

Amtseid des deutschen Bundespräsidenten1 Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.

Amtseid des Präsidenten der Republik Ghana2 Ich, (Name), der in das hohe Amt des Präsidenten der Republik Ghana gewählt wurde, (schwöre im Namen des allmächtigen Gottes) (gelobe feierlich), dass ich gegenüber der Republik von Ghana gewissenhaft und treu sein werde; dass ich die Verfassung der Republik von Ghana zu allen Zeiten bewahren, schützen und verteidigen werde; und dass ich mich dem Dienst und dem Wohle der Menschen in der Republik von Ghana widmen und gegenüber allen möglichen Personen gerecht sein werde.

Weiter (schwöre ich feierlich) (gelobe ich feierlich), dass, sollte ich zu irgendeiner Zeit diesen Amtseid brechen, ich mich dem Gesetz der Republik von Ghana fügen und alle Strafen dafür erleiden werde. (So wahr mir Gott helfe)

Amtseid des Präsidenten von Griechenland3 Ich schwöre im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit, die Verfassung und die Gesetze zu wahren, für deren getreue Einhaltung zu sorgen, die nationale Unabhängigkeit und die Unversehrtheit des Landes zu verteidigen, die Rechte und Freiheiten der Griechen zu schützen und dem allgemeinen Interesse des griechischen Volkes zu dienen. 1 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949, Artikel 56 2 http://www.judicial.gov.gh/constitution%20of%20ghana/second_schedule/home.htm 3 http://www.datenbank-europa.de/erdkunde/verfassung/0524.htm

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Amtseid des Präsidenten der Republik Iran4 "Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Gnädigen

Ich, als Präsident der Republik schwöre im Angesicht des heiligen Koran und des iranischen Volkes beim allmächtigen und erhabenen Allah, dass ich die offizielle Religion und die Islamische Republik sowie die Verfassung des Landes schützen, alle meine Fähigkeiten und Befugnisse für die Erfüllung der Verantwortungen, die ich übernommen habe, einsetzen, mich im Dienste des Volkes, des Fortschritts des Landes, der Verbreitung der Religion und der Moral und der Unterstützung des Rechts und der Gerechtigkeit widmen, jeder Willkür entsagen, für die Freiheit und Würde der Menschen und für die verfassungsmäßig verbürgten Rechte des Volkes eintreten, für die Verteidigung der Grenzen, der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unabhängigkeit des Landes keine Muhe scheuen, mit Allahs Hilfe und getreu den Weisungen des islamischen Propheten und der reinen Imame - Friede sei mit ihnen - die Macht, die das Volk als ein heiliges Gut mir treuhändlerisch anvertraut hat, als Gottesehrfürchtiger, Opferbereiter und Rechtschaffener bewahren und sie dem nach mir vom Volk Gewählten übergeben werde."

Amtseid des Präsidenten der Russischen Föderation5 Ich schwöre in Ausübung der Vollmachten des Präsidenten des Russischen Föderation, die Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger zu respektieren und zu gewährleisten, die Verfassung der Russischen Föderation zu überwachen und zu schützen, die Souveränität, Unabhängigkeit, Sicherheit und Integrität des Staates zu schützen und den Bürgern treu zu dienen.

Amtseid des Präsidenten der Türkei6 Ich schwöre vor der Großen Türkischen Nation und vor der Geschichte bei meiner Ehre und Würde, dass ich in meiner Eigenschaft als Präsident der Republik die Existenz und Unabhängigkeit des Staates, die unteilbare Einheit von Vaterland und Nation, die uneingeschränkte und bedingungslose Souveränität der Nation schützen werde, der Verfassung, dem Primat des Rechts, der Demokratie, den Prinzipien und Reformen Atatürks sowie dem Prinzip der laizistischen Republik verbunden bleiben werde, von dem Ideal, wonach im Geiste des Wohls und Heils der Nation, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit jedermann die Menschenrechte und Grundfreiheiten genieße, nicht abweichen werde, mit all meiner Kraft mich um den Schutz und die Mehrung des Ruhmes und der Ehre der Republik Türkei sowie um die unparteiliche Erfüllung des Amtes, welches ich auf mich genommen habe, bemühen werde.

Amtseid der ukrainischen Parlamentsabgeordneten7 Ich leiste der Ukraine den Treueid. Ich verpflichte mich, mit all meinen Handlungen die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen, für das Wohl von Vaterland und des ukrainischen Volkes zu sorgen. Ich schwöre, mich an die Verfassung und Gesetze der Ukraine zu halten, meine Pflichten im Interesse aller Mitbürger zu erfüllen.

4 http://www.eslam.de/manuskripte/verfassung_iri/kapitel09.htm#1 5 http://www.datenbank-europa.de/erdkunde/verfassung/14111.htm 6 http://www.verfassungen.de/tr/tuerkei82-index.htm 7 http://www.president.gov.ua/content/10304.html

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Gekürzte Fassung des Aufsatzes „Gerechtigkeit durch Sozialpolitik?“, erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9, 2006, Seite 32-38, sowie Auszügen des Aufsatzes „Gerechter Neid? Warum es soziale Gerechtigkeit heute schwer hat“, in: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur, 24. Jg., 1, 2006, 26-29. Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Michael Opielka.

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Anhang 3 - Gerechtigkeit und Garantismus Von Prof. Dr. Michael Opielka, Universität Jena Gerechtigkeit ist multidimensional. Wenn Sozialpolitik Gerechtigkeit fördern soll, handelt es sich um ein komplexes Geschehen. Soziale Gerechtigkeit kann auf den ersten Blick vor allem als Programm gegen Ungleichheit verstanden werden.1 Doch damit handelt man sich noch nicht sehr viel Klarheit ein. Denn auch Ungleichheit hat verschiedene Dimensionen, zum Beispiel Einkommen, Vermögen, Talente, Geschlecht oder Bildung. Hinzu kommt die stets strittige Frage, was Sozialpolitik, ja Politik überhaupt verändern kann und wem gegenüber. Es ist also sinnvoll, den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Sozialpolitik etwas grundsätzlicher zu betrachten. Diese Betrachtung wird zeigen: Sozialpolitik kann in der Tat sehr wesentlich zur Gerechtigkeit beitragen. Die Überlegungen dieses Beitrags gehen aber noch einen Schritt weiter. Sie verorten die Gerechtigkeitskonzeptionen in der Sozialpolitik entsprechend den politischen Grundorientierungen liberal-sozialdemokratisch-konservativ und skizzieren einen vierten Politiktypus. Ich bezeichne ihn als „garantistisch“. Er konzentriert sich in der Sozialpolitik auf elementare, menschenrechtliche fundierte Garantien.

John Rawls: „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ Keine gegenwärtige Diskussion sozialer – und allgemeiner: politischer – Gerechtigkeit kommt um eine Referenz auf das wohl einflussreichste Buch des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema umhin, John Rawls’ „Eine Theorie der Gerechtigkeit“.2 Rawls verknüpfte die klassische Vertragstheorie mit der modernen Entscheidungstheorie um seine Grundintuition der „Gerechtigkeit als Fairness“ enzyklopädisch zu einer Gerechtigkeitstheorie auszuarbeiten. Begriffe wie das „Differenzprinzip“, wonach Ungleichheiten nur zulässig = gerecht seien, wenn sie den je schwächsten Gesellschaftsmitgliedern nützen, oder der Gedanke, dass eine gerechte Verteilungsordnung „unter dem Schleier des Nichtwissens“ in einem „Urzustand“ gedacht werden könne, sind zu Leitmotiven der modernen politischen Philosophie geronnen. Auf den bereits in den 1970er Jahren vorgebrachten Einwand der bald als „Kommunitaristen“ bezeichneten Kritiker wie Michael Sandel und Charles Taylor, dass Rawls eine zu individualistische („unembedded“) Konzeption vertrete, antwortete Rawls später, dass sein Gerechtigkeitskonzept immer politisch gesehen werde müsse, als Konzept innerhalb einer politischen Gemeinschaft. Sein Hauptgegner war die Theorie des Utilitarismus, der dem Politischen letztlich keine eigene Wirklichkeit neben den Handlungskalkülen der Wirtschaftssubjekte zuspricht. Rawls betrachtete sich als liberalen Sozialdemokraten. Seine prozeduralistische Ethik fand auch bei Autoren wie Jürgen Habermas Zustimmung.

Wohlfahrtsregime und soziale Gerechtigkeit Inspiriert durch die einflussreichen Arbeiten von Gøsta Esping-Andersen hat sich in der vergleichenden Sozialpolitikforschung das Konzept der „Wohlfahrtsregime“ weitgehend durchgesetzt. Wohlfahrtsregime sind komplexe Strukturmuster der Sozialpolitik, insbesondere zum Arbeitsmarkt, zum Gemeinschaftssystem, vor allem der Familie, und zur staatlichen Regulierung selbst. Esping-Andersen unterschied das liberale, das konservative und das

1 Vgl. dazu die Beiträge in Heft 37/2005 von Aus Politik und Zeitgeschichte „Ungleichheit – Ungerechtigkeit“

(u.a. von Otfried Höffe). 2 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975.

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Gekürzte Fassung des Aufsatzes „Gerechtigkeit durch Sozialpolitik?“, erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9, 2006, Seite 32-38, sowie Auszügen des Aufsatzes „Gerechter Neid? Warum es soziale Gerechtigkeit heute schwer hat“, in: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur, 24. Jg., 1, 2006, 26-29. Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Michael Opielka.

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sozialdemokratische Wohlfahrtsregime.3 Manche Autoren schlugen neben diesen drei Regimetypen als vierten Typus ein „südeuropäisches“ oder „mediterranes“ Wohlfahrtsregime, manche ein „postsozialistisches“, Autoren mit globaler Perspektive ein „konfuzianisches“ Wohlfahrtsregime vor. Neben diesen phänotypischen Erweiterungen wird neuerdings, mit soziologisch-gesellschaftstheoretischen Argumenten, die Erweiterung von Esping-Andersens Typologie um ein „garantistisches“, am Bürgerstatus und eher universalistischen Teilhaberechten orientiertes Wohlfahrtsregime vertreten.4 Diese Typologie-Erweiterung um den Wohlfahrtsregime-Typ „Garantismus“ erscheint nicht nur sozialtheoretisch begründeter. Sie dürfte auch für ein Verständnis sozialpolitischer Innovationen unter den Bedingungen der Globalisierung hilfreich sein.

Im Liberalismus gilt Leistung als Leitidee sozialer Gerechtigkeit. Die Folge der Marktwirtschaft ist dann legitime Ungleichheit. Sicherlich ist nicht erst seit dem Aufkommen des Feminismus und seinem Hinweis auf die unbezahlte Familienarbeit von Frauen strittig, welche Leistung zählt. Auch innerhalb des Arbeitsmarktes zählen keineswegs nur „Leistung pur“, sondern Knappheit, Interessenbündelung und hergebrachter Status. Daran knüpft die sozialistisch-sozialdemokratische Kritik an und plädiert für staatlich-politische Umverteilung, die sich am Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit orientiert. Konservative wiederum zweifeln sowohl die Leistungs- wie die Gleichheitsidee an und wollen eher Bedarfsgerechtigkeit, vermittelt in Gemeinschaftsformen; allen voran die Familie, aber auch berufs- und andere ständische Formen dienen dem Konservativen als Legitimitätsquelle.

Im Konzept „Garantismus“ werden die „sozialen Grundgüter“, die nach Auffassung von John Rawls grundsätzlich allen Menschen zustehen sollen, als positive soziale Grundrechte definiert. Demgegenüber werden sie im „Sozialliberalismus“ – ebenfalls bei Rawls und bei anderen Autoren -, nur als Kompensationen mangelnden Marktkapitals konzipiert.5 Während Rawls – darin in der Tradition des modernen, bei Hegel begründeten Denkens in sozialen Relationen und Funktionen – die Gesellschaft zurecht als Kooperationszusammenhang versteht, kommt ihm eine eigenständige wertkommunikativ-ethische Begründung von Sozialpolitik nicht in den Blick. Er bewegt sich im „nachmetaphysischen“ Mainstream der modernen, vor allem angloamerikanisch geprägten politischen Philosophie. Wenige ihrer Vertreter gestehen so offen wie Harry Frankfurt, dass ihre Auseinandersetzung um die Spannungen von Gerechtigkeit und Gleichheit „nichts Substantielles zur Lösung der Frage bei(trägt), welche Sozialpolitik befolgt oder vermieden werden sollte“.6 Das hält sie dennoch nicht davon ab, philosophisch argumentierend normative, letztlich subjektiv-politische Positionen zu vertreten.

Die Argumentation dieses Beitrags zielt auf eine Dekonstruktion und Reflexion dieser Meinungen ab. Wenn Stefan Gosepath in einer umfangreichen Studie einen „liberalen Egalitarismus“ entwerfen will und darin „Ausnahmen von der Gleichverteilung“ vor allem für ökonomische Güter so begründet: „Die wesentliche Ausnahme von der Gleichverteilung liegt

3 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. 4 Michael Opielka, Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek 2004. 5 Wie etwa bei Bruce Ackerman/Anne Alstott, The Stakeholder Society, New Haven/London 1999, deren

Konzept einer “Sozialerbschaft” als Vermögenstransfer an jeden 18jährigen in einer von der Heinrich Böll Stiftung finanzierten Studie auf Deutschland übertragen wurde: Gerd Grözinger/Michael Maschke/Claus Offe, Die Teilhabegesellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/New York: Campus 2006.

6 Harry Frankfurt, Gleichheit und Achtung, in: Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt 2000, S. 38.

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in den ungleichen Folgen der Eigenverantwortung“7, dann müsste er soziologisch nachweisen, dass im Wirtschaftsleben tatsächlich überwiegend „Eigenverantwortung“ die unterschiedliche Güterverteilung begründet – und nicht auch Erbschaften, Seilschaften oder Glück. Hier war Rawls realistischer. Realismus ist aber für die Sozialpolitik unverzichtbar. Ohne philosophischen und sozialtheoretischen Reflexionsimport wird die praktische Sozialpolitik orientierungslos.8

Die Betrachtung der Sozialpolitik mit dem analytischen Rahmen der Wohlfahrtsregime macht sichtbar, dass soziale Gerechtigkeit realistisch nicht in der residualen Perspektive politischer Philosophen wie Otfried Höffe oder Wolfgang Kersting begriffen werden kann. Gerechtigkeit ist in einer differenzierten modernen Gesellschaft notwendig mehrdimensional. Sozialpolitik institutionalisiert und dynamisiert soziale Gerechtigkeit. Sie wird umstritten bleiben, aber trotzdem wirksam.

Garantismus als politisches Gerechtigkeitsprinzip? Armut ist die deutlichste Form sozialer Ungleichheit. Die andere Seite der Armut ist Reichtum. Frank Nullmeier hat seine „Politische Theorie des Sozialstaats“ auf einer anthropologisch-sozialphilosophischen Rekonstruktion des „sozialen Vergleichs“ aufgebaut, die im Begriff des „amour-propre“ bei Rousseau ihren wichtigsten Ausdruck fand: „Die Orientierung am anderen wie das Streben nach Achtung und Hochschätzung durch den anderen, nach Ehre, Rang, Prestige, Status finden im Begriff des ‚amour-propre’ eine Einheit. Die Existenz dieses Sozialkomparativen ist mit der Gesellschaftlichkeit gegeben und bildet zugleich das entscheidende Übel.“9 Nullmeier will das Übel im Verständnis des Sozialstaats reguliert sehen, „der auf der Anerkennung komparativer Orientierungen als Bestandteil subjektiver Freiheit gründet und darauf mit der Schaffung von Bedingungen allgemeiner sozialer Wertschätzung als Vermittlung dieser Freiheit zur gleichen Freiheit aller reagiert.“10 Praktisch leiste der Sozialstaat dies insbesondere in den Systemen der Sozialversicherung, die die Ungleichheiten des Erwerbssystems abbilden – in der Hoffnung, dass jeder Zugang zum Arbeitsmarkt findet.

In dieser Perspektive erscheinen die Sozialversicherungen als eine höchst kluge systemische Einhegung des „sozialen Vergleichs“, als eine Kultivierung des Neids. Soziale Ungleichheit mutiert im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus damit zu einem „Übel“, mit dem sich leben lässt. Neid verliert sein Tabu und verwandelt sich in den Ansporn zum Aufstieg. Doch angesichts der Zähigkeit von Armut mag man gegen diese optimistische Lesart berechtigte Einwände erheben. John Rawls hat in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ das „Differenzprinzip“ geprägt. Demnach seien Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem jeweils schwächsten Mitglied einer Gemeinschaft nützen. Der moderne Wohlfahrtskapitalismus behauptet das, nicht ohne gewisses Recht, war er doch im Systemwettbewerb mit dem „real existierenden Sozialismus“ gerade darin erfolgreich, den Wohlstand der breiten Massen merklich zu erhöhen. Wie aber will der Einzelne, wie wollen selbst Experten wirklich plausibel begründen können, dass beispielsweise Steuerreduzierungen für „Besserverdienende“ am Ende den Schlechtestverdienenden zugute kommen? Die teils als obszön bezeichnete Zunahme von Reichtum in den letzten Jahren nicht 7 Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt 2004, S. 16. 8 Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht und soziale Gerechtigkeit, in: Juristenzeitung (JZ), 60 (2005) 5, S. 209-216. 9 Nullmeier (Anm. 25), S. 20. 10 ebd., S. 421.

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nur in Deutschland lässt sich mit dem „Differenzprinzip“ von Rawls kaum sozialethisch begründen.

Vielleicht hilft zur Deutung der komplexen Gemengelage um Neid, Ungleichheit und Vergleich ein Blick auf die heute dominierenden Gerechtigkeitsprinzipien, die auf innige Weise mit den politischen Großideologien verknüpft sind. In nachfolgender Abbildung werden die Wohlfahrtsregimetypen strukturierten Leitideen sozialer Gerechtigkeit systematisiert.

Umverteilung Individuum Gemeinschaft

gering Liberalismus

(Leistungsgerechtigkeit)

Konservatismus

(Bedarfsgerechtigkeit)

Hoch Sozialdemokratie

(Verteilungsgerechtigkeit)

Garantismus

(Teilhabegerechtigkeit)

Quelle: Opielka 2004 (Anm. 22), S. 49, modifiziert

Abbildung: Regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat

Wenn wir das klassische Dreieck von „Links-Mitte-Rechts“ betrachten, dann wird deutlich, warum die Sozialversicherungen mit ihrer Neideinhegung zumindest bislang in Deutschland so etwas wie einen Kompromiss der divergierenden Gerechtigkeitsideen bilden konnten - ergänzt um das liberale Modell der „Fürsorge“ (Sozialhilfe), also der Konzentration auf die „wirklich Bedürftigen“ und das konservative Modell der „Versorgung“, wie wir es in der Beamtenversorgung und heute auch in Familienleistungen (Kindergeld, Erziehungsgeld) finden. Die Leitidee des „Garantismus“ geht einen Schritt weiter, indem sie an den Bürger- und Grundrechten anknüpft, jedem Bürger soziale Teilhabe „garantiert“, konkretisiert vor allem im Konzept der „Bürgerversicherung“ (real existierend in der Schweiz, den Niederlanden oder selbst den USA mit der „Social Security“, der Rentenversicherung) und vor allem in der Forderung nach einem „Grundeinkommen“, das jedem zusteht, ohne Arbeitsvoraussetzung. Dass die Idee des Grundeinkommens seit dem Jahr 2005 in der politischen Debatte Deutschlands eine erneute Renaissance erfährt – nach einer ersten Welle in den 1980er Jahren11 –, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einerseits mit verletzten Gerechtigkeitsempfindungen, andererseits mit der Annahme zu tun, dass diese Idee darauf eine positive Antwort geben könnte. Insoweit ist die Idee des „Garantismus“ noch am Anfang – aber vermutlich eine Idee, deren Zeit noch kommt.

Michael Opielka

Dr. rer. soc., Dipl. Päd., Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen, Carl-Zeiss-Promenade 2, 07745 Jena; Geschäftsführer des Institut für Sozialökologie in Königswinter.

11 Dazu Michael Opielka/Georg Vobruba (Hrsg.), Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und

Perspektiven einer Forderung, Frankfurt: Fischer 1986; sowie die Aufsatzsammlung: Georg Vobruba, Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen in der Arbeitsgesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006.

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Anhang 4 – Tauschsystem und Naturzustand Die physikalischen Gesetze bieten dem Menschen die Möglichkeit, dass er sich einfach nehmen kann, was es gibt - eingeschränkt wird er durch seine Moral- und Ethikvorstellungen. Mit Einführung eines Tauschsystems werden diese Vorstellungen beeinflusst. Das Tauschsystem gibt eine Moral-/Ethikvorgabe, indem man sich nur soviel nehmen darf, wie man an Tauschmittel zur Verfügung hat. Bertolt Brecht schrieb allerdings einmal: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Das würde bedeuten, dass die physikalischen Gesetze im allgemeinen stärker sind, als die selbstauferlegten Regeln. Mit der Einführung eines Tauschsystems wird in die Freiheit (den Naturzustand) eingegriffen, sich einfach das nehmen zu können, was man will. Die einzig sinnvolle Begründung für Tauschmittel ist die Tatsache, dass sich Menschen sonst maßlos am Gegebenen bedienen könnten. Das Tauschmittel bildet eine allgemein anerkannte Grenze dieser Freiheit. Allerdings berücksichtigt das Tauschsystem weder, dass innerhalb desselben sich der Mensch auch vom Tauschmittel maßlos nehmen kann, noch, dass das Tauschsystem in den Naturzustand eines Menschen eingreift, wenn dieser kein Tauschmittel zur Verfügung hat. Das „joviale“ Naturrecht fordert im Prinzip eine Rechtfertigung, warum das Tauschsystem in der Form (als Bedingung für ein „soziales“ Naturrecht) aufrecht erhalten werden soll. (Rechtfertigen heißt im allgemeinen, eine umstrittene Handlung einsichtig zu begründen.) Im Bezug auf das Tauschsystems bedeutet das, dass sich ein Verkäufer für seine Freiheit, „Nein“ zu sagen, rechtfertigen müsste, weil er in die Freiheit eines Menschen eingreift, sich ohne Gegenwert einfach etwas zu nehmen. Die Begründungen können sehr verschieden sein. Auf der anderen Seite müsste sich ein Mensch rechtfertigen, weshalb er in die Freiheit eines Verkäufers eingreift (die Freiheit „Nein“ zu sagen), indem er begründet, weshalb er etwas vom Verkäufer haben will (im Allgemeinen, um seinen Naturzustand aufrecht zu halten). In einem Sozialsystem (innerhalb eines Tauschsystems) bedeutet das, dass sich ein Geber (von Tauschmitteln) für seine Freiheit, „Nein“ zu sagen, rechtfertigen muss, weil er mit dem Tauschsystem in die Freiheit (den Naturzustand) eines „Bittstellers“ eingreift (er könnte das Tauschsystem auch ablehnen). Die Begründungen können auch hier sehr verschieden sein. Auf der anderen Seite muss sich der „Bittsteller“ rechtfertigen, weshalb er in die „Freiheit ‚Nein’ zu sagen“ eines Gebers eingreift, indem er begründet, weshalb er das Tauschmittel benötigt. Die Begründung ist im Allgemeinen, dass er seinen Naturzustand innerhalb eines Tauschsystems aufrecht halten will, das ein Tauschmittel zum Leben voraussetzt. Durch die Bedingungslosigkeit eines Grundeinkommens muss sich weder der Geber für seine Freiheit „zu geben“, noch der Empfänger für seine Freiheit „zu nehmen“ rechtfertigen. Dies würde eine „stille Übereinkunft“ darüber bedeuten, dass das Tauschsystem deshalb in den Naturzustand eingreift, weil sich der Mensch sonst soviel nehmen könnte, wie er wollte.

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Anhang 5 – Anmerkungen zum Dilthey-Modell Als ich 1991 noch am ernährungswissenschaftlichen Gymnasium des Biberacher Berufsschulzentrums als Schüler war, wurde uns damals in einem Examen folgende Aufgabe gestellt:

Wie muss eine Raumstation auf einem Himmelskörper gestaltet sein, damit dort ein Mensch leben kann? Was braucht der Mensch?

Das war in dem Fach Ernährungswissenschaft und die Antwort musste natürlich auf alle Menschen zutreffen. Schließlich könnte ein Mensch aus Afrika, Amerika, Asien, Australien oder Europa in die Raumstation geschickt werden. Und das wenigste, was ein Mensch, egal woher, dort brauchen könnte, wäre ein Grundeinkommen – bedingungslos oder nicht.

Mit dieser Voraussetzung will ich versuchen, das Dilthey-Modell1 auszulegen. Es geht mir bei meiner Auslegung hauptsächlich um die Unabhängigkeit von Zeit und Raum. Das heißt, dass meine Aussagen zu allen Zeiten und egal wo auf der Welt ihre Richtigkeit haben sollen.

Wenn nun ein Mensch im All kein Grundeinkommen braucht, aber hier auf der Erde, so stellt sich die erste Frage, weshalb das so ist. Die Antwort darauf ist relativ einfach: wir haben in den Jahrhunderten zum einfacheren Warentransfer das Tauschmittel Geld eingeführt und uns davon abhängig gemacht.

Die Diskussion über ein Grundeinkommen wirft unter anderem die Frage auf, was Geld eigentlich sei. Außerdem gibt es in manchen Modellen den Vorschlag, die Mehrwertsteuer als reine Umverteilungsgrundlage herzunehmen. Und dies wirft automatisch die Frage auf, was denn „Wert“ sei, wie dieser entsteht und was davon „Mehrwert“ ist.

Matthias Dilthey spricht solchen mehrwertfinanzierten Modellen einen emanzipatorischen Charakter zu: Wer mehr konsumiert, stützt den, der weniger konsumieren kann.

Im folgenden Aufsatz versuche ich, die Grundlagen für das Dilthey-Modell darzustellen. Danach werde ich das Dilthey-Modells mit den aufgezeigten Erkenntnissen auslegen. Für den einen mag das alles bekannt sein, für den anderen sind aber möglicherweise neue Betrachtungen enthalten.

Kiew, 20. Mai 2007

Jörg Drescher

1 http://www.psgd.info/templates/1/download/dilthey_modell.pdf

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Ernährungswissenschaftliche Betrachtung Auf den ersten Blick mag es etwas verwundern, weshalb ein Grundeinkommen unter ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet werden soll. Vielleicht wird es etwas klarer, wenn man sieht, dass Ernährung die Basis für den Lebenserhalt jedes Lebewesens ist. Körperliches, geistiges, psychisches und soziales Wohlbefinden wird wesentlich durch Ernährung gesteuert. Schon der deutsche Statistiker Ernst Engel (* 1821; † 1896) fand eine Gesetzmäßigkeit, die empirisch belegt wurde und als engelsches Gesetz in die Volkswirtschaftslehre einging.2 Es besagt: Der Anteil eines Haushaltseinkommens, der für Ernährung ausgegeben wird, sinkt mit steigendem Einkommen. Dies ist soweit auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Mensch nur eine bestimmte Menge an Nahrung aufnimmt, bis eine Sättigung eintritt. Demnach muss der Mensch nur einen bestimmten Teil seines Einkommens für seine Ernährung ausgeben. Der Mensch braucht aus ernährungswissenschaftlicher Sicht einen bestimmten Grundenergiebedarf, der ihm ein Leben ermöglicht. Dabei versuchte er schon immer seinen Energiebedarf (durch Werkzeugeinsatz) zu verringern, was bis zur industriellen Revolution führte. Damit ist gemeint, dass der Mensch lernte, seinen Energiebedarf auf Hilfsmittel zu verlagern (mechanische Maschinen, wie Webstühle; halbautomatische Maschinen, wie Windmühlen; vollautomatische Maschinen, wie computergestützte Produktionsanlagen). Trotzdem ist der eigene (menschliche) Grundenergiebedarf nicht wesentlich zurückgegangen, dafür wurde der Arbeitsaufwand geringer. Wie man für eine Pflanze gewisse Grundbedingungen zum Überleben festlegen kann (Wasser, „fruchtbarer Boden“, Licht, Temperatur), sind auch für Menschen gewisse Grundbedingungen definierbar. Allem voran, die Deckung des Grundenergiebedarfs durch Nahrungsmittel. Eine alleinige Deckung des Grundenergiebedarfs schützt allerdings nicht vor Kälte oder anderen Umwelteinflüssen. Aus diesem Grund trägt der Mensch Kleidung. Der Mensch erlebt auch unterschiedliche Jahreszeiten, in denen keine Nahrungsmittel wachsen. Deshalb lagert er Vorräte. Eine Behausung bietet Schutz vor Umwelteinflüssen, welche den Grundenergiebedarf zusätzlich senkt. Eine Wohnung reduziert den Grundenergiebedarf, bietet Schutz vor Umwelteinflüssen und ermöglichet die Lagerung von Vorräten und Kleidung. Friedrich II. (*1194 - †1250) wird nachgesagt, dass er einen Versuch mit Kindern durchführte, um die Ursprache herauszufinden. Er habe deshalb mehrere Säuglinge von der Außenwelt isoliert und den Ammen befohlen, die Kinder zwar zu säugen und sauber zu halten, aber verboten weder mit ihnen zu sprechen noch sie zu liebkosen. Die Kinder seien aufgrund der mangelnden menschlichen Zuwendung frühzeitig gestorben.3 Deshalb ist eine soziokulturelle Teilhabe ein weiterer, überlebenswichtiger Grundbedarf. Da diese Grundbedingungen weitgehendst z.B. auch in Konzentrationslagern gewährleistet waren, allerdings nicht menschenwürdigen Bedingungen entsprachen, wurden weitere Definitionen eingeführt, welche die Grundbedingungen für das Leben auf einer höheren Ebene rechtlich sicherstellen (z.B. Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit, Meinungsfreiheit...). 2 Engel, Ernst; Die Productions- und Consumtionsverhältnisse des Königreichs Sachsen, Zeitschrift des

statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministerium des Inneren, Nr. 8 und 9 (1857). 3 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994

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Diese höheren Bedingungen sind nicht zwingend zum Überleben notwendig, sondern zeigen den humanen Gedanken gegenüber den Mitmenschen auf und sind zum Beispiel deshalb in den allgemeinen Menschenrechten verankert. Wie wir daraus ersehen, dreht es sich hierbei hauptsächlich um eine Frage nach Energie und nicht nach Geld. Dem Astronauten wäre mit einer Million Euro nicht geholfen, selbst wenn er noch so viele Gegenstände zum Konsum vor sich hätte. Er braucht Wasser, Sauerstoff und Nahrung, sowie die für diesen Lebensraum notwendige Schutzkleidung und „Behausung“. Diese ernährungswissenschaftliche Grundlage gilt für jeden Menschen überall und für alle Zeiten. Diese Grundlagen können für alle Lebewesen erweitert werden, worauf ich hier allerdings verzichten möchte. Vielmehr möchte ich aus diesen Aussagen die Grundlage jedes Wirtschaftssystems ableiten, das ebenfalls überall und für alle Zeiten gilt: A) Alle Menschen verbrauchen Energie, die in Form von Nahrungsmitteln aufgenommen

werden, um Leben zu können. Weiter sind andere Grundbedürfnisse vorhanden, um diesen Energiebedarf gering zu halten (Kleidung, Wohnung).

B) Es gibt Menschen, die diesen Grundbedarf aus A nicht allein decken können. Im Normalfall sind das (gültig für alle Zeiten): Kinder, Behinderte, Kranke, Alte, kurz: alle Pflegebedürftigen; im speziellen Fall (bezogen auf heute): alle Menschen, die kein Geld, bzw. wenig Geld bekommen, um davon den Grundbedarf aus A zu finanzieren. Zu dieser Gruppe gehören dann auch jene Menschen, die zwar arbeiten, aber keine „Entschädigung“ für ihre Arbeit erhalten.

C) Es gibt Menschen, die diesen Grundbedarf allein decken können. Im Normalfall alle außer den Pflegebedürftigen; im speziellen: Menschen, die über Produktionsmittel verfügen (Maschinen, Grundstücke, Arbeitskraft, Rohstoffe, vorhandenes Geld usw.)

Ein Pharao konnte die Pyramiden nur deshalb bauen, weil er über Arbeitskräfte verfügte, die ihren Energiebedarf decken mussten. Für deren Leistung bekamen sie als Gegenleistung Nahrung. Durch die kulturelle Stellung des Pharao, der aus dem gleichen Grund über Streitkräfte verfügte, konnte er seine Arbeitskräfte zwingen (lassen), unmenschliche Arbeit zu vollbringen. Mit diesem Beispiel wollte ich aufzeigen, dass gerade diese wirtschaftlichen Grundlagen, die sich aus der Ernährungswissenschaft ableiten, schon immer Gültigkeit hatten. Es ging in der Geschichte nicht immer um Geld, sondern um das, was zum Leben notwendig ist. Daraus lässt sich ableiten, dass Geld eine Maßeinheit für eben diese Grundlagen darstellt. Es ist ein Tauschmittel für Waren und Dienstleistungen, um einen Bedarf zu decken. Dabei kann man Bedarf und Wert gleichsetzen. Der Bedarf kann sich auch auf die Verfügbarkeit des Tauschmittels beziehen. Gerade in hoch arbeitsteiligen Gesellschaften ist dies der Fall. Die bisher gemachten Aussagen begründen das Grundeinkommen im allgemeinen und im speziellen das Dilthey-Modell.

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Verhaltenstheoretische Betrachtung Im allgemeinen nennen wir die Leistung, die wir zum Erhalt unseres Bedarfs aufbringen, Arbeit. Unterstellt man, dass Arbeit ein bestimmtes Verhalten darstellt, dann ist Arbeit die Reaktion auf einen Reiz, die ein Subjekt zu einem befriedigenden Zustand führen soll.4 Der zugrundeliegende Anreiz setzt einen Zustand voraus, der als unbefriedigend empfunden wird. Die biologischen Voraussetzungen können einen Menschen zu einem bestimmten Verhalten zwingen, um einen unbefriedigenden Zustand abzuschaffen oder zu reduzieren (Hunger -> Nahrungssuche; Schutzbedürfnis -> Unterkunftssuche und Verteidigung; frieren -> Bekleidung; usw.). Der neue Zustand wird als befriedigend empfunden. Da durch den Verdauungsvorgang immer wieder ein unbefriedigendes Gefühl auftritt (Hunger), soll das Verhalten zu dessen Linderung im weitern als primäre Arbeit bezeichnet werden. Der Reiz für primäre Arbeit hat einen rein biologischen Ursprung und dient der Selbsterhaltung. Alle anderen unbefriedigende Zustände, die durch ein Arbeitsverhalten gemindert oder abgeschafft werden, sollen im weitern als sekundäre Arbeit genannt werden. Der Reiz für sekundäre Arbeit hat keinen direkten biologischen (überlebenswichtigen) Ursprung und dient nicht primär der Selbsterhaltung. Die moderne Arbeitsteilung mit ihrem Güteraustausch über das Tauschmittel Geld hat es ermöglicht, dass sekundäre Arbeit als Ersatz für primäre Arbeit geleistet werden kann. Ein Beispiel: ein Bauer, der Kartoffeln anbaut, leistet primäre Arbeit; ein Friseur leistet keine lebenserhaltende Arbeit, sondern „verschönert“ das Aussehen des Bauern – er leistet sekundäre Arbeit. Für den Bauern ist es befriedigend, sich die Haare schneiden zu lassen, weshalb er den Friseur mit Kartoffeln belohnt. Für den einfacheren Austausch von Waren und Dienstleistungen wurde Geld eingeführt. Der Friseur schneidet dem Bauern aber nicht unbedingt deshalb die Haare, weil es für ihn befriedigend ist, sondern weil er seine wiederkehrende biologische Unzufriedenheit (Hunger) abschaffen oder reduzieren will. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass primäre Arbeit immer wichtig, aber sekundäre Arbeit nicht zwingend für das Überleben notwendig ist. Auch primäre Arbeit kann dabei zu sekundärer Arbeit werden, indem der Bauer z.B. mehr Arbeit leistet, um ein anderes Bedürfnis zu befriedigen (zum Beispiel: Schuhe bei einem Schuster kaufen). Das Verhalten Arbeit (unabhängig ob primär oder sekundär) hängt, wie die Verhaltenstheorie besagt, damit zusammen, einen unbefriedigenden Zustand abzuschaffen oder zu reduzieren. So kann es für einen Mathematiker durchaus ein unbefriedigender Zustand sein, eine Aufgabe als ungelöst zu sehen und nach einer Lösung zu suchen; ein Künstler kann es als befriedigend empfinden, eine weiße Leinwand mit Farben zu bereichern; ein Musiker kann es als befriedigend empfinden, Stille mit Klängen zu erfüllen usw.

4 Als Grundlage für die Betrachtung: „Basale Soziologie: Theoretische Modelle“ (vierte, neubearbeitete

Auflage, von Horst Reimann, Bernard Giesen, Dieter Hoetze und Michael Schmid; erschienen 1991 im Westdeutscher Verlag; Opladen

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Ableitung zur Wertschöpfung Wie bisher dargestellt, ist Geld eine Maßeinheit für den Wert. Diese Maßeinheit entzieht sich allerdings jeglicher objektiven Grundlage und wird individuell bestimmt. Weil sich allerdings die meisten Menschen an diese individuellen Grundlagen halten, kann mit dieser Maßeinheit gerechnet werden. Dabei gelten drei Arten der Wertschöpfung:

1. subjektive Wertschöpfung (angebotener Preis, Bereitschaft einen Preis zu bezahlen) Die subjektive Wertschöpfung ist das, was ich bereit bin für die Erschaffung eines Wertes auszugeben oder was ich beim Verkauf eines Wertes verlange.

2. objektive Wertschöpfung (Preisbildung und –findung) Die objektive Wertschöpfung ist die Aufsummierung dessen, was zur Erschaffung eines Wertes benötigt wurde. Diese objektive Wertschöpfung kann von der subjektiven Wertschöpfung abweichen.

3. absolute Wertschöpfung (tatsächlich bezahlter Preis) Die absolute Wertschöpfung entsteht beim tatsächlichen Handel. Im Idealfall ist die subjektive und objektive Wertschöpfung dabei gleich.

Da mein Anspruch für diese Betrachtung eine zeitliche und räumliche Unabhängigkeit war, werde ich nicht auf die subjektive Wertschöpfung eingehen. Um den Idealfall der absoluten Wertschöpfung aufzuzeigen (objektive gleich subjektive Wertschöpfung) muss demnach eine Maßeinheit herangezogen werden, die unabhängig von individuellen, zeitlichen und räumlichen Bewertungen ist. Wie in den beiden vorhergehenden Abschnitten dargelegt, bietet sich Energie, statt Geld an. Die allgemeine Definition der Wertschöpfung lautet dabei5: Wertschöpfung ist das originäre Ziel produktiver Tätigkeit. Diese transformiert vorhandene Güter in Güter mit höherem Nutzen. Dem ersten Satz kann zeitlich und räumlich uneingeschränkt zugestimmt werden. Aus dem zweiten Satz geht durch das Verb „transformieren“ hervor, dass für die Schaffung eines Guts mit höherem Nutzen Energie benötigt wird. Somit kann folgende Aussage getroffen werden: Wertschöpfung ist eine durch Energieeinsatz geleistete Transformation von vorhandenen Gütern in Güter mit höherem Nutzen. Das Maß für Wertschöpfung ist hierbei der eingesetzte Energiebedarf. Wert ist somit die Aufsummierung aller eingesetzten Energie, die bis zum eigentlichen Wert führt. Dabei ist es unwesentlich, ob die eingesetzte Energie durch einen Menschen verbraucht wird, oder ob sie durch eine Maschine Verwendung findet. Durch die Trennung von menschlicher Arbeitsleistung im Abschnitt über die verhaltenstheoretische Betrachtung in primäre und sekundäre Arbeit kann der Wert auch in zwei Gruppen eingeteilt werden: den Wert, seinen Energiebedarf zu decken (Ziel primärer Arbeit), bzw. den Wert, der nichts mit dem eigentlichen Energiebedarf zu tun hat. Letztgenanntes ist die Definition des tatsächlichen Mehrwerts. Zusammengefasst: Mehrwert ist der Wert, der durch eine Wertschöpfung mit Energieeinsatz bei Gütern entsteht, abzüglich des nicht auf die Produktion gerichteten Energieeinsatzes eines Menschen.

5 Haller, Axel: Wertschöpfungsrechnung. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 1997 ISBN 3-7910-1150-2

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Bezug auf das Dilthey-Modell Die Sozialumsatzsteuer des Dilthey-Modells basiert auf der oben genannten Betrachtung der Wertschöpfung und des Mehrwerts. Sie wird dabei der Forderung von Charles Fourier gerecht. In La Fausse Industrie (1836) begründet Fourier, dass der Verstoß jeder Person gegen ein fundamentales Naturrecht - wie jagen, fischen, Früchte sammeln oder ihr Vieh auf dem Gemeinschaftsbesitz - auf das hindeutet, dass die „Zivilisation“ jedem einen Lebensunterhalt schuldet, der keine Möglichkeit hat, seine Bedürfnisse zu decken.6 Damit meine ich, dass Dilthey mit der Sozialumsatzsteuer den Mehrwert der geschaffenen Güter, wie im vorgehenden Abschnitt aufgezeigt, einsammelt und als Finanzierungsgrundlage für ein Grundeinkommen verwendet. Wie bei Fourier gesagt, hat nicht jeder direkten Zugang zu natürlichen Ressourcen, aber einen bedingungslosen Anspruch als eine Art Entschädigung für diesen Verlust. Dilthey geht davon aus, dass mit jedem Produktionsschritt und der damit verbundenen absoluten Wertschöpfung (jedem Handel) Mehrwert entsteht; dieser Mehrwert ist eigentlich ein „Sozialwert“. Dies begründet den Charakter einer Allphasen-Brutto-Mehrwertsteuer, wie sie vor 1968 in Deutschland angewandt wurde.7 Im Dilthey-Modell wird trotzdem eine Mehrwertsteuer vorgeschlagen, die der heute bekannten Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug entspricht. Dabei handelt es sich um eine volkswirtschaftliche Besteuerung des „Endwerts“. Mit „Endwert“ meine ich den Charakter dieser Steuer, da sie von der letzten Instanz getragen wird, die einen Wert kauft (aus praktischen Gründen führt sie das Unternehmen ab). Volkswirtschaftlich deshalb, weil sie nur im Inland erhoben wird und zur Finanzierung der Staatsausgaben dient. Dieser „Endwert“ wird auf den Gesamtwert (also inklusive dem Mehrwert/Sozialwert) eines Guts aufgeschlagen. Die Sozial-Gewinnsteuer des Dilthey-Modells basiert auf der ernährungswissenschaftlichen Betrachtung, dass ein Mensch nur einen bestimmten maximalen Energieumsatz pro Tag haben kann. Damit ist gemeint, dass ein Mensch aus „eigener Hände Arbeit“, wie es Dilthey nennt, nur einen maximalen Wert schaffen kann.8 Auf die letzte Steuer des Dilthey-Modells, der Sozial-Kapitalertragssteuer, gehe ich hier nicht näher ein, da diese Steuerart und deren Begründung von Dilthey selbst ausführlich beschrieben wurde.9

6 Charles Fourier, La Fausse industrie (1836), Paris: Anthropos, 1967 Seite 491-492 7 http://www.tu-cottbus.de/ZfRV/Skript_FinanzUndSteuerrecht_SS2006.pdf Seite 54ff 8 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Brennwert#Physiologischer_Brennwert 9 http://www.psgd.info/templates/1/download/dilthey_modell.pdf Anhang 3

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Selbstregulierung des Dilthey-Modells Der Nobelpreisträger für Chemie, Herold C. Urey (* 29. April 1893 in Walkerton im US-Bundesstaat Indiana; † 5. Januar 1981 in La Jolla, Kalifornien), schlug in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert eine Begründung für die Entstehung der Sauerstoffhülle auf der Erde vor. Dieses Musterbeispiel für Rückkopplungseffekte ging als „Urey-Effekt“ in die Wissenschaftsgeschichte ein.10

Der Effekt beschreibt den Zusammenhang zwischen der UV-Strahlung und der Photolyse: Wasser wird durch energiereiche UV-Strahlung in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten. Sauerstoff ist allerdings ein wirksamer UV-Filter und je mehr Sauerstoff in der Atmosphäre ist, desto weniger kann Photolyse stattfinden. Dieses Wechselspiel führte zu einem Gleichgewicht, welches Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglichte, denn energiereiche UV-Strahlung zerstört auch organische Moleküle.

Das Dilthey-Modell enthält durch seine Berechnungsart der BGE-Höhe eine ähnliche Selbstregulation über Rückkopplungseffekte.

In dem Abschnitt über die ernährungswissenschaftliche Betrachtung stellte ich hier die Wirtschaftsgrundlagen dar. Die BGE-Höhe ist dabei der wichtigste Faktor für die Auswirkungen eines BGEs: • Ist die BGE-Höhe zu nieder (für den überlebenswichtigen Konsum), zwingt das niedrige

Einkommen eine Person zur Tätigkeit. • Ist die BGE-Höhe am Auskommen, stellt dies den Idealfall dar und der Zwang zur Arbeit

wird zur Selbstverpflichtung. • Ist die BGE-Höhe weit über dem Auskommen, verleitet dies zum Nichtstun. Dilthey koppelt die BGE-Höhe dynamisch an das Pro-Kopf-Einkommen eines Staates und steuert damit das Angebot (Ergebnisse der Arbeitsleistung) über die Nachfrage (BGE-Höhe als Möglichkeit für den Konsum).

Der Kommunismus versuchte mit der Planwirtschaft11 auch, Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. Die freie Marktwirtschaft ist auf Wachstum ausgerichtet und versucht das Angebot prinzipiell immer zu vergrößern und dafür eine Nachfrage zu generieren. Dies hauptsächlich deshalb, weil die unterschiedliche Verteilung von Produktionsmitteln dieses Wachstum erfordern.

Durch die dynamische Ausgestaltung des Dilthey-Modells wird oben beschriebener „Urey-Effekt“ auf die Wirtschaft übertragen.

10 Hoimar von Ditfurth: Im Anfang war der Wasserstoff, dtv, ISBN: 3-455-08854-6; Kapitel: Evolution der

Atmosphäre 11 Planwirtschaft beschreibt ein Wirtschaftssystem, bei dem nach Analyse der bestehenden und zu erwartenden

Bedürfnisse der Wirtschaftseinheit innerhalb der Planungsperiode eine voraus geplante Bereitstellung der erforderlichen Wirtschaftsgüter zur Deckung der Bedürfnisse erfolgt. Damit steht die Planwirtschaft im Gegensatz zu Wirtschaftsarten, die sich auf der zufälligen oder durch die Mechanismen des Marktes regulierten Güterproduktion und -verteilung begründen.