Der Konstruktivismus als Ansatz der Globalen Politischen Ökonomie?; Constructivism as an Approach...

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Z Außen Sicherheitspolit (2013) 6:31–49 DOI 10.1007/s12399-013-0368-6 Online publiziert: 13.11.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Prof. Dr. O. Kessler () Universität Erfurt, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] Der Konstruktivismus als Ansatz der Globalen Politischen Ökonomie? Oliver Kessler Zusammenfassung: Die aktuelle Finanzkrise zeigt, dass sich die Dynamiken globaler Finanz- märkte nicht aus dem Blickwinkel individueller Rationalität adäquat rekonstruieren lassen. Viel- mehr stellen sich Fragen nach den konstitutiven Regeln und der Strukturprägekraft von Diskur- sen. Dieser Befund führt zu einem Politikbegriff, der diese Grenzziehungen, internen Dynamiken und Verbindungen, sowie die Sozialität und intersubjektiven Prozesse globaler Finanzmärkte in den Blick nehmen können muss. An dieser Stelle bietet sich der Konstruktivismus an. Ausgehend von dem Problem einer semantischen Kopplung von Sozialität und Politik diskutiert dieser Bei- trag die Konturen einer konstruktivistischen GPÖ. Schlüsselwörter: Finanzkrise · Konstruktivismus · Unsicherheit · Risiko · Finanzialisierung Constructivism as an Approach to Global Political Economy? Abstract: The current financial crisis shows that dynamics of global finance are irreducible to some individual rationality. Rather, the crisis evidently raises questions about the changing consti- tutive rules of finance itself. It thus points to the question of how changes within finance made the crisis possible in the first place. Taking this as a vantage point also raises the question about ‘the political’ in finance: instead of reducing politics to the action of states or some interest, pursuit of power or whatever, this contribution pursues a constructivist approach and suggests to locate the political at the level of sense-making. Keywords: Economic crisis · Constructivism · Uncertainty · Risk · Financialisation

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Z Außen Sicherheitspolit (2013) 6:31–49DOI 10.1007/s12399-013-0368-6

Online publiziert: 13.11.2013© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Prof. Dr. O. Kessler ()Universität Erfurt, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Der Konstruktivismus als Ansatz der Globalen Politischen Ökonomie?

Oliver Kessler

Zusammenfassung: Die aktuelle Finanzkrise zeigt, dass sich die Dynamiken globaler Finanz-märkte nicht aus dem Blickwinkel individueller Rationalität adäquat rekonstruieren lassen. Viel-mehr stellen sich Fragen nach den konstitutiven Regeln und der Strukturprägekraft von Diskur-sen. Dieser Befund führt zu einem Politikbegriff, der diese Grenzziehungen, internen Dynamiken und Verbindungen, sowie die Sozialität und intersubjektiven Prozesse globaler Finanzmärkte in den Blick nehmen können muss. An dieser Stelle bietet sich der Konstruktivismus an. Ausgehend von dem Problem einer semantischen Kopplung von Sozialität und Politik diskutiert dieser Bei-trag die Konturen einer konstruktivistischen GPÖ.

Schlüsselwörter: Finanzkrise · Konstruktivismus · Unsicherheit · Risiko · Finanzialisierung

Constructivism as an Approach to Global Political Economy?

Abstract: The current financial crisis shows that dynamics of global finance are irreducible to some individual rationality. Rather, the crisis evidently raises questions about the changing consti-tutive rules of finance itself. It thus points to the question of how changes within finance made the crisis possible in the first place. Taking this as a vantage point also raises the question about ‘the political’ in finance: instead of reducing politics to the action of states or some interest, pursuit of power or whatever, this contribution pursues a constructivist approach and suggests to locate the political at the level of sense-making.

Keywords: Economic crisis · Constructivism · Uncertainty · Risk · Financialisation

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1 Einleitung

Die globale Finanz-und Wirtschaftskrise hat innerhalb der Globalen Politischen Öko-nomie (GPÖ) bereits eine weitreichende Debatte über ihre eigenen Grenzen ausgelöst. So hat Benjamin Cohen bereits der GPÖ kollektive Kurzsichtigkeit vorgeworfen (Cohen 2009), während andere noch versuchen, Stühle auf der Titanic zu verschieben und die Versprechungen einer rationalen Theoriebildung zu besingen (Leblang und Pandya 2009). Auch wenn sich diese Debatte über verschiedene theoretische Traditionen mehr an den geographischen Unterschieden zwischen einer amerikanischen und britischen Schule abarbeitet, steht doch zu vermuten, dass wir vor einem analogen Prozess zu 1989 stehen. Damals führte der Mauerfall die ausgeprägte ‚Kurzsichtigkeit‘ tradierter Theorien für das Verständnis der sich gerade ausbreitenden Dynamiken vor Augen (für eine Zusammen-fassung siehe Lebow und Risse 1995). 25 Jahre später hören wir den gleichen Aufruf zu einer notwendigen Erneuerung der Theoriebildung (für eine analoge Diskussion in der Ökonomie siehe Hodgson 2009; Lawson 2009). Wie dieser Erneuerungsprozess aussehen und enden wird, lässt sich jetzt noch nicht abschätzen. Dies liegt zum einen an der immer wieder überraschenden Hartnäckigkeit und Realitätsverweigerung auf Seiten der empi-rischen Sozialwissenschaften; zum anderen an der unausgereiften Kapazität einer kriti-schen Selbstreflexion innerhalb der Internationalen Beziehungen (IB) und der positiven Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ).1 Vermutlich wird daher – damals wie heute – der Ausgang dieser Debatte von der Überzeugungskraft des Konstruktivismus – oder vielmehr den unterschiedlichen Spielarten konstruktivistischer Theoriebildung – abhän-gen. Wird also der Konstruktivismus in der GPÖ im Nachklang der Krise eine ähnliche Renaissance erleben wie in den 1990ern in den Internationalen Beziehungen?

In der Tat scheint die Krise die Grenzen rationaler Theoriebildung aufzuzeigen. Sie zeigt mit aller Deutlichkeit, dass sich die Dynamiken globaler Finanzmärkte nicht aus dem Blickwinkel individueller (evtl. im Konflikt mit kollektiver) Rationalität verstehen lassen. Weder lassen sie sich auf partikulare Interessen staatlicher oder internationaler Akteure zurückführen, noch ist die Frage nach der Politik mit Fragen des Aushandelns, der Maximierung von Nutzen, der Macht, der Sicherheit, des Profits oder sonstigen ‚Sig-nifikanten‘ hinreichend erschöpft. Vielmehr stellen sich Fragen nach der Konstitution, den Bedingungen der Möglichkeit, den konstitutiven Regeln und der Strukturprägekraft von Diskursen (oder nach heutiger Façon: Praktiken). Welche Veränderungen gingen der Krise voraus und machten sie möglich? Welche Eigendynamik, Eigenkomplexität und internen Spielregeln haben sich durch die Globalität der Finanzmärkte herausgebildet? So zeigt Timothy Sinclair am Beispiel der Kreditratingagenturen auf, dass das heute verhan-delte Problem von Konfliktinteressen bei Ratingagenturen zu kurz greift (Sinclair 2009). Ohne die Ratings der Agenturen wären die Verbriefungen der Hypotheken nicht möglich. Das Problem der Ratings ist nicht ein Interessenskonflikt innerhalb der Ratingagenturen, sondern dass sie sich in die soziale Matrix globaler Finanzmärkte eingeschrieben haben und die gegenseitige Erwartungsbildung der Akteure bestimmen. Dieser Befund führt zu

1 Siehe hierfür vor allem auch Niesen (2011). Aus diesem Grund verweisen IB und IPÖ gerne auf die Diskussion innerhalb ihrer Reflexionswissenschaften wie die Theoretische Ökonomik oder die Politische Theorie, um sich selbst beobachten zu können.

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einem Politikbegriff, der diese Grenzziehungen, internen Dynamiken und Verbindungen, sowie die Sozialität und intersubjektiven Prozesse globaler Finanzmärkte in den Blick nehmen können muss. An dieser Stelle bietet sich der Konstruktivismus mit seinem gene-rellen Interesse an intersubjektiven Prozessen und Bedeutungen an.

Jedoch zeigen sich bereits auf dieser sehr generellen und abstrakten Formulierungs-ebene des Problems mehrere Gefahren, die eine Eruierung der Möglichkeiten und Gren-zen einer konstruktivistischen GPÖ deutlich erschweren: Nicht selten wird sofort die Erwartungshaltung geschürt, der Konstruktivismus habe eine ‚bessere‘ oder ‚größere‘ Erklärungskraft für die aktuelle Krise als bisherige Ansätze und müsse dies nun, um die-sem Anspruch gerecht zu werden, auch unter Beweis stellen. Dabei wird aber der Kons-truktivismus anhand eines empirischen Maßstabs gemessen mit der Folge, dass seine Kritik an der positiven empirischen Sozialforschung mit den von eben dieser formulierten Kriterien bewertet und beurteilt wird. Somit kann der Konstruktivismus nur insofern eine Alternative darstellen, als er mit der positiven Sozialforschung kompatibel ist.2 Sollte man dem Konstruktivismus auf dieser Basis Erfolg bescheinigen wollen, wäre er eigentlich schon gescheitert. Scheitert er aber und kann diesen Maßstäben nicht gerecht werden, so kann dies gerade ein Ausdruck seines Erfolgs sein. Ein Erfolg in den Augen der tradierten Ansätze kann nur um den Preis einer Verleugnung konstruktivistischer Grundannahmen erkauft werden. Im Folgenden geht es daher auch nicht um eine empirische Überprüfung von konstruktivistischen ‚Hypothesen‘. Die Schwierigkeiten vervielfachen sich natür-lich sofort, wenn man anerkennt, dass der Konstruktivismus kein einheitlicher Ansatz ist. Obwohl die aktuelle Attraktivität des Konstruktivismus als eine Erfolgsgeschichte gehandelt wird und sich die Anzahl seiner Anhänger stetig erhöht, ist der Erfolg durch Unschärfe und Widersprüche erkauft, an deren Ende die Identifizierung unterschiedlicher Stränge oder Spielarten steht.

Diese Frage nach dem Zusammenhang von Politik, Sozialität und Finanzmärkten steht im Mittelpunkt der nun folgenden Diskussion. Es geht dabei primär um eine konzeptio-nelle Klärung. Hierfür wird der Unsicherheitsbegriff im Zentrum der Diskussion stehen, um aufzuzeigen, wie der Zusammenhang von Sozialität, Intersubjektivität und Politik im Konstruktivismus konzipiert wird. Der Einstieg über Unsicherheit erlaubt nicht nur die Abgrenzung zu den rationalen Ansätzen, sondern zeigt gleichzeitig auch die Unterschiede verschiedener Spielarten konstruktivistischer Theoriebildung auf. Jedoch sollen – auch auf die Gefahr eines erfolgreichen Scheiterns hin – auf Basis der Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit weiterführende Forschungsfragen umrissen werden, um zumin-dest einige ‚konstruktivistische‘ Fragestellungen aufzuzeigen, die den Zusammenhang von Politik und Sozialität näher beleuchten. Folgt man der Unterscheidung von Unsicher-heit und Risiko weiter, dann stehen Prozesse im Mittelpunkt, durch die unstrukturierte Unsicherheit auf Risiken reduziert und im Prozess der Reduktion bereits neue Unsicher-heit produziert wird. In diesen kontinuierlichen Prozessen von Unsicherheitsabsorption und Produktion lassen sich wichtige Fragen von Expertise und Nichtwissensformen, von Preisbildung und Finanzialisierung und damit auch von Autorität und Macht erkennen.

2 Siehe an dieser Stelle Jackson (2011), der diese Strategie als Subsumierung des Konstruktivis-mus in ein neo-positives Wissenschaftsverständnis bezeichnet.

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Die Darstellung erfolgt in drei Schritten: in einem ersten Schritt zeige ich die Unter-schiede zwischen Risiko und Unsicherheit auf und verdeutliche daran die jüngsten Versuche konstruktivistischer Theoriebildung, die bisher von dem moderaten, ontologie-basierten Konstruktivismus mit Rückgriff auf John M. Keynes dominiert sind. In einem zweiten Schritt zeige ich die Grenzen des moderaten Programms auf, indem ich die his-torischen Hintergründe von Keynes Unsicherheitsbegriff diskutiere und eine Alternative auf Basis der Wiener Schule vorschlage. Der dritte Schritt zeichnet die Konturen dieses radikal-konstruktivistischen Programms nach.

2 Unsicherheit und Risiko

2.1 Unsicherheit als Risiko in der Orthodoxie

I accuse the classical economic theory of being itself one of these pretty, polite techniques which tries to deal with the present by abstracting from the fact that we know very little about the future. (Keynes 1937, S. 215)

Der Unsicherheitsbegriff steht in der Geschichte ökonomischen Denkens an prominenter Stelle, denn die Frage, ob und wie Unsicherheit von Risiko zu unterscheiden ist, begleitet die Ökonomik eigentlich seit der disziplinären Ausdifferenzierung der modernen Wirt-schaftswissenschaften. Denkt man an Frank Knights Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit zurück, oder an die ersten Andeutungen von Keynes in seinem Treatise of Probability von 1921, kann man George Shackle folgen, wenn er meint: „Until the 1930s, economics was the science of coping with basic scarcity. After the 1930s, it was the account of how men cope with scarcity and uncertainty. This was far the greatest of the achievements of the 1930s in economic theory.“ (Shackle 1967, S. 7) Während Unsicherheit zu jener Zeit noch ein breit verwendeter Begriff zum Verständnis ökono-mischer Prozesse ist, zeichnet sich in den 1950er Jahren eine deutliche Wendung ab: Mit dem Aufstieg der Erwartungsnutzentheorie in der Nachfolge von John von Neumann und Oskar Morgenstern (1944) wird eine eigene Rationalität und Logik von Unsicher-heit bezweifelt. Bereits Kenneth Arrow kritisiert 1951 die Nützlichkeit einer Unterschei-dung von Risiko und Unsicherheit und sieht Verweise zu Unsicherheit als eigenständigen Begriff als unnötig an (Arrow 1951). Diese kritische Haltung wird mit dem Siegeszug der Theorie rationaler Erwartungen und der Einführung bayesianischer Wahrscheinlich-keiten in die ökonomische Modellbildung verschärft. Gerade der Rückgriff auf Bayes, so die weitläufige Meinung, macht eine alte Unterscheidung von subjektiven und objekti-ven Wahrscheinlichkeiten unnötig, die oftmals hinter der Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit steht. In der Konsequenz geht man davon aus, dass Situationen radikaler Unsicherheit (d. h. vollständigen Nichtwissens) immer noch in quantifizierbaren Zahlen beschreibbar sind, denn selbst Situationen vollständigen Nichtwissens lassen sich mit einer Gleichverteilung von Wahrscheinlichkeiten über alle möglichen Zustände der Welt abbilden. Neue Informationen werden dann über Bayes bedingte Wahrscheinlichkeiten in eine Veränderung individueller ‚Beliefs‘ übersetzt.

In der Folge wird der Unsicherheitsbegriff aus der ökonomischen Handlungstheorie systematisch ausgeklammert und ausgegrenzt (Laffont 1989; Hirshleifer und Riley 1979,

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1992). Die Modelle rationaler Wahl müssen Unsicherheit als eigenständige Rationali-tät jenseits risikobasierter Kalkulationen ablehnen, um das eigene Wissenschaftsideal aufrechtzuerhalten. In diesem Kontext spricht man zwar von Entscheidungsproblemen unter Unsicherheit, benutzt aber den Unsicherheitsbegriff synonym zu Risiko: Selbst in Entscheidungssituationen unter Unsicherheit findet sich eine ‚rationale‘ Entscheidung auf Basis einer Matrix bestehend aus den möglichen Zuständen der Welt, den Wahr-scheinlichkeitsverteilungen und der Payoff-Funktion in Abhängigkeit von den einzelnen Handlungsoptionen. Der theoretische Grund für diese konzeptionelle Schließung liegt im Wissensbegriff. Solange die kalkulatorische Wissensform (Nummern, Wahrschein-lichkeiten etc.) ausreicht, sind andere, kontextabhängige Wissensformen von Raum und Zeit für die Logik unnötig. Über den Ausschluss von radikaler Unsicherheit gelingt es der Theorie rationaler Wahl, soziale, intersubjektive Prozesse auszuklammern. Darauf-hin kann sie eine universelle Geltung dieser Rationalitätsannahmen postulieren und gleichzeitig den Primat von theoretischem gegenüber praktischem Wissen vertreten. Der nächste Abschnitt zeigt auf, wie Unsicherheit den Blick auf soziale Bedingungen öko-nomischer Praktiken eröffnet.3

2.2 Unsicherheit und Risiko in der Heterodoxie

Heterodoxe Ansätze betonen die eigenständige Rationalität von Unsicherheit im Gegen-satz zu Risiko (Knight 1921; Keynes 1921, 1936, 1937). Ihre Kritik zielt darauf ab, die hermetische Schließung der neoklassischen Modelle zu durchbrechen. Insbesondere John Maynard Keynes hat auf klassische Art und Weise den Unterschied betont, wenn er meint, dass Unsicherheit etwas anderes sei als Unwahrscheinlichkeit und dann fortfährt:

By uncertain knowledge, let me explain, I do not mean merely to distinguish what is known for certain from what is only probable. The game of roulette is not subject, in this sense to uncertainty; nor is the prospect of a Victory bond being drawn. Or, again, the expectation of life is only slightly uncertain. …The sense in which I am using the term is that in which the prospect of a European war is uncertain, or the price of copper and the rate of interest twenty years hence, or the obsolescence of a new invention, or the position of private wealth owners in the social system in 1970. About these matters there is no scientific basis on which to form any calculable pro-bability whatsoever. We simply do not know. (Keynes 1937, S. 213–214)

In diesem viel diskutierten Paragraphen unterscheidet Keynes seinen Begriff von Unsi-cherheit von einem kalkulatorischen Verständnis von Unsicherheit, wie es in der Ortho-doxie vorherrscht. Wie gerade besprochen, wird auch dort von Unsicherheit gesprochen,

3 Möchte man nun anmerken, dass doch Keynes keine heterodoxe Position einnimmt, sondern Teil der Orthodoxie ist, so muss man bedenken, dass im Zuge der Interpretation von Hicks gerade die Radikalität, Eigenständigkeit und Offenheit von Unsicherheit gegenüber einer auf Steuerung und Technik basierten und einer in sich geschlossenen Ökonomik (z. B. in Form des IS-LM Modells) aufgegeben wurde. Die Keynesianer unterscheiden sich daher deutlich von Keynes selbst, und gerade neue Strömungen auf Basis des Post-Keynesianismus oder der Real-World Economics versuchen über den Unsicherheitsbegriff eine Neubestimmung der Ideen von Keynes (Davidson 1996).

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jedoch wird diese Unsicherheit über gegebene Strukturen, Kategorien und Funktionen in Risiken – und die Rationalität des Risikomanagements – bereits per Definition aus-geklammert. Neben der reinen Betonung von Unsicherheit geht Keynes allerdings noch einen Schritt weiter, denn:

We are merely reminding ourselves that human decisions affecting the future, whet-her personal or political or economic, cannot depend on strict mathematical expec-tation, since the basis for making such calculations does not exist; and that it is our innate urge to activity which makes the wheels go round, our rational selves choosing between the alternatives as best we are able, calculating where we can, but often falling back for our motive on whim or sentiment of chance. (Keynes 1936, S. 162)

Keynes zeigt auf, dass mit der Anerkennung von Unsicherheit andere – sozial-praktische – Wissensformen in den Blick geraten, wie ‚animal spirit‘ und Gewohnheiten. Gleichzei-tig betont Keynes die Dynamiken, die aus der gegenseitigen Beobachtung von Akteuren resultieren und rückt damit selbst deutlich von der Idee einer autonom-solipsistischen, rationalen Wahl als logischem Anfangspunkt ab.

Soweit können wir also festhalten, dass die positiven Ansätze zu Entscheidungen, Institutionen und Prozessen auf einer systematischen Ausschließung von Unsicherheit beruhen, um Intersubjektivität über Gleichgewichtsbedingungen und Rationalitätsannah-men auszuklammern. Die Anerkennung der Eigenständigkeit von Unsicherheit eröffnet eine Alternative, in der praktisches Wissen und intersubjektive Prozesse im Vordergrund stehen. Genau diese Öffnung haben bisher Konstruktivisten genutzt. In einem nächs-ten Schritt möchte ich kurz nachvollziehen, wie sich insbesondere der selbstverstan-dene ontologisch-basierte moderate Konstruktivismus auf Keynes Unsicherheitsbegriff bezieht, um dann im Folgenden die Grenzen dieses Programms aufzuzeigen.

3 Unsicherheit und das Programm einer konstruktivistischen GPÖ

Vor allem Wesley Widmaier hat sich für die Entwicklung einer konstruktivistischen GPÖ bereits früh für eine Neuinterpretation von Keynes ausgesprochen (Widmaier 2003). Er versucht aufzuzeigen, dass ‚materialistische‘ Ansätze (d. h. hier: Ansätze auf Basis der rationalen Wahl bei gegebenen Interessen) die Kooperation zwischen Staaten nicht erklären können. Internationale Kooperation verläuft nicht entlang der Kategorien der Hegemonialen Stabilitätstheorie oder der Kapitalmobilitätsthese, sondern wird erst durch ‚shared understandings‘, geteiltes Wissen, ermöglicht. Hier bietet sich für Widmaier Keynes als Inspirationsquelle an: „Just as Keynes stressed the variable impact of con-ventions on market interests, constructivists deny that material structures are self-evi-dent or that states react directly to some unique ‚logic of anarchy‘“ (Widmaier 2003, S. 105–106). Der Materialismus, wie er der klassischen Ökonomik zugrunde liegt, beruht auf der Annahme einer effizienten Informationsverarbeitung. Hingegen betonen Kons-truktivisten, wie Keynes, die Anwesenheit von Unsicherheit (Widmaier 2003, S. 107). Gerade über Unsicherheit öffnet sich der konzeptionelle Raum für die Bedeutung von Konventionen und ‚selbst-erfüllenden Prophezeiungen‘, die dann die Identifikation von

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unterschiedlichen Kooperationsmodi entlang der verschiedenen Kulturen von Anarchie nach Alexander Wendt ermöglichen (Wendt 1999).

Für Widmaier besteht daher das konstruktivistische Projekt darin, eine inter-subjek-tive Ontologie einzuführen, mit der die Kritik von Keynes an der klassischen ökono-mischen Theorie parallel zu der Kritik von Alexander Wendt an der Logik der Anarchie von Kenneth Waltz liegt (Wendt 1987, 1999). Voraussetzung für diesen Keynes-basier-ten Konstruktivismus ist eine Gegenüberstellung von materialistischen Erklärungen des rational choice und den ‚ideenbasierten‘ (aber nicht idealistischen) Erklärungen der Konstruktivisten.

Hier zeigt sich auch die doppelte Rolle, die Keynes für moderate Konstruktivisten spielen muss: Zum einen versucht Widmaier, Keynes von den engen Klammern der neoklassischen Synthese von Samuelson und Hicks (Hicks 1937; Samuelson 1952) zu befreien und in einen post-keynesianischen Kontext einzubinden (Davidson 1991, 1996). Zum anderen leitet sich von Keynes Unsicherheitsbegriff die Notwendigkeit von Kon-ventionen und intersubjektiven Prozessen ab.

Jacqueline Best unternimmt ein ähnliches aber dennoch leicht modifiziertes Projekt (Best 2004). In ihrem Buch The Limits of Transparency unterscheidet sie drei Typen von Ambiguität innerhalb der Politischen Ökonomie: die technische, die bestrittene und die inter-subjektive Ambiguität. Nach Jacqueline Best lassen sich danach spezifische Reak-tionen auf Krisen ableiten: Materialistische Ambiguität kann am besten durch Transpa-renz hergestellt werden. Die bestrittene Ambiguität verweist auf die Notwendigkeit von Verhandlungen und die intersubjektive Ambiguität auf Selbstreflexion, d. h. die grund-sätzliche Bereitschaft, die Rolle der eigenen Normen und Ideen für die Konturen und Grenzen von Praktiken einzugestehen.

Die Betonung jeder dieser spezifischen Formen liegt dabei parallel zu den bestehenden Ansätzen des Neorealismus, des Neoliberalismus, und des Konstruktivismus. Während die Hegemoniale Stabilitätstheorie ökonomische Instabilität aus der Verschiebung glo-baler Mächteverhältnisse erklärt und Neoliberale vor allem die Rolle von Informationen betonen, steht für den Konstruktivismus vor allem die intersubjektive Bedeutung und daher die intersubjektive Ambiguität im Mittelpunkt, denn Krisen verweisen immer auch auf die Destabilisierung von Bedeutungen, die den macht- und interessegeleiteten Kate-gorien ontologisch voraus gehen.

Mit dieser Dreiteilung kann Jacqueline Best zwei Fragestellungen verfolgen: Zum einen lassen konstruktivistische Erklärungen die Grenzen der aktuellen Konzentration auf Transparenz erkennen und zeigen alternative Wege auf. Zum anderen lässt sich die weltweite Veränderung der Globalfinanz zwischen den 1940er und 1970er Jahren als das Resultat eines Umdenkens von Ambiguität verstehen. Für Best ist das Bretton Woods System durch die zentralen Ideen von Keynes und insbesondere von seinem Verständ-nis von Unsicherheit geprägt. Über den Unsicherheitsbegriff führte dies, nach Best, zu einer spezifischen Verbindung von globalen Anpassungsmechanismen, liberalen Ideen und nationaler Wohlfahrstaatspolitik.4 Mit dem Aufstieg der Neoklassik wurden Fehler

4 Hier könnte man natürlich das Gegenargument bringen, dass das Bretton Woods System selbst kein keynesianisches System war, sondern gerade der Anpassungsmechanismus eher auf Harry Dexter White zurückging.

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und Instabilitäten als institutionelle und exogene Faktoren ausgelagert: Die Neoklassik verdrängte das Verständnis von intersubjektiver Ambiguität und ersetzte sie durch das Verständnis von technischer Ambiguität (Best 2005, S. 109).

Mark Blyth verweist ebenfalls auf Unsicherheit. Sein Interesse gilt der Erklärung von institutionellem Wandel, vor allem aus vergleichender Perspektive (Blyth 2002). Dafür verbindet Blyth Unsicherheit mit dem Begriff der Ideen und einer Vorstellung der ideel-len Konstitution von Institutionen. Obwohl das allgemeine Interesse von Blyth ähnlich gelagert ist wie bei Widmaier, betont Blyth stärker die kausale Kraft von Ideen selbst. Nach Blyth sind ideelle Faktoren ausschlaggebend für das Verständnis von institutio-nellem Wandel (siehe auch z. B. die Diskussion in Blyth 1997, 2003a). Nur mit einer eigenständigen Rolle von Ideen, jenseits der ‚intermediate variable‘ oder als eine reine Anreicherung bestehender Erklärungen, ist ein Verständnis der Heterogenität und Diver-sität unterschiedlicher Wirtschaftssysteme möglich: Staaten reagieren sehr spezifisch und in Abhängigkeit von den Ideen, die in ihrem Kontext existieren, auf Unsicherheit, oder wie Blyth es ausdrückt: „Structures do not come with an Instruction Sheet“ (Blyth 2003b, S. 695).

Vor allem Wirtschaftskrisen zeichnen sich für Blyth durch eine radikale Unsicher-heit aus. Die Krisen durchbrechen bestehende Narrative und Interpretationsmuster von Daten und verdeutlichen den Zwang zur Entwicklung von neuen Kausalketten. In die-sen unsicheren Zeiten werden alte durch neue Ideen ausgetauscht, die andere Kausalver-bindungen betonen, Reformbedarf anmelden und eine neue Vision von einer besseren Zukunft produzieren. Diese Dynamik von Unsicherheitsabsorption und institutioneller Destabilisierung aufgrund von Krisensituationen nennt Blyth ‚punctuated equilibrium‘. Dieser Begriff zeigt gleichzeitig sein grundlegendes Erkenntnisinteresse an: Fragen der ideellen Konstitution und Unsicherheitsabsorption sind an rationale Theorien insofern direkt anschlussfähig, als im ‚Gleichgewicht‘ rationale Theorien anwendbar sind und der Konstruktivismus nur als ‚langfristige‘ oder spezielle Alternative angepriesen wird.

Alle drei Autoren verweisen auf die Eigenständigkeit von Unsicherheit und beziehen sich in diesem Zusammenhang gerne auf Keynes. Das Erkenntnisinteresse liegt dabei in der Varianz staatlicher Interessen, der Rolle von Ideen bei der Definition und Formie-rung von Staatsinteressen und damit in einer Kritik an einer Krisentheorie, die Krisen als Resultat exogener Schocks versteht (Widmaier 2004, S. 435; Widmaier et al. 2007). Die zentrale Argumentation verläuft dabei wie folgt: In Situationen radikaler Unsicher-heit fallen Individuen auf Konventionen und Normen zurück, um ihre Urteile zu bilden. Nachdem Konventionen und Normen intersubjektive Entitäten sind, wird über Keynes eine dualistische Ontologie von Materie und sozialen Fakten/Ideen eingeführt. Das unvollständige Verarbeiten von Informationen eröffnet den Raum für alternative Szena-rien und Visionen, für die Strukturprägekraft von Konventionen und demnach die soziale Konstruktion von internationalen Institutionen, wie Mark Blyth betont: In „moments of uncertainty agents’ interests may be underdetermined no matter how well defined they appear“ (Blyth 2007, S. 762).

Ohne Zweifel haben diese Autoren insofern Recht, als Keynes sich in der Tat von der rein kalkulatorischen Handlungstheorie abgrenzt. Doch ein genauerer Blick auf den Unsicherheitsbegriff bei Keynes erlaubt uns gleichzeitig auch, die Grenzen dieses Pro-jekts zu erkennen, denn Keynes selbst hängt ja nicht dem Konstruktivismus, sondern

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dem logischen Positivismus an (Keynes 1936, S. 148; Widmaier 2003, S. 93). Es besteht also Klärungsbedarf darüber, wie sich der Konstruktivismus vom logischen Positivismus abgrenzt.

4 Wahrscheinlichkeit und Unsicherheit bei Keynes: Konventionen und Epistemologie

Der letzte Abschnitt hat aufgezeigt, wie insbesondere Keynes einer konstruktivistischen GPÖ als Inspirationsquelle dient, um das begriffliche Instrumentarium um Ideen, Nor-men und Konventionen zu erweitern, und damit den Blick auf intersubjektive Prozesse und soziale Bedingungen von Handlung zu richten. Dabei soll dieser Verweis auf Inter-subjektivität und Konventionen einen ontologischen-moderaten Konstruktivismus moti-vieren. Doch so attraktiv und sozialdemokratisch (oder links-liberal) dieser Hinweis auf Keynes auch sein mag, so steht doch die Beantwortung der Frage aus, ob Keynes nun wirklich als ein erster Konstruktivist avant-la-lettre dienen kann. Um uns dieser Frage zu nähern, muss man eigentlich ins Cambridge um die Jahrhundertwende zurückgehen. Keynes erreicht Cambridge als Student vom berühmten Eaton College und wird recht bald in den Geheimzirkel ‚the Apostle‘ von Bertrand Russell und George Edward Moore eingeladen. Dieser Kontext formt seine zentralen Gedanken zu Ethik und Wissenschaft und zeigt gleichzeitig die enge Verbundenheit von Keynes mit dem logischen Positivis-mus. Das bedeutet aber auch, dass eine ‚Fundierung‘ einer konstruktivistischen GPÖ auf Basis von Keynes problematisch ist. Diese Probleme möchte ich anhand eines Beispiels illustrieren:5 der Bedeutung von Konventionen.

Den Hintergrund für die philosophischen Diskussionen in der frühen analytischen Phi-losophie bildet das Russell Paradoxon. Russell hatte damals die frühe analytische Philo-sophie von Gottlob Frege durch eine Erwiderung vor eine Zerreisprobe gestellt. Er zeigte, dass mit einfachen Operationen in jedem logischen System Widersprüche erzeugt werden können (er konstruierte eine Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element ent-halten), die jeden Anspruch auf eine logische Fundierung der Mathematik und die for-male Logik als ideale Sprache zunichtemachen. Rudolf Carnap und Alfred Tarski, als die zwei herausragenden Verfechter des logischen Positivismus, versuchten über die Typen-theorie, den Fängen von Russell zu entgehen. Dabei erkannten sie, dass das Russellsche Paradoxon auf zwei Annahmen beruht: der Notwendigkeit logischer Operationen und der semantischen Schließung der Welt, d. h. dass alle Sprachen in eine Ursprache übersetzbar sind. Um das Paradox ‚zu entfalten‘ führten Carnap und Tarksi die Unterscheidung von Metasprache und Objektsprache ein. Die Metasprache gibt dabei die Interpretation der Objektsprache vor. Die Metasprache ist eine Sprache über Sprachen (z. B. Deutschland hat 11 Buchstaben); in der Objektsprache werden Ausdrücke benutzt, um Sachverhalte darzustellen (z. B. Deutschland ist ein Staat). Entscheidend für Tarksi und Carnap ist nun

5 An dieser Stelle gehe ich nicht auf die Probleme des Unsicherheitsbegriffs selbst ein. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass Keynes Unsicherheit über Abwesenheit von Wahrscheinlich-keiten definiert und die Wahrscheinlichkeitstheorie nicht ontologisch, sondern epistemologisch definiert wird (Keynes 1921, S. 12).

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die Einsicht, dass die Wahrheitsbedingungen von Sätzen von der Objektsprache abhängen (Carnap 1956).

Welche Sprache man spricht, ist eine Konvention. Das heißt, dass der logische Positi-vismus insofern eine Form des Konventionalismus ist, als die Begriffe nur konventional gebraucht werden und Wahrheit eine Konvention voraussetzt (Quine 1966a, S. 70–99; 1966b, S. 100–134). So ist es eine reine Konvention, dass wir bestimmte Tiere als ‚Schwäne‘ bezeichnen. Jedoch, und dies ist der zentrale Punkt, impliziert Konvention keine konventionale oder intersubjektive Epistemologie. Vielmehr behandelt dieses Ver-ständnis von Konventionen diese als empirische Fakten: Wenn wir zwar zu bestimm-ten Tieren ‚Schwäne‘ sagen und damit die Farbe ‚weiß‘ verbinden, müssen wir dennoch Schwäne beobachten, wenn wir diese Konvention überprüfen wollen. Das bedeutet: Während die Sprache der einzelnen Wissenschaften zwar unterschiedlich sein kann (als Objektsprache), so ist die Logik als Metasprache objektiv und neutral und den einzelnen Teildisziplinen vorgelagert.

Für Keynes verhält sich der Begriff der Konvention ganz analog. Die Existenz von Konventionen wird nicht verneint, jedoch werden sie als empirische Sachverhalte ver-standen. Wenn wir wissen wollen, wie die Konventionen funktionieren, dann müssen wir Preise beobachten. Zu behaupten, Keynes würde mit dem Begriff der Konvention den Zugang zu empirischen Tatsachen verbauen oder die Einheit der Wissenschaften bezwei-feln, verpasst gerade die zentrale Einsicht seiner Makroökonomie, die auf der Möglich-keit der Steuerung von Wirtschaftssystemen aufbaut. Keynes ist kein ‚relativist‘, denn, wie er in seiner Wahrscheinlichkeitstheorie anführt:

A proposition is not probable because we think it so. When once the facts are given which determine our knowledge, what is probable or improbable in these circumstan-ces has been fixed objectively, and is independent of our opinion. The theory of pro-bability is logical, therefore, because, it is concerned with the degree of belief which it is rational to entertain in given conditions, and not merely with the actual beliefs of particular individuals which may or may not be rational. (Keynes 1921, S. 4)

Keynes bezieht sich hier klar auf seinen Neoplatonismus, den er in Cambridge gelernt und ein Leben lang beibehalten hat. Genau diese Objektivität der Wahrscheinlichkeits-beziehung verbindet Keynes mit dem logischen Positivismus (und dem vorherrschen-den Neoplatonismus). Diese angenommene objektive Beziehung beruht darauf, dass man Begriffe wie z. B. ‚gut‘ genauso wie ‚Dinge‘ behandeln kann, wie Keynes selbst es formuliert:

I have called this faith a religion, and some sort of relation of neo-platonism it surely was. But we should have been very angry at the time with such a suggestion. We regarded all this as entirely rational and scientific in character. Like any other branch of science, it was nothing more than the application of logic and rational analysis to the material presented as sense-data. Our apprehension of good was exactly the same as our apprehension of green, and we purported to handle it with the same logical and analytical technique which was appropriate to the latter. Indeed we combined a dogmatic treatment as to the nature of experience with a method of handling it which was extravagantly scholastic. (Keynes 1972 [1951], S. 438)

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Dieser Bezug zum Neoplatonismus lässt nun eine grundlegende Prämisse des Keynes-basierten Konstruktivismus problematisch erscheinen. Allein die Aussage, z. B. von Widmaier, dass „the significance of uncertainty was to call into question the notion that material structures constituted unchanging interests in cooperation“ (Widmaier 2003, S. 97), d. h. also die Einführung einer dualistischen Ontologie, kann noch keinen Kons-truktivismus – und auch kein ausreichendes Forschungskonzept begründen. Ein ontolo-gischer Dualismus ist eine andere Sache als Intersubjektivität oder Konstruktivismus, da jeder Neoplatonismus zwar eine dualistische Ontologie vertritt, aber den Konstruktivis-mus ablehnen wird.

Die Konsequenzen dieser Vernachlässigung der inter-subjektiven Epistemologie ist auch bei den moderaten Konstruktivisten deutlich sichtbar. Sie hat zur Folge, dass der Politikbegriff vom Begriff des Sozialen abgekoppelt wird, denn es geraten ja primär die zwischenstaatlichen Normen, Konventionen und Prozesse in den Blick. Das Politische selbst orientiert sich noch am staatlichen Verhalten. Damit hält der moderate Konstrukti-vismus aber nur ein Versprechen: Er eröffnet zwar den Blick auf intersubjektive Prozesse, sieht aber in der Sozialität selbst nicht das politische Moment. Letztlich gerät daher die politische Dimension der internen Reorganisation globaler Finanzmärkte der letzten 20 Jahre aus dem Blick. Sie ist nur insofern relevant, als sie entweder die Regimebildung, die Kooperationsform oder die staatlichen Interessen selbst verändert. Wenn die Analyse bisher auch negativ ausgefallen ist, bleibt zu untersuchen, ob es positive Lehren aus der bisherigen Diskussion gibt, wenn die Frage nach der Politik mit der nach intersubjektiven Prozessen – und damit in der Formierung eines spezifischen sozialen ‚Feldes‘ oder ‚Sys-tems‘ – konzeptionell verbunden wird.

5 Konstruktivismus und Unsicherheit: eine Alternative?

Der letzte Abschnitt hat die Grenzen des Keynes-basierten Konstruktivismus aufgezeigt und argumentiert, dass der Rückgriff auf Keynes die Grenzen zwischen Konstruktivis-mus und logischem Positivismus unkenntlich werden lässt. In diesem Abschnitt versu-che ich auf Basis der bisherigen Diskussion, ein positives Programm zu entwickeln und zumindest in den Konturen kenntlich zu machen. Hier erscheinen vor allem zwei Aspekte zentral: Obwohl die bisherige Diskussion eher kritisch gegenüber den bestehenden Ver-suchen war, ist dennoch deutlich geworden, dass der Unsicherheitsbegriff von zentraler Bedeutung ist, um nicht wieder in rationalistische Fahrwasser zu geraten. Die Alternative liegt also nicht in der Verneinung, sondern in der Suche nach einem anderen Konzept von Unsicherheit, an das sich weiterführende Fragen anschließen können.

5.1 Unsicherheit jenseits von Keynes

Die bestehende Literatur zu Unsicherheit interessiert sich vor allem für Prozesse der Unsicherheitsabsorption, entweder durch Firmen, Institutionen oder Staaten. Nur ‚exo-gene‘ Ereignisse wie Wirtschaftskrisen als Resultat von institutionellen Fehlern können Unsicherheit generieren, die dann wieder in Risiko absorbiert wird.

42 O. Kessler

Ein alternatives Verständnis von Unsicherheit lässt sich in der Wiener Schule erken-nen. Gerade ihr Begründer, Carl Menger, versuchte einen Neuanfang der Nationalöko-nomik, indem er sich gegen die Arbeitsteilung als Ausgangspunkt für das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge wendete und stattdessen eine ihr vorgelagerte Wissens-teilung proklamierte. Nicht die Arbeitsteilung, sondern die Wissensverteilung erklärt den Wohlstand der Nationen. Diese Wissensteilung ist für Menger zum einen der Ausgangs-punkt für seine subjektive Werttheorie, die bis heute in der Ökonomik nachhallt, und andererseits für seine Theorie ökonomischer Institutionen. Nach Menger sind Institutio-nen sich ‚organisch entwickelnde Entitäten‘ und lassen sich daher nicht in mechanischen Kategorien (heute würde man wohl sagen: ‚mechanism design‘) beschreiben.

Auch wenn die Wiener Schule mehrere Kehrtwendungen und Neuanfänge aufzuwei-sen hat, so ist es doch gerade Friedrich August von Hayek, der ab den 1940er Jahren wieder verstärkt auf zentrale Einsichten von Carl Menger zurückgreift (siehe insbeson-dere Hayek 1945, auch 1936 als erster Hinweis). Ebenso wie Menger betont Hayek ab 1945 die gesellschaftliche Verteilung von Wissen als unüberbrückbaren Fakt wirtschaft-licher Aktivität und verweist dabei auf die unendliche Vielzahl an Möglichkeiten und Fähigkeiten in einer Gesellschaft. Diese Verteilung führt notwendigerweise dazu, dass jeder einzelne Akteur nur einen kleinen Teil des vorhandenen Wissens ‚besitzen‘ kann, wie er ausführt: „Die grundlegende Annahme ist hier wie überall die unbegrenzte Viel-falt der menschlichen Begabungen und Fähigkeiten und folglich die Unkenntnis des ein-zelnen Individuums um den größten Teil dessen, was sämtlichen weiteren Mitgliedern der Gesellschaft zusammengenommen bekannt ist“ (Hayek 1976, S. 27). Jeder einzelne selbst sieht sich somit einer immer herrschenden Unsicherheit gegenüber.

Niemals ist es für Akteure möglich, aus ihrer menschlichen Existenz herauszutreten, um das ‚Ganze‘ des Wissens zu erkennen. Im Gegensatz zur Konzeption von Unsicher-heit von Keynes und Knight kann die Unsicherheit nicht ausgeklammert, reduziert oder umgangen werden. Unsicherheit wird im Zuge wirtschaftlicher Aktivität immer wieder neu reproduziert. Jede Unsicherheitsabsorption geht einher mit einer Unsicherheitsrepro-duktion und – sogar – Unsicherheitssteigerung. Aus dieser Perspektive der Unsicherheit verbindet von Hayek seine Konzepte von Freiheit,6 Regeln7 und Institutionen.8

Hinter diesem Steigerungsverhältnis von Unsicherheitsabsorption und Unsicherheits-produktion steht ein sehr spezifischer Wissensbegriff: Wissen und Nichtwissen sind hier keine Gegensätze mehr, wobei wir stetig unser Nichtwissen reduzieren. Vielmehr geht Wissen mit einer Steigerung von Nichtwissen einher: Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir auch, was wir nicht wissen. Ebenso unterscheidet Hayek verschiedene Wis-sensformen: Neben dem wissenschaftlichen Wissen der Sätze, Theoreme und allgemei-ner Gesetzmäßigkeiten (knowing that), gibt es das praktische Wissen des Regelfolgens

6 „Freiheit bedeutet, dass wir in gewissem Maße unser Schicksal Kräften anvertrauen, die wir nicht beherrschen“ Friedrich von Hayek (2003, S. 49). Ebenso: „der Hauptzweck der Freiheit ist, sowohl die Gelegenheit als auch den Anreiz zu bieten, um die höchstmögliche Nutzung der Kenntnis zu sichern, die ein Einzelner erreichen kann.“ Friedrich von Hayek (1991, S. 100).

7 „Regeln sind ein Mittel, um mit unserer konstitutionellen Unwissenheit fertig zu werden.“ Friedrich von Hayek (2003, S. 23).

8 Siehe Friedrich von Hayek (1969, S. 249).

Der Konstruktivismus als Ansatz der Globalen Politischen Ökonomie? 43

(knowing how). Dieses praktische Wissen findet sich nicht in den Propositionen und Gesetzmäßigkeiten, sondern in den Regeln, Konventionen und Normen, wie Hayek aus-führt: „We need only remember how much we have to learn in any occupation after we have completed our theoretical training, … and how valuable an asset in all walks of life is knowledge of people, of local conditions, and special circumstances“ (Hayek 1969, S. 522). Hier zeigt sich, dass der Unsicherheitsbegriff bei Hayek, im Gegensatz zu Keynes, gerade die Beschränkungen der wissenschaftlichen Methode miteinbezieht, wie er bereits 1945 ausführt:

Today it is almost heresy to suggest that scientific knowledge is not the sum of all knowledge. But a little reflection will show that there is beyond question a body of very important but unorganized knowledge which cannot possibly be called scien-tific in the sense of knowledge of general rules: The knowledge of the particular circumstances of time and place. It is with respect to this that practically every indi-vidual has some advantage over all others in that he possesses unique information of which beneficial use might be made. (Hayek 1945, S. 521)

Hier scheint ein ganz wichtiger Baustein für eine konstruktivistische GPÖ zu liegen: Unsicherheit verweist eben nicht nur auf staatliche Kooperationsmuster einer ansons-ten rationalen Erklärung, sondern verweist – über die epistemologische Dimension von Unsicherheit – auf wichtige Fragen im Bereich der Sozialtheorie (insbesondere der Pra-xistheorien) und der Philosophie der Sozialwissenschaften (bzw. einer Soziologie von Wissenschaft). Wie lassen sich auf Basis dieser Überlegungen nun konkretere Fragestel-lungen in Bezug auf die ‚Politik‘ der Finanzmärkte formulieren?

5.2 Finanzialisierung, das Problem der Intersubjektivität und die Frage nach der Politik

Inzwischen gibt es zahlreiche Analysen zur Finanz- und Wirtschaftskrise, ihrer Dynami-ken und regulatorischen Konsequenzen. An dieser Stelle möchte ich gar nicht vertiefend auf die Krise selbst eingehen, sondern nur kursorisch auf das Problem der Finanzialisie-rung hinweisen. Mit Finanzialisierung wird die aktuelle Abkopplung und ‚Dominanz‘ der Finanzmärkte im heutigen globalen Kapitalismus beschrieben. Diese Dominanz drückt sich z. B. darin aus, wie selbst Industrieunternehmen ihre Profite erwirtschaften; im veränderten Geschäftsmodell der Banken (weg von Kredit und Zinsertrag, hin zu Investment-, Konsortial- und Beratungsgebühren); in den Reformen der Sozialversiche-rungen und einer zunehmenden Vereinnahmung außerökonomischer Bereiche durch die Finanzmärkte selbst, z. B. mit Blick auf Nahrung oder Umwelt. Aus dem Blickwinkel der Finanzialisierung heraus sehen sich die globalen Finanzmärkte selbst einer grund-legenden Transformation unterworfen, wie sie sich in der aktuellen – auch öffentlich-keitswirksamen – Debatte um die Ratingagenturen, Hedge Funds, Steueroasen und das Schattenbanksystem niederschlägt. Ohne diese aktuelle und sehr spezifische Konstella-tion von Ratingagenturen, Investmentbanken, Hedge Funds, Zweckgesellschaften und institutionellen Anlegern, die sich über Verbriefungspraktiken (meist von Hypotheken) auf neue Art und Weise miteinander in Beziehung gesetzt und die globalen Geldströme an dieser Stelle in den US Markt recycelt haben, wäre die aktuelle Krise nicht denkbar.

44 O. Kessler

Doch im Kern steckt in der Finanzialisierungsdebatte – so interdisziplinär und kom-plex sie vonstattengeht – eine einfache Frage: Welche Rolle hat der globale Finanzsektor eigentlich inne? Dass diese Frage genuin politisch ist, wird mit Blick auf die Rettungs-maßnahmen, die politische Instabilität und die sozialen Konflikte (inklusive des Wie-deraufstiegs radikaler Politik) in Europa sehr deutlich. Gleichzeitig zeigt sich, dass eine Gleichsetzung von ‚Politik‘ mit Staatlichkeit, dem Handeln staatlicher Akteure oder deren Machthunger an dieser Stelle deutlich zu kurz greift. Finanzialisierung lässt sich nicht auf Staaten reduzieren: Die epistemische Autorität von Ratingagenturen, der Einzug des Computerhandels, die Macht institutioneller Investoren oder Verbriefungspraktiken haben nur sekundär etwas mit staatlicher Macht oder Interessen zu tun.

Vielmehr steht hinter dieser Diskussion ein grundsätzliches Verständnisproblem: Im nationalen Kontext verstehen wir soweit, wie sich Wirtschaft, Politik, Recht und andere soziale Bereiche zueinander verhalten, welche Funktionen sie jeweils erfüllen, welche Institutionen diese Bereiche strukturell miteinander koppeln (z. B. Verfassungen) und welche Verzerrungen dabei eingeschrieben sind. Im globalen Zusammenhang fehlt uns dieses Wissen. So sind wir weit davon entfernt zu verstehen, welche Rolle das Recht in der Finanzialisierung spielt. Unbestritten ist doch, dass ohne eine rechtliche Fundierung auch Derivate nicht möglich wären; aber ob Regeln für eine Reformierung der Finanz-märkte auf der globalen Ebene genauso wirken wie im nationalen Kontext ist doch eher zweifelhaft. Analog verhält es sich mit der Globalfinanz. Ihre Abkopplung von der Real-wirtschaft wird heute kaum bestritten und kann als allgemeiner Konsens erachtet wer-den. Diese Finanzmärkte auf der globalen Ebene sind jedoch nicht analog zu nationalen Finanzmärkten zu verstehen. Welche Funktion Finanzmärkte hier überhaupt erfüllen – und wie sie andere Bereiche durchsetzen und auch nationale Kontexte verändern – ist noch eine zu beantwortende Frage.

Nimmt man aber die Veränderungen, Abkopplungen und die Globalität der Finanz-märkte – inklusive ihrer Transformationen von Raum und Zeit (Sassen 2012), ihre Mate-rialität (MacKenzie 2011) und Funktionalität (Luhmann 1988) – ernst, so zeigt sich, dass die Analyse nach dem ‚Politischen‘ logisch vor den ‚Raum‘ der Finanzmärkte selbst angesiedelt werden muss, d. h. sie kann nicht von einer gegebenen Rationalität ausgehen und muss sich von der Vorstellung gegebener Räume und Temporalitäten verabschieden. Wenn wir wirklich verstehen wollen, welche politischen Implikationen die Finanzkrise und die Finanzialisierung für uns bereithalten, dann reicht es nicht aus, sich mit dem Begriff des Politischen auf Regularien, internationale Organisationen und Staaten (und Märkte) zu konzentrieren. Vielmehr stellt sich doch die Frage, wie überhaupt die Finanz-märkte eine eigene Rationalität oder ‚Sphäre‘ darstellen können;9 wie mit der Identifika-tion dieser Rationalität schon bestimmte Akteure mit Kompetenzen ausgestattet und als Autorität anerkannt werden; wie spezifisches Wissen produziert wird und damit schon die Performanz von Wissenschaften konstitutiv für die Herausbildung und Dynamiken der Finanzmärkte selbst sind. Diese Fragen finden keine Antwort, solange wir von einer

9 Die Sphären oder Rationalitäten begrenzen die möglichen Argumente, die im Finanzbereich als rational oder relevant akzeptiert werden. Im Gegensatz zu normativen Fragen (wie etwa zur politischen Ausgestaltung gerechter Verhältnisse) stehen vielmehr Rationalitäten im Vorder-grund, die mit Effizienz, instrumenteller Rationalität oder Profit argumentieren.

Der Konstruktivismus als Ansatz der Globalen Politischen Ökonomie? 45

gegebenen ‚Realität‘, einer schon vorgefundenen Definition von Finanzmärkten ausge-hen, die eventuell dann noch ‚empirisch‘ vermessen werden sollen. Gerade die Präsenta-tion der Finanzmärkte als unpolitischer, privater Raum zeigt ja fast schon auf paradoxe Art und Weise ihre politische Dimension an.

Aus diesem Grund schlage ich vor, das ‚Politische‘ aus konstruktivistischer Perspek-tive konzeptionell mit den Prozessen der Realitätskonstruktion, der Stabilisierung von Beobachterperspektiven, Vokabularien und Interpretationen zu verbinden. Politische Ökonomie ist dann nicht „die Menge von Fragen, die sich aus dem Zusammenspiel von Staaten und Märkten“ ergibt (Gilpin 1987, S. 8, meine Übersetzung), sondern die Rea-litätskonstruktion, Performativität und produktive Macht von Wirtschaft. Ökonomisie-rung verweist auf die Institutionen, Akteure, Praktiken und Notwendigkeiten, die aus einem Sachverhalt, einer Krise, einem Ereignis einen ökonomischen Sachverhalt, eine Wirtschaftskrise und ein Wirtschaftsereignis machen. Finanzialisierung verweist analog dann auf die Prozesse, die einen Sachverhalt, eine Krise, ein Ereignis in einen finanz-marktlichen Sachverhalt, eine Finanzkrise und ein Finanzereignis überführen. Konst-ruktivistische Analysen bieten dann eine Rekonstruktion dieser strukturprägenden und konstitutiven Grenzziehungen und der Mechanismen der Inklusion und Exklusion. Sie zeigen die Marginalisierung und ‚Invisibilisierung‘ anderer Realitäten und Rationalitäten auf und verdeutlichen dabei die Verzerrungen, Verkürzungen und Machtbeziehungen, die sich damit ‚einschreiben‘, naturalisieren und dadurch unsichtbar werden. Konstruktivis-tische Rekonstruktionen versuchen daher, von der ‚Unwahrscheinlichkeit von Realität‘ auszugehen, um die Kontingenz der heutigen Realität aufzuzeigen und die damit ver-bundenen Prozesse, Strukturen und Operationen sichtbar zu machen. Um diesen Ansatz zu verdeutlichen möchte ich kurz auf zwei weiterführende, ‚empirisch anschlussfähige‘ Fragen verweisen: Auf die Frage nach kalkulativen Praktiken und Institutionen und auf die Frage nach Wissen, Macht und Politik der Expertise.

5.2.1 Kontingenz: kalkulative Praktiken und Institutionen

Wie bereits angedeutet, zeigt sich Finanzialisierung nicht nur in der spezifischen Art und Weise von Profitgenerierung, sondern auch in der Stabilisierung der Prozesse, auf deren Basis der Finanzmarkt als Realität dargestellt wird und eine eigene Operationa-lität aufweist. Diese Operationalität muss sich natürlich von anderen Bereichen unter-scheiden.10 Die Operationalität der Finanzmärkte ist unweigerlich mit Preisbildung verbunden. Hier stellt sich dann die Frage, wie Preise – als Kommunikationsmedium

10 Formal ausgedrückt geht es hier um die Stabilisierungsprozesse, auf deren Basis kommuni-kative Anschlussfähigkeit und damit in der Verbindung von Kommunikation Notwendig-keiten hergestellt werden können. So wird man in einem Kontext des Völkerrechts andere Argumentationen und Vorstellungen finden, als auf den Finanzmärkten. Argumentationen auf der Basis globaler Gerechtigkeit werden im Völkerrecht – zumindest teilweise – überzeugen können und Anschluss finden; Fragen der Effizienz hingegen sollten bei der Rechtsprechung keinen Anschluss finden und Urteile bestimmen. Bei Finanzmärkten wird es sich genau umge-kehrt verhalten: Hier bestimmen Effizienzgesichtspunkte die Diskussion und nicht Fragen der Gerechtigkeit. Genau hier zeigen sich dann die Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die Reproduktion einer spezifischen Rationalität und Realität.

46 O. Kessler

der Finanzmärkte – eine eigene Operationalität aufweisen und füreinander anschluss-fähig werden.11 Nach diesem Verständnis sind Preise nicht das Produkt von Angebot und Nachfrage, sondern werden durch Praktiken, durch die Verzahnung von Akteuren, Modellen und Instrumenten produziert und ermöglicht. Finanzialisierung verweist damit auch auf eine Veränderung von kalkulativen Praktiken. Ob dies durch die Performativität von spezifischen Formeln (Gauss-Kopula; Black-Scholes), das Auftreten neuer Akteure (Zweckgesellschaften und Hedge Funds), die Einschreibung von Ratings in die Verzah-nung von Akteuren und damit die soziale Matrix der Finanzmärkte; die neue Materialität von Trading-Büros, oder die Produktion von spezifischen Räumen und Temporalitäten verbunden wird: Finanzialisierung zeigt, dass sich das ‚institutionelle Gefüge‘, auf deren Basis Preise gebildet, reproduziert und ‚performed‘ werden, verändert und damit andere Preise, Kommunikationen und Realitäten produziert werden. Nicht die Materialität oder das Angebot und die Nachfrage von Häusern, Rohstoffen, Umwelt, Nahrungsmitteln oder anderen Gütern erklärt die veränderte Rolle, Bedeutung und Operationalität von Preisen, sondern eben die Finanzialisierung.

5.2.2 Die Politik der Expertise

Gleichzeitig sind in der Kommunikation durch Preise nur bestimmte Wissensformen rele-vant. Befindet man sich im Kontext der Finanzmärkte, wird das Wissen relevant, das sich in die Preisbildung, -kommunikation und ihre Performanz (meist unter dem Diktat von Knappheit und Effizienz) einschreiben kann. Das Wissen, beispielsweise von Völker-rechtlern, die sich nicht mit diesen Fragen (z. B. nicht mit der rechtlichen Seite der Ver-bindung von Organisationen und der rechtlichen Grundlage der Finanzprodukte selbst) beschäftigen, sondern sich über Normen, Verpflichtungen, Schuld, Sühne und Gerechtig-keit Gedanken machen, ist für die Finanzmärkte nur von sekundärem Interesse.

Damit zeigt sich aber auch, dass die Frage von Wissen, Macht und Autorität mit der Frage nach der spezifischen Realität und Operationalität von Finanzmärkten verbun-den ist. Nur mit Blick auf Preise, Kommunikation und Realitätskonstruktion lassen sich weiterführende Fragen von Autorität, Macht und Nichtwissensformen beantworten. Das bedeutet aber eben auch, dass die Repräsentation der Wirtschaftskrise in eine eigene Logik des Wirtschaftens übersetzt wird (mit anderen Worten: Unsicherheit in kategoriales Risiko absorbiert wird); und dass in diesem Moment bereits feststeht, welche Experten, welche Argumentationen und welche Form von Kritik überhaupt möglich und anschluss-fähig ist. Dann können Paul Krugman oder Joseph Stiglitz als Kritiker und Aufzeiger von Alternativen dienen (sie haben ja ihre Kompetenz bei Wirtschaftsfragen schon hinrei-chend erklärt), jedoch nicht die Anthropologen, Ethnographen, Stadtforscher, Soziologen oder Vertreter der anderen Disziplinen, die sich mit den sozialen Folgen, Ungleichheiten, Konflikten etc. beschäftigen. Diese generellen Überlegungen lassen sich zumindest in zwei Richtungen konkretisieren. Zum einen stellt sich nun natürlich die Frage, an wel-

11 Der Vorschlag lautet nun, dass dieser Unterschied von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft und die durch den Begriff von Finanzialisierung bezeichnete Bedeutungsverschiebung sich an der spezifischen Operationalität von Preisen festmachen lassen. Siehe hierfür auch Kessler (2012), Kessler und Wilhelm (2013).

Der Konstruktivismus als Ansatz der Globalen Politischen Ökonomie? 47

chen Stellen und anhand welcher Konzepte diese Übersetzung in eine Wirtschaftslogik organisiert wird. Im Zuge der Finanzkrise wurde z. B. deutlich, dass der Internationale Währungsfonds, das Financial Stability Board und die Bank für Internationalen Zah-lungsausgleich die Krise auf Informationsasymmetrien, falsche Anreize und Governance-Fehler zurückführen. Das sind Begriffe, die aus der modernen Mikroökonomik kommen und hier eine ganz spezifische Bedeutung haben.

Damit wird nicht nur die prinzipielle Stabilität globaler Finanzmärkte konstatiert, denn die Stabilität selbst ist ja den Finanzpraktiken äußerlich, sondern auch die weitere Dis-kussion wird in eine technische Debatte um die Lösung dieser Marktverzerrungen und Ineffizienzen übersetzt. Breitere sozialtheoretische Untersuchungen finden nicht statt. Dabei werden die Anreizproblematik, Informationsasymmetrien und Markt- und Gover-nancefehler als Ausgangspunkt der Krise selbst nicht empirisch überprüft, sondern als neutrale Beschreibung präsentiert: Eine Krise deutet auf Ineffizienzen, deren Ursache breit in den Wirtschaftswissenschaften diskutiert wurde, und die hier die notwendige Expertise bereitstellt. Daraus folgt ein klarer Arbeitsauftrag an eine konstruktivistische GPÖ, nämlich die Strukturprägekraft ökonomischer Begriffe und Unterscheidungen, mit denen Probleme, Ereignisse oder Situationen bezeichnet und erklärt werden, genauer in den Blick zu nehmen. Dabei ist von zentralem Interesse, wie diese Begriffe gebaut sind und welche Verzerrungen in die Architektur eingeschrieben sind. Zum einen kann man hier auf die bedeutende Rolle von Kapital und Arbeit verweisen; zum anderen aber auch auf Unsicherheit und Risiko.

Jedoch verweist der letzte Punkt bereits auf ein weiteres Problem: Es zeigt sich, dass die Politik der Expertise, die Frage nach Macht, (Nicht)Wissen, Autorität, letztlich auch eine Frage einer Soziologie der Wirtschaftswissenschaften, ihrer spezifischen Form der Wissensproduktion, ihre (ästhetischen) Zuschreibungsregeln von Expertise und ‚Qualität‘ beinhaltet. Letztlich ist die interne Organisation, die Frage nach Elitenbildung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, der institutionellen Hierarchie, Besetzung und Ausschluss interner Alternativen (heterodoxer Wissensformen) eine sehr politische Frage, denn hier lassen sich auch historisch die vergessenen Kontingenzen des heutigen ökonomischen Spracharsenals rekonstruieren.

6 Zusammenfassung

Dieser Beitrag fragte nach der Möglichkeit, den Grenzen und den Potentialen einer konst-ruktivistischen GPÖ. Für die Beantwortung dieser Fragen standen in erster Linie die interne Unterscheidung und die Spannung zwischen unterschiedlichen Spielarten des Konstrukti-vismus im Vordergrund. Unter Konstruktivismus in den GPÖ wird heute ein Ansatz ver-standen, der sich primär auf den Unsicherheitsbegriff von Keynes stützt. Hier zeigte sich jedoch, dass diese Strategie eigentlich die eigenständigen Konturen des Konstruktivismus verwischt und der Konstruktivismus dadurch zu sehr in die Nähe des logischen Positivis-mus gerückt wird. Dabei ist diese Verbindung über Keynes nicht nur für den Konstrukti-vismus, sondern auch für die Interpretation von Keynes problematisch: Zentrale Themen wie die kontrazyklische Wirtschaftspolitik wären nur schwer nachvollziehbar, würde man aus Keynes einen Konstruktivisten machen wollen. Dreht man den Unsicherheitsbegriff

48 O. Kessler

jedoch weiter und fragt nicht nur nach Prozessen der Unsicherheitsabsorption, sondern nimmt auch die Unsicherheitsproduktion in den Blick, dann rückt die Wiener Schule in den Blick. Hier zeigt sich, dass eine konstruktivistische GPÖ vor allem nur in der Verbindung zur Sozialtheorie zu denken ist, die Institutionen als performative Akte versteht und Politik bereits an der Strukturierung von Welt festmacht. Das Projekt einer konstruktivistischen GPÖ verortet sich damit zwischen Sozialtheorie, heterodoxer Ökonomik und Politischer Theorie. Ohne diesen interdisziplinären Zusammenhang ist eine konstruktivistische GPÖ kaum vorstellbar. Damit formuliert sie aber auch gleichzeitig den Anspruch, ein anderes Vokabular zur Analyse ökonomischer Sachverhalte zu formulieren. Sie kann sich nicht auf bestehende Konzepte der klassischen Ökonomik berufen, da diese gerade systematisch die Prozesse ausblendet, die den Konstruktivismus eigentlich primär interessieren.

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