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7 | 2009 1 DER RABE DES ELIJA Zeitschrift des Dritten Orden im Karmel Johannes Soreth ISSN 1861-4965 www.dritterordenimkarmel.de ludi divini Im letzten Jahr haben die Mitglieder des Dritten Orden Johannes Soreth zusammen mit einigen Künstlern die Ini- tiative zu einer Vereinsgrün- dung ergriffen: Der Verein ludi divini Musiktheater und christliche Spiritualität e.V. wurde aus der Taufe ge- hoben. Der Verein ist gemein- nützig und hat sich zum Ziel gesetzt, Kunst insbesondere durch Musiktheater im Be- reich der christlichen Spiri- tualität ideell und finanziell zu fördern. Kunst und christliche Spiri- tualität haben in der europä- ischen Kultur eine lange ge- meinsame Geschichte. Über weite Strecken ist diese Ge- schichte gekennzeichnet durch die Dominanz der Spiri- tualität. In der Moderne hat sich die Kunst allerdings aus der Vormundschaft der Spiri- tualität emanzipiert und hat in der Folge eigene Wege ge- sucht. Das waren oftmals We- ge der Konfrontation und des Konflikts mit der kirchlichen Institution. In der Postmo- derne hat sich das Blatt nun wiederum gewendet. Neu ist heute nicht nur, dass beide Disziplinen wieder zusam- menarbeiten, neu ist vor allem die Art der gemeinsamen Ar- beit, das Aufeinander-Zukom- men von Kunst und Spirituali- tät. Dies ist möglich geworden auf der Grundlage des ehrli- chen Interesses an der je ei- genen Kompetenz der ande- ren Disziplin. Spiritualität und Kunst stehen auf gleicher Au- genhöhe: Beide haben sich gegenseitig etwas zu sagen und helfen sich gegen- seitig in der Erfassung und Formulierung der menschlichen Grunder- fahrung, der sie sich hier zuwenden. Beide beteili- gen sich gemeinsam an einer vertieften Entdek- kung des Religiösen. An den Grenzen, wo Kunst und Spiritualität sich treffen, fordern sich bei- de gegenseitig zur Echtheit im Denken, im Fühlen und im Ausdruck heraus. LUDI divini Der Verein befasst sich zur Zeit mit den folgenden beiden Projekten: 1) Alte Mauern, Neue Klänge. In diesem Projekt sollen vor restaurierten Kirchen- und Klostergebäuden in Nord- rhein-Westfalen neue sakrale Klänge zu Gehör gebracht werden. 2) Die dunkle Stille. In diesem Projekt geht es um die wissen- schaftliche Aufarbeitung der gleichnamigen Produktion des Musiktheater Köln aus dem Jahre 2009. Für die Zukunft sind weitere Projekte geplant. Neue Mit- glieder können sich formlos anmelden bei Frau Dr. Elisa- beth Hense, Rehweg 15, 47533 Kleve, email: [email protected] Auch Anregungen werden hier gern entgegen genommen. Elisabeth Hense T.OCarm. und Paul Menting T.OCarm. 47533 Kleve Aus dem Inhalt ludi divini S. 1 Elisabeth Hense & Paul Menting Aufnahme von Barbara Schachtner in den Dritten Orden S. 2 Ursula Albrecht Brief Edith Steins an Pius XI S. 2 Edeltraud Klueting Die dunkle Stille Zukunft für my- stische Vergangenheit? S. 8 Elisabeth Hense Teresa von Avila Der Tod, die Liebe und der ewige Augenblick Gottes S. 15 Ursula Albrecht Supplement: S. 24 Jean de Saint-Samson Der Stachel, die Flammen, die Pfeile und der Spiegel der Gottes- liebe, geeignet die Seele in Gott verliebt zu machen, in Gott selbst übers. von Edeltraud Klueting

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7 | 2009

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DER RABE

DES ELIJA

Zeitschrift des Dritten Orden im Karmel – Johannes Soreth ISSN 1861-4965 www.dritterordenimkarmel.de

ludi divini

Im letzten Jahr haben die

Mitglieder des Dritten Orden

Johannes Soreth zusammen

mit einigen Künstlern die Ini-

tiative zu einer Vereinsgrün-

dung ergriffen: Der Verein

ludi divini – Musiktheater

und christliche Spiritualität

e.V. wurde aus der Taufe ge-

hoben. Der Verein ist gemein-

nützig und hat sich zum Ziel

gesetzt, Kunst insbesondere

durch Musiktheater im Be-

reich der christlichen Spiri-

tualität ideell und finanziell zu

fördern.

Kunst und christliche Spiri-

tualität haben in der europä-

ischen Kultur eine lange ge-

meinsame Geschichte. Über

weite Strecken ist diese Ge-

schichte gekennzeichnet

durch die Dominanz der Spiri-

tualität. In der Moderne hat

sich die Kunst allerdings aus

der Vormundschaft der Spiri-

tualität emanzipiert und hat

in der Folge eigene Wege ge-

sucht. Das waren oftmals We-

ge der Konfrontation und des

Konflikts mit der kirchlichen

Institution. In der Postmo-

derne hat sich das Blatt nun

wiederum gewendet. Neu ist

heute nicht nur, dass beide

Disziplinen wieder zusam-

menarbeiten, neu ist vor allem

die Art der gemeinsamen Ar-

beit, das Aufeinander-Zukom-

men von Kunst und Spirituali-

tät. Dies ist möglich geworden

auf der Grundlage des ehrli-

chen Interesses an der je ei-

genen Kompetenz der ande-

ren Disziplin. Spiritualität und

Kunst stehen auf gleicher Au-

genhöhe: Beide haben sich

gegenseitig etwas zu sagen

und helfen sich gegen-

seitig in der Erfassung

und Formulierung der

menschlichen Grunder-

fahrung, der sie sich hier

zuwenden. Beide beteili-

gen sich gemeinsam an

einer vertieften Entdek-

kung des Religiösen. An

den Grenzen, wo Kunst

und Spiritualität sich

treffen, fordern sich bei-

de gegenseitig zur Echtheit im

Denken, im Fühlen und im

Ausdruck heraus.

LUDI divini

Der Verein befasst sich zur

Zeit mit den folgenden beiden

Projekten:

1) Alte Mauern, Neue Klänge.

In diesem Projekt sollen vor

restaurierten Kirchen- und

Klostergebäuden in Nord-

rhein-Westfalen neue sakrale

Klänge zu Gehör gebracht

werden.

2) Die dunkle Stille. In diesem

Projekt geht es um die wissen-

schaftliche Aufarbeitung der

gleichnamigen Produktion des

Musiktheater Köln aus dem

Jahre 2009.

Für die Zukunft sind weitere

Projekte geplant. Neue Mit-

glieder können sich formlos

anmelden bei Frau Dr. Elisa-

beth Hense, Rehweg 15, 47533

Kleve,

email: [email protected]

Auch Anregungen werden hier

gern entgegen genommen.

Elisabeth Hense T.OCarm.

und Paul Menting T.OCarm.

47533 Kleve

Aus dem Inhalt

ludi divini S. 1

Elisabeth Hense & Paul Menting

Aufnahme von Barbara Schachtner

in den Dritten Orden S. 2

Ursula Albrecht

Brief Edith Steins an Pius XI S. 2

Edeltraud Klueting

Die dunkle Stille – Zukunft für my-

stische Vergangenheit? S. 8

Elisabeth Hense

Teresa von Avila – Der Tod, die

Liebe und der ewige Augenblick

Gottes S. 15

Ursula Albrecht

Supplement: S. 24

Jean de Saint-Samson

Der Stachel, die Flammen, die

Pfeile und der Spiegel der Gottes-

liebe, geeignet die Seele in Gott

verliebt zu machen, in Gott selbst

übers. von Edeltraud Klueting

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Aufnahme von Barbara

Schachtner T.OCarm in den

Dritten Orden Johannes

Soreth

Erst wo wir erahnen, dass

Gott nicht etwas, sondern al-

les ist; und darin so aussieht,

als wäre er nichts, nähern

wir uns dem Geheimnis Got-

tes.

Diese Aussage von Karl Rah-

ner hast Du Dir ausgesucht,

liebe Barbara.

Barbara Schachtner steht vor P.

Martin Segers O.Carm

Als wäre er nichts – in diesem

nichts, das ein Alles ist, ist

auch Dein Weg geborgen und

verborgen.

Du wirst heute in

den Karmel ein-

treten, in wel-

chem Du Deinen

Weg in seiner und

in Deiner Verbor-

genheit, weiter

gehst.

Dein Eintritt er-

forderte Dein

ganzes JA. Deine

innere Entwick-

lung wird heute in

eine Form ge-

führt, die aus

Deinem tiefen Bedürfnis nach

Liebe und Freiheit entstanden

ist.

Eine Ordensgemeinschaft

zeigt einen Weg auf. Du hast

Dir eine Gemeinschaft ge-

wählt, die aus Einsiedlern am

Berg Karmel bei Haifa in Is-

rael hervorging und die als

einzige Ordensgemeinschaft

keinen Ordengsgründer hat.

Die Karmeliten betrachten

aber das Leben des Propheten

Elija und das Leben der Mut-

ter Gottes.

Das Eremitische zog Dich in

den Karmel. Der Schatz der

Abgeschiedenheit, das Ge-

trennt von Allen und vereint

mit Allen. Dieses Dasein setzt

die Nüchternheit der Liebe

voraus. Denn der Einsiedler

ist nicht mit sich, sondern mit

Gott allein.

In dem Wort ‚Orden‘ ist ord-

nen, ist Ordnung enthalten,

die Ordensregel, nach der Du

leben wirst – solange, bis ER

die Liebe in Dir geordnet hat

und Du über alles hinaus ge-

zogen wirst.

Vor 16 Jahren sind wir uns

zum erstenmal begegnet. In

der Hochschule für Musik in

Köln, wo Du aus Bayern

kommend, mit 17 Jahren ein

Gesangsstudium begonnen

hast. Du hast Dich schon in

dieser Zeit dem Abgründigen

nähern müssen, der Entgren-

zung. Dem Ganz-und-Gar.

Das Unbequeme suchend,

schautest Du zuerst wie ein

Zaungast auf und in alles

Schillernde, Verführende.

Der Hunger nach Dir selbst

trieb Dich in die Kunst, in

welcher eine hohe Aufmerk-

samkeit, also Selbsterkenntnis

gefordert ist – und als der

Heilige Geist Dich nicht in

Ruhe ließ und in Dir rüttelte,

war nichts mehr bequem.

Nichts genügte mehr. ER

fasste Deine Mitte mehr und

mehr in seiner Mitte zusam-

men...

Das unstillbare Bedürfnis

nach tief unten und nach

hoch oben – und der Einheit

darin, brachte Dich hierher, es

lässt Dich heute an dieser

Stelle stehen.

Damit klopfst Du ganz und

gar mit Deinem Herzen an

sein Herz – und wir machen

Dir jetzt unsere Tür auf und

sagen das zu Dir, was die Lie-

be unentwegt im verborgenen

ausspricht: „Komm meine

Braut, komm vom Libanon

her, komm, und lass Dich be-

kränzen.“

Ansprache von Ursula Alb-

recht T.O.Carm zum Eintritt

von Barbara Schachtner

T.O.Carm in den Karmel, am

26. Juni 2009 im Karmeliten-

kloster in Mainz.

Der Brief Edith Steins an Pius

XI.

Ein Beitrag zu seiner Entste-

hungsgeschichte

„Heiliger Vater!

Als ein Kind des jüdischen

Volkes, das durch Gottes

Gnade seit elf Jahren ein Kind

der katholischen Kirche ist,

wage ich es, vor dem Vater der

Christenheit auszusprechen,

was Millionen von Deutschen

bedrückt.

Barbara Schachtner und P. Martin unterschreiben

das Versprechen

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Seit Wochen sehen wir in

Deutschland Taten geschehen,

die jeder Gerechtigkeit und

Menschlichkeit – von

Nächstenliebe gar nicht zu re-

den – Hohn sprechen. Jahre

hindurch haben die national-

sozialistischen Führer den

Judenhass gepredigt. Nach-

dem sie jetzt die Regierungs-

gewalt in ihre Hände gebracht

und ihre Anhängerschaft –

darunter nachweislich verbre-

cherische Elemente – bewaff-

net hatten, ist diese Saat des

Hasses aufgegangen. Dass

Ausschreitungen vorgekom-

men sind, wurde noch vor

kurzem von der Regierung zu-

gegeben. In welchem Umfang,

davon können wir uns kein

Bild machen, weil die öffentli-

che Meinung geknebelt ist.

Aber nach dem zu urteilen,

was mir durch persönliche

Beziehungen bekannt gewor-

den ist, handelt es sich kei-

neswegs um vereinzelte Aus-

nahmefälle. Unter dem Druck

der Auslandsstimmen ist die

Regierung zu „milderen“ Me-

thoden übergegangen. Sie hat

die Parole ausgegeben, es solle

„keinem Juden ein Haar ge-

krümmt werden“. Aber sie

treibt durch ihre Boykotter-

klärung – dadurch, dass sie

den Menschen wirtschaftliche

Existenz, bürgerliche Ehre

und ihr Vaterland nimmt –

viele zur Verzweiflung: es sind

mir in der letzten Woche

durch private Nachrichten 5

Fälle von Selbstmord infolge

dieser Anfeindungen bekannt

geworden. Ich bin überzeugt,

dass es sich um eine allgemei-

ne Erscheinung handelt, die

noch viele Opfer fordern wird.

Man mag bedauern, dass die

Unglücklichen nicht mehr

inneren Halt haben, um ihr

Schicksal zu tragen. Aber die

Verantwortung fällt doch zum

grossen Teil auf die, die sie so

weit brachten. Und sie fällt

auch auf die, die dazu schwei-

gen.

Brief, Seite 2

Alles, was geschehen ist und

noch täglich geschieht, geht

von einer Regierung aus, die

sich „christlich“ nennt. Seit

Wochen warten und hoffen

nicht nur die Juden, sondern

Tausende treuer Katholiken in

Deutschland – und ich denke,

in der ganzen Welt – darauf,

dass die Kirche Christi ihre

Stimme erhebe, um diesem

Missbrauch des Namens Chri-

sti Einhalt zu tun. Ist nicht

diese Vergötzung der Rasse

und der Staatsgewalt, die täg-

lich durch Rundfunk den

Massen eingehämmert wird,

eine offene Häresie? Ist nicht

der Vernichtungskampf gegen

das jüdische Blut eine Schmä-

hung der allerheiligsten

Menschheit unseres Erlösers,

der allerseligsten Jungfrau

und der Apostel? Steht nicht

dies alles im äussersten

Gegensatz zum Verhalten un-

seres Herrn und Heilands, der

noch am Kreuz für seine Ver-

folger betete? Und ist es nicht

ein schwarzer Flecken in der

Chronik dieses Heiligen Jah-

res, das ein Jahr des Friedens

und der Versöhnung werden

sollte?

Wir alle, die wir treue Kinder

der Kirche sind und die Ver-

hältnisse in Deutschland mit

offenen Augen betrachten,

fürchten das Schlimmste für

das Ansehen der Kirche, wenn

das Schweigen noch länger

anhält. Wir sind auch der

Überzeugung, dass dieses

Schweigen nicht imstande

sein wird, auf die Dauer den

Frieden mit der gegenwärti-

gen deutschen Regierung zu

erkaufen. Der Kampf gegen

den Katholizismus wird vor-

läufig noch in der Stille und in

weniger brutalen Formen ge-

führt wie gegen das Juden-

tum, aber nicht weniger sys-

tematisch. Es wird nicht mehr

lange dauern, dann wird in

Deutschland kein Katholik

mehr ein Amt haben, wenn er

sich nicht dem neuen Kurs

bedingungslos verschreibt.

Zu Füssen Eurer Heiligkeit,

um den Apostolischen Segen

bittend

Dr. Editha Stein

Dozentin am Deutschen Insti-

tut für wissenschaftliche Pä-

dagogik

Münster i.W.,

Collegium Marianum“1

Bis zum 15. Februar 2003 war

der Brief in seinem Wortlaut

nicht bekannt. Er wird in ei-

nem Bestand des Vatikani-

schen Geheimarchivs aufbe-

wahrt, der Archivalien über

die Beziehungen des Vatikan

zu Deutschland zwischen 1922

und 1939 enthält. Sie waren

bis Mitte Februar 2003 für die

Benutzung verschlossen. Erst

nach der Teilöffnung des

Archivs für die wissenschaftli-

che Forschung durch Papst

1 Archivio Segreto Vaticano, AES, Germania, Pos. 643, fasc. 158, f. 16/17.

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Johannes Paul II. zum 15.

Februar 2003 wurde dieses

wichtige Dokument inhaltlich

näher bekannt. Der Brief

Edith Steins erschien in Ta-

geszeitungen, er wurde erör-

tert und kommentiert und

Gegenstand geschichtswissen-

schaftlicher Darstellungen.2

Von der bloßen Existenz die-

ses Briefes wußte man jedoch

schon lange aus den autobio-

graphischen Aufzeichnungen

der Schreiberin aus dem Jahr

1938: „Ich weiß, daß mein

Brief dem Heiligen Vater ver-

siegelt übergeben worden ist;

ich habe auch einige Zeit da-

nach seinen Segen für mich

und meine Angehörigen er-

halten. Etwas anderes ist

nicht erfolgt. Ich habe aber

später oft gedacht, ob ihm

nicht dieser Brief noch

manchmal in den Sinn kom-

men mochte. Es hat sich näm-

lich in den folgenden Jahren

Schritt für Schritt erfüllt, was

ich damals für die Zukunft der

Katholiken in Deutschland

voraussagte.“3

Edith Stein war sicher eine

der bedeutendsten Frauen des

20. Jahrhunderts.4 Geht man

2 Genannt seien hier insbesondere M. Amata Neyer OCD, Der Brief Edith Steins an Papst Pius XI. Ver-such einer Dokumentation. In: Edith Stein Jahrbuch 10, 2004 S. 11-29; Konrad Repgen, Hitlers „Machtergreifung“, die christlichen Kirchen, die Judenfrage und Edith Steins Eingabe an Pius XI. vom [9.] April 1933. In: Ebda., S. 31-68. 3 Edith Stein Gesamtausgabe (ESGA), Bd. 1: Aus dem Leben ei-ner jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge. Neu bearb. und eingeleitet von M. Amata Neyer OCD. Frei-burg/Basel/Wien 2002. Darin: Wie ich in den Kölner Karmel kam [1938], S. 345-362, hier S. 348f.. 4 Die Fülle der Literatur zu Leben und Werk Edith Steins kann an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden; hingewiesen sei lediglich auf die konzise Studie von Harm

in Köln vom Hauptbahnhof

aus in Richtung auf St. Gereon

zu, dann passiert man in der

Höhe des Priesterseminars an

der Kardinal-Frings-Straße

eine Skulptur, die 1999 von

Bert Gerresheim geschaffen

wurde. Das Denkmal zeigt

Edith Stein, aufgestellt wurde

es nach ihrer Heiligsprechung

(11. Oktober 1998) bzw. nach-

dem sie im Jahr 1999 zur Pat-

ronin Europas erklärt wurde.

Edith Stein wurde am 12. Ok-

tober 1891 als Tochter des

Kaufmanns Siegfried Stein

und seiner Frau Auguste geb.

Courant in Breslau geboren.

Sie war preußische Staatsan-

gehörige und Jüdin. In ihrer

autobiographischen Schrift

„Aus dem Leben einer jüdi-

schen Familie“ berichtete sie

was sie „als jüdisches Men-

schentum erfahren“ hatte.5

Die Atmosphäre ihres Eltern-

hauses war geprägt von der

gläubigen, gesetzestreuen

Religiösität der Mutter. Aber

die 14-jährige Schülerin ver-

ließ die Bahnen der religiösen

Erziehung: „Ich habe mir das

Beten ganz bewußt und aus

freiem Entschluß abge-

wöhnt“,6 sagte sie später über

diese Zeit. Sie bezeichnete

sich selbst als Atheistin7 und

beschrieb damit ihre Orientie-

rungslosigkeit und Suche nach

der Wahrheit. Sie galt als

hochbegabte Schülerin und

Studentin. Abitur, Staatsexa-

Klueting, Edith Stein und Dietrich Bonhoeffer. Zwei Wege in der Nachfolge Christi. Leutesdorf 2004 (mit einer umfassenden Bibliogra-phie) sowie auf die Darstellung von Edith Steins Zeit in Münster: Eli-sabeth Lammers, Als die Zukunft noch offen war. Edith Stein – das entscheidende Jahr in Münster. Münster 2003. 5 Aus dem Leben einer jüdischen Familie (wie Anm. 3), S. 3. 6 Aus dem Leben einer jüdischen Familie (wie Anm. 3), S. 109. 7 Klueting, Edith Stein (wie Anm. 4), S. 21.

men und Doktorarbeit wur-

den mit Höchstprädikaten

bewertet. Sie begann ein Stu-

dium der Philosophie, weil sie

sicher war, dazu die geeigne-

ten Anlagen mitzubringen.

Edith Stein als Lehrerin in Speyer 1926

Die Studienjahre in Göttingen

brachten Begegnungen mit

den Philosophen und

Phänomenologen Husserl,

Reinach, Scheler, Hedwig

Conrad-Martius – sie ver-

mittelten ihr den Sinn für das

Transzendente, für religiöse

Erfahrungen und Entschei-

dungen.

Die Lektüre der Schriften Te-

resas von Avila bereitete

schließlich die Entscheidung

vor. Am 1. Januar 1922 wurde

sie durch die Taufe in die ka-

tholische Kirche aufgenom-

men. Das ist ein Anhaltspunkt

für die Datierung des Briefes,

in dem sie schreibt, sie sei seit

elf Jahren ein Kind der katho-

lischen Kirche. Demnach ist er

in das Jahr 1933 zu datieren.

Zu dieser Zeit hatte sie bereits

Beachtliches an eigenen phi-

losophischen Arbeiten gelei-

stet. Ihre Bemühungen, sich

an einer Universität zu habili-

tieren, scheiterten jedoch. So

entschied sie sich für andere

Weisen der Bildungsarbeit,

wurde Lehrerin am Lyzeum

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der Dominikanerinnen und an

der Lehrerinnenbildungsan-

stalt in Speyer, später Dozen-

tin am Deutschen Institut für

wissenschaftliche Pädagogik

in Münster. An diesem Fort-

bildungsinstitut für katholi-

sche Lehrerinnen und Lehrer

arbeitete sie in der Zeit, als sie

die Eingabe an Pius XI. ver-

fasste. Große Resonanz erfuhr

sie bei ihrer Vortragstätigkeit

in den großen katholischen

Verbänden; zugleich publi-

zierte sie die Ergebnisse ihrer

wissenschaftlichen Studien

und Übersetzungen.

Schließlich trat Edith Stein am

14. Oktober 1933 in Köln in

den Orden der Allerseligsten

Jungfrau Maria vom Berge

Karmel (Unbeschuhte Karme-

litinnen) ein, ein halbes Jahr,

nachdem sie die Supplik an

Papst Pius XI. verfasst hatte.

„Seit fast 12 Jahren war der

Karmel mein Ziel“, erklärt sie

in ihrer autobiographischen

Schrift. Und sie fügt hinzu:

„Als ich am Neujahrstage 1922

die hl. Taufe empfing, dachte

ich, daß dies nur die Vorberei-

tung zum Eintritt in den Or-

den sei.“8 Edith Stein trug im

Orden den Namen Sr. Teresia

Benedicta a Cruce. Sie hatte

sich diesem Namen erbeten.

Unter dem Kreuz verstand sie

das Schicksal des jüdischen

Volkes, das sich abzuzeichnen

begann und das sie in ihrem

Brief hellsichtig auch für die

Katholiken vorhersah.

Am 21. April 1938 legte Edith

Stein die Ewigen Gelübde ab

und siedelte im selben Jahr

nach Echt in Holland über,

um die Schwestern in Köln

durch ihre Anwesenheit im

Kloster nicht in Gefahr zu

bringen. Als mit der deut-

schen Besetzung auch dort die

Judenverfolgungen begannen,

8 Wie ich in den Kölner Karmel kam (wie Anm. 3), S. 350f.

wurde sie verhaftet und ver-

schleppt. Am 9. August 1942

wurde Edith Stein zusammen

mit ihrer Schwester Rosa in

den Gaskammern von Au-

schwitz-Birkenau ermordet.

Papst Pius XI.

Gerichtet war die Eingabe an

Papst Pius XI. (Achille Ratti),

der sein Pontifikat am 23. De-

zember 1922 mit der Enzykli-

ka „Pax Christi in regno Chri-

sti“ begonnen hatte, mit Mus-

solini 1929 die Lateran-

verträge abschloss und da-

durch die Souveränität des

Kirchenstaates sicherte – er

ist der Papst, der mit Hitler

das Reichskonkordat ab-

schloss und der 1937 mit der

Enzyklika „Mit brennender

Sorge“, Ardente cura, die na-

tionalsozialistische Ideologie

verurteilte.

Wie man unschwer erkennen

kann, trägt der Brief Edith

Steins kein Datum. Die Frage

nach seiner Datierung ist seit

seinem Bekanntwerden mehr-

fach erörtert worden, wobei

allerdings nicht alle Einzelhei-

ten seiner Entstehungsge-

schichte hinreichend gewür-

digt wurden. Deshalb soll die-

se Frage hier noch einmal

erörtert werden. Edith Stein

hatte sich in den Wochen vor

Ostern 1933 mit dem Gedan-

ken getragen, „nach Rom zu

fahren und den Heiligen Vater

in Privataudienz um eine En-

zyklika zu bitten“, wie wir aus

ihrer 1938 verfassten Auto-

biographie wissen.9 Sie

schrieb diesen autobiographi-

schen Bericht unter dem Titel

„Wie ich in den Kölner Karmel

kam“ mit einem Abstand von

fünf Jahren zu den geschilder-

ten Ereignissen. Sie führt aus,

dass sie diese Absicht einer

Romreise mit Raphael Walzer,

dem Abt des Benediktinerklo-

sters Beuron, besprach. Zu

ihm hatte sie großes Vertrau-

en, er war ihr Beichtvater und

geistlicher Begleiter, und sie

hörte auf seinen Rat. Vom 7.

bis zum 18. April 1933 hielt sie

sich in Beuron auf und feierte

dort Ostern mit. Der Beuroner

Erzabt, der mit den Gepflo-

genheiten des Hl. Stuhles ver-

traut war, wies sie drauf hin,

dass sie wegen des großen

Andrangs – 1933 wurde als

Heiliges Jahr begangen zur

Erinnerung an den Tod Chri-

sti vor 1900 Jahren – keine

Aussicht auf eine Privatau-

dienz hätte. Deshalb verzich-

tete sie auf die Reise und die

persönliche Übergabe ihrer

Supplik an den Papst oder den

Kardinalstaatssekretär Pacelli.

Sie kehrte am 19. April 1933

nach Münster zurück und gab

an diesem Tag, veranlasst

durch ein Gespräch mit dem

Geschäftsführer des Instituts

für wisssenschaftliche Päda-

gogik, ihre Dozentenlaufbahn

auf.10

Wie aber kam ihre Eingabe,

ihr Brief nach Rom? Er war

ihr zu wertvoll, als dass sie ihn

einfach in den nächsten Brief-

kasten geworfen hätte. Wenn

schon nicht von ihr selbst, 9 Wie ich in den Kölner Karmel kam (wie Anm. 3), S. 347. 10 Wie ich in den Kölner Karmel kam (wie Anm. 3), S. 349.

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dann sollte doch eine ver-

trauenswürdige Persönlich-

keit das Schriftstück dem

Papst oder seinem Kardinal-

staatssekretär überreichen. Da

Erzabt Raphael Walzer kurz

nach Ostern für die Zeit vom

25. bis 28. April 1933 in Or-

densangelegenheiten nach

Rom an der Heiligen Stuhl

reisen wollte,11 vertraute sie

ihm den Brief an. Die Termi-

nierung seiner Reise lässt sich

aus der Klosterchronik der

Erzabtei Beuron entnehmen.

Edith Stein sagt in ihren Auf-

zeichnungen dazu: „Ich weiß,

dass mein Brief dem Heiligen

Vater versiegelt übergeben

worden ist; ich habe auch ei-

nige Zeit danach seinen Segen

für mich und meine Angehö-

rigen erhalten.“

Erzabt Raphael Walzer OSB

Erzabt Raphael Walzer fügte

der Supplik ein Begleitschrei-

ben bei,12 das in seinem Stil

eine gewisse Distanz zu der

11 Neyer, Der Brief Edith Steins (wie Anm. 2), S. 16f. 12 Archivio Segreto Vaticano, AES, Germania. Pos. 643, fasc. 158, f. 15. Konrad Repgen hat in seinem Auf-satz „Hitlers Machtergreifung...“ (wie Anm. 2) die Angaben zur Foliierung beider Schreiben irr-tümlich vertauscht, S. 59, Anm. 99.

Person Edith Stein enthält. Er

gab mit keinem Wort zu er-

kennen, dass sie sein Beicht-

kind war, dass sie regelmäßig

zu Exerzitien nach Beuron

kam, dass sie mit ihm schon

längst über ihren Wunsch ge-

sprochen hatte, in einen Or-

den einzutreten. Er verfasste

sein Begleitschreiben völlig

neutral wie ein Notar. Er leite-

te es ein: „Eine Bittstellerin

hat mich inständigst gebeten,

den beigefügten Brief, den sie

mir versiegelt übergab, an

Seine Heiligkeit weiterzulei-

ten.“13 Erzabt Raphael Walzer

stellte dann die berufliche Tä-

tigkeit Edith Steins kurz vor

und fügte eine knappe Ein-

schätzung der Lage der Juden

und der Katholiken in

Deutschland aus seiner Sicht

an. Insgesamt beurteilte er die

Lage nicht anders als sie. Sein

Begleitschreiben richtete er an

Seine Eminenz, den Staats-

sekretär des Vatikans, Euge-

nio Kardinal Pacelli, den spä-

teren Papst Pius XII. Das Be-

gleitschreiben datiert vom 12.

April 1933, die Eingangsbestä-

tigung Kardinal Pacellis

stammt vom 20. April. Daraus

ist zu schließen, dass der

Beuroner Abt das Schreiben

dem Kardinalstaatssekretär

nicht persönlich während sei-

nes eigenen Aufenthalts (25.-

28. April) übergeben hat,14

sondern dass er es selbst auch

13 Wiedergabe in deutscher Über-setzung; das Schreiben ist in latei-nischer Sprache verfasst. 14 Darauf hat bereits Konrad Repgen hingewiesen, siehe Repgen, Hitlers „Machtergreifung“ (wie Anm. 2), S. 59 Anm. 99; jüngst auch Katharina Oost, In caritate Dei. Raphael Walzer und Edith Stein. In: Jakobus Kaffanke OSB, Joachim Köhler (Hg.), Mehr nüt-zen als herrschen! Raphael Walzer OSB, Erzabt von Beuron, 1918-1937. Münster 2008 (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 17), S. 333-360, hier S. 354.

durch eine dritte Person

weitergeleitet hat. Weiteres ist

darüber nicht bekannt. Für

die Übergabe des Briefes

kommen somit nur wenige

Tage zwischen dem 12. und

dem 20. April 1933 in Frage.

Wann aber hat Edith Stein ih-

ren Brief abgefasst? Der Zeit-

raum, wann sie ihn unter-

schrieben hat, lässt sich auf

wenige Tage eingrenzen – das

war in den Tagen zwischen ih-

rer Ankunft in Beuron am 7.

April und der Abfassung des

Begleitschreibens von Erzabt

Raphael am 12. April 1933.

Konrad Repgen formuliert

vorsichtig, dass er „vermutlich

vom 9. April 1933 datiert“.15

Doch wird sie den Brief wohl

kaum in diesen Tagen im Klo-

ster Beuron formuliert und

eine Reinschrift in die

Schreibmaschine geschrieben

haben. Eine Reiseschreibma-

schine besaß sie nicht,16 und

im Kloster Beuron wird man

für Gäste keine Schreibma-

schine bereitgehalten haben.

Mir erscheint eine andere

Entstehungsgeschichte als

wahrscheinlich. Edith Stein

hat ihr Anliegen bereits vor

ihrer Abreise in Münster for-

muliert und brachte den ma-

schinengeschriebenen Ent-

wurf für eine Eingabe an den

Hl. Stuhl mit nach Beuron.

Und zwar, um im Gespräch

den Rat von Erzabt Raphael

einzuholen und das Schreiben

dann gegebenenfalls noch

einmal zu ändern. Dann hätte

sie von dem möglicherweise

geänderten Brief daheim in

15 Repgen, Hitlers „Machtergrei-fung“ (wie Anm. 2), S. 66. 16 Die Schreibmaschine, mit der sie ihre Arbeiten erledigte, steht in der Bibliothek des Karmel von Echt, Abbildung bei Lammers, Als die Zukunft noch offen war (wie Anm. 4), S. 188.

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Münster eine maschinen-

schriftliche Reinschrift ange-

fertigt und ihn – nach ihrem

ursprünglichen Plan – selbst

nach Rom gebracht. Doch es

kam ja anders, und Erzabt

Raphael nahm den Brief un-

mittelbar an sich, um ihn an

seinen Empfänger weiterzulei-

ten. Damit wird auch ver-

ständlich, warum Edith Stein

nicht nur ihre Unterschrift,

sondern auch die Erläuterun-

gen zu ihrer Person hand-

schriftlich nachgetragen hat,

was in einem solchen Schrei-

ben gänzlich ungewöhnlich

ist. Schließlich klärt sich auch

auf, warum ihr Brief nicht da-

tiert ist und keine korrekte

Absenderangabe trägt. Dem

Stil der Zeit entsprechend,

hätte sie am Kopf des Briefes

ihren Namen, ihre Anschrift

und das Datum vermerkt. De-

ren Fehlen ist eine Nachläs-

sigkeit, die ihr als korrekter

Wissenschaftlerin sonst nie

unterlaufen ist. Noch einmal

deutlich gesagt: Edith Stein

hat einen Entwurf für eine

Supplik aus Münster mit nach

Beuron gebracht und dieses

Konzept dann bei oder nach

dem Gespräch mit Erzabt Ra-

phael wohl in aller Eile unter-

schrieben. Damit wurde der

Briefentwurf zur Reinschrift.17

In dem ersten längeren Ab-

schnitt ihres Briefes be-

schreibt Edith Stein die Fol-

gen der antijüdischen Aus-

schreitungen und des „Boy-

kotts“ vom 1. April 1933 mit

bewegenden Worten und er-

wähnt fünf Selbstmorde, von

denen sie gehört habe. Daran

knüpft sie die unerbittliche

Frage, wer für diese menschli-

chen Tragödien verantwort-

lich sei. Ihr Fazit lautet: Zum

17 Repgen vermisst zu Recht „Vo-rentwürfe“, Hitlers „Machtergrei-fung“ (wie Anm. 2), S. 59.

Edith Stein im Jahr 1931

großen Teil fällt die Verant-

wortung „auch auf die, die da-

zu schweigen.“ Damit ist der

Papst angesprochen. Er darf

nicht schweigen. Was erwartet

sie aber vom Papst? Edith

Stein bittet nicht direkt um

eine Enzyklika, was ursprüng-

lich einmal ihr Plan gewesen

war, sondern sie verbirgt die-

ses Anliegen hinter der Schil-

derung der bedrückenden Si-

tuation in Deutschland. Vor

allem aber bittet sie den Papst

darum, sein Schweigen zu

brechen. Sie stellt ihm die Si-

tuation der Juden in Deutsch-

land vor Augen und verleiht

ihren Befürchtungen Aus-

druck, dass der Kampf des na-

tionalsozialistischen Regimes

sich gleichermaßen auf die

Katholiken ausdehnen werde.

Ein Satz ist aber eine schal-

lende Ohrfeige für den Papst,

der sein Pontifikat unter das

Wort „Der Friede Christi im

Reich Christi“ gestellt hat:

„Wir sind auch der Überzeu-

gung, dass dieses Schweigen

nicht imstande sein wird, auf

die Dauer den Frieden mit der

gegenwärtigen deutschen Re-

gierung zu erkaufen.“ Diesen

Satz zu schreiben erfordert

Mut – ihn dem Papst direkt zu

schreiben, erfordert noch

mehr Mut, als ihn in einem

Brief an eine gute Freundin zu

äußern.

Edith Stein erwartete von dem

Papst als dem obersten Glau-

bens- und Sittenrichter der

Kirche allerdings auch keine

diplomatisch-unverbindliche

Äußerung, wenn die Kirche

Christi ihre Stimme erhebt.

Sie erwartete eine lehramtli-

che Verlautbarung, die „dem

Missbrauch des Namens Chri-

sti Einhalt gebieten“ sollte.

Der Papst sollte klarstellen,

dass eine Regierung, die der-

artige Ausschreitungen orga-

nisiert oder zulässt, nicht das

Recht hat, sich „christlich“ zu

nennen. Edith Stein forderte

damit eine päpstliche Zu-

rückweisung der Berufung des

NS-Regimes auf das Christen-

tum, wie sie Hitler am 23.

März 1933 im Reichstag vor-

getragen hatte. Hingegen

nahmen die deutschen Bi-

schöfe am 28. März 1933 in

ihrer Erklärung zum Thema

„Kirche und Nationalsozialis-

mus“ diese scheinbar kirchen-

freundliche Haltung Hitlers

zum Anlass, die früheren Ver-

bote und Warnungen vor dem

Nationalsozialismus teilweise

zurückzuziehen. Wie Konrad

Repgen herausgestellt hat,

ging es Edith Stein um eine

lehramtliche Aussage zur

„Christlichkeit“ oder „Un-

christlichkeit“ der Berliner

Reichsregierung: Sie erwarte-

te eine deutliche Distanzie-

rung. Wie sie feststellt, ist die

Vergötzung der Rasse und der

Staatsgewalt, wie sie sich in

Deutschland ständig ereignet,

häretisch – und dagegen for-

derte sie das Einschreiten des

päpstlichen Lehramtes.

Die historische Situation, in

der Edith Stein ihren Brief

schrieb, war die Zeit der Ver-

tragsverhandlungen zwischen

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der nationalsozialistischen

Regierung des Deutschen Rei-

ches und dem Heiligen Stuhl.

Die Verhandlungen waren in

der ersten Aprilwoche 1933 in

Rom in Gang gekommen. Der

Hitler-Regierung war an ei-

nem solchen Abkommen gele-

gen, vor aller Welt mit der ka-

tholischen Kirche ein Konkor-

dat zu schließen. Verhand-

lungsführer waren auf

deutscher Seite der Vizekanz-

ler Hitlers, Franz von Papen,

und Prälat Ludwig Kaas, der

ehemalige Vorsitzende der

Zentrumspartei. Auf Seiten

des Heiligen Stuhles führte

Staatssekretät Eugenio Pacelli

– der Korrespondenzpartner

von Erzabt Raphael Walzer –

die Verhandlungen. Dass das

„Reichskonkordat“ dann so

schnell, schon am 20. Juli

1933 zustande kommen wür-

de, konnte im April noch nie-

mand voraussehen. So traf die

Eingabe Edith Steins um eine

lehramtliche Äußerung des

Heiligen Stuhles in eine Situa-

tion, die durch eine äußerst

schwierige Verquickung meh-

rerer kirchpolitischer Proble-

me belastet war.

Detail Holocaustdenkmal zu Köln

Auf die Frage nach den Folgen

ihres Briefes gibt es bis heute

keine befriedigende Antwort.

Man wird kaum erwarten,

dass eine Dozentin an der

Lehrerinnenbildungsstätte in

Münster das Rad der Ge-

schichte herumwerfen konnte.

Doch hat sie mit ihrem klaren

Wort zur Juden- und zur Ka-

tholikenfrage keine Minder-

heitenposition vertreten, son-

dern stand in der Tradition

des deutschen Katholizismus.

Auf ihre Supplik erhielt sie

aus Rom keine sachbezogene

Antwort, keine Würdigung

und kein Eingehen auf ihre

Argumente, denn das ent-

sprach nicht den Gepflogen-

heiten des Heiligen Stuhls. Sie

persönlich erhielt auch keine

Antwort auf ihr Schreiben.

Jedoch bekam Erzabt Raphael

Walzer acht Tage nach seiner

Eingabe, am 20. April bereits,

eine Antwort von Kardinal

Pacelli. Er stellte anheim, „die

Einsenderin in geeigneter

Weise wissen zu lassen, dass

ihre Zuschrift pflichtmässig

Sr. Heiligkeit vorgelegt wor-

den ist.“ Ihr wird auch nicht

der in solchen Fällen übliche

apostolische Segen übermit-

telt. Der nächste Satz bezieht

sich auf Abt Raphael selbst

und „innige Wünsche für die

ganze Erzabtei“.18

So hat Edith Steins Eingabe

den Heiligen Stuhl zwar er-

reicht. Über die Beachtung,

die er fand, lassen sich aber

nur Vermutungen äußern. Die

Ausrichtung der Enzyklika

„Mit brennender Sorge“ und

selbst einige wörtliche Formu-

lierungen deuten aber darauf

hin, dass Edith Steins Schrei-

ben durchaus zur Kenntnis

genommen wurde. Danach

wurde das Schreiben zu den

Akten genommen, in einem

Ordner mit der Aufschrift „La

questione degli Ebrei in Ger-

mania“, die Judenfrage in

18 Archivio Segreto Vaticano, AES, Germania, Po. 643, fasc. 158, f. 18.

Deutschland. Dort lag es 70

Jahre lang, bis die Öffnung

dieses Bestandes durch Papst

Johannes Paul II. dieses be-

deutende Zeugnis einer be-

deutenden Frau der Öffent-

lichkeit zugänglich machte.

Die Würdigung dieses zwei-

seitigen Textes kann aus we-

nigen Worten bestehen. Es

handelt sich um das hellsich-

tigste Dokument, das in den

März- und Apriltagen des

Jahres 1933 geschrieben wur-

de. Während andere noch mit

einer positiven Entwicklung

rechneten, hat Edith Stein ge-

sehen, dass dem Vernich-

tungskampf der Nationalso-

zialisten mit einem Friedens-

vertrag oder einem Konkordat

nicht Einhalt zu gebieten war.

In dieser klaren Sicht und ih-

rer klaren Aussage ist dieses

Dokument einzigartig.

Dr. Edeltraud Klueting

T.OCarm. 48165 Münster

Die dunkle Stille – Zukunft für

mystische Vergangenheit?

Auf der Grundlage des Epitha-

lamiums von Jean de Saint-

Samson (1571-1636) hat das

MusikTheaterKöln unter der

Leitung von Ursula Albrecht

T.OCarm eine Musiktheater-

performance erarbeitet.

Nachdem in diesem Jahr Auf-

führungen an der Radboud

Universität Nijmegen (4.

März), im Geistlichen Zent-

rum St. Peter / Schwarzwald

(28.3.), im Kloster Gerleve (9.

Mai), in der Fronleichnams-

kirche zu Köln (24. Mai) und

in der Liebfrauenkirche in

Freiburg-Günterstal (20. Ju-

ni) stattgefunden haben,

möchte ich nun auf die Pro-

duktion zurückblicken und

verschiedenen Fragen nach-

gehen:

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(1) Wer war Jean de Saint-

Samson und worum ging es

ihm in seinen Texten? Wer

waren seine Leser?

(2) Welche Produktionen hat

das MusikTheaterKöln im Be-

reich der christlichen Mystik

bislang herausgebracht, wie

arbeitet das Ensemble und

wer sind seine Zuschauer?

(3) Wie wurde mit dem Epi-

thalamium umgegangen und

wie entstand die Form dieser

Produktion?

1. Jean de Saint-Samson und

seine Mystik

a. Sein Leben

Als Sohn des Steuerbeamten

Pierre du Moulin und dessen

Frau Marie d’Aiz wurde Jean

am 30. Dezember 1571 in Sens

getauft. Geboren wurde er

wahrscheinlich wenige Tage

vorher. Jean hatte mindestens

zwei ältere Brüder, vielleicht

auch Schwestern. Im Alter

von drei Jahren erblindete er

an den Folgen einer unglück-

lichen Behandlung der Pok-

ken. Trotzdem erhielt er eine

schulische Grundausbildung.

Vor allem Grammatik und

Spinett- sowie Orgelspiel

standen auf seinem Lehrplan.

Zudem erwarb er zumindest

mittelmäßige Lateinkenntnis-

se und beschäftigte sich mit

der Belletristik. Mit zehn Jah-

ren verlor er seine Eltern und

zog in das Haus seines Onkels

und Vormunds Zacharie d’Aiz,

ebenfalls in Sens. Jean machte

große Fortschritte auf musika-

lischem Gebiet. Mit zwölf Jah-

ren war er bereits Organist in

St. Pierre-le-Rond und in der

Jakobinerkirche. Bei den zahl-

reichen Konzerten des Musik-

vereins war er ein beliebter

Instrumentalist. Doch allmäh-

lich entzog er sich immer

mehr dem Druck seiner Fami-

lie, die für ihn als Blinden eine

Zukunft nur in der Entwick-

lung seiner musikalischen Ta-

lente sah. Er bekam Interesse

am geistlichen Leben und ließ

sich u.a. die Nachfolge Christi

von Thomas von Kempen, die

Institutiones von Pseudo-

Tauler und das Mäntelchen

des Bräutigams von Frans

Vervoort, einem Ruusbroec-

Schüler vorlesen.

Jean de Saint-Samson

Umschlagbild von Arie Trum nach

einem alten Stich von P. Clouwet.

Quelle: Jean de Saint-Samson. La

pratique essentielle de l’ amour.

Paris 1989.

Ab etwa 1597 lebte Jean in Pa-

ris bei seinem zweitältesten

Bruder Jean Baptiste und des-

sen Frau und Schwiegermut-

ter in der Nähe von St. Eusta-

che. Nach dem Tod seines

Bruders (Februar 1601) und

seiner Schwägerin (Juni 1601)

blieb Jean noch mehrere Mo-

nate bei der Schwiegermutter

seines Bruders, bis er Anfang

1602 zu Herrn von

Montdidier zog, der in der

Nähe von Notre Dame wohn-

te. Dieser war Prior der Dom-

herren des heiligen Augusti-

nus in Abbeville und wohnte

damals für etwa zwei Jahre in

Paris. Jean fand bei ihm eine

bescheidene Gastfreund-

schaft, d.h. einen Schlafplatz

für die Nacht und etwas Nah-

rung. Die meiste Zeit ver-

brachte Jean in den Kirchen

von Paris, wo er lange Stun-

den im Gebet und in der Me-

ditation verweilte. Als Orga-

nist von St. Pierre-aux-Beoufs

hatte er eine kleine Einkom-

mensquelle. Nach der Abreise

seines Wohltäters nach

Abbeville musste Jean sich ei-

nen anderen Unterschlupf su-

chen. Er wohnte zunächst in

der Nähe von St. Séverin und

dann nicht weit vom

Karmelitenkloster am Place

Moubert. Am Fest der hl. Ag-

nes im Jahr 1604 bat Jean den

jungen Karmeliten Matthieu

Pinault, beim Hochamt Orgel

spielen zu dürfen. So begann

eine tiefe und dauerhafte

Freundschaft, deren Basis ein

gemeinsames Interesse für

geistliches Leben und Mystik

war. Allmählich bildete sich

ein geistlicher Kreis um Jean

du Moulin.

1606 äußerste Jean gegenüber

Matthieu den Wunsch, Kar-

melit zu werden und ins Klo-

ster von Dol in der Bretagne

eintreten zu wollen. Bei seiner

Einkleidung fügte er zu sei-

nem Taufnamen den Namen

des ersten Bischofs und Pat-

rons von Dol hinzu: Saint

Samson. So wurde aus Jean

du Moulin Jean de Saint-

Samson. Der neue Lebensab-

schnitt brachte neue Prüfun-

gen mit sich: Unterernährung

wegen der bitteren Armut des

Klosters von Dol, dann Fieber,

die Wassersucht und schließ-

lich die Pest. Nicht nur Jean

wurde von Krankheiten heim-

gesucht, für viele Menschen

war Unterernährung und

Krankheit an der Tagesord-

nung. Jean begann als Ge-

sundbeter zu wirken, was ihm

den besorgniserregenden Ruf

eines Wunderheilers ein-

brachte. Doch überzeugte sich

der Bischof von Dol, Antoine

Revol, bald von der Recht-

gläubigkeit Jeans und ließ

sich gern von diesem beraten

und geistlich begleiten.

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

10

1612 folgte Jean der Einla-

dung der Initiatoren der Re-

formbewegung innerhalb des

Karmelordens und ging nach

Rennes. Seit dieser Zeit wirkte

er bis zu seinem Tod an der

Ausbildung der jungen Or-

densmänner mit. Zwar hatte

er nie ein offizielles Amt inne,

doch war er auf Grund seiner

eigenen geistlichen Erfahrung

ein wichtiger Katalysator für

die Reform. Bis 1650 und dar-

über hinaus waren die

Novizenmeister der Provinz

zugleich Schüler von Bruder

Jean. Unter ihnen befanden

sich Dominique de St. Albert

(1596-1634), Léon de St. Jean

(1600-1671), Marc de la

Nativité (1616-1696) und

Maur de l’Enfant-Jésus

(1617/8-1690). 1616 ging Jean

für ein Jahr ins Kloster von

Dol zurück, weil Antoine

Revol ihn ausdrücklich be-

auftragt hatte, die Reform

auch hier einzuführen. 1617

war Jean dann wieder in Ren-

nes, wo er bis zu seinem Tod

blieb. Er verließ das Kloster

nur, um Kranken und

Sterbenden Beistand zu lei-

sten. Am liebsten aber zog er

sich in die Einsamkeit zurück.

Während seiner letzten Le-

bensjahre war Jean beinahe

ununterbrochen krank. Er

starb am 14. September 1636,

dem Fest der Kreuzerhöhung,

nachdem er die Worte des

Apostels Paulus wiederholt

hatte: Christo confixus sum

cruci.

b. Die Art seiner Mystik

Es scheint, dass Jean de

Saint-Samson die Gabe besaß,

seine Schüler und seine Leser

verliebt zu machen, verliebt in

Gott. Trotz seiner oft sehr ab-

strakten Sprache entfachte er

eine Art Wirbelwind, einen

Strudel, der in endlosen

Wiederholungen und Varia-

tionen von Liebesseufzern al-

les an sich zog. Als Leitfaden

hierfür diente Jean ein Motto,

das er aus der niederländi-

schen Mystik kannte: „Liebt

die Liebe, die euch ewig liebt“

(Hadewijch und Ruusbroec).

Die wirklich geschmeckte Er-

fahrung (expérience

savoureuse) der göttlichen

Liebe stellte Jeans Leben total

auf den Kopf: Gott wurde zum

Mittelpunkt seines Denkens

und Fühlens. Unter dem Ein-

druck dieses Geschehens hör-

te Jean nicht auf, die doppelte

Bewegung von Sterben und

Zunichte-Werden für sich

selbst und ekstatischer und

leidenschaftlicher Liebe für

Gott in Worte zu fassen. Ei-

nerseits spürt der Mensch hier

die zurückziehende Bewegung

(se retirer / se rétracter) Got-

tes oder seine Abwesenheit (l’

absence), die das menschliche

Festhalten an dieser Erfah-

rung unterbindet. Anderer-

seits lernt der Mensch die

Möglichkeit der ganz einfa-

chen Liebe (l’ amour tres

simple) kennen. Jean sah sich

durch diese Erfahrungen in

der Nachfolge des gekreuzig-

ten Christus (l’ example de

notre saveur).

Das Vokabular, in das Jean

diese Erfahrung kleidete,

gehörte hauptsächlich zu dem

des aspirativen Gebets. Bei

dieser Form des Betens geht

es um ein Ruhen in Gott

(repos en Dieu), an den man

sich mit einem einfachen,

nackten Blick heftet (adhesion

de Dieu). Man bewegt sich

dann nicht mehr selbst, son-

dern wird von innen her, von

Gott her in Bewegung ge-

bracht durch den göttlichen

Hauch der Zuwendung (l’ as-

piration). Göttliche Zuwen-

dung ist der wesentliche und

feurige Liebesimpuls, der

Menschen dazu befähigt, am

wahren Leben der unverdien-

ten Liebe teilzuhaben. Zu-

wendung wird von Gott her

eingehaucht und vom Men-

schen aus aufgesogen, wonach

der Mensch seinerseits ande-

ren Zuwendung einhaucht. Im

Ein- und Ausatmen göttlicher

Zuwendung erfährt der

Mensch Einswerdung mit

Gott (l’ union / l’ unité avec

Dieu). Der Mensch nimmt da-

bei Abschied von jedem Mittel

zwischen sich selbst und Gott.

Er lebt in totaler Abgeschie-

denheit (l’ abstraction) von

jeglichen Mitteln und dadurch

in der Einsamkeit des Geistes

(solitude d’ esprit). Das führt

zum Loslassen (renonciation)

aller Dinge und sogar Gottes,

insofern er als Mittel ge-

braucht wird. In nackter, rei-

ner und wesentlicher Liebe

(l’amour pur, nud, essentiel)

liebt Gott den Menschen und

der Mensch antwortet mit

derselben göttlichen Liebe.

Das geht über alle Erfahrung

hinaus (surpasser) in ein

sprachloses, selbstvergessenes

Verkosten ekstatischer Liebe.

Ausgedrückt hat Jean de

Saint-Samson diese Liebe auf

besonders eindrückliche Wei-

se in seinem Epithalamium.

In zwei Dritteln des Textes

schmachtet die menschliche

Seele im Bild der Braut nach

der Liebe Gottes, ihres Bräuti-

gams. Die Seele verzehrt sich

vor Sehnsucht, sie erinnert

sich an frühere Liebesbegeg-

nungen, sie schwärmt von den

Vorzügen ihres Liebsten, sie

ruft und schreit und wütet in

Leidenschaft. Im letzten Drit-

tel des Textes antwortet der

göttliche Bräutigam. Er zeigt

sein zärtliches Verlangen nach

der Braut und schenkt ihr den

gemeinsamen und gegenseiti-

gen Genuss (commune et

reciproque jouissance) der

göttlichen Liebe.

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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c. Seine Leser

Die Leser Jeans waren sicher-

lich vor allem seine Schüler,

Mitbrüder und Novizen im

französischen Karmel, die in

der Reformbewegung von

Touraine nach einer neuen

und lebendigen Form des

geistlichen Lebens suchten.

Auch der Bischof von Dol, An-

toine Revol, gehörte zu seinen

Lesern. Zudem hat Jean seine

Auffassung von der göttlichen

Liebe denen nahe gebracht,

um die er sich ganz besonders

kümmerte: Kranken und

Sterbenden.

2. Das MusikTheaterKöln und

seine Arbeit

a. Die Produktionen

Seit 1997 widmet sich das Mu-

sikTheaterKöln explizit der

Auseinandersetzung mit den

Schriften christlicher Mysti-

ker. Dies erfolgte meistens in

der Sprache neuen Musik-

theaters durch die Zusam-

menarbeit mit verschiedenen

Komponisten bzw. Musikern.

Die szenische Arbeit stand

durchweg auf der Grundlage

der Improvisation. Dadurch

wurde jede Aufführung zum

Ereignis, das den lebendigen

Augenblick sucht. Für die ver-

schiedenen Produktionen

wurden Künstler aus ver-

schiedenen Sparten engagiert.

Gelegentlich wirkten auch Or-

densleute mit.

(1) Der Opferstock (1997). Al-

les begann mit der Predigt

Nolite timere eos von Meister

Eckhart, die auch als Opfer-

stockpredigt bekannt ist. In-

haltlich geht es in dieser Pre-

digt um ein Thema, das Eck-

hart oft behandelt hat: um

den Unterschied zwischen der

ungewordenen Gottheit und

dem werdenden Gott. Von

Gott kann der Mensch spre-

chen, von der verborgenen

Gottheit nicht, weil die Got-

theit eins ist in sich selbst und

nicht von außen als ein

Gegenüber wahrgenommen

werden kann. Zu diesem Text

schuf Christoph Maria Wag-

ner eine dreiteilige Komposi-

tion für Flöte, Klarinette,

Trompete, Gitarre, Klavier

sowie fünf Sänger und einen

Schauspieler.

Das Stück ist leidenschaftlich,

humorvoll, stellenweise

schmerzhaft zerrissen. Es

drückt die Fremdheit der Got-

theit aus, seine unbegreifliche

Ungeschöpflichkeit. Zugleich

zeigt es Menschen, die nicht

wissen, wie sie mit der un-

fassbaren Gottheit umgehen

können. Manchmal wird der

komödiantische Weg gewählt,

manchmal auch erotische Bil-

der oder mit der Tiefe ver-

bundene Übertreibungen, die

zu skurrilen Formen führen.

Zwischen all dem gibt es Au-

genblicke, in denen geistliche

Erfahrungen erahnbar wer-

den, z. B. ein geistliches

Erschaudern und Geschüttelt-

Werden.

(2) Scala nostra, die Himmels-

leiter (1998). Die Leiter zum

Paradies von Johannes

Klimakus und Äußerungen

Kölner Kirchgänger zum

Thema Himmelsleiter waren

das Ausgangsmaterial dieser

Produktion. Genauer gesagt

ging es um die ersten fünfzehn

Kapitelüberschriften der Lei-

ter, die den persönlichen Aus-

sagen der befragten Kirchen-

besucher gegenübergestellt

wurden. Diese Kapitelüber-

schriften bezeichnen die Stu-

fen, die hinabführen zum tief-

sten Punkt der Gottferne. Erst

von hieraus steigt der mysti-

sche Mensch dann empor zu

Gott.

Wie im Opferstock wurde

auch in diesem Stück mit dem

äußeren Reiz des Textes ge-

spielt. Die Kapitelüberschrif-

ten ließen sich über die

Kommentare der Kölner

Kirchgänger ins Komische

kippen, aber auch umgekehrt

schaukelte und federte der

Humor plötzlich einen erns-

ten Augenblick herbei. Beide

Wortreihen, die gesungenen,

frei improvisierten Kapitel-

überschriften (Koloratursop-

ran und Bass) und die gespro-

chenen Kommentare (Schau-

spieler), korrespondierten mit

den wippenden, kippenden

und hart aufschlagenden Bret-

tern des Bühnenbildes. So

wurde die Scala paradisi von

Johannes Klimakus zur Scala

nostra, zu unserer Himmels-

leiter, also zu einer Leiter, die

wir Heutigen besteigen kön-

nen.

(3) Las Canciones (1999). Der

geistliche Gesang von Johan-

nes vom Kreuz war die textli-

che Basis für eine weitere

Produktion. Viele Bilder des

Geistlichen Gesanges sind

dem alttestamentlichen

Hohenlied entnommen. Das

Lied der Lieder, wie dieses

auch genannt wird, stellt die

Liebe Gottes zu seinem Volk

und umgekehrt die Liebe Is-

raels zu seinem Gott wie ein

Verhältnis zwischen Bräuti-

gam und Braut dar. So jeden-

falls legten es die jüdischen

Schriftgelehrten aus, und die

frühen Kirchenschriftsteller

folgten dieser allegorischen

Deutungsweise, nur wurde

das Hohelied bei ihnen zu ei-

nem Bild der mystischen

Hochzeit zwischen Christus

und der Kirche oder zu einem

Bild der mystischen Vereini-

gung der Seele mit Gott. Kein

anderes Buch des Alten Te-

stamentes hat auf das Ver-

ständnis der unio mystica ei-

nen größeren Einfluss gehabt

als das Hohelied.

Für Ursula Albrecht (Regie)

und Andreas Daams (Kompo-

sition) wurde die Beschäfti-

gung mit dieser Materie zur

ernsthaften Wendung nach

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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innen: die brennende Sehn-

sucht nach dem göttlichen

Bräutigam stand nun auf der

Bühne. Ganz ohne Komik und

Distanz drückten Text und

Musik (vier Sängerinnen und

vier Celli) die Hingabe der

Seele an Gott aus. Die Sänge-

rinnen verbargen sich in ei-

nem Seelenhaus aus Tüll, wo-

durch der Fokus auf das Inne-

re des menschlichen Herzens

noch sinnfälliger wurde.

(4) Alberts Garten (2002). Ei-

ne sehr einfache,

unaufwendige und leichtfüßi-

ge Theaterarbeit für zwei Per-

sonen und eine Nachtigall

folgte. Texte aus De

animalibus und De

vegetabilibus sowie aus weite-

ren Schriften des Albertus

Magnus waren der Ausgangs-

punkt. Pater Willehad Paul

Eckert OP sprach den Part des

Heiligen Albertus Magnus

und der Schauspieler Frank

Albrecht gab einen Menschen

unserer Tage, der sich wis-

send und neugierig offen dem

großen Heiligen und Gelehr-

ten annäherte. Zwischen bei-

den entspann sich ein tief-

gründiges und oft amüsantes

Wort-, Satz- und Gedanken-

spiel, das dem Publikum

überraschende Wahrnehmun-

gen und Einsichten nahe

brachte.

(5) Die Kammer der Andacht

(2004). Als Leitfaden für die-

se Produktion diente ein Text

des Karmelmystikers Francis-

cus Amelry, der folgenderma-

ßen beginnt: „In der Kammer

der Andacht saßen die Braut

des Hohenliedes und ihre

Amme, die Schriftauslegung,

und haben sehr freundlich

über die Minne gesprochen.“

In diesem Text geht es um die

Geschichte einer Seele (Sän-

ger), die sich in Gott verliebt

hat. Sieben Tage lang verweilt

die Seele in der Kammer der

Andacht. Während dieser Zeit

kommt ab und an ihre Amme

(Sänger) zu ihr. Schritt für

Schritt führt die Amme die

Seele in die Gegenwart Gottes.

Immer wenn dies gelungen

ist, zieht die Amme sich zu-

rück, damit die Seele mit ih-

rem geliebten Gott allein sein

kann. Die Momente der un-

mittelbaren Gottesbegegnung

schildert der Mystagoge

(Schauspieler). Er hebt ins

Bewusstsein, was mit einem

Menschen geschieht, der Gott

immer näher kommt.

Das MusikTheaterKöln erar-

beitete unter der Leitung von

Reiner Witzel (Komposition)

und Ursula Albrecht (Regie)

eine szenisch-musikalische

Improvisationsstruktur zu

diesem Text, die den beteilig-

ten Künstlern viel Spielraum

für die je eigenen Möglichkei-

ten bot.

Die dunkle Stille

Köln, 24. Mai 2009

(6) Die dunkle Stille (2009).

Die aktuelle Produktion des

MusikTheaterKöln für

Clavicord, Performance und

Gesang stellt das Epithala-

mium von Jean de Saint-

Samson in den Mittelpunkt.

Das Epithalamium ist eines

der leidenschaftlichsten und

berührendsten Liebeslieder

aus der Karmelmystik. Über

den Weg der Soliloquien erar-

beiten die Mitwirkenden die

Gottesliebe in ihrer Mehr-

stimmigkeit. Zugleich wirkt

die Bündelung der Soliloquien

wie ein intersubjektives Aus-

loten der verschiedenen Er-

fahrungen mit der Gotteslie-

be, an der alle Künstler, je-

doch auf unterschiedliche

Weise, teilhaben. Im Ergebnis

führt dies zu einer Arbeit, die

dem Zuschauer sinnfällig

macht, wie Menschen sich in

der Berührung mit Gott ent-

sprechend ihren je eigenen

Möglichkeiten unterschiedlich

und doch gemeinschaftlich

äußern. Die Arbeit zeigt zu-

dem den Weg von der Sehn-

sucht nach Gott zum Schwei-

gen in Gott.

b. Die Art dieser Arbeit

Entscheidend für das Gelin-

gen dieser Arbeit ist das War-

ten der Regisseurin auf eine

Liebesverwundung bei den

Mitwirkenden. Die Mitwir-

kenden sollen ihr Herz für den

Text öffnen und aus dieser

Haltung heraus zu ihrem per-

sönlichen Ausdruck finden.

Manchmal ist viel Geduld

notwendig, bis der oder die

einzelne zur szenischen und

musikalischen Improvisation

gelangen kann. Dazu ist es

notwendig, auf alle äußeren

Vorgaben zu verzichten und

nicht vor der Herausforde-

rung eines konkreten Textes

auszuweichen. Jeder wird

ganz auf den Boden seiner

selbst, seiner Eigenheit und

damit auch seiner Einsamkeit

gestellt. Von hieraus wird

dann gemeinsam gearbeitet.

Jeder spürt, dass er oder sie

selbst gewollt ist. Das wirkt

befreiend. Oft wird deshalb

auch ausgiebig während der

Probenarbeiten gelacht – ge-

lacht, weil die Mitwirkenden

viel Elan empfinden, sich

künstlerisch und seelisch ent-

falten können, weil alle Ener-

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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gie für die gemeinsame Arbeit

zur Verfügung steht. Keiner

muss seine Stellung behaup-

ten oder seinen Frust verar-

beiten. Keiner muss sich den

Vorstellungen anderer unter-

ordnen.

Eine solche freilassende Ar-

beit kann nur gelingen, wenn

alle Beteiligten ein hohes Maß

an Verantwortung und künst-

lerischer Reife mitbringen.

Probleme oder Fragen werden

in einem Prozess der Selbst-

verständigung gelöst, der es

den einzelnen erlaubt, ganz

bei sich zu bleiben und gleich-

zeitig das Andere der Kollegen

zu berücksichtigen. Es gehört

zu dieser Arbeit, Initiativen zu

nehmen, Vorschläge zu ma-

chen und ebenso gehört es zu

dieser Arbeit, sich auf die Lö-

sungen der anderen einzulas-

sen und diese konstruktiv

mitzugestalten. Immer wieder

ist auch vonnöten, Ideen und

Möglichkeiten, die sich als ei-

nengend erweisen, loszulassen

und miteinander weiter zu su-

chen.

Die dunkle Stille

Köln, 24. Mai 2009

Die Improvisation – das sagt

ja schon das Wort – ist etwas

Nicht-Vorhergesehenes, etwas

Unvermutetes (lat.

improvisus). Etwas wird un-

vorhergesehen aus dem Au-

genblick heraus neu gelesen

und die Grenze des inneren

Verarbeitens und Verstehens

wird aufs Neue abgetastet.

Genau das geschieht in jeder

Probe. Zwar wird Bewährtes

beibehalten, aber es wird nie

einfach kopiert, es wird nie

fest einstudiert und routine-

mäßig abgewickelt. Immer

wieder aufs Neue stellt sich

die Frage nach dem lebendi-

gen Augenblick. Die profes-

sionelle Improvisation

braucht daher im Gegensatz

zur landläufigen Meinung

sehr viel Vorbereitungszeit,

weil sie den Handlungsraum

zunächst auf zahllose Mög-

lichkeiten hin öffnen muss,

bevor sie aus dem Augenblick

heraus unvorhergesehen und

unvermutet das Spiel entfal-

ten kann. Somit kann man die

Improvisation als

Entgrenzungsarbeit verste-

hen: Die Grenzen des bereits

Ausprobierten werden immer

weiter verschoben. Die Im-

provisation ist gleichsam ein

ständig neues Probehandeln,

das von Erfahrung zu Erfah-

rung führt. Der lebendige

Moment der Improvisation

behauptet nie, dass er die ein-

zige oder die optimale Umset-

zung des Textes ist. Er ist aus

dem heraus gestaltet, was den

Darstellern zur Verfügung

steht: ihrer Tagesform, ihrer

(Nicht-) Verbindung zu Gott,

dem ihnen geschenkten Au-

genblick. So ist die Herme-

neutik des Musiktheaters als

eine demütige Hermeneutik

aufzufassen und lädt den Zus-

chauer dazu ein, seinerseits

demütig hinzuschauen: mit

seiner Tagesform, mit seiner

(Nicht-) Verbindung zu Gott,

mit dem ihm geschenkten Au-

genblick.

c. Die Zuschauer

Es ist meistens ein recht di-

verses Publikum, das zu den

Vorstellungen des MusikThea-

terKöln kommt: Kunstinteres-

sierte ebenso wie spirituell

Interessierte, Kirchennahe

ebenso wie Kirchenferne.

Deutlich ist, dass nicht der

Mainstream angesprochen

wird. Wie die Darsteller be-

wegen sich auch die Zus-

chauer in Randbereichen von

Kunst und Spiritualität. Man

möchte sehen, was sich da

Neues entfaltet. Man lässt sich

auf Unbekanntes und schwer

Einzuordnendes ein. Manch-

mal können die Zuschauer

zunächst einmal gar nichts

sagen zu dem, was ihnen dar-

geboten wird. Künstlerkolle-

gen werden mitunter zu neuen

Herangehensweisen an ihre

eigenen Produktionen ange-

regt. Auffällig ist, dass immer

wieder neue Konstellationen

der Zusammenarbeit entste-

hen und in verschiedene Rich-

tungen immer wieder neue

Kunstformen entwickelt wer-

den.

Die dunkle Stille

Nimwegen, 4. März 2009

3. Die Rezeption des Epithala-

miums

a. Der Text

In der letzten Ausgabe des

Raben (6/2008) publizierten

Edeltraud Klueting und Elisa-

beth Hense eine deutsche

Erstübersetzung des Epitha-

lamiums. Diese Übersetzung

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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wurde von Ursula Albrecht

und Frank Albrecht für die

Produktion „Die dunkle Stille“

zu Grunde gelegt. Da der Ori-

ginaltext für eine Aufführung

viel zu lang ist, kürzten die

beiden den Text zunächst auf

eine Stunde Sprechzeit ein.

Dann experimentierten sie

mit Tonaufzeichnungen des

Textes. Die Worte sollten

nicht zu weich aber auch nicht

zu kantig gesprochen sein. Sie

sollten die richtige Schnellig-

keit, den richtigen Fluss, die

richtige Bewegung erhalten

und all dies musste zunächst

ausprobiert werden. Zu Be-

ginn der Tonaufzeichnung

überlagern sich die Stimmen.

Sie kommen näher und ent-

fernen sich. Sie begegnen und

trennen sich. Dann spricht

lange die Braut. Der ur-

sprüngliche Charakter des

Textes ist gut erhalten. In

immer neuen Variationen be-

singt sie ihre Sehnsucht nach

dem Bräutigam. Sie schmach-

tet und verzehrt sich. Sie klagt

über seine Abwesenheit. Sie

erinnert sich an frühere Lie-

besbegegnungen. Immer wie-

der setzt sie neu an und

kommt an kein Ende. Schließ-

lich – nach endlosen Monolo-

gen – antwortet der Bräuti-

gam. Auch er umspielt in end-

losen Variationen den Liebes-

gesang mit seiner Braut. Er

preist ihre Liebe, kündigt ihr

seine Gegenwart an, be-

schreibt den Genuss ihrer lie-

bevollen Begegnungen. Auch

er setzt immer wieder neu an

und scheint ihr Schweigen in

seinen Seufzern weiterzufüh-

ren. So wird eine einstündige

Meditation gehalten, die sich

fortwährend und unablässig

um die Liebe von Braut und

Bräutigam dreht. Wie bei ei-

nem Rosenkranz hört man

immer wieder dieselben Wor-

te, dieselben Gedanken, die-

selben Seufzer. Auf diese Wei-

se werden allmählich die vie-

len willkürlichen Gedanken,

die ein jeder mit sich herum-

trägt, beruhigt und zum

Schweigen gebracht. Der Geist

entflammt in Liebessehnsucht

nach Gott und öffnet sich

schweigend.

b. Die Form dieser Produktion

In jeder Vorstellung erarbeitet

Ursula Albrecht mit ihrem

Ensemble aus der gegebenen

Situation heraus eine Impro-

visation zu dieser Tonauf-

nahme: Die vier Künstler,

Prof. Margareta Hürholz

(Clavicord), Barbara

Schachtner (Gesang), Joerg

Bräuker (Gesang) und Ursula

Albrecht (Performance), be-

treten die Bühne, schalten den

Tonträger an und lauschen

auf den Text. Wie in einer

lectio divina öffnen sie ihr

Herz für die Liebesstrophen

von Jean de

Saint-Samson.

Sie lassen sich

anstecken von

seiner Sehnsucht

nach Gott und

werden zu eige-

nen Liebesseuf-

zern bewegt. Je-

de(r) gestaltet

mit den je eige-

nen künstleri-

schen Mitteln ein

persönliches So-

liloquium: Margareta Hürholz

improvisiert auf dem

Clavicord, Barbara Schachtner

und Joerg Bräuker singen

Geistliches und Profanes in

inniger Durchdringung, Ursu-

la Albrecht zeigt schweigend

oder lesend den Innenraum

einer Meditierenden.

Zwischendurch lauschen sie

immer wieder auf den Text

und greifen auf, was Jean an-

reicht: immer neue

Sehnsuchtstrophen erklingen

– das Liebeslied wird endlos

weiterimprovisiert und zieht

auch die Zuschauer in eine

Bewegung hinein, die sich in

ihren Herzen fortsetzen kann.

Nach jeder Aufführung wird

ein Gespräch zwischen den

Künstlern und den Zus-

chauern angeboten. Die

Künstler erzählen vom Ent-

stehungsprozess der Produk-

tion, von ihren Erfahrungen

mit dieser Arbeit und von dem

Zusammenwirken unterei-

nander. Die Zuschauer berich-

teten von dem, was sie wäh-

rend der Aufführung empfun-

den haben, aber auch von

spannungsvollen Reibungen

im eigenen Herzen und von

eigenen Sehnsüchten nach

geistlicher Erfahrung. Beides,

die Aufführung und das an-

schließende Gespräch,

vermitten allen Beteiligten ei-

nen sehr modernen Ge-

schmack an der

Karmelmystik.

Die dunkle Stille

Nimwegen, 4. März 2009

Erstausgabe des L’Épithalame:

nach dem Manuskript aus den

Archives Départementales

d’Ille-et-Vilaine, Fond Grands

Carmes, 9 H 40, no. 11, f.

271r-290r:

L’Épithalame de l’époux divin

et incarné et de l’épouse

divine en l’union conjugale de

son époux, texte de Suzanne

P. Michel, in: Carmelus 1,

1954, S. 158-175.

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

15

Einleitung dazu: Suzanne P.

Michel, L’Épithalame de Jean

de Saint-Samson, in:

Carmelus 1, 1954, S. 72-110.

Kritische Textausgabe:

Jean de Saint-Samson, Oeuv-

res Completes 2. Méditations

et Soliloques 1, édition criti-

que par Hein Blommestijn,

Rom / Paris: Institutum

Carmelitanum / FAC-éditions

1993, S. 335-360.

Übersetzung ins Neufranzösiche:

Jean de Saint-Samson, Épi-

thalame. Chant d’amour,

transcription moderne et

présentation par Jean Perrin,

Paris: Éditions du Seuil 1997.

Die Übersetzung ins Deutsche

(s. unten) folgt dieser Text-

ausgabe.

Jean de Saint-Samson,

L’Épithalame de l’époux divin

et incarné et de l’épouse

divine en l’union conjugale de

son époux, in: Jean de Saint-

Samson, Oeuvres mystiques,

texte établi et présenté par

Hein Blommestijn et Max

Huot de Langchamp, Paris:

O.E.I.L. 1984, S. 127-155.

Übersetzung ins Niederländi-

sche:

Hein Blommestijn, Spel van

liefde. Het loflied van de blin-

de mysticus Jean de Saint-

Samson, Einleitung und

Kommentar von Hein

Blommestijn, Übersetzung

von Sicco Spoelstra, Gent /

Baarn: Carmelitana / Ten Ha-

ve 2001.

Übersetzung ins Deutsche:

Jean de Saint-Samson, Das

Hochzeitslied des göttlichen

und menschgewordenen

Bräutigams und der göttlichen

Braut, in ehelicher Vereini-

gung mit ihrem Bräutigam,

übersetzt von Elisabeth Hense

und Edeltraud Klueting in:

Der Rabe des Elija, 6, 2008,

S. 16-29.

Andere Literatur zu Jean de

Saint-Samson:

Blommestijn, H., Die mysti-

sche Erfahrung eines blinden

Karmelitenbruders, in: Geist

und Leben 6/1987, 402-410.

Bouchereaux, S.-M., La

Reforme des Carmes en Fran-

ce et Jean de Saint-Samson,

Paris: Vrin 1950.

Bouchereaux, S.-M., Domini-

que de Saint-Albert: sa vie et

sa correspondance avec Jean

de Saint-Samson, Rom: Daily

American Publishing Co 1950.

Hense, E., Einfachheit, in:

Grundkurs Spiritualität des

Karmel, Stuttgart: Bibelwerk

2006,111-129.

Hense, E. / Plattig, M., Dich

suchen Tag und Nacht. My-

stik in der Tradition des

Karmel, Mainz: Grünewald

2001.

Hense, E. (1997). Loslassen

macht glücklich – Jean de

Saint-Samson, in: Geist und

Leben 70, 5, 1997, 366-369.

Hense, E. (1995). Johannes

vom hl. Samson – In der

Gegenwart Gottes (1571-

1636), in: Carmelus 42, 1995,

190-196.

Hense, E. (1995). Jean de

Saint-Samson (1571-1636) -

Leben aus der Tiefe, in:

Christliche Innerlichkeit

3+4/1995, 126-133.

Hense, E., Jean de Saint-

Samson und die Reform von

Touraine, in: Benker, G. (Hg.),

Die Gemeinschaften des

Karmel, Mainz: Topos 1994,

91-101.

Hense, E., Tanz der göttlichen

Liebe, Das Hohelied im Kar-

mel, Freiburg: Herder 1991, 75

– 84.

Janssen, P.W., Les Origines

de la Reforme des Carmes en

France au XVIIe siècle, Den

Haag: Martinus Nijhoff 1963.

Jean de Saint-Samson, La

Pratique Essentielle de

l’Amour, textes établis et

présentés par Max Huot de

Longchamp et Hein

Blommestijn, Paris: Cerf

1989.

Jean de Saint-Samson,

L’éguillon, les flammes, les

flèches, et le miroir de

l’amour de Dieu, propres

pour enamourer l’âme de

Dieu en dieu mesme, Hein

Blommestijn (ed.), Rom:

Institutum Carmelitanum

1987.

Jean de Saint-Samson,

Prayer, aspiration, and

contemplation: from the

writings of John of St. Sam-

son, Venard Poslusney (ed.),

Staten Island, N. Y.: Alba

House 1975.

Sciculina, I., L’Épithalame of

Jean de Saint-Samson (1571-

1636), Studies in Spirituality

Supplement 18, Leuven: Pee-

ters 2008.

Steggink, O., Frère Jean de

Saint-Samson et sa lecture

spirituelle: Initiation biblio-

graphique, Rom: Collège

Internat. des Grands Carmes

1950.

Dr. Elisabeth Hense T.OCarm.

47533 Kleve

Teresa von Avila – Der Tod,

die Liebe und der ewige Au-

genblick Gottes

Vortrag von Ursula Albrecht

T.OCarm., 31. März 2009 in der

Liebfrauenkirche Frankfurt

Dieser Vortrag handelt vom

Offenbarwerden des Heiligen

und vom verborgenen Heili-

gen in uns. Er handelt von

Selbsterkenntnis und Gottes-

erfahrung und vom Sterben

im Dreifaltig-Einen-Gott.

Heilige gehen ihren Weg in

der Verborgenheit, über alles

hinaus. In ihnen ist die Selbst-

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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erkenntnis zur Gotteserfah-

rung geworden.

Wenn ein Mensch die Askese,

die Sehnsucht nach Gott, das

Erfülltsein von Ihm, die Freu-

de und das Warten auf Seine

Gnade hinter sich lässt, und in

der Liebe zunichte wird, be-

deutet dies, dass er hinaus ge-

gangen ist aus dem, was er

liebt. Er hat seine Abhängig-

keit von sich und anderen

nach und nach verlassen und

ist getrennt von allen, vereint

mit allen. Er ist frei.

Weg von daheim nach St. Georg

Die, die ihr Leben behalten

wollen, wie es ist, die auf all

das bauen, was ihnen in ei-

nem Augenblick genommen

werden kann, könnten einmal

keine Wahl mehr haben. Eine

solche Erschütterung drängt

sie zu sich, in die bedingungs-

lose Liebe.

Immer neu wird das gesche-

hen müssen, was sie aus ihren

Vorstellungen, Wünschen und

Bedürfnissen hinaus und hin-

ein in die Freiheit treibt. Sie

werden wachsam und versu-

chen, Gedanken von sich zu

weisen, die sie überfallen, be-

drängen und beunruhigen. Sie

lassen sich zunehmend weni-

ger verführen vom Schein der

Vergänglichkeit.

Sie, die in sich, in Seiner Ver-

borgenheit, manchmal Sein

Licht schauen dürfen und die

in der Öde aufseufzen nach

diesem Licht und doch von

ihm rings umgeben sind. Ihre

Leiden sind mit Wonnen ver-

bunden. Von der Schönheit

des Eros lassen sie sich anzie-

hen und hineinziehen in die

nüchtern machende Liebe. Sie

gelangen damit über sich hin-

aus, in das hinein, was ihnen

nicht genommen werden

kann.

In der Bedrängnis der Welt

warten sie auf die reinigende

Glut, das alle Spaltung verzeh-

rende Feuer. Ihr Leben läuft

in alle Erbärmlichkeit hinein

und hört nicht auf, immer

nackter in die inneren Kam-

mern zu dringen, um schließ-

lich entkleidet in die innerste

Kammer gezogen zu werden.

Der, der zur Liebe werden

darf, liebt nicht mehr von Ei-

nem zum Anderen.

Teresas Liebe galt Gott allein

– Er allein genügte ihr, denn

IN IHM ist alles enthalten.

Alle, die dies erkennen durf-

ten und dürfen, sind vom Ich

zum Du und vom Du zum Ich

unterwegs gewesen, bis die

Finsternis im Licht zunichte

wurde und das Licht sich

scheinbar verdunkelte.

Der spanische Ritter von der

traurigen Gestalt, der aus

Knochen und Haut bestehen-

de erbärmliche Narr Don Qui-

jote, der die Wahrheit su-

chend, seinen Besitz verkauf-

te, musste sich, als sein Tag

herangekommen war, mit sei-

nem dürren Pferd Rosinante,

das allen Rossen der Welt

vorangehen sollte, und mit

seinem Ehre und Ruhm su-

chenden Begleiter Sancho auf

den Weg machen.

Zuvor hatte er die mit

Schimmel überzogene Rü-

stung seiner Großeltern gerei-

nigt, bis sie fast so weiß war,

wie Hermelin, hatte das feh-

lende Visier durch einen Vor-

derhelm aus Pappdeckel er-

setzt und ihm so den vollstän-

digen Anschein eines Tur-

nierhelms gegeben. Diesen

Helm aus Pappe hatte er, in

Erprobung seiner Tauglich-

keit, durch einen scharfen

Hieb mit dem Schwert zunich-

te gemacht.

In einem glänzenden Gegen-

stand, der auf seinem Weg lag,

erkennt Don Quijote den

Helm des Mambrin, während

sein zunehmend treuer Die-

ner, der mehr und mehr nicht

wusste woran er ist, ein Bar-

bierbecken darin sieht. Und

einem Dritten wird es wieder

als etwas anderes vorkom-

men.

Eintritt in die Kirche

Der, der scheinbar nichts er-

kennt, wie es ist, erkennt, dass

ein jeder Mensch die Dinge

auf seine Weise sieht. Er muss

sich an der Festung der Her-

zen, am Urteil der Vielen, rei-

ben und dies tragen als sein

Kreuz. Er, der zur offenen

Wunde Gewordene, der alle

um sich herum ansehen will

mit den Augen der Liebe.

Die nüchtern trunkene heilige

Teresa von Jesus, und Miguel

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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de Cervantes, der sich in sein

Herz hinein schreibende

Dichter jenes Narren Don

Quijote: zwei, die keine ir-

dische Ruhe mehr begehrten,

gehörten einem Land und fast

einer Zeit an, einer Zeit, in der

einst verehrte Ritter zu Nar-

ren wurden.

Teresas Mutter las Ritterro-

mane und auch Teresa las Rit-

terromane. Das spanische

Mädchen wollte eine von ei-

nem edlen Ritter zum Burg-

fräulein Erhobene sein, die

mit schönen Händen, glän-

zendem Haar und prachtvol-

len Kleidern im Gemach sei-

ner Burg auf ihn, ihren Lieb-

sten wartet, um von ihm allein

erkannt zu werden. Sie aber

musste ihre Burg aus Stein,

Anerkennung und Ehre ver-

lassen, um die durchschei-

nende Burg in sich zu finden.

Während er, der über die Ver-

nunft gehobene Ordensritter,

mit seiner Sehnsucht nach ei-

ner ganz weißen Rüstung und

seiner Angst vor der Ritterun-

tauglichkeit seinen Leib in ei-

ne irdische Rüstung zwang

und darin schwitzend, keu-

chend und blutend gegen das

Böse focht, nahm sie, die Or-

densfrau, die Rüstung der

Liebe an sich, und widerstand

damit den listigen Anschlägen

des inneren Gegenfreundes,

bis sie nackt war.

Auch sie, die in großen und

kleinen Abständen die Bücher

der Teresa zur Hand nahm,

träumte quälend oft von ei-

nem Leben in einem ‚sicheren

Schloß‘, war vom Wunsch

nach prachtvollen Anwesen

eingenommen, der ihr Den-

ken Tag für Tag bedrängte.

Auf atemlose Weise richtete

sie in der Fantasie eine große

Anzahl von Burgen und

Schlössern ein. Sie baute

Türme an, verlegte, der

Schönheit wegen, Türen,

Fenster und Treppenaufgän-

ge, erwarb eine Anzahl

Schränke, die mit den schön-

sten Kleidern gefüllt waren.

Vergrößerte und verkleinerte

Parks. Legte in unbeirrbarer

Regelmäßigkeit Brunnen in

der Mitte des Gartens an.

Stellte im Park kleine Holz-

häuschen in verborgenen Ek-

ken auf. Schließlich gingen die

Umbauten in immer größer

werdender Geschwindigkeit

vor sich. Dann wurden die

Räume asketischer, die Ein-

richtung verschwand zuneh-

mend und schließlich ganz.

Kahle Mauern, steinige Bö-

den, altes Brot und heißes

Wasser mussten sein und bald

ergriffen diese Gedanken ihr

ganzes Sein.

Mein Taufbecken

Die Askese hatte sie im Griff.

Die erhoffte Ruhe aber, die sie

gewinnen wollte, blieb aus.

Unruhe peinigte sie, es war

keine Rast in diesen perfekten

Formen, in diesem Mangel an

Essen, im Drang des Wollens

und Beherrschens, in der

Schnelligkeit. Von ihren Wün-

schen und Begierden ge-

drängt, wurde ihre Seele mit

Bildern überladen, die unter

der Last der täglichen Bilder

litt.

Da ergriff sie eine heftige Lei-

denschaft, die ihre Askese in

einem Punkt zunichte machte

und gegen die sie nichts ma-

chen konnte. Nach langem

Ringen wurde diese scheinba-

re Liebe in ihr entlarvt. Und

so war sie unvermittelt und

plötzlich ohne diese Leiden-

schaft.

Mit dieser Erschütterung be-

trat sie die Wüste. Das Ringen

in der Wüste brachte sie fast

um. Am letzten Tag, dem Tag

des Todes, lag sie ohne

Sicherheiten in ihrem Ende.

Da stieg eine Kraft von den

Füßen zum Haupt empor und

richtete ihren Leib auf. Sie

stand auf ihren Füßen außer-

halb des Erschütterbaren, im

Unerschütterlichen.

Das jahrelange Weinen, die

Freude die ihr zusammen mit

dem Leid jetzt zuteil wurde,

innere Liebesbekundungen –

gleichzeitig Wort und Nicht-

Wort, das sichtbare Stehen,

Sitzen und Liegen der Drei in

Einem, das Süß- Angespro-

chen- Werden im Geist, nähr-

te sie über ein jegliches Maß

mit Ewigem. Sie lag in ihrer

Inneren Kammer, die dem All

gleichkam.

Eines Tages, vor nicht allzu

langer Zeit, der Tisch war ge-

deckt, da sagte der Mann ne-

ben ihr: „Sie sehen aus, wie

Teresa von Avila.“ Da legte sie

langsam das große Stück Ku-

chen aus der Hand, um über

diese Aussage nachzudenken.

Denn sie konnte jetzt unmög-

lich den Kuchen einfach es-

sen.

Es fiel ihr aber nichts ein.

Ganz und gar nichts. Teresa

war tot. Sie hat sie nie gese-

hen. Nur ihre Schriften kann-

te sie.

Sie wartete in einem Da-

zwischen. Nirgends zeigte sich

eine Kurve, um die sie hätte

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Der Rabe des Elija 7 | 2009

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gehen können und wo sich ein

Anblick oder Ausblick hätte

zeigen können. Keine Teresa.

Kein Kuchen. Nichts.

Dass sie wieder und wieder in

Krankheiten, die scheinbar

keine waren, IHM nahe kam,

fiel ihr ein. Ihr Herz also in

seinem Herzen. Ihre Abwe-

senheit in seiner Anwesenheit.

Wer und was berührt und be-

wegt mich eigentlich an Tere-

sa? Das schien ihr eine kluge

Frage.

Beichtstuhl und Tür zur Orgel

Da kam ihr Simeon der Heili-

ge Narr in den Sinn, der,

nachdem er Jahrzehnte als

Einsiedler gelebt hatte, mit

einem toten Hund an der Lei-

ne in die Stadt einzog, der auf

dem Marktplatz seine Not-

durft verrichtete, am Grün-

donnerstag Kuchen aß und im

Bordell auf Frauen gebunden,

geschlagen wurde. Der in sei-

ner Bildlosigkeit zum Spiegel

seines Gegenübers wurde. Der

Licht gewordene, der sich,

und mit sich die Liebe ließ.

Und der heilige Franziskus,

dessen von Tränen eiternde

Augen mit einem glühenden

Eisen behandelt wurden. Der

dem fleischgewordenen Wort

so nah kam, dass es durch ihn

Gestalt bekam. Der Skandal

von Assisi, Stein des Anstoßes,

bis heute Halt für viele. Der

Angst macht, der abstößt und

anzieht.

Und die Unbekannten, Ver-

borgenen heute – an alle die-

se Trunkenen, Liebesverrück-

ten dachte sie. Und bewegt

von ihren Leben, wurde sie all

denen dankbar, die ihr Leben

annehmen wie es ist, aushal-

ten, durchleben und damit

vollbringen. Was konnte sie

anderes tun, als den Kuchen

jetzt essen!

Dann kam der Tag, an dem sie

an keinen einzigen Heiligen

mehr denken konnte. Der

Überdruss an den Heiligen er-

fasste sie.

Wieder konnte sie nur warten,

die Sehnsuchts-losigkeit gut-

heißen und die Nähe in der

Ferne aushalten.

Dann trat ein Name hervor:

Johannes vom Kreuz, der

flammend im Wort ver-

mummte Tänzer der Schön-

heit, im hochroten Gewand

der Liebe. Abgründiger. Heili-

ger. Spanischer Dichter der

Dunklen Nacht. Der von sei-

nen Brüdern gefangengehal-

ten, – 9 Monate in dunkler

Kerkerhaft –, hinabgestiegen

ist und jubelnd emporkam im

Nichts und der überseligen

Erkenntnis, dass die Dunkel-

heit zugleich das größte Licht

ist.

Sie schaute sich um und sah

sich stehen und reden – von

innen blickte sie auf ihren

Blödsinn redenden Mund,

während sie hinter ihren Wor-

ten in der Verborgenheit ruh-

te.

Sie sah das Tote im Gegenü-

ber, wie es sich unaufhörlich

behauptete. Wie es sein Maul

aufriss und wie das ganze

Haupt zur Fratze geriet. Wäh-

rend ihr Leib die Welt beinah

zeitlos durchforstete. Mein

Doppelleben ist eine Narrheit,

dachte sie.

Wieder war der Tisch gedeckt,

der Mittagstisch diesmal, und

die Japanerin neben ihr sagte:

„Sie sehen aus wie die kleine

Terese. Etwas an ihnen erin-

nert mich an Terese von Li-

sieux.“

Da war sie wieder, die Bürde,

die sie hinab trieb in die Qual

ihrer und jener Seele, die einst

gefragt wurde, was sie denn

wählen würde, und die sagte:

„Ich wähle alles!“

Wie lange ging sie um das Re-

gelgerüst der Karmeliten he-

rum, ging hinein, verweilte

darin, bekam Form, die Zelle

wuchs in ihrem Innern heran,

weitete sich, verlor sich im

Nichts. Die Regel wurde zur

Ordnung und diese Ordnung

würde sie verlassen müssen,

nachdem sie die Ordnung als

Liebe erkannte. Wie sagt Au-

gustinus: „Liebe und tu was

Du willst.“ In jeder Faser ihres

Seins zeigte sich auf nicht

erkennbare und nicht erklär-

bare Weise, was zu tun ist.

Meine Orgel

Vor einem kleinen Tisch sa-

ßen sie zusammen, die Kerze

brannte, es war dunkel und

still um sie beide. Sie spra-

chen nicht – lange – da hörte

sie sie sagen: „Du siehst der

Edith Stein so ähnlich.“

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Sie schaute sie an und sah,

dass sie keine Augen hatte. Sie

schaute hinein und hindurch

und sah kein Ende, da war

Nichts, nichts Sagbares. Wie

es denn ist, dachte sie, als sie

wieder denken konnte, so ein

Heiliges Leben ?

Da ist ihr ihre schmerzhafte

Sehnsucht eingefallen, das:

„Wehe, wenn ich mein Leben

nicht lebe!“ Da ist ihr eingefal-

len, dass das alles gewesen ist.

Es muss ein Zeichen in mei-

nem Gesicht geben, dachte sie

jetzt. Es muss etwas aus der

Seele in meinen Leib fließen.

Sie bewegte sich im Entzug

des Wissens. Wer viel weiß,

muss das viele Wissen lassen.

Eines Tages wird es soweit

sein.

Manchmal sah sie ihr ganzes

Leben in ihrem Innern liegen,

und wenn sie anfing zu über-

legen, wie genau denn ihr Le-

ben aussieht, wusste sie es

nicht.

Dann verschwand alles im

Augenblick. Die Verborgen-

heit ihres gesamten Daseins

inmitten aller machte sie zu

einer Verschwundenen.

Nur die, die ihr gleich waren,

sahen ihren Schmerz in der

Welt der verführten, ekstati-

schen Entzweiungen, bis sich

auch dieser Schmerz im Ver-

lust der Vergangenheit und

Zukunft auflöste.

Wieder versuchte sie Teresas

Leben zu betrachten und

wusste nicht weiter –.

Wieder quälten sie ihre Über-

legungen zwischen Marta und

Maria, bis sie die Zusammen-

gehörigkeit, die Einheit darin

bedachte. Maria hatte das

Amt der Marta erfüllt gehabt,

als sie zu seinen Füßen nur

Ihm zuhörte.

Sie musste erst eine Marta

gewesen sein, ehe sie wirklich

eine Maria werden konnte.

Das sind keine zwei Leben.

Lieben und die Qualen der

Zerrissenheit durch den Leib

zittern sehen. Dann die Erlö-

sung aus der Enge. Es scheint

eine immerwährende Begeg-

nung im Innern zu geben. In

der Seele wird gearbeitet,

auch ohne unser Wissen. So

einfach ist das.

Blicke zu Jesus

Teresa sagt: „Weil ich begann,

mich vor dem inneren Beten

zu fürchten, da ich mir so ver-

loren vorkam.“ Diese Aussage

zeigte eine Ähnlichkeit zwi-

schen Teresa und ihr.

Manchmal fragte sie sich, ob

sie weiter auf ihrem Weg ist.

Oder ob sie vielleicht unbe-

merkt abgekommen ist, weil

ihr das Vertraute, das sonst

Halt Gebende, nicht mehr

schmeckte. Die gewohnten

Gebetszeiten waren nicht

mehr möglich.

Aber aus der Ferne sah sie,

dass dies gut war. Dabei dach-

te sie, dass sie eine unentweg-

te innere Anbetung feiert und

dass das wahr ist. Dass es kei-

nen geringsten Zweifel darü-

ber gibt.

Es ist mir nicht möglich, mich

dem Leben Teresas weiter zu

nähern dachte sie, aber dann

fiel ihr ein, Teresa und sie hat-

ten als Kinder große Abnei-

gungen und große Zunei-

gungen. Alles musste „groß“

sein.

Sich ungeteilt hineinspielen in

das Unabwendbare, waren Te-

resa und ihr eigen. Bei Teresa

ist es der Wunsch, den Kopf

abgeschlagen zu bekommen,

damit Pein und Herrlichkeit

für immer anhalten.

Diese Absolutheit in dem „ für

immer“ fiel ihr sofort auf.

Später bauten sie und ihr

Bruder Eremitenhäuschen,

die oft einstürzten. Die Bewe-

gung in den aufbauenden und

einstürzenden Eremitenhäu-

schen, diese Annäherung dar-

in, dieses sich Hineinbasteln,

Hineinformen in ihr Leben,

daraus lugt die Unbedingtheit

mit der sie wesentlich werden

sollte, hervor.

Bei ihr wiederum waren es die

beständigen Besuche mit Mut-

ter und Schwester im Lei-

chenschauhaus des städti-

schen Friedhofes. Es wurden

Verstorbene angeschaut, die

hinter den Fenstern aufge-

bahrt lagen. Dabei wurden

während der gemeinsamen

Betrachtung der Toten, Ein-

zelheiten besprochen, um zu

einer Einschätzung zu gelan-

gen. Es wollte herausgefunden

werden, an was sie gestorben

waren. Die Mutter achtete auf

Wunden und zugenähte

Schnitte, auf die Hautfarbe,

die Kleidung, den Gesichts-

ausdruck und vor allem auf

ein mögliches Lächeln, das in

den Gesichtern einiger Ver-

storbener zu sehen war.

Dieses Anschauen der Toten

setzte sich zwischen ihr und

ihrer Schwester in der Küche

fort: Sie „spielten“ Leichen-

schauhaus. Dabei legten sie

sich nacheinander als Tote in

die Holzbank hinter dem Kü-

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chentisch, schlossen ihre Au-

gen, falteten ihre Hände, hiel-

ten den Atem an. Dann wurde

der Deckel der Bank von der

jeweils draußen Stehenden

zugemacht. Die Hinterbliebe-

ne trauerte.

Dieses Spiel nahm eines Tages

ein jähes Ende, als sich näm-

lich ihre Schwester, statt zu

trauern, auf die geschlossene

Bank setzte und lachte und

verkündete, dass sie nie mehr

wieder aufmachen würde.

Nachdem die Luft knapp wur-

de in der Bank, bekam sie

Angst, sie dachte aber an das

Lächeln, das der Mutter so ge-

fiel. Das Kommen der Mutter

beendete diese Todesangst.

Später suchte sie immer neu

die Nähe des Todes. So wurde

ihr deutlich, dass sie vom Tod

her leben muss, wenn sie le-

ben will.

Mein großer Platz

„Ich bin geboren, Sancho, um

sterbend zu leben,“ sagte der

traurige Ordensritter zu sei-

nem Begleiter.

Denn ich sterbe fast vor

Schmerzen, weil ich doch

nicht sterben kann, sagte Te-

resa.

Jesus Christus, das Wort Got-

tes, ist in der Kontemplation

gegenwärtig, sagte Teresa –

und: Die Menschheit Jesu ist

an sich kein Hindernis für den

Höchsten Grad der Kontemp-

lation, doch aufgrund der

menschlichen Schwachheit

müssen die Geschöpfe auf ih-

rem Weg zur reinen Kontemp-

lation für eine Zeit die Be-

trachtung der Menschheit

Christi aufgeben.

Und Meister Eckhart sagt:

„Denn liebst Du Gott, wie er

Gott, wie er Geist, wie er Per-

son ist, wie er Bild ist, das al-

les muss weg. Wie aber soll

ich ihn lieben?

Du sollst ihn lieben wie er ist.

Ein Nicht-Gott, ein Nicht-

Geist, eine Nicht-Person, ein

Nicht-Bild, mehr noch: wie er

ein lauteres, reines, klares

EINES ist, abgesondert von

aller Zweiheit. Und in diesem

Einen sollen wir ewig versin-

ken vom Etwas zum Nichts.“

Ihre Gedanken verloren sich

in der Ungewissheit.

Nach einer Weile schaute sie

nach rechts. Das Schwarz ei-

nes Habits trat erneut in ihre

Augenwinkel. Unbewegt saß

er da, der alte Mönch. Ver-

sunken in seinen Gott. Hoch

oben in den Bergen.

Sie stand auf und ging den

Steinboden entlang auf das

Kirchentor zu.

Es war Nacht geworden.

Die Mahlzeiten sind zu üppig

im Kloster, dachte sie. Es

bleibt kein Platz im Magen.

Der Magen braucht eine ge-

wisse Leere. Die Gespräche

während des Essens sind

mühsam, weil zerstreuend.

Das Hinabsteigen in den

Ranft des Bruder Klaus, und

das Verweilen im Holzhaus

des Einsiedlers umfing ihre

Seele. Die Betrachtung seines

Lebens zog in ihr alles Ver-

gangene und Zukünftige in

den Augenblick.

Dass er mit 50 Jahren alles

verlassen musste. Frau, Kin-

der, Beruf! Dass er sich so nah

bei seiner Familie niederlas-

sen musste. Dass er dann

doch in seiner Familie starb.

Dass er an die 20 Jahre nichts

gegessen hatte. Es ist gedank-

lich unzugänglich.

Mein St. Georg mit Weihrauch

Lange stand sie vor seinem

Ehebett, oben im Haus der

Familie, und später vor der

Holzbank mit dem Stein als

Kissen, unten in seiner Klau-

se.

Beide waren nicht zu trennen.

So sehr sie sich mühte – sie

konnte sein Leben nicht aus-

einanderteilen, einteilen, be-

urteilen. Also konnte sie nicht

über ihn nachdenken.

Sie hielt sich am besten an

seine Liebe. Darin kam sie

ihm ohne Gedanken nah.

Der Einsame ist allein mit

sich, der Einsiedler ist allein

mit Gott.

Im Geschäft unterhalb der

Klause, kaufte sie eine mit-

telgroße, einfache Kerze. Die

Augen der Verkäuferin trafen

ihre Augen in ihrer beider Er-

fahrung.

Teresa sagt: „Beten ist Lie-

ben.“ Was sollte sie dazu

noch sagen.

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Selbstliebe und Nächstenliebe

ist Eins. Alles ist gesagt.

Es fiel ihr der gute Ruf ein,

der Teresa wichtig war. Der

gute Ruf und die Geheimhal-

tung des Nicht-Guten vor de-

nen, die nicht unterscheiden

können.

Die Qual, sich um den guten

Ruf zu sorgen, - erschien ihr

da wie Entfernung bei ge-

wünschter Nähe.

Das Mädchen Teresa empfand

eine große Abneigung gegen

das Klosterleben.

Sie wurde krank.

Sie empfahl ihrem Bruder, ins

Kloster zu gehen.

Teresa war beständig krank,

sehr krank und schwer krank.

„Du lässt aber auch nichts aus,

um dem Herrn nachzufolgen“

sagte die Schwester zu ihr, als

sie sie auf Krücken heran-

kommen sah.

Und da sah sie in jeglicher

Krankheit diesen einen Sinn,

nämlich,

Seine Nähe zu ihr und ihre

Nähe zu Ihm.

Im Leid, durch das Leid hin-

durch, in die Leidlosigkeit.

Auf dem Kreuz bleibend, alles

zurücklassend.

Heute im Wald stach die

Schönheit eines jeden einzel-

nen Baumes hervor.

Der Stamm, seine Rinde, die

Krone, seine kleinen Äste an

den großen Ästen,

sein sanftes hörbares Ächzen

im Wanken des Windes.

Ja, es gibt ihn, den Einen

Baum, - dessen Leuchten ihre

Augen eines Tages sekunden-

lang blind machte, so dass sie

noch heute die kühle Glut hin-

ter den Augen sieht -, und der

seitdem eingeprägt in Herz

und Leib da ist.

In der Mitte des Berges, in ei-

ner Lichtung, standen ein

grauer, sauberer, jugendlicher

Esel mit einem weißen Fell

um sein Maul, und eine auf-

geweckte beige Ziege. Beide

standen hinter dem Zaun vor

ihr und schauten sie an.

Manchmal bewegte der Wind

das Fell der Tiere und ihre

Haare, oder es zuckte das Fell

unter den Fliegen.

Sonst war da nichts.

Mein Blick nach draußen

Einige Male legte die Ziege ih-

ren Kopf an den Hals des

Esels, schaute länger zu ihm

auf, biss in sein Ohr hinein,

legte sich in sein Futter.

Es kam ihr so vor, als ob der

Esel sie mit seinen Augen ver-

bindlich durchschaute. Seine

weichen übereinander geleg-

ten Mundwinkel hoben sich,

und seine hohen gelben Zähne

fassten nach ihr, wenn sie ihre

Hand nach ihm ausstreckte.

Der feine, kleine helle Mund

der gut genährten Ziege, ihre

deutlichen Augen,

das Wenden und Drehen ihres

Kopfes nach einer Ansprache,

das verschiedenartige Herab-

fallen oder Hinaufstellen ihrer

Ohren und der Ohrenspitzen,

die, je nachdem, ein Auge

oder zwei Augen verbargen

oder freilegten, waren ein Ge-

winn.

Manchmal stand sie auf einem

Stamm, der ihr zu diesem

Zweck hingelegt worden war –

regungslos, wie eine Laubsä-

gearbeit; während der Esel

umherging und da und dort

einen Halm aufnahm und zer-

kleinerte.

In der warmen Jahreszeit lag

sie mit geschlossenen Augen

an der Seite der Hütte in der

Sonne, während er daneben

stand.

Wenn der Rauhreif oder der

Schnee auf ihrer beider Fell

lag, und die Kälte sie in den

Stall trieb, so dass nur noch

Teile von ihnen sichtbar wa-

ren, lachte sie über diesen

Ausschnitt.

Am 27. Dezember lag der Esel

tot vor seinem Stall. Die Ziege

stand in der gegenüberliegen-

den Ecke.

Am 3. September bekam sie

von einem noch namenlosen

Künstler, der in einem der ab-

gelegenen Winkel des Klo-

stergartens ein Atelier ohne

Wärmequelle und Wasser hat,

ein Geschenk.

Eine kleine Plastik aus beweg-

lichem Silberpapier, welche

sie und den Maler im Wald

neben hohen Bäumen stehend

zeigt, wie sie sich über die

großen, wesentlichen Dinge

unterhalten. Das „Nichts“ hat-

te es ihm angetan.

Das Alles im Nichts.

Begegnungen auf dem Weg,

die Mitteilungen waren, und

sich in dieser silbern glänzen-

den Darbietung verdeutlich-

ten. Zwei Bäume, zwei Perso-

nen, zwei Wege auf einem

Weg im Wald.

Sie dachte an die Karmelitin,

die ein Stammeln ist in ihrem

Heiligen Ernst

und die ihr schrieb:

„ ... Ich denke an Elija: voll

von Angst und verzweifelt

ging er in die Wüste, in eine

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Höhle. Es kamen Sturm, Erd-

beben, Feuer. Gottesbegeg-

nung geschah einzig im

Schweigen, in der Stille

„verschwebenden Schwei-

gens“, ein Schweigen, das tie-

fer ist als alles, Schweigen in

unserem innersten Innen-

raum, und aus diesem Innen-

raum der Begegnung, der

Bergung, werden wir heraus-

gerissen zu den anderen, den

vielen Geschwistern-, jedoch

immer bleibend in DIR, im

Schweigen eines „Ich-weiß-

nicht-was ...“ (Sr. Ancilla

Wissling O.C.D)

Teresa sagt:

„Es schien mir zwar, als hätte

ich nichts gesehen; ob dies

aber auch wirklich so gewe-

sen, kann ich nicht geradezu

behaupten. Denn etwas muss

ich doch wohl gesehen haben,

weil ich sonst das, was mir ge-

zeigt wurde, nicht mit einem

Gleichnis, das ich gebrauchen

will, erklären könnte; nur

wird dieses Sehen auf eine so

feine und zarte Weise gesche-

hen sein, dass der Verstand es

nicht erfasste.“

Wie es sich wohl zugetragen

haben mag, in diesem heiligen

Leben? Es überkommt sie das

Abstand-Nehmen-Müssen

von Teresas Erfahrungen und

Überlegungen.

Sie begibt sich in das Rau-

schen des Bergbaches in ihrer

Nähe - und verweilt darin, bis

das Rauschen aufhört zu raus-

chen.

Teresas Leben und ihr Leben -

eine Zusammenführung.

Teresa sagt:

„Einmal, als ich mit den an-

dern Schwestern die Horen

betete, geschah es, dass meine

Seele plötzlich in eine Samm-

lung versetzt wurde, in der sie

mir wie ein klarer Spiegel er-

schien. An ihm war weder

hinten noch an den Seiten,

weder oben noch unten etwas,

das nicht ganz klar gewesen

wäre; in der Mitte aber zeigte

sich mir Christus unser Herr

... es wurde mir auch zu ver-

stehen gegeben, dass dieser

Spiegel, wenn

die Seele sich in

einer Todsünde

befindet, wie

mit einem dich-

ten Nebel über-

zogen und ganz

schwarz ist, so

dass der Herr

darin sich we-

der darstellen

noch gesehen

werden kann, obwohl er uns,

indem er uns das Sein gibt,

immer gegenwärtig ist.“

Dass da beständig zwei Mög-

lichkeiten sind.

Und, dass es eine sichere Ah-

nung gibt, die eine Gewissheit

ist.

Instinkt, hohe Begabung für

das Erkennen der Wahrheit.

Gnade.

Dass diese 2 Gestalten mit ih-

ren 2 Tieren hinaus gezogen

sind.

Weg von der Heimat.

Der Ritter wusste, wer er war

und ließ es zu, es vor den an-

deren, den Fremden, nicht zu

wissen.

Teresa sagt:

„Da bot sich mir dar, was ich

nunmehr als Fundament ge-

brauchen möchte: Nämlich

unsere Seele als eine Burg zu

betrachten, die ganz aus ei-

nem Diamant oder einem sehr

klaren Kristall besteht und in

der es viele Gemächer gibt,

gleichwie im Himmel viele

Wohnungen sind ... ihr dürft

euch nicht vorstellen, dass

diese Wohnungen wie aufge-

reiht eine hinter der anderen

liegen. Richtet vielmehr eure

Augen auf die Mitte, die das

Gemach und der Palast ist, wo

der König weilt, und stellt die

Burg euch vor wie eine

Zwergpalme, bei der viele

Hüllen das köstliche Herzblatt

umschließen.

Mein Blick danach

So liegen dort rings um diesen

Raum viele andere Gemächer,

und ebenso darüber.

Denn die Dinge der Seele

muss man sich immer in Fülle

und Weite und Größe den-

ken...“

Ich bin SEIN Tun, denkt sie.

Seine Zeitlose Tat.

Die bewegungslose Mitte.

Die höchste Geschwindigkeit

um die Mitte herum.

Die Innen und Außenseite des

Einen.

Das Nüchtern Sein Wollen in

diesen Qualen.

Zwischen ihr und der Heiligen

ist Nichts.

Ohne Liebe gäbe es keine ein-

zige Verbindung.

Ohne Liebe gäbe es keine Per-

son.

Kein von Person zu Person.

„ Vom Sein zum Sein, und von

Person zu Person werden wir

ein Eins, über unsere persön-

liche Vereinigung hinaus ....“ .

(Jean de Saint Samson)

Teresa sagt:

„Wollte die betreffende Per-

son ein in ihrer Muttersprache

geschriebenes Buch zur

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Handnehmen, so geschah es

ihr nämlich, dass sie – obwohl

sie gut lesen konnte – nicht

mehr davon verstand, als

wenn sie die Buchstaben nie

gelernt hätte; denn ihr Ver-

stand hatte das Fassungsver-

mögen verloren.“

Sich niederlassen in der

sechsten Wohnung. Was gibt

es über Heilige zu sagen?

Nichts.

Nicht einmal mehr Heiligkeit

denken. Dass er mich in sich

liebt und ich ihn in mir liebe.

Schweigen im Wort.

„Als alle Dinge mitten im

Schweigen waren, da kam

hernieder, vom königlichen

Stuhle, in mich ein verborge-

nes Wort“ (Weish.18.14).

Im Wort verborgen.

Teresa sagt:

„Wir brauchen also nicht in

den Himmel hinaufsteigen,

noch aus uns selbst hinausge-

hen; denn dies wäre Ermü-

dung des Geistes und Zer-

streuung der Seele.“

Seit Tagen regnet es, sie setzt

sich vor das Fenster und hört

dem Regen zu - und muss an

ein Ereignis denken:

Eines Tages stand sie neben

dem Pater am Fenster in der

Küche, während es draußen

regnete.

Sie schwiegen -

Da muss Gott sie im Regen

angesprochen haben.

Mit absoluter Gewissheit.

Sie hörte, dass er zu ihr

sprach, hörte aber nicht „was“

er zu ihr sprach.

Er regnete sie an und sie hörte

ihn im Regen und als Regen

reden -

„Am Mittwoch den 28. März

des Jahres 1515 um 5 Uhr

früh, mehr oder weniger,

denn es war schon fast Tages-

anbruch an jenem Mittwoch,

wurde meine Tochter Teresa

geboren.“ So schrieb Teresas

Vater Don Alonso in sein

Buch, in das er die Geburten

seiner Kinder eintrug.

Die Karmelitin und Mystike-

rin, Kirchenlehrerin und Hei-

lige stammte aus einer Fami-

lie von konvertierten sephar-

dischen Juden väterlicher-

seits, ihre Mutter kam aus alt-

kastilischem Adel. Teresa hat-

te neun Brüder und zwei

Schwestern.

Ihre Mutter ist mit 33 Jahren

gestorben.

Am 2. November 1535, dem

Allerseelentag, riss Teresa

sich ihre Familie aus ihrem

Herzen, so als würde sie jeden

einzelnen Knochen zurücklas-

sen müssen und trat in das

Karmelitinnenkloster ihrer

Heimatstadt Avila ein. Diesen

Eintritt beschreibt sie als Se-

gen von Anfang an.

Das Tor zu Jesus in der

Abgeschiedenheit

Sie, die sich im Herzen der

Kirche aufhielt, um von dort

alles in sich, um sich, in die

Einheit zu ziehen, starb 1582

auf einer ihrer vielen Reisen

durch das glühend kalte Spa-

nien in einem von ihr gegrün-

deten Kloster.

In Zusammenarbeit mit Jo-

hannes vom Kreuz gründete

sie 32 Klöster. In jedem Klo-

ster sollten nicht mehr als 21

Schwestern leben. Es wurden

Einsiedeleien in den Gärten

gebaut. Dem Ursprung der

Karmeliten gemäß. Denn der

Orden ging aus Einsiedlern

hervor, die eine gemeinsame,

nicht ausformulierte Regel

bekamen. Innerhalb dieses

Regelgerüstes aber war Raum

für Anfänger auf dem Geistli-

chen Weg, für Fortgeschritte-

ne und für Erleuchtete.

1614 wurde Teresa selig- und

1622 heiliggesprochen. Papst

Paul VI. ernannte sie zur Kir-

chenlehrerin.

Sie dachte an einen Augen-

blick auf ihrem Heimweg. Da

schnitt sich blitzartig eine kla-

re, kühle, bleibende Erkennt-

nis in ihre Seele, nicht fassbar,

nicht erklärbar, von unaus-

löschbarem Bestand von An-

fang an.

Gott liebt sich selbst – von

Ewigkeit zu Ewigkeit.

Ursula Albrecht T.OCarm.

79100 Freiburg

Bildnachweis: Ursula Albrecht

fotografierte ihre Heimatkir-

che in Amberg.

Impressum

© Dritter Orden im Karmel – Johannes Soreth. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. ISSN 1861-4965 Redaktion: Drs. Ing. Paul Menting T.OCarm. Dr. Elisabeth Hense T.OCarm. Dr. Edeltraud Klueting T.OCarm. Anschrift: Rehweg 15, 47533 Kleve E-Mail: [email protected] Redaktionsschluss für die achte Ausgabe: Juli 2010.

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

24

Jean de Saint-Samson -

Der Stachel, die Flammen,

die Pfeile und der Spiegel der

Gottesliebe,

geeignet die Seele in Gott

verliebt zu machen, in Gott

selbst

Übersetzt von Dr. Edeltraud

Klueting T.OCarm

Vorbemerkung

Im „Raben des Elija“ 6/2008,

S. 16-29, erschien die Über-

setzung des Hochzeitsliedes

von Jean de Saint-Samson

O.Carm., eines der

berührendsten Liebeslieder

der Karmelmystik. Jeans

„Éguillon“, sein „Spiegel der

Gottesliebe“, ist von anderer

Art. Es ist ein Traktat, in dem

er den Kern der Tourainer Re-

form des Karmelitenordens

entfaltet und den Weg zu ei-

ner spirituellen Neuorientie-

rung weist. Das letzte [8.] Ka-

pitel ist der Frage gewidmet,

wie der Mensch von der Sorge

um sich selbst loskommen

und sich ganz zu Gott hin-

wenden kann.

Kapitel 8

Sich selbst loslassen

Es ist wahr, dass Gott sich am

meisten danach sehnt, dass

der Mensch sich selbst los-

lässt, denn so ein Leben des

Loslassens stimmt am besten

mit ihm überein. Aber es ist

auch wahr, dass es für den

Menschen, der für Gott lebt,

das schmerzlichste ist, was

dazu führt, dass der Mensch

die Vorzüglichkeit eines sol-

chen Lebens nicht sehen oder

begreifen kann. Der Mensch,

der beinahe nur sinnlich und

auf sinnlicher Ebene vernünf-

tig lebt, weiß nicht, was sein

Geist ist, der sein Begreifen

und seine Vernunft ist. Diese

Vernunft ist sehr weit von den

Sinnen entfernt. Darum will

der Mensch so ein Leben auch

nicht. Wer nämlich seinen

Hunger danach, dass es ihm

selbst vorzüglich gehe, über

seine Sinne befriedigen will,

möchte sich nicht dem Risiko

aussetzen, sich selbst zu ver-

lieren, etwas zu tun, was er

nicht kennt, oder dort

entlangzugehen, wo er unbe-

kannt ist, einzig geführt von

Gott, den er nicht sieht, den er

nicht begreift, außer in einem

sehr entfernten Glauben, der

hierfür keine Kraft in ihm hat.

Die Mystiker haben diese

Gegenstände, die ihrer Art

nach verborgen sind, sehr

weit entfaltet. Deshalb über-

nehme ich weder ihren Weg

noch ihren Stil, sondern ich

werde ganz einfach und wie

en passant, wie es mir der

Geist Gottes eingeben wird,

über die Theorie und die Pra-

xis dieses Lebens von absolu-

ter Wichtigkeit für den wahr-

haft spirituellen Menschen

sprechen.

Wenn wir hierüber sprechen,

müssen wir unsere Definition

kennen. Loslassen ist also:

sich selbst ganz und gar Gott

überlassen, ohne eine Ein-

schränkung auf die praktische

Anwendung oder die Zeit. In

der Kraft und Wahrheit des

Loslassens bewirkt, will, ord-

net, erleidet oder empfängt

das Geschöpf nichts für sich

oder seine eigene Zufrieden-

heit als solche, sondern einzig

für das Behagen Gottes, mit

unendlicher Reinheit und Ein-

fachheit. Zwar mag die Ent-

wicklung der entsprechenden

Umstände hier mehr langwei-

lig als nützlich scheinen. Doch

so oft sich die Entwicklung in

den wahrhaften Gelegenhei-

ten und einigen Gelegenheiten

der echten Hingabe an Gott,

im Verlieren und im völligen

Loslassen seiner selbst für

seine unendliche Liebe zeigt

und zeigen wird –, so ist es

gerade immer dies, was man

tun muss, und ist es immer

dort, wohin man gelangen

muss.

Dass die Vorzüglichkeit eines

solchen Lebens so unbekannt

ist, kommt daher, dass der

Mensch Gott nur mit seinem

Erkenntnisvermögen sucht

und begreifen will, und fast

nichts davon begreift, was

sein Wille für ihn in dieser

Angelegenheit ist. Ebenso be-

greift er nicht, ob seine Sehn-

sucht dem entspricht, was er

sieht. Das heißt, dass seine

ganze Heiligkeit in der starken

Erhebung und in dem Glanz

seines von Gott erleuchteten

Verstandes bestehen müsste,

um ihn zu erkennen und zu

genießen. Daraus folgt als Er-

gebnis, dass er seinen Willen

damit vereinigt. Der Wille

folgt dem Erkenntnisvermö-

gen pflichtgemäß, und beide

sind mehr oder weniger ange-

zogen und erleuchtet durch

Gott, ihn zu erkennen und ihn

zu lieben. Aber angenommen,

dass er in seinen Vermögen

überhaupt keine vorherige Be-

rührung und nicht die minde-

ste eingegossene oder ange-

nommene Übung gehabt hät-

te, verbleibt der Mensch dort,

auf der Erde, in der Suche

nach Tröstung und Zufrie-

denheit durch seine Sinne und

durch die Geschöpfe, soviel

wie er kann und darf. Sehr oft

geht er darüber hinaus bis zur

unerlaubten Lust an der Sün-

de. Diese Fehler des Wollens

vergehen, wenn man das

gegenwärtige Wohlbefinden

loslässt für die Liebe und das

Wohlgefallen an Gott.

Sicher ist es auch wahr, dass

man in diesen Vermögen von

Gott erhoben sein muss, nach

der Ordnung, die Seine Maje-

stät dem Menschen dafür be-

reithält, ihn so viel zu er-

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

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kennen und zu lieben. In der

Tat wird der gewöhnliche

Glaube auf einfacher Stufe

den Menschen gewöhnlich

niemals die ausreichende

Kraft geben, und zwar aus

endlosen Gründen. Jedoch

wirkt der Heilige Geist

manchmal auf außerordentli-

che Weise in einigen Men-

schen Wunderbares, wie es ih-

rem natürlichen Gut ent-

spricht. Unter ihnen gibt es

die der Natur nach Tugend-

haften und andere, die der

Natur nach einer Todsünde

zugeneigt und in ihr gefangen

sind. Aber sie sind alle gleich-

ermaßen ausgezeichnet durch

ihre Hochachtung für Gott

und die Überzeugung, dass sie

für ihn sterben würden, wenn

es sein müsste – Motive, die

nur aus einem natürlichen

Gut kommen können. (Da-

von haben vielleicht die be-

sten Mystiker geschrieben,

und ich auch.) Das findet sich

öfter bei den besten und

großherzigsten Kriegsmän-

nern; gleichwohl ist es sehr

glaubhaft, oder mehr noch, ist

es wahr, dass man glauben

sollte, dass diejenigen, die

überhaupt nicht von Sünde

befleckt sind, dadurch wahr-

haft von Gott und seiner Gna-

de ausgezeichnet sind, wäh-

rend die anderen ihr natürli-

ches Gut benutzen, um den

Faden ihrer Laster noch wei-

ter zu verlängern, und um un-

ter dieser Schutzdecke umso

sicherer zu sündigen.

Aber es scheint mir, dass ich

von meinem Vorhaben abge-

wichen bin, das das Leben des

Loslassens ist – ein Leben,

von dem niemand Gutes re-

den möchte. Obwohl jeder es

im Leben unseres gesegneten

Heilands mit großer Tapfer-

keit geübt sieht, will auf jeden

Fall niemand sein Vorbild auf

seine eigenen Kosten nach-

ahmen, wenn es nicht gerade

um eine Kleinigkeit geht, oder

um sehr wenig und für sehr

kurze Zeit, aber niemals für

das Gute und für immer. Ich

sage das selbst über die Men-

schen, die Gott erkannt und

geliebt haben aufgrund seiner

sehr starken Anziehung und

Wirkung in ihnen. Solange

diese Aktion andauert, ver-

sprechen sie Gott wunder was,

aber sobald sie ihn vermissen,

haben viele von ihnen nicht

mehr die Seele, das Herz, den

Mut, um Seiner Majestät zu

folgen, beladen mit einem

kleinen Zipfel seines Kreuzes,

um mit ihm zu leiden und zu

sterben, weder in dem Kreuz

des Geistes noch in dem Kreuz

des Körpers. Deshalb be-

schwert sich Seine Majestät zu

Recht über die Menschen, die

nur an seinem Tisch seine

Freunde sein wollen (Si 6, 10),

ihn aber der Barmherzigkeit

seiner grausamen Feinde

überlassen, damit er unter ih-

ren ungerechten, grausamen

und todbringenden Gewaltta-

ten leidet und stirbt. Unter

ihnen lässt sich kaum jemand

finden, der von besserer und

stärkerer Art ist, um Seiner

Majestät in lebendiger Nach-

folge in dem Blutopfer seines

eigenen Lebens zu folgen, we-

der in den Einzelheiten wie

auch insgesamt genommen.

Seine Majestät hat sein einzi-

ges Wohlgefallen an ihrer Lie-

be und an ihrer Kraft, wenn er

sieht, wie sie einzig darum

bemüht sind sein Beispiel

nach-zuahmen, ihm zu folgen

und ihm ähnlich zu werden in

ihrem Leben des völligen

Sich-Überlassens, indem sie

nichts für sich selbst wollen

außer Verachtung und Ver-

wirrung, indem sie aber für

Gott alles Gute wollen, Preis

und Ehre, ebensosehr von sich

selbst ganz und gar wie auch

von allen Geschöpfen. Das ist

das Leben, das die Mystiker

geführt haben nach einigen

besonderen Zuwendungen des

Willens, der begierig ist nach

der brennenden Sehnsucht

nach Gott und seiner Liebe,

die den Willen entflammen

und ihn beglücken über alles

verstandesmäßige Erkennen

hinaus. Diese Zuwendungen

und diese Gemütsbewegungen

aber sind die Entäußerung

und die Entblößung, die

Übereinstimmung (mit dem

Willen Gottes) und derglei-

chen mehr, was diesem not-

wendigerweise folgt. Diese

Zuwendungen haben die My-

stiker in allen Einzelheiten

beschrieben.

Nun ist es wahr, dass derjeni-

ge, den man Fortschritte ma-

chen sieht in dem Leben der

Liebe, fast sein ganzes Han-

deln einrichtet und immer

einrichten wird entsprechend

den verschiedenen Gelegen-

heiten, die sich ihm draußen

anbieten, sowohl von Seiten

Gottes wie auch durch die Hil-

fe der Menschen, die ihm

mehr oder weniger oft ausrei-

chende Mittel für diese Ange-

legenheit verschaffen. Indem

er sie mit reinem Herzen an-

nimmt, lässt er sie so ihre vol-

le und ungeteilte Wirkung

entfalten gemäß allem, was er

ist. Wenn ein solcher Mensch

wahre Fortschritte macht,

dann weiß er wohl auch war-

um und wie. Aber um den

großen Umweg dieser ganzen

Praxis in einigen wichtigen

Begriffen zusammenzufassen,

muss man wissen, dass ein

Mensch überhaupt keine

Fortschritte machen wird,

wenn er nicht irgendeine Un-

terscheidungsgabe, irgendeine

Erleuchtung, irgendeine Er-

kenntnis hat, was die Wege

angeht, die er hinterher von

Gott gewiesen bekommt. Die-

sem Menschen kann niemand

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

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durch Worte oder Unterwei-

sungen von außen eine ausrei-

chende Erleuchtung für die

wahre Unterscheidungsgabe

geben, selbst wenn er sich

sehr bemüht. Und zwar des-

halb, weil die Unterschei-

dungsgabe eine Folge der

Übungen ist, seien sie einge-

gossen oder angenommen,

deren Ergebnis es ist, im Ver-

stand die Sinne des Menschen

zu ändern. Und ebenso ist sie

eine Folge des Bemühens, die-

se Menschen ausreichend

unterrichten und erleuchten

zu wollen. Da ist nur wenig zu

machen, weil dieser Weg eini-

ge enge oder schlechte Weg-

strecken enthält, um die man

sie sorgfältig herumführen

muss. Die Mystiker behandeln

das ausführlich in ihren

Schriften, die ihr zu eurem

Nutzen oft lesen sollt – das ist

aber hier nicht unser Thema.

Aber dennoch muss man dar-

über wissen, dass man sein

Wohl nach der Ordnung Got-

tes wählen kann und dass die

Dinge, die man loslässt, nur

klein sind und dass es nur

ganz wenige sind. Es ist aber

immer sehr zu loben, wenn

das Loslassen aus dem alleini-

gen Motiv der reinen Liebe

geschieht. Das wahre Leben

des Loslassens in totaler

Übereinstimmung und

Gleichförmigkeit findet jedoch

erst statt, wenn Gott oder die

Menschen oder Gott und die

Menschen gemeinsam von

uns verlangen, in eine Rich-

tung zu gehen und zu leben,

die uns selbst ganz entgegen-

gesetzt ist – und zwar ohne

auf den Zeitpunkt, den Ort

oder die Personen zu achten.

Aber wie wir uns in völliger

Freiheit um unser sehr großes

Wohl kümmern dürfen, ist es

uns immer möglich, Besseres

und sehr Nützliches zu sehen,

den Gesprächen mit den Men-

schen zu entfliehen und die

völlige Zurückgezogenheit des

Körpers und des Geistes zu

wählen; dabei bleibt die Un-

terscheidung ausgenommen,

um alle Eigentümlichkeiten zu

vermeiden. Wenn wir uns das

Wohlsein für einen Moment

entziehen oder den Entzug

dem einen oder anderen unse-

rer Sinne auferlegen, wird das

besser Abtötung als Loslassen

genannt. Denn die Abtötung

entfernt aus uns die Wirkung

und den Gebrauch unserer

vollen Freiheit, während das

Loslassen die bleibenden Din-

ge in uns hineinbringt und

solche Dinge, die uns von gro-

ßer Dauer und Widersprüch-

lichkeit sind. Ihnen gegenüber

haben wir, wie es uns scheint,

überhaupt keine Freiheit uns

von ihnen freizumachen oder

etwas anderes zu tun als das,

was sich zu erdulden anbietet.

Und wir wissen nicht, dass wir

sehr frei sind diese Duldung

zu wollen durch einen positi-

ven Akt der Wahl, oder besser

gesagt, durch unsere liebende

Sehnsucht und durch unsere

liebende Duldung. Wenn wir

das Kreuz auf uns nehmen,

das dem Geist wie dem Körper

schwer, äußerst schmerzhaft

und beschwerlich wird, und

wenn es für eine lange Zeit ist,

dann geraten wir von der Ver-

fassung des Loslassens zu der

Verfassung der Hingabe,

wenn wir in dieser Lage im-

mer so stark und großmütig

sind, wie ich es annehme, dass

man es sein muss.

Damit sieht man ein wenig

davon, was die Abtötung, das

Loslassen und die Hingabe

sind. In ihrer Vollendung sind

sie sehr sanft und einfach;

aber am Anfang sind sie

schwer, in der Mitte sind sie

leicht, ganz nach dem An-

spruch, den der wahrhaft spi-

rituelle Mensch aufgrund ih-

rer wahren Stellung für die

vollendete Liebe an sie stellt.

Denn es läuft für ihn tat-

sächlich darauf hinaus, dass

er in völliger Übereinstim-

mung mit dem Willen Gottes

handelt, wenn er nicht gänz-

lich zwischen seinen Vermö-

gen schwebt, ohne große An-

strengung der Sinne, aber im

tiefsten Streben des Herzens

und im tiefsten und innersten

Streben seines Geistes. Wenn

er gänzlich zwischen seinen

Vermögen schwebt, so dass er

in seinen Entbehrungen nicht

tätig sein kann, wird er in der

ewigen Hingabe die Qualen

seines schmachtenden Stre-

bens des Geistes mit Freude

und Wonne aushalten, wenn

es nötig ist. Darin besteht die

besonders geläuterte und be-

sonders ausgezeichnete

Heiligkeit bei den starken und

großmütigen Seelen, die auf

diese Weise Gott vor allem das

Wirken und die Erleuchtung

durch seine Mitwirkung und

seine sachten Erleuchtungen

gewähren. Und es kommt von

der reinen und wesentlichen

Liebe, dass diese unaufhörli-

che Übung zu der Seele passt,

die wahrhaft treu ist bis zu

diesem Punkt.

Man braucht darüber nicht zu

einem Menschen zu sprechen,

der einzig den Geist eines na-

türlichen Gutes hat und der

nur in den Sinnen verharrt

und ihnen gemäß tätig ist.

Tat-sächlich wird er niemals

etwas besseres sein als seine

guten Werke, und er wird sich

niemals gebührend selbst los-

lassen und so wie es nötig ist,

wenn er sich unvermögend

sieht und ohne die Fähigkeit,

es zu tun. Deshalb ist das ak-

tive Leben, das mehr auf der

Ebene der Sinne als im mittle-

ren, d. h. in dem von den Sin-

nen getrennten vernünftigen

Teil der Seele ist, ein außeror-

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

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dentlicher Genuss für solche

Menschen, wegen der großen

Ehren, die sie dort zu finden

hoffen und glauben. Wenn sie

auch immer nur neue An-

strengungen in diesem Leben

unternehmen, wo sie vieles er-

leiden und erdulden, und dar-

in selbst ganz erfüllt sind von

ihren eigenen Wegen, ihren

Begierden und ihrem Trach-

ten, erfüllt von ihrem Besitz,

der alles ausmacht, was sie

sind, in totalem Nichtwissen

von sich selbst und von dem

wahren Gut in ihnen selbst.

Alle diese Menschen wollen

sich niemals loslassen, auch

nicht ein klein wenig. Wenn

sie manchmal dazu überredet

werden sich loszulassen, tun

sie es nur in einer extremen

Furcht, ihre Empfindungen

für Gott und ihren Geschmack

für ihn zu verlieren. Deshalb

lassen sie sich nicht los, und

deshalb geben sie sich von

sich selbst wirklich nur Klein-

igkeiten und das wenigste,

was sie können. Denn sie

können nicht glauben, dass es

für den Menschen die wahr-

haftige Heiligkeit ist, sich

selbst loszulassen, gleichgültig

gegen alles und ergeben zu

sein. Diese Irrtümer,

Dunkelheiten und Unglück

entstehen daraus, dass der

Mensch die Gabe und den Ge-

schmack Gottes als aus sich

selbst kommend ansieht, wäh-

rend sie doch von Gott gege-

ben sind, um ihn für die

Heiligkeit bereit zu machen.

Das ist eine sehr große Blind-

heit und ein sehr großes Un-

glück, denn dieses ist nur das

Mittel, um die Übung der

Heiligkeit zu erwerben, und

die Übung ist das Ziel, in dem

die wahrhaftigen Akte das

wahre Leben des Loslassens

sind und bewirken. Denn, um

es genau zu nehmen, was ist

dieses Leben anderes als die

Akte aller heiligen Übungen,

die nicht so viel an und für

sich selbst als darüber hinaus

geübt werden, während man

völlig verloren ist in Gott, des-

sen Majestät man in allem

immer wahrhaftig zufrieden-

stellen möchte, und nicht sich

selbst? Diese Wahrheit in ei-

nem solchen Leben löst die

wahren Freunde Gottes auf

diese Weise von sich selbst ab

und macht sie vollkommen an

Gott fest, damit sie aus und

von ihm und in ihm leben mit

einem völligen Loslassen von

allem, was sie sind, über die

süßesten Tröstungen seiner

zärtlichen Liebe hinaus, denn

das, was sie am meisten fürch-

ten, ist es, diese Tröstungen

selbst zu bekommen, wenn

man es sagen darf. Darüber-

hinaus wissen sie genau, dass

darin keinerlei dauerhaftes

Gut besteht, und dass das

wahre Gut in einer starken

Übung besteht, die teilweise

eingegossen und teilweise er-

worben ist, und auf alle Arten

von Akten aller Übungen

unablässig erstrebt und prak-

tiziert wird, die ein Leben des

völligen und vollständigen

Loslassens ausmachen, in ei-

ner völligen und wahren Ab-

sonderung von allem, was

nicht Gott ist. Dieses Wissen

und diese Kraft regen die

treue Seele immer mehr an,

sich vom Nachdenken über

sich selbst und über ihre eige-

nen Vorteile loszumachen und

zu befreien, mit Ausnahme

der Gaben Gottes; um in gro-

ßer Gleichgültigkeit zu leben

gegenüber Besitz oder Besitz-

losigkeit, dem Leben in Frie-

den oder Krieg, in der Samm-

lung oder Zerstreuung, Ver-

lust oder Gewinn, Demut oder

Neigung zum Hochmut, Akti-

on oder Kontemplation, in

innerer Ordnung oder Unord-

nung. Ja, sie lebt in großer

Gleichgültigkeit gegenüber all

diesen Ereignissen und Hand-

lungen. Sie glaubt, dass sie

immer auf sehr vollkommene

Weise von Gott viel mehr er-

hält als sie im Grund ihres

Elends verdient. Sie erweist

Gott in allem und unablässig

die Ehre für das, was er in sich

selbst ist, für das, was er in ihr

macht, und weil er erlaubt zu

ihm zu kommen mit ihrem

übergroßen inneren wie äu-

ßerlichen Unglück, Mühsal

und Beschwernissen, die ver-

ursacht werden durch die

Teufel wie durch die Men-

schen, sogar durch die besten

und heiligsten, die sich sehr

oft gegen sie erheben als sei

sie der eigentliche Feind Got-

tes und des ganzen Men-

schengeschlechts.

So aber, wie wir es beschrie-

ben haben, überlässt sich eine

Seele gemäß der Ordnung,

dem Wissen und der Erfah-

rung mit sehr großem Nutzen

dieser sehr mystischen

Heiligkeit in dem Maß, wie sie

Fortschritte macht in dieser

Praxis. So kann man zu Recht

sagen, dass solche Personen

in der mystischen Heiligkeit

leben, oder dass sie von ihr

leben. Von einem solchen Le-

ben wissen die Menschen, die

heilig sind nach der höchsten

Wirkung des aktiven Lebens,

oft überhaupt nichts, aber sie

missbilligen und verfolgen

diejenigen, die es führen, als

Müßiggänger und Feinde der

wahren Heiligkeit. Es ist diese

Heiligkeit, die die Menschen

des rein aktiven Lebens in Be-

tracht ziehen und nach der sie

vielleicht begierig streben,

wenn sie gut sind. Aber ande-

rerseits denken diejenigen, die

ein Leben des völligen Loslas-

sens führen, ebensowenig für

sich selbst daran, dass es je-

mals sein könnte, während ihr

Leben in Gott geborgen ist, in

dem sie völlig untätig ruhen.

Und wenn er ihnen erscheint,

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

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werden sie selbst mit ihm in

Herrlichkeit erscheinen. Das

wird dann sein, wenn der

Winter dieses Lebens endgül-

tig vorbei ist und wenn der

blühende Frühling mit allen

duftenden Schönheiten ge-

kommen sein wird, wenn man

die Reben schneidet und

wenn man auf Erden die

Stimme der Turteltaube hört.

Danach werden alle notwen-

digen Folgen eintreten, bis in

die Unendlichkeit und wie auf

einmal, um ein solches Leben

und einen solchen Tod mit

unendlichem Glück und Herr-

lichkeit zu erfüllen, einen sol-

chen Tod für ein solches Le-

ben. Übrigens ist ein solches

Leben über alle Wunder erha-

ben, die die Heiligen gewirkt

haben und wirken, was immer

ihr Platz bei Gott ist. Soweit es

so wunderbar ist in so weni-

gen Menschen, die es treu

üben, gehen sie darin auf, und

es scheint zuweilen, dass es

ganz und gar ist, was man

manchmal nicht glauben

muss: Es scheint so wegen der

großen Nacktheit, der Entbeh-

rung und der Schwäche, unter

denen man gebückt geht in

völliger Unwissenheit von sich

selbst und von Gott, in der

völligen Auflösung der niedri-

geren Kräfte. Dadurch weiß

man nicht, ob man tot ist oder

lebt, ob man verliert oder ge-

winnt, ob man nachgibt oder

Widerstand leistet. Nun, hier

gibt die sterbende Seele Gott

ihr Leben zurück. Es scheint

ihr, dass sie mehr aus

Schmerz und Angst stirbt und

ihr Leben aushaucht als aus

Liebe, doch empfindet sie den

Schmerz und die Liebesangst

in den Armen Gottes, wo sie

für immer bleibt. Sie ist ganz

und gar nachgiebig und hat

sich losgelassen, ja sie fügt

sich hingebungsvoll in alles,

was es auch sei, um ihm zu ge-

fallen.

Die Mystiker entwickeln diese

ganze Theorie im Hinblick auf

den Weg und die Mittel, das

heißt nach einer zweckmäßi-

gen Ordnung, um den Gipfel

der höchsten Vollkommenheit

zu erklimmen. Derjenige ist

ganz und gar vollkommen und

vollendet, wenn er einfach ge-

blieben ist und stark in der

Übung der Passivität, sei es

um auf ewig in Kontemplation

zu sein in einem sehr einfa-

chen und sehr schmucklosen

Festkleben an Gott, sei es um

sich an Gott festzumachen in

der Einfachheit und Schmuck-

losigkeit seiner Majestät

selbst, geschaffen im gering-

sten Stand; sei es auch um

gänzlich verlassen und ver-

sunken zu sein in diesem

unendlichen großen, wilden

und unergründlichen Meer, in

dem man völlig versunken,

einfach und ewig ist wie Seine

Majestät, oberhalb von jeder

Unterscheidung und jedem

Unterschied ist in dem Schau-

en und Erkennen des ewigen

Anblicks. Aber davon soll jetzt

nicht die Rede sein; wir haben

es nur en passant und bei die-

ser Gelegenheit gesagt.

Wenn wir also den Faden un-

serer Abhandlung wieder auf-

nehmen und fortsetzen, so sa-

gen wir, dass es niemals ein

Sich-selbst-Loslassen bei ei-

nem Subjekt geben wird, das

von Gott mit einer zärtlichen

Liebe berührt werden wird.

Ebenso sagen wir: wer nicht

Gott selbst mehr als seine Ga-

ben und seine Werke liebt,

wird niemals dazu gelangen,

das Einströmen der göttlichen

sehr starken und sehr ausge-

zeichneten Übungen zu erhal-

ten: sie sind es, die wahrhaft

das Loslassen bewirken und

die ihm eigen sind. Die Grün-

de dafür sind ohne Ende, ob-

gleich mehr oder weniger spi-

rituell bei diesen Personen in

dem ganzen Leben nach ihrer

ganzen Natur, in dem sie nie-

mals etwas verlieren wollen;

und wenn sie sich verlieren an

einer Stelle oder in einer Sa-

che, dann ist es um für sich

selbst mehr Vorteile zu ge-

winnen. Ebenso kennen diese

Menschen nur den Ge-

schmack und das Licht, und

sie wissen überhaupt niemals

etwas von dem wahren Lei-

den, von dem sie in dem Maße

entfernt sind wie sie unwis-

send und selbstverliebt sind.

Darauf muss man bemerken,

dass die ganze Kraft Gottes in

dem sich selbst loslassenden

Menschen in der Zeit der

Trockenheit in seinen oberen

Seelenvermögen wohnt. Denn

während dieser Zeit verspürt

und erleidet nur der untere

Teil die heftigen Stürme und

die Angriffe der Teufel und

der Natur, sein oberer Teil

bleibt stark und kräftig, um an

Gott festzukleben, er bleibt

völlig frei von diesen Gewal-

ten, und das geschieht trotz

der Heftigkeit seines starken

Schmerzes; die Seele ist dann

gleichermaßen weit entfernt

davon zu sündigen wie sündi-

gen zu wollen. Und selbst

wenn die Seele nicht bei ei-

nem so hohen Grad von Kon-

templation und einer so star-

ken Vereinigung und Umfor-

mung ihrer selbst in Gott an-

gekommen sein sollte, ist es

dasselbe: sie gelangt dort auch

hin wegen der liebenden Be-

mühungen, die die Seele in

der ganzen Zeit ihrer Ruhe

gemacht hat, um Gott, ihrem

vollendeten Bräutigam, in ih-

rer brennenden Liebe unab-

lässig alles zu geben, was ihr

zueigen ist.

Schließlich, so wie die Seele

sich beunruhigt und sich sorgt

das größte und das kleinste in

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

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seinen Werken zu suchen, be-

sitzt sie selbst darin weder die

Unterscheidungsgabe noch

die Erleuchtung. Ja, wirklich,

sie ist ohne Erleuchtung und

ohne wahre Unterscheidungs-

gabe – wie ich schon gesagt

habe –, denn sie weiß bei die-

ser Gelegenheit nicht, worin

ihr wahres Wohl besteht. Das

ist: Achtsam zu bleiben, um

sich allein in ihren Bräutigam

zu versenken, wenn es ihr

möglich ist – und wenn nicht,

mit Standfestigkeit und Ge-

duld den heftigen Schmerz

über sein Zurückziehen aus-

zuhalten, in der Erwartung

seiner ersehnten Rückkehr,

wenn es ihm gefallen wird das

zu tun. Aber niemals darf man

seinen Trost in den geschaffe-

nen Dingen suchen, was auch

immer geschehe. Wenn man

sich dem Äußeren zuwendet,

um sich dort auf irgendeine

Weise zu zerstreuen, darf es

nur dann sein, wenn es abso-

lut unvermeidlich ist. Schließ-

lich muss man auch lieber in

eine immerwährende Agonie

fallen, wenn Gott es so haben

will, als sich gegenüber seiner

göttlichen Majestät auch nur

im geringsten Maße untreu zu

zeigen.

Wie wir gesagt haben, ist das

wahre hingebungsvolle Sich-

Fügen nur für einige Zeit hart,

am Anfang und für die jungen

Anfänger; es ist schließlich

leicht und am Ende sehr

unangenehm. Das alles mutet

der treuen Seele ja überhaupt

immer zu, dass sie nach ihrem

ganzen Vermögen ihr Bestes

tut. Wenn sie dies tut und sich

von Gott führen lässt, macht

er sie zu einem sehr klaren

und glänzenden Spiegel, der

seine Größe, seine Einheit,

seine Vielfalt und all seine

göttlichen Vollkommenheiten

auf das beste wiederspiegelt,

was sie zur größten Freude

Gottes und zugleich auch zu

ihrer eigenen Freude völlig

genießt. Überhaupt kann

nichts Störendes, nichts Uner-

freuliches und nichts Be-

fremdliches diese Seelen er-

reichen, zumal da das Leben

aus Gott, aus dem und für den

sie leben, ihnen die Fülle des

Guten, der Ruhe und des

Friedens ist, über alle geschaf-

fenen Ereignisse hinaus.

Diese ganze Entwicklung

macht hinreichend deutlich,

wie selten solche Menschen

sind, wenig bekannt, geschätzt

und zum Vorbild genommen

– selbst in allem, was in den

Augen der Menschen sehr

vorzüglich und hervorragend

an Heiligkeit ist, folgen doch

die meisten Menschen nur ih-

rem Körper und seiner Heilig-

keit, selbst wenn es unter ih-

nen viele bessere im Hinblick

auf den Geist gibt dank der

ununterbrochenen Berührun-

gen, die in ihnen geschehen:

ich sage, dass alle den An-

schein für das Wahre und den

Schatten für die Wahrheit hal-

ten. Auch die wahren Freunde

Gottes sind bei Ihresgleichen

nicht bekannt, denn ihre Ei-

genart ist es, soweit wie mög-

lich verborgen zu sein, gemäß

dem Anspruch des Lebens im

wahrhaften Loslassen seiner

selbst. Wer verstehen kann,

wird verstehen; wer nicht, der

lässt die Dinge so wie sie sind,

wie alles, was über ähnliche

Themen geschrieben worden

ist.

Was wir darüber gesagt ha-

ben, dass die Seele, die sich

selbst losgelassen hat, in ih-

rem Schwebezustand alle Akte

ihrer Übung macht, muss man

so verstehen, dass das voll-

kommen richtig ist für alles,

was sie darüberhinaus voll-

bringen möchte, was immer es

sei und so lange wie man dar-

an denken kann. Denn sie

verbleibt in ihrem Inneren in

Jubel, Freude und Zufrieden-

heit, sehr erhoben durch Gott

in ihm selbst, von ihm in sei-

nen tiefsten Grund und in all

seine Vermögen gezogen, und

in ausgezeichneter Weise und

für lange Zeit wieder einge-

setzt in die Übung seiner

„passiven Kraft“, wodurch sie

in allen Ereignissen edel und

ausgezeichnet handelt, gemäß

der sehr reinen und sehr we-

sentlichen Liebe. Dadurch

hängt sie in großer Hingabe,

einfach, ausgezeichnet und in

Frieden seiner unendlichen

Liebe an, und sie sehnt sich

danach, in dieser Fülle im

ewigen Paradies zu sein, im

völligen Loslassen ihres Le-

bens und ihres Todes, wenn

Seine Majestät es so haben

will. Auch erfreut eine solche

Seele nichts anderes als Gott

unablässig zu erfreuen in al-

lem, was sie ist, auf ihre eige-

nen Kosten für die Ewigkeit.

Sie gibt die kostbare Heilig-

keit Gottes in all ihren sehr

kostbaren Gaben an alle seine

Freunde weiter, ohne sich

sonderlich um sich selbst zu

sorgen, da sie meint, immer

viel mehr zu haben als sie

verdient, ohne damit zu rech-

nen, dass sie unablässig die

Heiligkeit Gottes in all seinen

Freunden mehr liebt als in

sich selbst und für sie. Da es

so ist, ist sie erfüllt von der

Heiligkeit aller in der Wahr-

heit der reinen, innigen, star-

ken, hingebungsvollen, einfa-

chen und wesentlichen, näm-

lich bei vielen Mystikern

„überwesentlich“ genannten

Liebe, nicht zurückstrahlend

und oft nicht zurückgestrahlt,

und sie lebt auf diese Weise,

indem sie sich an Gott fest-

macht in dem Loslassen ihrer

selbst und dem vollkomme-

nen hingebungsvollen Sich-

Fügen; darin und dafür lebt

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Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson

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sie über alles Wissen, alle

Kenntnis, alle Überlegung und

alle Unterscheidung hinaus,

und sie ist immer vollkommen

und gleichermaßen zufrieden

mit allem, was geschieht.

Ferner ist es gut zu wissen,

dass die Natur selbst bei den

sehr Fortgeschrittenen dazu

neigt, sich selbst noch einmal

zu suchen und sich an sich

selbst zu erfreuen, so dass,

wenn man ihr eine Sache

wegnimmt, sie sofort ihre Zu-

flucht zu einer anderen

nimmt, um dort zu ruhen und

sich zu erfreuen. Wenn man

ihr ein sinnlich wahrnehmba-

res Objekt wegnimmt, nimmt

sie sofort Zuflucht zu einem

spirituellen. Wenn man ihr

die Objekte des Geistes

nimmt, wird sie zu Gott selbst

ihre Zuflucht nehmen, um bei

ihm zu ruhen, das heißt als

gegenwärtiger Akt, der den

gegenwärtigen Schmerz über

die Sache betrifft, die ihr ge-

nommen wurde. Man muss

das sorgfältig mit solchen

mehr oder weniger groben

oder mehr oder weniger fei-

nen Überlegungen bedenken,

um die spirituellen Menschen,

die zu uns gehören, auf keinen

Fall stillstehen oder an sich

selbst festhalten zu lassen.

Man muss ihnen vorschrei-

ben, dass sie sich von all die-

sem und von sich selbst zu-

rückziehen, um sich mit Gott

zu vereinen und sich an ihm

festzumachen in der Zeit des

Verborgenseins und des Zu-

rückziehens. Dieses machen

die Menschen in sich selbst,

beziehungsweise Gott macht

es mit seinen Gaben und sei-

nem sachten Wirken in ihnen,

bevor er sie zur gänzlichen

Läuterung und Vervollkomm-

nung bringt. Deshalb ist es

während dieser ganzen Zeit

gut, dass sie diese Art von

Schmerz weder übersteigern

noch ihm Widerstand

entgegensetzen, wenn es nicht

in der Tiefe des einfachen

Wunsches ist. Aber sie dürfen

sich nicht selbst ein Objekt

der Zuneigung zu Herzen

nehmen, um es auf Gott hin

auszudehnen und das Wider-

streben, den Widerspruch und

die Regungen über das, was

ihnen genommen wurde,

überhaupt nicht mehr zu ver-

spüren. Und sie dürfen dabei

auch nicht mehr bei Gott

selbst ihre Zuflucht suchen,

denn das wäre auch von einer

subtilen Sinnlichkeit, selbst

wenn die Sache und die Akti-

on gut, vernünftig und sinn-

voll erscheinen. Dieser Punkt

hat keine geringen Folgen.

Man muss folgende Wahrheit

kennen: alle, für die die

Übung nur in der alleinigen

Klarheit besteht, bleiben in

sich selbst und in ihrer natür-

lichen Liebe. Deshalb kom-

men sie niemals über sich

selbst hinaus und vermögen

auch nicht über sich selbst

hinauszukommen, um Gott

durch Leiden und Sterben in

bloßer Liebe zu folgen. Selbst

wenn sie große Dinge zu tun

scheinen, gelangen sie in ih-

ren Werken kaum einmal über

eine Aktion hinaus, die für die

Natur angenehm und akzep-

tabel ist, ohne dass es ihnen

möglich ist, jemals weiter vor-

anzukommen. Und das umso

mehr, da sie den Geist Gottes

des öfteren nach ihrem eige-

nen Geschmack und ihren ei-

genen Vorlieben umgewandelt

haben; und indem sie über

sich selbst und nicht in Gott

nachsinnen, sind sie sinnlich

geblieben in ihrem Empfin-

dungsvermögen und dem Ge-

schmack ihres eigenen natür-

lichen Geistes, und sehr oft

dem Geist des Teufels, der

sich mit ihrem Geist vereinigt.

Daraus folgt, dass sie für im-

mer unfähig sind zur Wen-

dung des Geistes nach innen,

tief, einfach und bloß, um sich

selbst hingebungsvoll zu fü-

gen, wie ich es gesagt habe.

Doch diejenigen, deren Übung

nicht allein in der Klarheit,

sondern zugleich in der Lie-

besglut besteht, die unablässig

über Gott und nicht über sich

selbst nachsinnen, sind allein

frei, um auf vollkommene

Weise Gott zu folgen auf sei-

nen einsamen, trockenen und

steinigen Wegen des Loslas-

sens von Leib, Seele und

Geist, auf jede nur denkbare

Weise, nämlich auf ihre eige-

nen Kosten, selbst bis zur

gänzlichen Aufzehrung des

tiefsten Kerns ihrer Seele und

ihres Lebens. Deshalb streben

sie unablässig in die Höhe

durch die einfache und hinge-

bende Liebe, in der sie bren-

nen und sich verzehren, und

sie verbleiben unablässig

durch ihre sehr einfache

Übung in der Ewigkeit, wo es

unmöglich ist, sie jemals zu

erfassen. Wenn solche Men-

schen in irgendeine Unbußfer-

tigkeit fallen, erheben sie sich

alsbald wieder daraus, indem

sie mit neuer Liebesglut und

Aktivität des Geistes in Gott

versinken, von dem sie ge-

trennt waren.

Das ist der Unterschied zwi-

schen den einen und den an-

deren, durch den man sehr

leicht und vollkommen den

Anschein von dem Wahren

unterscheiden kann. Denn

darin unterscheidet sich die

heilige Liebe von der Eigen-

liebe: die beiden sind sich

ähnlich wie zwei Haare des

Kopfes und sie unterscheiden

sich doch völlig durch die Zeit

und die Wirkungen. Infolge-

dessen muss man sagen, dass

die sinnlichen Menschen, von

denen wir oben gesprochen

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haben, die irgendetwas der

wahren Barmherzigkeit Ent-

sprechendes zu tun scheinen,

sich ein Leben der Phantas-

men erdacht und eingerichtet

haben, das zwar vernünftig ist

mit seinen Vorschriften, aber

doch mehr dazu dient, zu

handeln als zu büßen und sich

selbst loszulassen. Seine Be-

grenzungen und Grenzen sind

die einer rein natürlichen

Vernunft, innerhalb deren

man nicht über sich hinaus-

kommen kann und können

wird, selbst nicht mit den Be-

griffen und in den Grenzen,

die sie sich dafür vorgeschrie-

ben und eingerichtet haben.

Deshalb muss man sie, wenn

man sie auf die Probe stellt,

ob das von Gott oder ebenso

von den Menschen kommt,

notwendigerweise so sehen

wie sie sind, nämlich voll von

Fehlern, verdorben und völlig

sinnlich im Geist, wie man sa-

gen muss. So ist es nicht not-

wendig, den Sinn des ganzen

in seinen Einzelheiten zu ent-

wickeln: sie sind hinreichend

bekannt und verstanden unter

den umfassenden Begriffen

des sinnlichen Menschen und

der Sinnlichkeit.

Im übrigen übt sich jede wah-

re Tugend über den Verstand

ein, entweder indem sie in ihn

selbst eingeht, oder in dem

Gleichmut des Herzens und

des Geistes, wenn sie vollkom-

men erworben ist. Das ist eine

ziemlich leichte Theorie, aber

dennoch ist sie nicht allge-

mein. In der Tat, solange man

das geringste Widerstreben

gegen die Welt im Verstand

spürt, gibt es dort überhaupt

keine Tugend; aber wenn der

Verstand sich an der Tugend

erfreut und das Herz hier

ebenso ruht wie sie, welche

Tugend es auch sei, ist sie ver-

nunftgemäß erworben.

Textgrundlage:

Jean de Saint-Samson. Oeuv-

res Completes 1. L’Éguillon,

les Flammes, les Flèches et le

Miroir de l’Amour de Dieu,

propres pour enamourer

l’Âme de Dieu en Dieu

mesme. Intro-duction et

Commentaire par Hein

Blommestijn. Rom 1992

(Vacare Deo 11).

Jean de Saint-Samson, Oeuv-

res mystiques. L’Aiguillon, les

Flammes, les Flèches et le

Miroir de l’Amour de Dieu,

propres à éprendre l’Âme de

Dieu en Dieu lui-même. Texte

établi et présenté par Hein

Blommestijn O.Carm. et Max

Huot de Longchamp. Paris

1984 (Sagesse chrétienne).