Der Schimmelreiter - Analyse

14
“Der Schimmelreiter” metaphysisch betrachtet – Teil I Teil 1: “Die Welt als Wille und Vorstellung” Gebote, Gesetze, Verfügungen, Statuten, Theorien und Thesen sind künstlich angelegte Wälle, welche die dekadenten Zeitalter und deren Menschen vergeblich gegen den unwiderstehlichen Fluß der natürlichen Dinge errichten. Die Tragik sowie auch evolutionäre Notwendigkeit dieser Tatsache ist nirgendwo so verkörpert, wie in Theodor Storms pansophischer Novelle: “Der Schimmelreiter”. Die Metaphorik des visionär geplanten, mit Tatkraft und Stärke errichteten und doch am Ende berstenden Deiches, spiegelt dies deutlich wieder. Doch ist dies nicht die einzige allegorische Metapher, die das, im Juli 1886 begonnene und im Februar 1888 beendete, Werk beinhaltet. Das Zitat: „Die Physik erklärt die Geheimnisse der Natur nicht, sie führt sie auf tieferliegende Geheimnisse zurück.“1, fasst die Ereignisse sowie auch die Handlung treffend und wundervoll zusammen. Das geradezu monumentale Werk ist voll von Mystizismus, verkörpert in verschiedenen Ereignissen und Lebewesen, welche tiefergreifende Mächte schildern und doch dem Leser stets verborgen bleiben. Es ist voll von Urgewalten und Atavismus, geographischer Identität und traditioneller Besinnung; das Vertraute und Fremde stehen in enger Beziehung, ja mehr noch, es gehört sogar zusammen. Dualismus in Reinstform. Ein Aufeinanderprallen höherer Mächte im kosmischen Urstrom. Stets gestaltend und formend, ausgedrückt in der Gleichung: Keine Zerstörung ohne Aufbau – Kein Aufbau ohne Zerstörung. Aber an dieser Stelle ist es nun Zeit uns genauer in die Weiten und Geheimnisse Storms Erzählung zu verlieren…. I Wir befinden uns also, in dem tragischen Geschehen rund um Hauke Haien, des visonären Genius’ und erhabenen Einzelgängers, der mit seinem Willen zur Macht geradezu auf den Idealtyp des Homo superior zu strebt. Eingebettet wird diese Darlegung in einer Rahmenhandlung, die der Schulmeister eines Dorfes, einem Reiter in einer Kneipe erzählt. Friedrich Nietzsches Zitat „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“2 kommt innerhalb der Novelle zur vollen Geltung. Der selbst herbei geführte und eventuell auch vom Schicksal vorher gesehene Abgrund von Hauke lässt hierbei einen ungeheuren Zwiespalt in dem Leser entstehen. Jeder der selbst seine innere Stimme vernimmt, fühlt und leidet mit. Und letztendlich, wenn das Schicksal des Hauptprotagonisten besiegelt ist, bleibt man fassungslos und nachdenklich über die unüberschaubaren und undurchdringlich gewebten Stränge der Verdandi, Urd und Skuld zurück. Doch zurück zum Geschehen. Hauke ist der Sohn eines Landvermessers und Kleinbauern. Schon früh ist er auffällig mit einer Andersartigkeit behaftet und es zeigt sich bereits zu Beginn der Erzählung klar, dass er mit dem

Transcript of Der Schimmelreiter - Analyse

Page 1: Der Schimmelreiter - Analyse

“Der Schimmelreiter” metaphysisch betrachtet – Teil I

Teil 1: “Die Welt als Wille und Vorstellung”Gebote, Gesetze, Verfügungen, Statuten, Theorien und Thesen sind künstlich angelegte Wälle, welche die dekadenten Zeitalter und deren Menschen vergeblich gegen den unwiderstehlichen Fluß der natürlichen Dinge errichten.

Die Tragik sowie auch evolutionäre Notwendigkeit dieser Tatsache ist nirgendwo so verkörpert, wie in Theodor Storms pansophischer Novelle: “Der Schimmelreiter”.Die Metaphorik des visionär geplanten, mit Tatkraft und Stärke errichteten und doch am Ende berstenden Deiches, spiegelt dies deutlich wieder. Doch ist dies nicht die einzige allegorische Metapher, die das, im Juli 1886 begonnene und im Februar 1888 beendete, Werk beinhaltet.

Das Zitat: „Die Physik erklärt die Geheimnisse der Natur nicht, sie führt sie auf tieferliegende Geheimnisse zurück.“1, fasst die Ereignisse sowie auch die Handlung treffend und wundervoll zusammen.Das geradezu monumentale Werk ist voll von Mystizismus, verkörpert in verschiedenen Ereignissen und Lebewesen, welche tiefergreifende Mächte schildern und doch dem Leser stets verborgen bleiben. Es ist voll von Urgewalten und Atavismus, geographischer Identität und traditioneller Besinnung; das Vertraute und Fremde stehen in enger Beziehung, ja mehr noch, es gehört sogar zusammen. Dualismus in Reinstform. Ein Aufeinanderprallen höherer Mächte im kosmischen Urstrom. Stets gestaltend und formend, ausgedrückt in der Gleichung: Keine Zerstörung ohne Aufbau – Kein Aufbau ohne Zerstörung.

Aber an dieser Stelle ist es nun Zeit uns genauer in die Weiten und Geheimnisse Storms Erzählung zu verlieren….

I

Wir befinden uns also, in dem tragischen Geschehen rund um Hauke Haien, des visonären Genius’ und erhabenen Einzelgängers, der mit seinem Willen zur Macht geradezu auf den Idealtyp des Homo superior zu strebt. Eingebettet wird diese Darlegung in einer Rahmenhandlung, die der Schulmeister eines Dorfes, einem Reiter in einer Kneipe erzählt.

Friedrich Nietzsches Zitat „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“2 kommt innerhalb der Novelle zur vollen Geltung. Der selbst herbei geführte und eventuell auch vom Schicksal vorher gesehene Abgrund von Hauke lässt hierbei einen ungeheuren Zwiespalt in dem Leser entstehen.Jeder der selbst seine innere Stimme vernimmt, fühlt und leidet mit. Und letztendlich, wenn das Schicksal des Hauptprotagonisten besiegelt ist, bleibt man fassungslos und nachdenklich über die unüberschaubaren und undurchdringlich gewebten Stränge der Verdandi, Urd und Skuld zurück.

Doch zurück zum Geschehen.

Hauke ist der Sohn eines Landvermessers und Kleinbauern. Schon früh ist er auffällig mit einer Andersartigkeit behaftet und es zeigt sich bereits zu Beginn der Erzählung klar, dass er mit dem

Page 2: Der Schimmelreiter - Analyse

faustischen Drang beseelt ist, der ihn zum streben nach Höherem antreibt, führt und bemächtigt.So gibt er sich nicht zufrieden mit dem, was aus dem Werden in das Sein transzendiert ist, sondern fühlt sich aus seinem Inneren her berufen auch das Kommende und somit zugleich das Vergehen, welches das Kommende bedingt und in sich trägt, tatkräftig und weitsichtig zu gestalten und zu formen.

[...] den Euklid hatte er allzeit in der Tasche, und wenn die Arbeiter ihr Frühstück oder Vesper aßen, saß er auf seinem umgestülpten Schubkarren mit dem Buche in der Hand.Und wenn im Herbst die Fluten höher stiegen und manch ein Mal die Arbeit eingestellt werden mußte, dann ging er nicht mit den andern nach Haus, sondern blieb, die Hände über die Knie gefaltet, an der abfallenden Seeseite des Deiches sitzen und sah stundenlang zu…erst wenn ihm die Füße überspült waren und der Schaum ihm ins Gesicht spritzte, rückte er ein paar Fuß höher und blieb dann wieder sitzen. Er hörte weder das Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möwen und Strandvögel, die um oder über ihm flogen und ihn fast mit ihren Flügeln streiften, mit den schwarzen Augen in die seinen blitzend.[...]

Nach langem Hinstarren nickte er wohl langsam mit dem Kopfe oder zeichnete, ohneaufzusehen, mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als ob er dem Deiche damit einensanfteren Abfall geben wollte. Wurde es so dunkel, daß alle Erdendinge vor seinen Augenverschwanden und nur die Flut ihm in die Ohren donnerte, dann stand er auf und trabte halbdurchnäßt nach Hause.[...]

Als er so eines Abends zu seinem Vater in die Stube trat, der an seinen Meßgeräten putzte, fuhr dieser auf: »Was treibst du draußen? Du hättest ja versaufen können, die Wasser beißen heute in den Deich.«Hauke sah ihn trotzig an.- »Hörst du mich nicht? Ich sag, du hättst versaufen können.«»Ja«, sagte Hauke; »ich bin doch nicht versoffen!«»Nein«, erwiderte nach einer Weile der Alte und sah ihm wie abwesend ins Gesicht – »diesmalnoch nicht.«»Aber«, sagte Hauke wieder, »unsere Deiche sind nichts wert!«- »Was für was, Junge?«»Die Deiche, sag ich!«- »Was sind die Deiche?«»Sie taugen nichts, Vater!« erwiderte Hauke.Der Alte lachte ihm ins Gesicht. »Was denn, Junge? Du bist wohl das Wunderkind aus Lübeck!«Aber der Junge ließ sich nicht irren. »Die Wasserseite ist zu steil«, sagte er; »wenn es einmalkommt, wie es mehr als einmal schon gekommen ist, so können wir hier auch hinterm Deichersaufen!«Der Alte holte seinen Kautabak aus der Tasche, drehte einen Schrot ab und schob ihn hinter dieZähne. »Und wieviel Karren hast du heut geschoben?« frug er ärgerlich; denn er sah wohl, daß auch die Deicharbeit bei dem Jungen die Denkarbeit nicht hatte vertreiben

Page 3: Der Schimmelreiter - Analyse

können.»Weiß nicht, Vater«, sagte dieser, »so, was die andern machten; vielleicht ein halbes Dutzendmehr; aber – die Deiche müssen anders werden!«»Nun«, meinte der Alte und stieß ein Lachen aus; »du kannst es ja vielleicht zum Deichgrafbringen; dann mach sie anders!«»Ja, Vater!« erwiderte der Junge.Der Alte sah ihn an und schluckte ein paarmal; dann ging er aus der Tür; er wußte nicht, was erdem Jungen antworten sollte.[...]

Auch als zu Ende Oktobers die Deicharbeit vorbei war, blieb der Gang nordwärts nach dem Haffhinaus für Hauke Haien die beste Unterhaltung…. Stand eine Springflut bevor, so konnte man sicher sein, er lag trotz Sturm und Wetter weit draußen am Deiche mutterseelenallein; und wenn die Möwen gackerten, wenn die Wasser gegen den Deich tobten und beim Zurückrollen ganze Fetzen von der Grasdecke mit ins Meer hinabrissen, dann hätte man Haukes zorniges Lachen hören können. »Ihr könnt nichts Rechtes«, schrie er in den Lärm hinaus, »so wie die Menschen auch nichts können!«

Manchmal hatte er eine Faust voll Kleierde mitgebracht; dann setzte er sich neben den Alten,der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem Schein der dünnen Unschlittkerze allerleiDeichmodelle, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser und suchte darin die Ausspülung der Wellen nachzumachen, oder er nahm seine Schiefertafel und zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte.[...]Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der Schulbank gesessen hatten, fiel ihm nicht ein, auchschien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts gelegen sei. Als es wieder Winter geworden und der Frost hereingebrochen war, wanderte er noch weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den Deich hinaus, bis die unabsehbare eisbedeckte Fläche der Watten vor ihm lag [...]

Wie alle handelnden Charaktere im “Schimmelreiter” ist auch die Gestalt des Hauke Haiens stets undurchdringlich, unnahbar und ambivalent. Nie werden die wahren Beweggründe offenkundig oder gar geschildert. Und sind wir denn selbst nicht ebenfalls alle ein verschlunger Dschungelpfad? Ein Dickicht aus undurchdringbaren Ranken und Wurzeln? Und um erneut, wie wir es bereits eingangs dieser Betrachtung taten, noch einmal Nietzsche Ehre zu zollen: “Aber es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, in’s Dunkle, Tiefe, – in’s Böse.”3

So zeigt sich auch in Storms Werk eine deutliche Obsession zum Unheilvollen, Unterbewussten und zum Unbekannten.

[...] Im Februar bei dauerndem Frostwetter wurden angetriebene Leichen aufgefunden; draußen am offenen Haff auf den gefrorenen Watten hatten sie gelegen [...]Hauke stand schweigend daneben; aber sobald er konnte, schlich er sich auf den Deich hinaus;es war nicht zu sagen, wollte er noch nach weiteren Toten suchen, oder zog ihn nur das

Page 4: Der Schimmelreiter - Analyse

Grauen,das noch auf den jetzt verlassenen Stellen brüten mußte. Er lief weiter und weiter, bis er einsam in der Öde stand, wo nur die Winde über den Deich wehten, wo nichts war als die klagenden Stimmen der großen Vögel, die rasch vorüberschossen; zu seiner Linken die leere weite Marsch, zur andern Seite der unabsehbare Strand mit seiner jetzt vom Eise schimmernden Fläche der Watten; es war, als liege die ganze Welt in weißem Tod.Hauke blieb oben auf dem Deiche stehen, und seine scharfen Augen schweiften weit umher;aber von Toten war nichts mehr zu sehen; nur wo die unsichtbaren Wattströme sich darunterdrängten, hob und senkte die Eisfläche sich in stromartigen Linien.

[...] an einem der nächsten Abende war er wiederum da draußen. Auf jenenStellen war jetzt das Eis gespalten; wie Rauchwolken stieg es aus den Rissen, und über das ganze Watt spann sich ein Netz von Dampf und Nebel, das sich seltsam mit der Dämmerung des Abends mischte. Hauke sah mit starren Augen darauf hin; denn in dem Nebel schritten dunkle Gestalten auf und ab, sie schienen ihm so groß wie Menschen. Würdevoll, aber mit seltsamen, erschreckenden Gebärden; mit langen Nasen und Hälsen sah er sie fern an den rauchenden Spalten auf und ab spazieren; plötzlich begannen sie wie Narren unheimlich auf und ab zu springen, die großen über die kleinen und die kleinen gegen die großen; dann breiteten sie sich aus und verloren alle Form.[...]

Erst als die Finsternis alles bedeckte, schritt er steifen, langsamen Schrittes heimwärts. Aberhinter ihm drein kam es wie Flügelrauschen und hallendes Geschrei. Er sah nicht um; aber er ging auch nicht schneller und kam erst spät nach Hause; doch niemals soll er seinem Vater oder einem andern davon erzählt haben. [...]

Die Urmotive, die hier beschrieben werden, sind die gleichen, die uns alle durchdringen.Die auch uns, auf unseren Wegen stets begleiten, stets latent vorhanden sind. Manchmal kratzen sie an der Oberfläche und versuchen sich zu äußern, doch die Auswüchse einer “zivilisierten” und modernen Welt, versuchen sie mittels falschen Propheten, falschen Theorien und gelogenen Wahrheiten in Fesseln zu halten.

Nur selten findet ein Aufbrechen dieser fest verankerten Urtümlichkeiten statt. Aus unserer jüngeren Zeit ist als Beispiel, das Aufkommen der sogenannten “Black Metal” Subkultur zu nennen.

Wahrscheinlich völlig unbeabsichtigt brach da ein Schwall längst vergangener Eigenschaften hervor. Denn genau wie man es in den Beschreibungen der altgermanischen Oskorei nachlesen kann, verwendeten ebenfalls die Nachkommen alter Germanenstämme, die Künstler des Schwarz Metalls, Bemalungen. Auch werden die Stimmen zu einen gespenstischen Heulen verstellt und das Verwenden von Pseudonamen, mit denen man einen Identitätswechsel vollzieht, war und ist innerhalb des Black Metal etwas fest gegebenes. In der Oskorei verstellten die Gestalten ihre Stimmen, gaben sich andere Namen und setzten sich Masken auf. Desweiteren ist der elektronische Lärm vergleichbar mit dem Lärm des Oskorei Zuges. Unsere Altvorderen feierten die sogenannten Lärm und Klopftage. Sollte es hierbei eine Analogie zu modernen Konzertveranstaltungen geben? Doch genug an dieser Stelle – auf die Beziehungen zur Tradition wird in einem weiteren Teil dieser Aufsatzreihe noch explizit eingegangen werden. Dem interessierten Leser sei auch an dieser Stelle noch der Artikel “Der politische Lärm des Black Metal” (Von Wolf-Dieter Lassotta aus Jugend und Revolte/Blaue Narzisse) auf dieser Weltnetzpräsenz empfohlen.

Als nun der alteingesessene Deichgraf, in der Gestalt des Tede Volkerts, einen seiner Knechte entlässt, sieht Hauke seine Chance und Zeit gekommen und bewirbt sich um die Stelle, die er auch

Page 5: Der Schimmelreiter - Analyse

zugesprochen bekommt. Hauke´s Vater übt im Vorfeld jedoch Kritik an dem Deichgraf, da dieser den Posten nur durch Vetternwirtschaft erhalten hat. Ein Umstand der sich wohl auch heute nicht geändert hat, schaut man einmal hinter die Kulissen einzelner Konzerne, Firmen und auch etablierter Parteien. In der Zeit als Kleinknecht entwickelt und formt sich der Charakter von Hauke weiter:

[...] Und Hauke hatte so unrecht nicht gehabt; die Welt, oder was ihm die Welt bedeutete, wurde ihm klarer, je länger sein Aufenthalt in diesem Hause dauerte; vielleicht um so mehr, je weniger ihm eine überlegene Einsicht zu Hülfe kam und je mehr er auf seine eigene Kraft angewiesen war, mit der er sich von jeher beholfen hatte. [...]

In diesem Textauszug wird etwas enorm Wichtiges, zum ersten Mal klar, deutlich angerissen und auch ausgesprochen. Nämlich, um mit Worten von Aleister Crowley zu sprechen: dass es für jeden Mann und jede Frau gilt, den wahren Willen zu finden, die Natur und die Kräfte des eigenen Seins zu entdecken, über die eigene Natur nach zu denken und jedes Element daraus zu erwägen. Und zwar sowohl getrennt von, als auch in Beziehung zu allem anderen, um exakt das wahre Ziel der Totalität des Seins zu beurteilen. Dies schließt alles ein, was ist oder was möglich sein kann. Auch ist man gefordert jede Fähigkeit und jede Fertigkeit die man besitzt in angemessener Harmonie und im richtigen Verhältnis zu entwickeln. Denn in der Welt offenem Schlachtfeld ist jeder Mensch ein Kämpfer; und um ein erfolgreicher Kämpfer zu werden muß man berechnend und mutig sein, einen kühlen Kopf bewahren, gnadenlose Strategien besitzen, ein tapferes Herz, einen starken Arm und eine unbezwingbare Entschlossenheit.4An dieser Stelle wollen wir noch einmal einen kleinen Streifzug in unsere kulturelle Sagenwelt unternehmen, um erneut die oben genannten Worte zu untermauern.

Die Heimat der Einherjer, der Gotteskrieger, ist Walhalla (wal Wahl oder Tod + hall Halle). Von den Walküren nach dem Tode auf dem Schlachtfeld dorthin geleitet, werden sie jede Nacht mit Schweinefleisch und Met verköstigt und jeden Morgen kehren sie zum Kampf zurück, um immer wieder erschlagen zu werden; das Motiv der “ewigen Wiederkehr“, wie es Nietzsche ausdrückte und es schon seit je her im Phönix symbolisiert ist. Auch im “Schimmelreiter” findet sich dieser Aspekt des Metaphysischen wieder.

Walhalla wird durch viele Hindernisse geschützt: Sie ist von einem Wassergraben (Thund) umgeben, in dem ein Werwolf (Thjodwitnir) gierig auf Menschen lauert.Ihre Pforte wird durch eine höhere Magie gesichert, und über dem Tor der Halle hängt ein Wolf angenagelt, der von einem blutenden Adler gekrönt wird. Zusätzlich wird sie durch Odins zwölf Wolfshunde geschützt.

Jedes Hindernis zur Halle der Auserwählten steht symbolisch für eigene Unvollkommenheiten und innere Hindernisse, die besiegt und überwunden werden müssen, um zu einem höheren Stadium des Selbst zu transzendieren. Der Krieger, der den Strom der Zeit (Thund) und den Strom des Zweifels (Ifing) überqueren möchte, muß eine unerschütterliche Entschlossenheit und Selbstführung wahren, wenn er nicht von den turbulenten Strömungen zeitlicher Existenz fort gerissen werden will. Er muß dem niederen Verlangen seiner animalischen Natur (den Verlockungen von Thjodwitnir) ausweichen.Als nächstes muß der Neophyt, der gen Walhalla strebt, die Hunde Geri (Gier) und Freki (Völlerei) überwinden: Er muß jegliches Verlangen, selbst das Verlangen nach Weisheit, die er sucht, vermeiden, wenn er sie erreichen will.Um das Geheimnis der magischen Pforte zu finden, muß er Stärke der Aspiration, Reinheit des Motivs und eine unbeugsame Entschlossenheit haben. Der Wolf und der Adler müssen besiegt und über dem Eingang zur Halle angenagelt werden, um diese gegen ihr Eindringen zu schützen. Das bedeutet Besiegen der bestialischen Natur (der Wolf) und des Stolzes (der Adler) kurz um, das Ablegen der Selbstsucht und somit das Transzendieren zur Selbstlosigkeit.

Page 6: Der Schimmelreiter - Analyse

Ein Vorgang den übrigens auch Hauke in letzter und unausweichlicher Konsequenz vollzieht, wenn er sich in die Fluten des berstenden Deiches wirft.

[...] aber – es war noch eins, und es schoß ihm heiß zu Herzen, er wußte es nur zu gut – im vorigen Sommer, hätte damals Ole Peters’ böses Maul ihn nicht zurückgehalten – da lag’s! Er allein hatte die Schwäche des alten Deichs erkannt; er hätte trotz alledem das neue Werk betreiben müssen. »Herr Gott, ja, ich bekenn es«, rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, »ich habe meines Amtes schlecht gewaltet!«[...]

Die starren Augen des Reiters, der so einsam auf dem Deiche hielt, sahen weiter nichts. »Das Ende!« sprach er leise vor sich hin; dann ritt er an den Abgrund, wo unter ihm die Wasser, unheimlich rauschend, sein Heimatsdorf zu überfluten begannen; noch immer sah er das Licht von seinem Hause schimmern; es war ihm wie entseelt. Er richtete sich hoch auf und stieß dem Schimmel die Sporen in die Weichen; das Tier bäumte sich, es hätte sich fast überschlagen; aber die Kraft des Mannes drückte es herunter. »Vorwärts!« rief er noch einmal, wie er es so oft zum festen Ritt gerufen hatte. »Herr Gott, nimm mich; verschon die andere!«Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Schimmels, der Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.Der Mond sah leuchtend aus der Höhe; aber unten auf dem Deiche war kein Leben mehr als nurdie wilden Wasser, die bald den alten Koog fast völlig überflutet hatten. Noch immer aber ragte die Werfte von Hauke Haiens Hofstatt aus dem Schwall hervor, noch schimmerte von dort derLichtschein, und von der Geest her, wo die Häuser allmählich dunkel wurden, warf noch die einsame Leuchte aus dem Kirchturm ihre zitternden Lichtfunken über die schäumenden Wellen. [...]

Doch wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten; denn alles ist geprägt durch einen all umfasssenden Dualismus und so kommt es, dass Hauke natürlich Gegenspieler besitzt: unter anderem in der Gestalt von Ole Peters, dem Großknecht im Hause des Deichgrafen. “Denn Kampf stimuliert die männliche und kreative Energie; und, wie die Liebe, von welcher er eine Form ist, steigert er den Geist zu einem Orgasmus, welcher befähigt, seinen rationalen Stumpfsinn zu transzendieren.”5 Da Hauke auch das Interesse von Elke, der Tochter Tedes, wecken kann, verschärft sich der Konflikt zwischen dem Knecht und dem Großknecht weiter.

Als Tede Volkerts im weiteren Verlauf Hauke´s geistige Fähigkeiten auf die Probe stellt, gelingt es diesem erfolgreich sich zu beweisen und so kommt es, dass er im stillen die Arbeiten von dem Deichgraf übernimmt. Auch hier zeigt sich abermals, die Strebsamkeit und der Willen, sich für etwas Höheres einzusetzen:

[...] Dergleichen wiederholte sich an manchem Abend. Hauke hatte scharfe Augen und unterließ es nicht, wenn sie beisammensaßen, das eine oder andre von schädlichem Tun oder Unterlassen in Deichsachen dem Alten vor die Augen zu rücken; und da dieser sie nicht immer schließen konnte, so kam unversehens ein lebhafterer Geschäftsgang in die Verwaltung, und die, welche früher im alten Schlendrian fortgesündigt hatten und jetzt unerwartet ihre frevlen oder faulen Finger geklopft fühlten, sahen sich unwillig und verwundert um, woher die Schläge denn gekommen seien. [...]

Und so geht die Zeit in das Land.

Diese Aufsatzreihe wird monatlich fortgesetzt

Page 7: Der Schimmelreiter - Analyse

1 Carl Friedrich von Weizsäcker2 Friedrich Wilhelm Nietzsche – “Also sprach Zarathustra”3 Friedrich Wilhelm Nietzsche – “Also sprach Zarathustra”4 Aleister Crowley “Pflicht”5 Aleister Crowley “Pflicht”

“Der Schimmelreiter” metaphysisch betrachtet Teil II

„ Tradition ist bewahrter Fortschritt, Fortschritt ist weitergeführte Tradition.“ 1 IIIm ersten Teil dieser Aufsatzreihe haben wir uns näher mit der Persönlichkeit des Protagonisten Hauke Haien befasst. Es wurde beschrieben, dass er eine bestimmte Form des Menschentypus ist oder um die Erzählung selbst nochmal zu zitieren und eine wunderschöne Metapher zu zeigen: „Der Regen strömte, der Wind pfiff, aber seine hagere Gestalt auf dem feurigen Schimmel tauchte bald hier,bald dort aus den schwarzen Menschenmassen empor“Des Weiteren haben Wir versucht, einen kleinen Gesamtüberblick über das Wesen im Allgemeinen von Theodor Storms Novelle zu geben, und haben auch einen Beginn der Inhaltserläuterung begonnen. Nun möchte Ich diese weiter führen und das Hauptaugenmerk auf die Schwerpunkte “Tradition” sowie die Beziehung der Persönlichkeiten untereinander unter Betrachtung germanischen und mittelalterlichen Rechts legen. Eine konkrete, verallgemeinernde Aufstellung und Benennung der Feste sowie Kultriten unserer Altvorderen gestaltet sich im übrigen als recht schwierig. Dadurch unsere Ahnen kleine, schollenverbundene Siedlervölker waren, gab es auch keine großräumigen Ballungszentren. Daraus resultierte der Umstand, dass fast jede Gemeinschaft ihre Feste, Riten und Gebräuche anders gestaltete und eine unglaubliche Vielzahl an Traditionen in den verschiedensten Formen entstand.Hauke führte also im Stillen die Arbeiten des Deichgrafen und fühlte sich immer mehr zu dessen Tochter Elke hingezogen. Auf einem Dorffest gewinnt Hauke, durch Elkes Berührung, dann das sogenannte Boßeln.An dieser Stelle fasst Storm sehr gut die Traditionen und Gepflogenheiten seiner Heimat auf. Und nicht nur dass, auch ist hier wieder eine Textstelle zu finden in der

Page 8: Der Schimmelreiter - Analyse

deutlich wird, dass es zu schaffen und zu formen gilt und dass die Macht über den Ausgang der Dinge in unseren Händen liegt, egal mit welchen Konsequenzen. “Sonne, Mond und Sterne sind für uns alle gleich und allezeit am Himmel; der Wurf war ungeschickt, und alle ungeschickten Würfe gelten!”Das Boßeln ist eine Sportart, die in unterschiedlichen Formen in verschiedenen Teilen Europas gespielt wird. Ziel des Spiels ist es, eine Kugel mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Strecke zu werfen. Die Ursprünge und die Wege seiner Verbreitung liegen im Dunkeln. Der Name leitet sich vom niederdeutschen Wort Kloot oder Klut (Klumpen) ab. Vermutlich hat es sich bei den Friesen, die Wurfgeschosse als Waffe einsetzen, im Mittelalter entwickelt. Als Wurfgerät wurden anfangs möglicherweise simple Klumpen aus Klei, dem schweren Marschboden, und Steine verwendet. Erste Nachrichten liegen aus dem 14. Jahrhundert aus der heutigen niederländischen Provinz Friesland vor, wo es aber nicht mehr verbreitet ist. Niederländische Deichbauer führten die Sportart dann im 17. Jahrhundert in Schleswig-Holstein ein. In Ostfriesland ist Klootschießen erstmals im 18. Jahrhundert urkundlich nachgewiesen, war dort aber vermutlich schon früher bekannt. Die in Schottland und Irland gefundenen Carved Stone Balls (gravierte Steinbälle) weisen in Größe und Form eine erhebliche Ähnlichkeit zu den heutigen Klootkugeln auf und ein Zusammenhang wird vermutet. Die ältesten Carved Stone Balls sind 4000 Jahre alt. Publius Cornelius Tacitus (römischer Historiker * um 58; † nach 116) berichtet in seinem Werk Germania bereits von kriegerischen Friesen, die in der Marsch römischen Soldaten auflauerten und ihnen auf große Entfernungen getrocknete Lehmkugeln entgegen schleuderten. Dabei sollen die Würfe so gezielt geworfen worden sein, dass unter den römischen Soldaten große Furcht vor diesen Angriffen herrschte.2Um zu untermauern, dass es sich hier um etwas altbewährtes bzw. etwas altbewahrtes handelt, unternehmen wir kurz einen Ausflug in unsere volkstümliche Sagenwelt. Denn hier findet man eine ähnliche Variante. Nämlich im mittelhochdeutschen Nibelungenlied (um 1200, wahrscheinlich aus dem Raum Passau).3Die Nibelungensage dürfte hinlänglich bekannt sein. Jedenfalls ist auch hier das sogenannte Klafterschießen erwähnt, als König Gunther um Brunhilde freit. Hier ein kurzer Textauszug:

Da ging sie hin geschwinde, in Zorn hoch entbrannt,

Do gie si hin vil balde, zornec was ir muot

Den Block hob die Jungfrau, hoch in ihrer Hand.

den stein huop vil hohe die edel maget guot.

Sie schleuderte mit Kräften weithin den schweren Stein.

si swanc in kreftecliche vil verre von der hant.

Page 9: Der Schimmelreiter - Analyse

In ihrer erznen Brünne sprang sie klirrend hintendrein.

Do spranc si nach dem wurfe, ja erklanc ir allez ir gewant.

Der Stein war gefallen zwölf Klafter weit.

Der stein der was gevallen wol zwelf klafter dan.

Den Wurf überholte im Sprung die schöne Maid.

den wurf brach mit sprunge diu maget wol getan.

Siegfried trat an die Stelle, da lag er im Feld.

da gie der herre Sifrit da der stein gelac;

Den Stein wägte Gunther, den Wurf tat Siegfried, der Held-

Gunther in do wegete, der helt in werfenne pflac.

Siegfried war hochgewachsen, kräftig und jung.

Sifrit der was küene, vil kreftec unde lanc.

Den Stein warf er weiter und übersprang den Sprung.

den stein den warf er verrer, dar zuo er witer spranc.

Während des Boßelns sagt Hauke etwas sehr bedeutendes, etwas was sich gerade zu an den Leser richtet und dessen Tragweite scheinbar oft verkannt wird. “»Ich werfe für die Marsch!« sagte er. »Wohin gehörst denn du?«”Wahrlich eine Frage von ungeheurer Wichtigkeit: Wohin gehörst denn du?Eine Frage die sicher schwerlich zu beantworten ist, und welche die Wenigsten wohl für sich zu beantworten wissen; vorausgesetzt man hat sie sich überhaupt schon einmal, in einer Stunde der Besinnlichkeit, gestellt und ergründet. Wissen wir denn wohin wir gehören? Auch als Gemeinschaft, egal in welcher Form sie sich zeigen mag?! An dieser Stelle sei dem Verfasser dieses Textes erlaubt, kurz abzuschweifen. Denn aus heutiger Sicht sieht er persönlich folgendes:Das nationale Lager = Widerstand (!?)Ein elementares Axiom; doch entspricht dies der Wahrheit oder den Tatsachen?In Zeiten der Dekadenz und des ethnokulturellen Masochismus, ist es in sogenannten nationalen Kreisen modern geworden, zu wehklagen und zu polemisieren. Da hört, sieht und liest man ständig, dass man uns entfremdet, dass man unsere Kultur

Page 10: Der Schimmelreiter - Analyse

zerstört. Da fallen Schlagworte wie “Überfremdung”, “Volkstod” und “Nationaler Sozialismus”. Auch liest man davon, dass man dagegen angehen müsse, denn man ist ja wehrhaft und der Widerstand. Man müsse für unsere Erhaltung kämpfen. Da sei einmal die saloppe Frage gestellt: Was ist denn unsere Kultur? Was sind unsere Traditionen? Was ist unsere Eigenart? “Der Gegner ist bösartig, denn er zerstört uns!” Weit gefehlt: Wir lassen uns zerstören! Denn solange noch ein einziges Wesen diese, unsere Kultur lebt, unbeirrt von allen ist sie nicht tot! Doch muss hier der Grundsatz gelten: “Wer nicht weiß, woher er kommt, weiss nicht, wohin er geht.” Oder um eben den “Schimmelreiter” zu zitieren: “»Ich werfe für die Marsch!« sagte er. »Wohin gehörst denn du?«”Und auch einen weiteren Grundsatz kann man hier im pansophischen Gesamtwerk, in Form des Kräftemessens beim Boßeln erkennen. Er lautet kurz und prägnant: Leben ist Kampf.Uns obliegt es nun, unsere Kultur und unsere Traditionen erst einmal wieder durch Kampf aus dem Dunkel der Geschichte zu holen. Andernfalls vollzieht man nichts weiter als rigorose Heuchelei; man hüllt sich selbst in einen Mantel, um etwas vorgeben zu können. Die Gründe mögen hierbei weit auseinander gehen: Die einen Egomanen, die sich, vergleichbar einem Blasebalg, auf blähen und doch nichts Sichtbares hervor bringen; und die anderen dem Schafe gleich. Schluss also mit der Heuchelei, dem Vorgeben, etwas zu verteidigen, von dem weder Form noch Gestalt bekannt sind. Kein politisches System ist Ausdruck unserer Art, es ist lediglich der Verwaltungsapparat so genannter zivilisierter Gesellschaften. Ich fordere: Lasst uns unsere Kultur leben und dann kann die ganze Welt ringsherum im Chaos versinken, wir aber werden weiter bestehen! Denn dann stehen wir sturmfest und erdverwachsen mit unseren Traditionen mitten im Weltgeschehen.Doch zurück zum wesentlichen, dem Inhalt.

Nach dem Fest beschließt Hauke, seiner Elke einen Ring anfertigen zu lassen, um sie eines Tages zu freien. Aber zu diesem Zeitpunkt ist das, durch das Rechtsleben, nicht möglich. In der Zwischenzeit war Hauke zum Großknecht aufgerückt und sein Vater verstarb. Hier zeigt sich wieder einmal mehr die stolze Haltung eines ehrbaren und geistig gefestigten Menschen der nordischen Art, selbst im Angesicht des Todes: “Noch ein paar Monate weiter, dann starb Tede Haien; aber bevor er starb, rief er den Sohn an seine Lagerstatt. »Setz dich zu mir, mein Kind«, sagte der Alte mit matter Stimme, »dicht zu mir! Du brauchst dich nicht zu fürchten; wer bei mir ist, das ist nur der dunkle Engel des Herrn, der mich zu rufen kommt.”

Nach dem Tode seines Vaters “war in ihm etwas aufgewachsen, dessen Keim er schon seit seiner Knabenzeit in sich getragen hatte; er wiederholte es sich mehr als zu oft, er sei der rechte Mann, wenn’s einen neuen Deichgrafen geben müsse. Das war es; sein Vater, der es verstehen mußte, der ja der klügste Mann im Dorf gewesen war, hatte ihm dieses Wort wie

Page 11: Der Schimmelreiter - Analyse

eine letzte Gabe seinem Erbe beigelegt; die Wohlerssche Fenne, die er ihm auch verdankte, sollte den ersten Trittstein zu dieser Höhe bilden! (…) Freilich, wenn er es dadurch nach dieser Seite hin erzwang, durch die Schärfen und Spitzen, die er der Verwaltung seines alten Dienstherrn zugesetzt hatte, war ihm eben keine Freundschaft im Dorf zuwege gebracht worden, und Ole Peters, sein alter Widersacher, hatte jüngsthin eine Erbschaft getan und begann ein wohlhabender Mann zu werden!”

Als das neue Jahr gekommen war, gab es eine Hochzeit; die Braut war eine Verwandte Haiens, und Hauke und Elke waren beide geladene Gäste. An diesem Abend verlobte sich Hauke mit Elke. Kurze Zeit später verstarb auch ihr Vater.Hier findet man in der Novelle erneut einen schönen Bezug zu Urtümlichkeiten und Storm verleiht hier wieder einmal seinem Gespür für kulturelles Erbe Ausdruck.

“Dat is de Dod, de allens fritt,

Nimmt Kunst un Wetenschop di mit;

De kloke Mann is nu vergahn -

Gott gäw’ ein selig Uperstahn!”

Beim Leichenmahl kommt daraufhin die Frage auf, wie denn nun der Posten des Deichgrafen neu zu besetzen ist. Traditionell kann man nur Deichgraf werden, wenn man ausreichend Land sein Eigen nennen kann. Dies träfe auf, den bislang schon die Arbeit als Deichgraf verrichtenden, Hauke nicht zu, weshalb einer der älteren Deichbevollmächtigten befördert werden sollte. Gegenüber dem Oberdeichgrafen, der die Stelle des örtlichen Deichgrafen zu vergeben hat, ergreift Elke allerdings das Wort und erklärt, sie sei bereits mit Hauke verlobt, und durch eine Hochzeit werde Hauke das Land ihres Vaters bekommen und damit genügend Grundbesitz aufweisen. So wird Hauke Deichgraf.In der Schilderung vom Rechtswesen der Dorfgemeinschaft kommen viele Aspekte zum Ausdruck. An dieser Stelle soll ein erneuter Ausflug in die Vergangenheit stattfinden.Während der Gedanke der Gemeinschaft in dem römischen Recht zurückgestellt wird, beherrscht er das germanische Recht. Dieser Hang zur Gesellschafts-, und Genossenschaftsbildung entstammt dem germanischen Rechtsempfinden und bewahrt sich durch die ganze deutsche Rechtsgeschichte.Genossenschaftlich war, bis zur liberal-individualistischen Wirtschaftsgesetzgebung des 19. Jahrhunderts, insbesondere auch die Ordnung des deutschen Wirtschaftslebens; auf dem Lande waren Markgenossenschaften, in den Städten die Zünfte und Gilden die Hauptträger der Wirtschaftsverfassung. Nicht der unverbundene Einzelmensch, sondern die Gemeinschaft ist daher der Ausgangspunkt des germanischen Rechts.Der Einzelne erscheint hier immer als Glied von engeren und weiteren

Page 12: Der Schimmelreiter - Analyse

Gemeinschaften, vor deren höheren Notwendigkeiten und Bedürfnissen sein Recht und seine freie Willensbestimmung zurücktreten muss. Er hat keine unumschränkte Herrscherstellung, sondern eine bloße Gliedstellung in einer auf Gegenseitigeit aufgebauten Gemeinschaftsordnung.Nach germanischer Rechtsanschauung ist das subjektive Recht nicht unbeschränkte, sondern sittlich- und sozial-, auf keinen Fall jedoch sozialistisch-, gebundene Rechtsmacht. Das germanische Grundeigentum war mit weitgehenden Pflichten gegenüber der Allgemeinheit durchsetzt, insbesondere zugunsten der Familie, der Markgenossenschaft und des Staates.Der Grundbesitz bildete die Basis für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und öffentlich-rechtliche Stellung einer Familie und sollte der Familie erhalten bleiben. Durch diese Bindung an die Sippe, hatte der Eigentümer auch keine freie Verfügung, viel mehr bestanden am Grundbesitz unentziehbare Wart- und Wertrechte der nächsten Blutserben.Alle germanische Herrschaft ist zugleich Pflichtverhältnis. Man kann geradezu von einer Vorordnung der Pflichten im germanischen Recht sprechen, gegenüber dem Vorrang der subjektiven Rechte im römischen Recht, da die Rechte nach altgermanischer Auffassung weniger als Selbstzweck denn als Mittel zur Erfüllung der Pflichten erscheinen. Während die altrömische Auffassung die beiden Begriffe Macht und Pflicht in der selben Person nicht zu vereinen mag, besteht nach germanischer Auffassung ein innerer Zusammenhang zwischen Recht und Pflicht.Kein Recht ohne Pflicht – Keine Pflicht ohne Recht!Dieser Grundgedanke tritt überall zutage in der germanischen Art der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Ehemann und Ehefrau, Eltern und Kindern, Vormund und Mündel, Lehnsherren und Lehnsmann, Herr und Knecht.Der Munt des Ehemanns, Vaters und Vormundes, die Stellung des Dienstherren ist keine einseitige Gewaltherrschaft, die dem Gewalthaber nur Rechte, dem Gewaltunterworfenen nur Pflichten auferlegt, sondern eine stark mit Fürsorgepflichten durchsetzte Schutzgewalt. Auf der anderen Seite stehen dem Gewaltunterworfenen in der personenrechtlichen Gemeinschaft, zu der Gewalthaber und Gewaltunterworfene zusammen gefasst sind, auch selbstständige Rechte zu.Auch im “Schimmelreiter” wird das Verhältnis zwischen Dienstherr und Diener, genauer gesagt Knecht, angesprochen.Die Pflicht der Herrschaft gegenüber den Knechten ist mit besonderer Kraft ausgestattet. Die Dienstherrschaft ist verpflichtet, für das Wohl ihrer Untertanen zu sorgen, sie in Not und Krankheitsfällen zu unterstützen und zu erhalten. Im Bergbau wurden Knappschaftskassen, im Handwerk Gesellenladen für die Arbeiter und Angestellten gebildet, zu denen der Arbeitgeber beizutragen hatte. Diese uralten Knappschaftskassen des Bergbaus wurden Vorbild für die von Bismarck eingeleitete Arbeiterversicherung.Überall ist das germanische Recht dabei von hohem, sittlichem Geist durchdrungen –

Page 13: Der Schimmelreiter - Analyse

vor allen Dingen wird versucht, den Hörigen nach Möglichkeit ihr Dasein zu erleichtern. Während das römische Recht, den Arbeitsvertrag, als bloßen schuldrechtlichen Austausch der Ware – Arbeit gegen Geld – behandelt, sind nach germanischer Auffassung Herr und Diener, Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht nur durch ein loses schuldrechtliches Vertragsband gebunden, sondern ihre Beziehungen sind gesteigert zu einer personenrechtlichen Gebundenheit. Sie bilden zusammen eine aus Haupt und Gliedern bestehende Berufsgemeinschaft, eine personenrechtliche Gemeinschaft mit herrschaftlicher Spitze.Auch in staatlicher Hinsicht ist der germanische Staat kein unpersönlicher, bloß auf Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht aufgebauter Zwangsapparat, sondern ein auf Wechselseitigkeit der Rechte und Pflichten errichteter TREUEVERBAND.Die germanischen Könige und Fürsten sind nicht unumschränkte Herrscher, sondern persönlich verantwortliche Führer und Treuhänder des Volkes. Schon Tacitus fiel auf, dass in den altgermanischen Königreichen die Gewalt des Königs nicht schrankenlos, sondern gegenüber den Volksgenossen rechtlich gebunden war.4 Dass germanische Volkskönigtum steht im schroffen Gegensatz zum spätrömischen Kaisertum, mit seinem widerlichen Kaiserkult, der ein Ausfluss der allgemeinen Orientalisierung der spätantiken Kultur war. Auch die mittelalterlichen, deutschen Kaiser sind, selbst in den Zeiten ihrer höchsten Macht, niemals unumschränkte Herrscher gewesen, sie waren stets durch Recht und Herkommen gebunden und hatten nicht die Befugnis, den überlieferten Rechtsstand der Untertanen einseitig anzutasten.Es sei also nochmal klar betont:Der Germane gliederte den Freien grundsätzlich in die Gesamtheit der Freien ein und wertete ihn auch nur im Hinblick auf das, was er für die Gesamtheit wert war. Es bestand eine Abstufung der Bewertung, so dass derjenige am höchsten stand, der für die Gesamtheit am höchsten war. Durch diese Abstufung die sich nicht nur auf den Einzelnen bezog, sondern auch die Bewertung seiner Sippe umfasste, aus der die Einzelpersönlichkeit ja geboren wurde, schuf der Germane menschliche Gemeinschaftsformen, deren Mitglieder immer sehr lebendig aufeinander einwirkten, ohne aber je gegenseitig zu arbeiten, so lang der Gedanke des Dienstes am Ganzen lebendig blieb. Daher äußern sich diese Gesellschaftsformen wie ein Organismus.5 Schauen Wir uns nun weiter den Fortgang des Geschehens an.

Unheimlich erscheint den Dorfbewohnern ihr Deichgraf durch sein Pferd: Einem edel aussehenden Schimmel, den er, krank und verkommen, einem zwielichtigen Durchreisenden abgekauft und herausgefüttert hat. Der Schimmel soll, darin bestätigen sich die Einwohner gegenseitig, das wiederbelebte Pferdeskelett von der verlassenen Hallig Jeverssand sein, das mit dem Kauf des Schimmels verschwunden war. Oft wird das Tier mit dem Teufel in Verbindung gebracht und sogar selbst als dieser bezeichnet.Hauke setzt nun die neue Deichform, die er als Kind bereits geplant hatte, in die Tat um. Manche Leute sind dagegen, doch Hauke setzt sich mit Zustimmung des Oberdeichgrafen durch. Vor einem Teil des alten Deiches lässt er einen neuen bauen –

Page 14: Der Schimmelreiter - Analyse

ein neuer Koog entsteht und somit mehr Ackerfläche für die Bauern. Als die Arbeiter einen Hund eingraben wollen, da es Brauch ist, etwas „Lebiges“ einzubauen, rettet er diesen und so sehen viele einen Fluch auf diesem Deich lasten. Ebenfalls auf Missmut stößt die Tatsache, dass Hauke Haien, teils durch Planung, teils durch Zufall, bereits große Landstücke in dem neuen Koog besitzt und daher selber stark vom Deichbau profitiert.Tagein, tagaus beobachtet er seinen Deich, indem er ihn mit seinem Schimmel abreitet. Der neue Deich hält den Stürmen stand, doch der alte Deich, der rechts und links des neuen Kooges weiterhin verläuft und dort die vorderste Front zur See darstellt, wird trotz Gewissensbissen Haukes vernachlässigt. Als Jahre später eine Jahrhundertsturmflut hereinbricht und der alte Deich zu brechen droht, will man auf Anordnung des Gevollmächtigten, Ole Peters, den von Hauke konstruierten neuen Deich durchstoßen, da dieser sich damit erhofft, dass sich die Kraft des Wassers auf den neuen, noch unbewohnten, Koog konzentrieren werde. Hauke stellt die Arbeiter kurz vor dem Durchstich zur Rede und verhindert die Vollendung dieser Arbeit. Kurz darauf bricht der alte Deich endgültig. Als in jener Nacht auch Elke mitsamt ihrer gemeinsamen Tochter Wienke, die geistig behindert ist, aus Angst um Hauke in Richtung Deich hinausfährt, muss dieser mit ansehen, wie die durch den Deichbruch in den alten Koog schießenden Wassermassen Frau und Kind unter sich begraben. In seiner Verzweiflung stürzt er sich ebenso mitsamt seinem Pferd in die tosenden Wasser die das Land überfluten und ruft dabei: „Herr, Gott, nimm mich, verschon’ die anderen!“Damit endet die Erzählung des Schulmeisters. Er weist darauf hin, dass andere die Geschichte anders erzählen würden; so seien seinerzeit alle Einwohner des Dorfes überzeugt gewesen, dass das Pferdeskelett, nach Haukes und seines Pferdes Tod, wieder auf der Hallig gelegen habe. Außerdem erwähnt er, dass der neue, von Hauke Haien erschaffene Deich noch immer den Fluten standhalte, obgleich sich die erzählte Geschichte bereits vor fast hundert Jahren zugetragen haben soll.

1. Carl Friedrich von Weizsäcker2.http://de.wikipedia.org/wiki/Boßeln 3.http://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungensage 4.Tacitus; “Germania” Kap 7 Nec regibus infinita aut libera potestas5.Walther Darré; “Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse”; 1929