Der schöne Augenblick Paul, Clara · David Albahari, Die Schönheit ..... Peter Bichsel, Ich hole...

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Insel Verlag Leseprobe Paul, Clara Lektüre zwischen den Jahren Der schöne Augenblick Herausgegeben von Clara Paul © Insel Verlag insel taschenbuch 4723 978-3-458-36423-8

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Insel VerlagLeseprobe

Paul, ClaraLektüre zwischen den Jahren

Der schöne AugenblickHerausgegeben von Clara Paul

© Insel Verlaginsel taschenbuch 4723

978-3-458-36423-8

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Lektüre zwischen den Jahren

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»Nicht der Tage erinnert man sich«, heißt es beiCesare Pavese, »sondern der Augenblicke.« Dennmanche Augenblicke sind so schön, dass man siesein Leben lang nicht mehr vergisst: die Millisekun-de, in der zwei Augenpaare sich treffen – und nichtsist mehr wie vorher; oder der kurze Wimpernschlagund ein überraschtes Lächeln, das alles verändert;oder die plötzliche Offenbarung zwischen zwei Atem-zügen, die einen staunen macht; oder der langeGlücksmoment, in demman in Einklang istmit sichund der Welt …Über diese unvergesslichen, perfekten, zeitlosen Mo-mente, in denen man sich vom Leben beschenktfühlt, über diese »irdischen Augenblicke, die man zuverweilen bittet« (Wisława Szymborska), erzählen inihren Gedichten und Geschichten Rose Ausländer,Paul Auster, Elisabeth Borchers, Joseph Brodsky,Teju Cole, Hermann Hesse, Michael Krüger, Sieg-fried Lenz, Rainer Malkowski, Friederike Mayröcker,Cees Nooteboom, Hanns-Josef Ortheil, Rainer Ma-ria Rilke, Antoine de Saint-Exupéry, Andrzej Stasiuk,Wisława Szymborska, Roger Willemsen u.v.a.

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Lektüre zwischenden Jahren

DER SCHÖNE AUGENBLICK

Ausgewählt von Clara Paul

Insel Verlag

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Erste Auflage insel taschenbuch

Originalausgabe© Insel Verlag Berlin

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Quellennachweise am Schluss des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlagabbildung: laurxy,Winter Night,

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

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INHALT

In der sanftesten Stunde

Rainer Maria Rilke, Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Malkowski, Der Tag um Mitternacht . . Marco Lodoli, In der sanftesten Stunde . . . . . . . Wisława Szymborska, Der Augenblick . . . . . . . . Marco Lodoli, Der Roseto comunale . . . . . . . . . . Rainer Malkowski, Das Gras . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Magnus Enzensberger, Nu . . . . . . . . . . . . . . Christian Lehnert, Ruhendes Jetzt . . . . . . . . . . . . Hans Magnus Enzensberger, Der glückliche

Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Frisch, Als stünde die Zeit, in Seligkeit

benommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Hartung, Blick in den Hof . . . . . . . . . . . .

Kleine Vorkommnisse

Cees Nooteboom, Ein nichtiger Augenblick . . Paul Auster,Vier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Handke, Levitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Hesse, Blauer Schmetterling . . . . . . . . Richard Brautigan, Sekunden . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Brodsky,Winterabend, Heuboden . . . . .

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David Albahari, Die Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bichsel, Ich hole die Gläser . . . . . . . . . . . . . Francesco Piccolo, Der König der Welt . . . . . . . Antoine de Saint-Exupéry, DasWesentliche hat

meistens kein Gewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanns-Josef Ortheil, Gelebte Augenblicke . . . . Reiner Kunze, Sonne auf dem Brot . . . . . . . . . . . Rainer Malkowski,Was das Beste war . . . . . . . . .

Dieser eine Augen-Blick

Wisława Szymborska, Liebe auf den erstenBlick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hermann Hesse, Rosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Francesco Piccolo, Dieser eine Augenblick . . . . Roger Willemsen, Lachfältchen . . . . . . . . . . . . . . . Friederike Mayröcker, Manchmal bei

irgendwelchen zufälligen Bewegungen . . . . . Charles Baudelaire, An eine, die vorüberging Emily Dickinson,Wie sich Augen treffen . . . . . Kurt Tucholsky, Augen in der Großstadt . . . . . Joachim Ringelnatz, Die Frau mit der

Reiherfeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Maria Rilke, Die sommerlich

Vorübergehende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ödön von Horváth, Geschichte einer kleinen

Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bertolt Brecht, Erinnerungen an Marie A. . . . .

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Mircea Cărtărescu, Maiglöckchen . . . . . . . . . . . . . Michael Krüger, Dieses Einverständnis

zwischen Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idea Vilariño,Weißt du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Heidenreich/Bernd Schroeder, Der

perfekte Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Der längste Moment meines Lebens

Hans Magnus Enzensberger, Andenken an denprägnanten Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegfried Lenz, Eine Sekunde der Welt . . . . . . . . Elisabeth Borchers, Protokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Lodoli, Eine Tafel in der Via dei

Podesti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Auster, Zwölf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter von Matt, Der längste Moment meines

Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teju Cole, An einem ähnlich schönen Tag . . . . Alexander Kluge, Glücklicher Zufall . . . . . . . . . . Wisława Szymborska, Der Akrobat . . . . . . . . . . .

Mir kam ein Einfall

Alexander Kluge, Moment-Aufnahme . . . . . . . . Italo Calvino, Der Blitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cees Nooteboom, Mir kam ein Einfall . . . . . . . . Nikolaus Lenau, Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Gryphius, Betrachtung der Zeit . . . . . . Rose Ausländer, Der Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Wolfgang Goethe, Eigentum . . . . . . . . . . Hermann Hesse, Unter dem Christbaum . . . . . Andrzej Stasiuk, Suceava. Erinnerung . . . . . . . . . Czesław Miłosz, Erwacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Harasymowicz, Augenblick mit Schnee Tadeusz Dąbrowski, Ich habe meinen

Augenblick verpasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IN DER SANFTESTEN STUNDE

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»Nicht der Tage erinnert man sich,sondern der Augenblicke.« Cesare Pavese

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RAINER MARIA RILKE

Augenblick

Ich liebe diese Stunde, die anders ist, kommt undgeht. Nein, nicht die Stunde, diesen Augenblick lie-be ich, der so still ist. Diesen Anfangs-Augenblick,diese Initiale der Stille, diesen ersten Stern, diesenAnfang. Dieses Etwas in mir, das aufsteht, wie jun-ge Mädchen aufstehn in ihrer weißen Mansarde. Inder weißen Mansarde, in der sie wohnen, seit sie er-wachsen sind. (O das kam eines Tages und da ver-wandelte sich das ganze Haus.) Nun aber ist die wei-ße Mansarde das Leben und wenn man amMorgenan das immer offene Fenster tritt, so sieht man dieWelt. Große Bäume sieht man, die immer noch wach-sen,Vögel sieht man und große Zweige schwankenvon ihrem Abflug und es ist als wäre der Wind ineinem Tier und in den Stämmen die Stille.Ich liebe diesen Wind, diesen weiten verwandeln-den Wind, der dem Frühling vorangeht, ich liebedas Geräusch dieses Windes und seine ferne Gebär-de, die mitten durch alle Dinge geht als wären sienicht.Diese Nacht liebe ich. Nein, nicht diese Nacht, die-sen Nachtanfang, diese eine lange Anfangszeile derNacht, die ich nicht lesen werde, weil sie kein Buchfür Anfänger ist. Diesen Augenblick liebe ich, der

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nun vorüber ist und von dem ich, da er verging, fühl-te, dass er erst sein wird. –

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RAINER MALKOWSKI

Der Tag um Mitternacht

Nicht der Nachmittag Streitnicht der Abendeinsilbiger Mund.Heute, das war:als ich aus dem Haus tratdie SekundeErwartung des Schönen.

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MARCO LODOLI

In der sanftesten Stunde

Gerade weil man sie immer vor sich hat, werden ge-wisse Wunder zu gewohnten Elementen in der Land-schaft, das geht so weit, dass sie unserer Aufmerk-samkeit ganz entschwinden. Auch das Kolosseumkann sich für den, der alle Tage im Auto daran vor-beifährt, zum lästigen Teil eines Kreisverkehrs ent-wickeln. ImÜbrigen hat Goethe behauptet, dass, soll-te ein Regenbogen fünfzehn Minuten dauern, ihnniemand mehr verzaubert betrachten würde.Aber es gibt auch Meisterwerke, die zu Gesicht zubekommen fast unmöglich ist, wie das bei einemäußerst selten sichtbaren Kunstwerk Roms der Fallist: Es kann nur am ersten eines jeden Monats (aus-genommen den Januar) besucht werden, und dasnur von zehn bis zwölf Uhr, beziehungsweise vonfünfzehn bis siebzehn Uhr. Ich habe fünfzig Jahregebraucht, um den richtigen Augenblick zu finden,mich am einzig verfügbaren Tag freizumachen. Eshandelt sich dabei um die Aurora von Guido Reni,ein außergewöhnliches Fresko, das sich im Casinodes Palazzo Pallavicini Rospigliosi in der Via XXIV.Maggio befindet.Wer die sanft schwebendenMomente zwischenNachtund Morgen liebt, wer sich in den frühen Stunden

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des Tages besonders frisch fühlt, wenn die Umrisseder Dinge aus dem Dunkel treten und nach undnach Farbe annehmen, wenn die Luft prickelnd underwartungsvoll ist, der wird beim Anblick diesermythologischen Szene nichts anderes als ergriffensein, klar und harmonisch wie sie ist,wie viele Wer-ke des Bologneser Malers.Apoll lenkt den Sonnenwagen, der, von vier Pferdengezogen, strahlend aus dem Dunkel herauskommt.Um sich hat er die Tanzenden Stunden, die schönenMägde der Zeit. Ein geflügelter Putto, eine Fackelin der Hand, fliegt ihm voraus: Das ist die Morgen-dämmerung oder der Augenblick, in dem das Lichtdie höchsten Schichten des Himmels erfüllt. Undnoch weiter vorne sieht man sie, eine wunderschönefliegende Gestalt: Das ist Aurora, in orange und rosa-farbene Schleier gehüllt, Blumen in den Händen undmit bloßen Füßen,wie die Galionsfigur am Bug desTages, der gerade anbricht.Wer spät aufsteht, weiß nicht, was er versäumt.Weraber schon im Morgengrauen auf den Straßen Romsunterwegs ist, der soll sie am ersten des Monats be-wundern gehen, in dessen sanftester Stunde.

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WISŁAWA SZYMBORSKA

Der Augenblick

Ich geh über den grünenden Hang.Gras, Blümchen im Graswie auf einem Bild für Kinder.Der Himmel neblig, schon blauend.Der Blick schweift über andere Hügel in die Stille.

Als hätte es hier niemals Kambrium gegeben, nieSilur,

Felsen, die sich anknurren,hochgetürmte Abgründe,nie Nächte in Flammenund Tage in Schwaden der Dunkelheit.

Als hätten sich hier die Ebenen nicht verschobenim Fieberwahn,in Schüttelfrösten.

Als stürmten nur anderswo die Meereund zerrissen die Ufer der Horizonte.

Es ist neun Uhr dreißig Ortszeit.Alles an seinem Platz und in manierlicher

Eintracht.Im Tal ein kleiner Bach als kleiner Bach.

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Ein Pfad in Gestalt eines Pfades von immer nachimmer.

Ein Wald scheinbar ein Wald von Ewigkeit zuEwigkeit, Amen,

und oben Vögel im Flug in der Rolle fliegenderVögel.

So weit das Auge reicht, herrscht hier derAugenblick.

Einer dieser irdischen Augenblicke,die man zu verweilen bittet.

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MARCO LODOLI

Der Roseto comunale

Die Zeit zieht sich zusammen und dehnt sich aus,sie weiß sich auf den Augenblick zu konzentrierenund gegen die Ewigkeit hin auszubreiten, sie ist einBlitz und ein Himmel. Und wenn wir die gleichzei-tige Anwesenheit der unterschiedlichen Zeiten spü-ren wollen, auf geheimnisvolle Weise ineinander ver-schlungen, flüchtig und steinern, dann ist der Platzdazu der Roseto comunale an denHängen des Aven-tin. Bis zur Hälfte des . Jahrhunderts war das derFriedhof der römischen Juden, und er bewahrt nochimmer – nach seinerUmwidmung in denDreißiger-jahren in einen Garten, in dem wunderschöne Ro-sen kultiviert und gekreuzt werden – die Erinne-rung an diese Vergangenheit, weil die kleinen Wegezwischen den weitläufigen Wiesen die Menora bil-den, den siebenarmigen Leuchter.Wenn wir auf einer Bank oberhalb des Hangs sitzen,können wir die gewaltige Fläche betrachten, auf derdie Rosen, jede mit ihrem Namen, Nefertiti und Fa-bulous, Compassion, Superstar und Carina wachsen,mehr als tausend verschiedene Sorten, historischeund moderne, von den Züchtern erfunden, den zahl-losen Meistern des Kreuzens und der Artenvielfalt.Da gibt es die Rosen Floribunde und Tappezzanti,

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Miniature und Rampicanti, Rubiginose und Bour-boniane, Meisterwerke, die »l’espace d’un matin«,also gerade einen Morgen halten, wundervolle Mo-numente der Schönheit und der Vergänglichkeit desLebens. Sie stehen vor uns wie flüchtige Augenbli-cke, und da, hinter ihnen der Circus Maximus undder Palatin, die jahrhundertelange Geschichte Roms,die Vergangenheit, die der Gegenwart von ihrerMacht und ihrem Niedergang erzählt.»Durch die Erinnerung an eine Rose ist noch nie-mals ein Gärtner gestorben«, schrieb Fontenelle, eingenialer Aphorismus, der uns die diversen Rhyth-men der Zeit erklärt, das Sandkorn in der Stunden-uhr und auf dem grenzenlosen Meeresstrand. Unddoch haben wir im Roseto comunale den Eindruck,in einem einzigen stummen Gedanken die Umar-mung zwischen einer Rose und den Jahrtausendenwahrzunehmen, zwischen einem Herzschlag unddem ganzen Leben. Ich glaube, dass es auf der Weltanderswo keine Plätze gibt, die so sinngeladen sind,so perfekt.Wir verlassen den Garten mit dem Ge-fühl, dass dieser Park nie mehr aus unserem Innerenverschwinden wird.

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RAINER MALKOWSKI

Das Gras

Eine Einladung,der ich viel zu seltengefolgt bin.

Auch das ist ein Versäumnis,das schwerwiegt.

Ausgestreckt unter freiem Himmel,den Augenblickmit dem ganzen Körper berührend.

Und zufriedenmit nichtsals einem Halm im Mund.