Der Steuerbare Mensch - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

download Der Steuerbare Mensch - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

of 117

Transcript of Der Steuerbare Mensch - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    1/117

    Tagungsdokumentation

    Der steuerbare Mensch ?ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009

    Deutscher Ethikrat

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    2/117

    Tagungsdokumentation

    Der steuerbare Mensch?

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    3/117

    Deutscher Ethikrat

    Der steuerbare Mensch?ber Einblicke und Eingrie in unser Gehirn

    Vortrge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    4/117

    Herausgegeben vom Deutschen Ethikrat

    Vorsitzender: Pro. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig

    Jgerstrae 22/23 D-10117 Berlin

    Telefon: +49/30/20370-242 Telefax: +49/30/20370-252

    E-Mail: [email protected]

    www.ethikrat.org

    2009 Deutscher Ethikrat

    Alle Rechte vorbehalten.

    Eine Abdruckgenehmigung wird auf Anfrage gern erteilt.

    Layout: Torsten Kulick

    Umschlaggestaltung: BartosKersten Printmediendesign, Hamburg

    Titelillustration: Manfred Bogner

    Druck: MEDIALIS Offsetdruck GmbH, Berlin

    ISBN 978-3-941957-01-5

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    5/117

    5

    INHALT

    Seite 7 >> Vorwort

    Seite 11 >>Barbara WildHirnforschung gestern und heute

    Seite 21 >>John-Dylan HaynesBilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fhlens

    Seite 35 >> Tade Matthias SprangerDas glserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren

    Seite 49 >> Isabella Heuser

    Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung

    Seite 57 >> Thomas E. SchlpferSchnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation

    Seite 69 >>Henning RosenauSteuerung des zentralen Steuerungsorgans Rechtsfragen bei Eingriffen in dasGehirn

    Seite 83 >> Ludger HonnefelderDie ethische Dimension moderner Hirnforschung

    Seite 97 >> Dietmar MiethDer (gehirnlich) steuerbare Mensch Ethische Aspekte

    Seite 107 >> Wolfgang van den DaeleThesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement

    Seite 115 >> Autorinnen und Autoren

    Seite 117 >> Abbildungsnachweis

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    6/117

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    7/117

    7

    Vorwort

    Die Nase steuert die Partnerwahl, Sitz der Grammatik gefunden, Sehen, wieIhr Kind denkt tglich neue Pressemeldungen vermitteln uns den Eindruck, alsknnten wir dank neurowissenschaftlicher Erkenntnisse endlich verstehen, was dieMenschheit seit Jahrtausenden bewegt: Warum ist der Mensch so, wie er ist, undwarum tut der Mensch das, was er tut?

    Die Neurowissenschaften entwickeln immer neue Erkenntnis- und Handlungs-mglichkeiten, deren Tragweite trotz oder gerade wegen verheiungsvoller Anprei-sungen oft schwer abzuschtzen ist: So erlaubt die fetale Magnetenzephalografiedurch die Erfassung von Magnetfeldern des Ungeborenen eine Darstellung seinerHirnaktivitt und Funktionsstrungen mit allem damit zusammenhngenden Nut-zen, aber auch mglichen Konflikten. Im Forschungszentrum Jlich steht nun einHybridgert namens Neunkommavier, das durch die Kombination zweier Unter-suchungstechniken eine bisher nicht gekannte gleichzeitige Darstellung von Ge-hirnstrukturen und Stoffwechselprozessen in enorm hoher Magnetfeldstrke zulsstund damit so wird gemutmat mglicherweise die Erkennung einer Alzheimer-Demenz schon Jahre, bevor sich berhaupt erste Symptome zeigen, erlaubt. Ein letz-tes Beispiel: Die tiefe Hirnstimulation als Verfahren der funktionellen Neurochirur-gie, die sich von der unrhmlichen Vergangenheit der Psychochirurgie des letztenJahrhunderts abgrenzen muss, wird bei Patienten mit ausgewhlten neurologischenund psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt, bei denen alle anderen Therapieme-thoden nicht mehr ausreichend wirken.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    8/117

    8

    Vorwort

    Lngst ist aus den Neurowissenschaften ein blhendes Geflecht von Teildiszip-linen geworden: Neurobiologie, Neurophysiologie, Neuroimmunologie, Neuropsy-chologie, kognitive Neurowissenschaften sind noch Beispiele aus dem weiteren Be-reich der Medizin. Doch auch Bereiche, die eigentlich einer anderen Logik folgen,

    schlieen sich der Neuro-Bewegung an: Neurokonomie, Neuromarketing, Neuro-finance, Neuropdagogik, Neurotheologie und neuerdings die transkulturelle Neu-rowissenschaft seien exemplarisch genannt.

    Was macht die Neurowissenschaften ethisch so interessant, dass sich seit knappzehn Jahren auch eine Neuroethik herausbildet?

    Ethische Fragen stellen sich in zumindest drei Hinsichten:In einer ersten, bewertenden Hinsicht geht es um die ethische Einordnung be-

    stimmter Verfahren in konkreten Anwendungskontexten. Egal, ob es sich um dieAnwendung moderner bildgebender Verfahren als Lgendetektoren in Gerichtspro-

    zessen, um die Verwendung von Psychopharmaka zur Verbesserung von Leistungund Stimmung bei Gesunden das sogenannte Enhancement oder um die Erfor-schung der tiefen Hirnstimulation an psychiatrisch erkrankten Patienten handelt die Grenzen der Methodik, der jeweilige Nutzen und die mglichen Risiken fr denEinzelnen sowie Fragen der Selbstbestimmung sind ebenso grndlich zu bedenkenwie die denkbaren sozialen Folgen und Aspekte der Gerechtigkeit.

    Auf dieser Grundlage geht es in einer zweiten, normierenden Hinsichtum die Ent-wicklung von Handlungsregeln. Wie schwer muss die Depression bei einem Patien-ten sein und wie viele vergebliche Behandlungsversuche ber wie viele Jahre musser hinter sich haben, damit fr ihn eine tiefe Hirnstimulation in Betracht kommt?Welche begleitenden Manahmen sind in der medizinischen Versorgung von Par-kinson-Patienten angemessen, wenn man bedenkt, dass neben den beeindrucken-den Erfolgen bei den motorischen Symptomen einerseits in den letzten Jahren an-dererseits hin und wieder Einschrnkungen kognitiver Funktionen und belastendepsychosoziale Folgen zum Beispiel in der Partnerschaft der Patienten festgestelltwerden? Sollen leistungssteigernde Psychopharmaka fr jedermann frei verfgbarsein Stichwort Hirndoping wie es im Dezember 2008 einige berhmte Wissen-schaftler mitsamt dem Chefredakteur in der ZeitschriftNature zur Diskussion stell-ten? Inwieweit darf Werbung neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur gezieltenManipulation unbewusster Einflussfaktoren auf das Kaufverhalten nutzen?

    In einer dritten, konzeptionell-reektierenden Hinsichtgeht es um die angemesseneDeutung der Erkenntnisse aus Einblicken und Eingriffen in das menschliche Gehirn.Wir alle haben berzeugungen zur Frage eines freien Willens, zu persnlicher Indi-

    vidualitt und zur Rolle der Vernunft sowie unserer Motive und Leidenschaften frunser Leben. Solche Konzepte leiten unser Denken und Handeln, auch ohne dass wirdarber nachgedacht haben und dies im Einzelnen ausweisen knnten. Erkenntnisse

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    9/117

    9

    Vorwort

    ber unser Gehirn knnen solche Konzepte unsicher werden lassen, sodass sie einesberdenkens, einer Ausdifferenzierung und einer Weiterentwicklung bedrfen.

    Die besondere Brisanz liegt nun darin, dass auf dieser Ebene der reflektierendenSelbstvergewisserung nicht nur Fragen innerhalb der Ethik entstehen, wie etwa bei

    der Stammzellforschung auch, sondern dass die Grundlagen und Voraussetzungen derEthik selbstberhrt sind. Ethische Fragen haben nmlich nur dann berhaupt einenSinn, wenn wir davon ausgehen, dass wir als handelnde Individuen eine Wahl habenund Verantwortung fr unser Handeln bernehmen knnen. Doch auch, wenn wir

    von einer solchen Verantwortung grundstzlich ausgehen, beeinflusst unser Men-schenbild die Art und Weise, wie wir ethische Fragen stellen, welche Fragen wir frbesonders wichtig halten und welche Antworten darauf gegeben werden. Diese Di-mension unterscheidet die Neuroethik von allen anderen ethischen Fragen, die wiruns im Zusammenhang mit den Lebenswissenschaften bislang haben stellen ms-

    sen. Das Verhltnis unseres Selbstverstndnisses zum Gehirn ist ungleich enger alsdasjenige zu unseren Genen.Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Ethikrat fr seine erste ffentliche

    Jahrestagung das Gehirn zum Thema gemacht. Er mchte die mit den Neurowis-senschaften aufgeworfenen Fragestellungen in ihrer ethischen Dimension in dieffentlichkeit tragen in der Hoffnung, Interesse zu wecken und zu befrdern. Erwill eine gesellschaftliche Diskussion untersttzen, die von vornherein die neurowis-senschaftlichen Erkenntnisse und Eingriffsmglichkeiten aufmerksam reflektierendbegleitet.

    Im Namen des Deutschen Ethikrates darf ich Sie einladen zu einem sicher span-nenden Tag des Lernens und Nachdenkens ber Einblicke und Eingriffe in unserGehirn.

    Christiane WoopenStellvertretende Vorsitzende

    des Deutschen Ethikrates

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    10/117

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    11/117

    11

    BARBARA WILD

    Hirnorschung gestern und heute

    Der Wunsch, geistige Funktionen zu klassifizieren, zu lokalisieren und zu beein-flussen, ist sehr alt. Bereits Plato1 (428/427-348/347 v. Chr.) beschftigte sich damitund lokalisierte den Intellekt im Kopf, die Furcht im Herzen und das Verlangen unddie Begierde im Darm. Diese Vorstellungen finden sich auch bei Galen (130-200n. Chr.)2, der ber die nchsten 1400 Jahre das Denken der Mediziner prgte. Er lo-kalisierte die hchste Form der Lebensgeister im Kopf, vermutete sie allerdings nichtim Gehirn selbst, sondern in den Ventrikeln, also den Hohlrumen des Gehirns.Er hatte die Vorstellung, dass sie von hier aus bei Bedarf in die Organe wandernund zum Beispiel Bewegungen induzieren. Galen postulierte, dass Kognition, dasGedchtnis und die Imagination in den (damals angenommenen) drei Ventrikelnlokalisiert seien.

    Nach Galen dauerte es ber 1000 Jahre, bis Mediziner tatschlich systematischSchdel erffneten und die Ventrikel (eigentlich vier an der Zahl) betrachteten. Lan-ge Zeit bestand ein religis bedingtes Tabu bezglich der Leichensektion. Fr chir-urgische Eingriffe waren die Bader und Barbiere zustndig, die Mediziner studiertenstatt des menschlichen Krpers lieber die Bcher. Erst in der Renaissance ndertesich dies. Andreas Vesalius (1514-1564)3, der Leibarzt Karls V., war der erste, dersehr viele ber hundert menschliche Leichen untersuchte und unter anderemauch das Gehirn zeichnete und beschrieb. Hierbei folgte er noch der Ansicht Galens

    1 Finger 1994, S. 14 f.2 Ebd., S. 16.3 Vesalius 1543.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    12/117

    12

    Barbara Wild

    und hielt die Ventrikel fr den Sitz der hheren geistigen Funktionen und der See-le. Mit deren Sitz beschftige sich auch Ren Descartes (1596-1650), der hier kurzerwhnt werden soll, auch wenn er nicht als Hirnforscher bezeichnet werden kann.Mit seiner Vorstellung des Dualismus zwischen dem wie eine Maschine funktionie-

    renden Krper einerseits und der unsterblichen Seele andererseits, die nur ber ei-nen einzigen Punkt kommunizieren, den er in der Zirbeldrse (Epiphyse) lokalisier-te, bte er einen wichtigen Einfluss aus. Die Zirbeldrse ist zwar heutzutage ein vonder Hirnforschung eher vernachlssigtes Organ, Descartes Position des Dualismuslebt aber weiter und zhlte im 20. Jahrhundert zum Beispiel den NeurophysiologenJohn Eccles (1903-1997) und den Neurochirurgen Wilder Penfield (1891-1976) zuihren Anhngern.4

    Die Erorschung der StrukturDer erste, der die Hirnfunktionen nicht mehr in den Ventrikeln, sondern in der Ge-hirnsubstanz selbst lokalisierte, war im 17. Jahrhundert der Englnder Thomas Willis(1621-1675). Er sah im Kleinhirn und im Hirnstamm den Ort der mehr unbewusstenund emotionalen Funktionen und im Grohirn den Sitz der Beurteilungsfhigkeit.5In den darauf folgenden Jahrzehnten wurden die mit bloem Auge erkennbaren Ge-hirnstrukturen genauer beschrieben. Die meisten Strukturen, die wir heute kennen,erhielten in dieser Zeit ihre Namen.6

    Eine weitere, in ihren Auswirkungen auf das wissenschaftliche Leben nicht zu un-terschtzende Entwicklung war das Mikroskop. Der Hollnder Antoni van Leeu-wenhoek (1632-1723) fand eine Methode, mit der man Linsen schnell und preis-gnstig herstellen konnte, und erleichterte damit die Herstellung von Mikroskopen.Er selbst benutzte seine Mikroskope natrlich auch fr eigene Forschungen und

    verffentlichte viele seiner Beobachtungen. So beschrieb er 1674 unter anderem pe-riphere Nerven und sah, wie aufgrund der Galenschen Theorie zu erwarten war,Hohlrume, in denen die Lebensgeister flieen sollten.7 Dieser Fehler, nmlich daszu finden, was man aufgrund von Hypothesen erwartet, ist natrlich universell. Essoll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Geschichte der Hirnforschung alseine Abfolge hin zum immer Besseren und immer Klareren betrachtet werden muss.Jede Generation begeht ihre eigenen Fehler und tendiert dazu, auch in das Nerven-system und seine Funktionen durch Hypothesen hineinzuprojizieren, was sie frrichtig und wichtig hlt.

    4 Bennett/Hacker 2008, S. 240 f.5 Willis 1667.6 Finger 1994, S. 18 ff.7 Van Leeuwenhoek 1674.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    13/117

    13

    Hirnforschung gestern und heute

    Nach der Entwicklung des Mikroskops vergingen noch einmal fast 200 Jahre, bisdas Gehirn adquat untersucht werden konnte. Erst mit einem technisch stark ver-besserten Mikroskop gelang es Johann Evangelist Purkinje (1787-1869) in der erstenHlfte des 19. Jahrhunderts erstmals, Nervenzellen, die spter nach ihm benannten,

    sehr groen Purkinje-Zellen im Cerebellum (Kleinhirn) darzustellen.8

    Es musstenauch Frbemethoden entwickelt werden, um die sonst sehr blassen Gehirnstruktu-ren darstellen zu knnen. Ein weiterer Meilenstein war deshalb die Entwicklung derSilbernitratfrbung durch den Italiener Camillo Golgi (1843/44-1926).9 Hiermit lie-en sich Neurone bis in ihre feinsten Verstelungen darstellen. Golgi war wie vieleandere seiner Zeit der Meinung, die Nervenzellen bildeten ein Synzytium, gingenalso ineinander ber. Nach der Entdeckung der Krperzellen im 19. Jahrhundert warman zwar relativ schnell davon berzeugt, dass zum Beispiel die Leber tatschlichaus einzelnen kleinen Einheiten in Form der Leberzellen besteht, aber die Theorie,

    dass etwas so Komplexes und Einzigartiges wie das Gehirn ebenfalls aus solch win-zigen Einheiten zusammengesetzt sein sollte, weckte heftigen Widerspruch.10 DerErste, der sich hierzu ganz klar bekannte und sich aufgrund erdrckender Beweisedurchsetzte, war Santiago Ramn y Cajal (1852-1934). Zusammen mit Golgi erhielter fr seine Arbeiten im Jahr 1906 den Nobelpreis. Golgi provozierte allerdings einenkleinen Skandal, als er in seiner Verleihungsrede immer noch die Theorie des Synzy-tiums propagierte und seinen Mitpreistrger entwertete. Aber zu diesem Zeitpunktbeschftigte sich die Hirnforschung bereits mit anderen Fragestellungen. So erstellteKorbinian Brodmann (1868-1918) seine berhmte Karte der Hirnregionen.11 Hierbeidefinierte er diese ber ihre unterschiedliche mikroskopische Struktur. Die von ihmbeschriebenen und nach ihm benannten Areale werden nach wie vor benutzt, umHirnfunktionen zu lokalisieren, zum Beispiel mithilfe der funktionellen Kernspin-tomografie. Dies ist deshalb sinnvoll, weil unterschiedlich strukturierte Areale auchunterschiedliche Funktionen haben.

    Die Erorschung der Funktion

    Im 19. Jahrhundert war die Frage, ob sich unterschiedlichen Hirngebieten unter-schiedliche Aufgaben zuordnen lassen, zunchst durch Franz Joseph Gall (1758-1828)12 mit seiner Phrenologie in Verruf gebracht worden: Dass besonders hufigbenutzte Gehirngebiete, zum Beispiel bei einem humorvollen Menschen das Gebiet

    8 Finger 1994, S. 43 f.9 Nobel Foundation 1967.10 Finger 1994, S. 44 ff.11 Brodmann 1909.12 Finger 2000, S. 119 ff.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    14/117

    14

    Barbara Wild

    fr Witz, besonders gro seien, den darber liegenden Schdel ausbeulten, unddies dann von auen zu ertasten sei, war zwar eine faszinierende, aber natrlichfalsche Theorie. Es bedurfte eines sehr berhmten franzsischen Neurologen, PaulBroca (1824-1880)13, und seines nicht minder berhmten Patienten Leborgne, ge-

    nannt Tan, um die Lokalisationstheorie wieder zu rehabilitieren. Der Spitznamedes Patienten rhrte von der einzigen Silbe her, die er noch aussprechen konnte.Broca verstand es, diese sogenannte motorische Aphasie (Sprachstrung) mit dernotwendigen Genauigkeit und Abstraktion zu beschreiben (also zum Beispiel, dassnicht die Sprache an sich, sondern eben nur die Sprachproduktion gestrt war).Nach dem Tode des Patienten zeigte dessen Gehirn eine lokalisierte Schdigung imlinken Stirnhirn, im heute so genannten Broca-Gebiet. Brocas Demonstration desFalls verhalf der Lokalisationstheorie in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts zumDurchbruch.

    Sehr wichtig waren in der Folgezeit die durch Tierversuche gewonnenen Erkennt-nisse. Als Pioniere sind Eduard Hitzig (1838-1907) und Gustav Fritsch (1838-1927)zu nennen, die in den 1860er-Jahren in Hitzigs Kche in Berlin Hunde untersuch-ten. Sie stimulierten das Gehirn elektrisch und hatten das Glck, den motorischenKortex (Bewegungszentrum) zu treffen. Sie beobachteten dann, dass je nach Sti-mulationsort unterschiedliche Muskeln zuckten, was ein Hinweis darauf war, wiedifferenziert verschiedene Funktionen auf einzelne Gehirnabschnitte verteilt sind.14Etwas spter stimulierte der englische Physiologe David Ferrier (1843-1928) Gehir-ne bei lebenden Affen und fhrte auch Experimente mit gezielt im Kortex gesetztenLsionen durch15, was ihm brigens einen Prozess wegen Tierqulerei einbrachte.Da er aber nachweisen konnte, dass die Tiere durch einen Fachmann ansthesiertworden waren, wurde er nicht verurteilt. Mit Verbesserung der neurochirurgischenMethoden war es dann mglich, auch bei Menschen intraoperativ das Gehirn zu sti-mulieren. Ein Pionier war der Neurochirurg Fedor Krause (1857-1937). Ganz beson-ders detailliert untersuchte in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts der KanadierWilder Penfield (1891-1976) Patienten, die wegen schwer behandelbarer Epilepsieoperiert wurden.16 Da das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist, kann man diese Pa-tienten nach der Schdelerffnung aufwachen lassen. Durch die Stimulation knnenerkrankte Gehirnteile erkannt werden. Andererseits kann man auf diese Weise auchAufschluss ber die Funktion der umliegenden gesunden Gebiete gewinnen. Pen-field war auf der Suche nach dem Sitz der Seele, wie er spter in seiner Autobiografieschrieb. In dieser Beziehung erfolglos, gelang es ihm jedoch zu klren, dass im Ge-hirn zumindest im primren motorischen und sensorischen Kortex die Krperteile

    13 Ebd., S. 137 ff.14 Fritsch/Hitzig 1870.15 Finger 2000, S. 155 ff.16 Peneld/Rasmussen 1950.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    15/117

    15

    Hirnforschung gestern und heute

    nicht entsprechend ihrer Gre, sondern entsprechend ihrer Wichtigkeit reprsen-tiert werden. Zunge und Lippen sind betrchtlich mehr Nervenzellen zugeordnet alszum Beispiel den Fen.

    Dass durch elektrische Stimulation des Gehirns Reaktionen hervorgerufen werden

    knnen, ist bedingt dadurch, dass Spannungsnderungen ein Teil der neuronalenFunktionsweise und Informationsverarbeitung sind. Dem Nervenarzt Hans Berger(1873-1941)17 gelang es, diese Hirnstromaktivitt beim Menschen auch ohne Erff-nung des Schdels durch uerlich applizierte Elektroden abzuleiten. Er entwickeltein den 1920er-Jahren das EEG (Elektroenzephalogramm). Das EEG wird heutzutagehauptschlich in der Routinediagnostik bei Epilepsiepatienten eingesetzt. Es kannaber auch dazu verwendet werden, um zum Beispiel mit Sprachaktivitt einherge-hende Spannungsnderungen des Gehirns zeitlich sehr hoch aufgelst zu beobach-ten. Die rumliche Auflsung ist allerdings recht unscharf.

    Die Mechanismen der elektrischen Informationsweiterleitung entlang der Axoneund Dendriten (Nervenzellfortstze) wurden mageblich von John Eccles (1903-1997), Alan Hodgkin (1914-1998) und Andrew Huxley (geb. 1917) aufgeklrt, diefr ihre Forschungen im Jahr 1963 den Nobelpreis erhielten.18 Das an der Zellmem-bran bestehende Spannungsgeflle (innen negativer als auen) kehrt sich nach Sti-mulation kurz um. Diese Spannungsumkehr wandert dann den Nervenzellfortsatzentlang bis zum Zellkrper. Solche Reaktionen knnen sich summieren und zu einerWeitergabe der Information ber das Axon, den langen Nervenzellfortsatz, an dienchste Nervenzelle fhren. Dabei war es lange Zeit umstritten, wie die Informati-onsbertragung von einer Nervenzelle zur anderen an der Kontaktstelle zwischenden beiden, der so genannten Synapse19, funktioniert elektrisch oder chemisch.Erst nach der Entwicklung des Elektronenmikroskops in den 50er-Jahren konntendie Synapsen in ihrer Feinstruktur dargestellt werden. Bereits in den 20er-Jahrenhatte jedoch Otto Loewi (1873-1961)20 mit einem Experiment, fr das er 1936 denNobelpreis erhielt, gezeigt, dass es sich um eine chemische bertragung handelnmsse: Ein in Nhrflssigkeit befindliches Froschherz schlgt langsamer, wenn derinnervierende Vagusnerv stimuliert wird. Ein in derselben Nhrflssigkeit befind-liches, nicht stimuliertes Froschherz aber verndert ebenfalls seine Schlagfrequenz.Dies konnte nur durch einen in die Nhrflssigkeit nach Vagusstimulation ausge-schtteten Botenstoff erklrt werden. Wie sich spter zeigte, handelte es sich umden Transmitter (Botenstoff) Acetylcholin. Inzwischen ist geklrt, dass im Gehirnunterschiedliche Transmitter, wie zum Beispiel Serotonin oder Dopamin, im Bereichder Synapsen ausgeschttet werden und in der Folge durch Bindung an spezifische

    17 Berger 1929.18 Nobel Foundation 1967.19 Dieser Begriff wurde von dem britischen Physiologen Charles Scott Sherrington 1897 geprgt.20 Loewi 1921.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    16/117

    16

    Barbara Wild

    Rezeptoren der nchsten Nervenzelle eine Aktivierung dieser Nervenzelle bewirkenknnen.

    Bis in die 70er-Jahre hinein war es aber, abgesehen von Stimulationen kleiner Hirn-areale whrend einer Operation, nicht mglich, das Gehirn des lebenden Menschen

    direkt zu untersuchen. Aufschlsse ber die Funktion wurden durch Tierversuchemit all ihren Beschrnkungen und durch den Vergleich der Lsionen verschiedenerPatienten mit hnlichen Strungen nach ihrem Tod gewonnen, was mhselig, feh-lerbehaftet und langwierig war. Dann jedoch erffnete die Entwicklung funktionellerbildgebender Verfahren wie der Computertomografie (CT)21 und etwas spter derPositronenemissionstomografie (PET) und der Magnetresonanztomografie (MRT)

    vllig neue Erkenntnismglichkeiten. Mittels der auf Rntgenmethodik basierendenCT konnte man erstmals das Gehirn visuell gewissermaen in Scheiben schneidenund beim lebenden Menschen die Gehirnstruktur und ihre Vernderungen, zum

    Beispiel durch Tumore, darstellen.Mit der PET knnen im Gehirn auch Stoffwechselprozesse, so unter anderem dieVerteilung und die Dichte von Rezeptoren, gemessen werden. Auerdem wurde esmglich darzustellen, welche Gehirngebiete bei einer vorgegebenen Aufgabe, wiezum Beispiel Fingerbewegungen, aktiv sind. Hierbei wird ausgenutzt, dass immerdort, wo Synapsen aktiv sind, der Sauerstoff- und Glucose-Verbrauch sowie derBlutfluss ansteigen.

    Diese Blutflussnderungen knnen inzwischen auch mithilfe der MRT gemessenwerden. Bei dieser Methode22 werden keine Rntgenstrahlen (wie bei der CT) oderradioaktiv markierte Substanzen (wie bei der PET) benutzt, sondern biologisch un-bedenkliche Magnetfelder. Die MRT kann deshalb auch sehr viel lnger und hufigerbei einzelnen Menschen eingesetzt werden. Sie ermglicht nicht nur, die Gehirn-strukturen mit hherer Auflsung darzustellen als die CT, zum Beispiel auch Fa-serverbindungen zwischen einzelnen Gehirngebieten, auch funktionelle Messungen,also zum Beispiel die Darstellung aktivierter Gebiete bei bestimmten Aufgaben, istmglich. Das kann die Betrachtung visueller Stimuli sein, aber auch ein Lcheln.23

    Mithilfe funktioneller Messungen sind in den letzten Jahrzehnten viele Gehirn-funktionen untersucht worden, von Studien zur visuellen und akustischen Wahr-nehmung ber Schmerzverarbeitung, Sprachproduktion und -verarbeitung bis hinzu den Gehirnaktivitten whrend der Masturbation. Eine Darstellung aller Ergeb-nisse wrde den durch die Tagung vorgegebenen Rahmen sprengen. Eine wichtigeErkenntnis ist aber, dass es zwar einerseits durchaus Regionen gibt, die auf einzelne

    21 Diese soll auch den Erfolgen der Beatles zu verdanken sein: Deren Musikrma EMI, die auch medizinischeGerte herstellte, verdiente durch die Beatles so viel, dass sie ihren forschenden Mitarbeitern viel Freiheitlassen konnte, sich mit interessanten Ideen zu beschftigen so entwickelte Godfrey Hounseld mit seinenMitarbeitern letztendlich den Computertomografen.

    22 Auch Kernspintomografe genannt.23 Wild et al. 2003.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    17/117

    17

    Hirnforschung gestern und heute

    Funktionen spezialisiert sind dies gilt nicht nur fr die primren sensomotorischenGebiete, sondern zum Beispiel auch fr Funktionen wie die Gesichtswahrnehmung, andererseits zeigte sich mit zunehmender Qualitt der Untersuchungsmethodenauch, dass viele hhere kognitive Funktionen eine Vielzahl von Gehirngebieten im

    Sinne von Netzwerken aktivieren und es zum Beispiel nicht das Humorzentrumgibt.24

    Die Beschreibung der neurophysiologischen und neuroanatomischen Korrelatevon emotionalen Prozessen ist ein gutes Beispiel hierfr. In diesem Zusammenhangist zunchst die Definition des limbischen Systems durch James Papez (1883-1958)und Paul MacLean (1913-2007) zu nennen.25 Es entstand die Vorstellung, dass hierneuronale Erregung kreist, die durch Sinneseindrcke und interne Vernderungenhervorgerufen wird. Diese lst erstens emotionale Reaktionen durch ihre Verbin-dungen zum Hirnstamm und die Beteiligung des hormonellen Systems ber den im

    Zwischenhirn liegenden Hypothalamus aus, zweitens kann sie Ablufe in anderenGehirngebieten, wie dem Stirnhirn, beeinflussen und wird drittens selbst wiederumreguliert, zum Beispiel durch Signale aus dem Stirnhirn.26

    Mit funktioneller Bildgebung werden jedoch inzwischen nicht nur Reaktionen aufemotionale Stimuli unterschiedlicher Art untersucht, sondern auch die Beeinflus-sung dieser Reaktionen durch weitere Bedingungen, wie zum Beispiel Stress oderMdigkeit, Medikamente, Charaktereigenschaften oder genetische Unterschiede.Neben dem limbischen System sind inzwischen auch andere an emotionalen Reakti-onen beteiligte Systeme charakterisiert worden, wie zum Beispiel das mesolimbischedopaminerge Belohnungssystem.27 Auch das Konzept der Spiegelneurone ist auf dasemotionale System ausgedehnt worden. Hierbei handelt es sich um Nervenzellen,die nicht nur aktiv sind, wenn eine bestimmte Aktion durchgefhrt wird, sondernauch, wenn wir diese bei anderen beobachten. Ursprnglich entdeckt im motori-schen System, mehren sich die Hinweise, dass solche Spiegelneuronen auch an deremotionalen Verarbeitung und hier insbesondere an der Empathiefhigkeit be-teiligt sind.28

    24 Wild et al. 2006.25 Ursprnglich hatte Broca einen limbischen Lappen benannt die am Rand (lat. limbus) der subkortikalen

    Gebiete gelegenen Hirnanteile, denen er Funktionen des Geruchssinns zuordnete. Papez denierte einendurch Nervenfasern verbundenen Kreis mit Hippocampus, Fornix, Corpora mamillaria, Nuclei anterioresthalami, Gyrus cinguli, Hippocampus und Tractus mammillothalamicus. MacLean prgte den Begriff limbi-sches System und fgte noch die Mandelkerne (Amygdala) hinzu.

    26 Fr MacLean war dieses limbische System der Ort des Freudschen Unbewussten, whrend er Funktionendes ber-Ichs im Stirnhirn lokalisierte. Dass es solche Regelkreislufe und gegenseitigen Beeinussungengibt, kann man inzwischen auch mit funktioneller MRT zeigen. Die Freudschen Instanzen lassen sich natr-lich nicht so einfach im Gehirn abbilden. Es sei aber dieser Stelle erlaubt, auf die Bedeutung von Mnnernwie Freud, Pawlow und Konrad Lorenz hinzuweisen. Auch wenn sie selbst keine Hirnforschung betriebenhaben, haben ihre Ideen die Neurowissenschaften stark beeinusst (MacLean 1949).

    27 Alcaro/Huber/Panksepp 2007.28 Gallese 2003.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    18/117

    18

    Barbara Wild

    Beeinussung der Hirnunktionen

    Zu allen Zeiten haben die Menschen versucht, Gehirnfunktion zu beeinflussen, alsozum Beispiel das Schmerzempfinden zu dmpfen oder sich zu berauschen. Und na-

    trlich gab es immer auch Versuche, seelische Erkrankungen zu behandeln. Diesmchte ich am Beispiel der Schizophrenie weiter erlutern. Die Schizophrenie isteine hufige Erkrankung, die mit schweren Symptomen wie Halluzinationen undWahn einhergeht. Auch die logischen Denkablufe und die emotionale Verarbeitungsind gestrt. Frhe Behandlungsversuche bestanden hauptschlich aus Zwangsma-nahmen, wie der Fixierung oder dem stundenlangen Einsperren in einer Badewan-ne. Als man feststellte, dass epileptische Anflle die Symptome reduzieren knnen,begann man im frhen 20. Jahrhundert, mithilfe von Insulin eine Unterzuckerungund hierdurch einen epileptischen Anfall als Therapie auszulsen. Etwas spter lste

    die Elektrokrampftherapie Insulin als Auslser epileptischer Aktivitt ab. Dies isteine wirksame Methode29, heutzutage allerdings verdrngt von den inzwischen viel-fltigen medikamentsen Behandlungsmglichkeiten.

    Vorbergehend wurde allerdings leider auch die sogenannte Lobotomie30 einge-setzt.31 Hierbei werden Fasern, die das Stirnhirn mit dem Rest des Gehirns verbin-den, durchtrennt. Es handelt sich um einen einfachen, sogar am wachen Patientendurchfhrbaren Eingriff, was sicher zu seiner Beliebtheit und raschen Verbreitungbeigetragen hat. Die so behandelten Patienten waren in der Folge pflegeleichter,nmlich ruhiger und desinteressiert. Sie waren aber in ihrer Persnlichkeit dauerhaftschwer gestrt, weshalb man inzwischen lngst davon abgekommen ist. In dieser Be-ziehung haben sich die in den 50er-Jahren entwickelten Neuroleptika als sehr posi-tiv erwiesen. Diese Medikamente verdrngten nicht nur die unheilvolle Lobotomie,sondern ermglichten es auch, mit den an Schizophrenie erkrankten Menschen ganzanders in Kontakt zu treten und so zum Beispiel die Zahl der Zwangsmanahmenwhrend der Akutphase drastisch zu reduzieren.

    Aktuelle Themen der Hirnorschung

    Das erste Neuroleptikum Chlorpromazin war noch zufllig auf der Suche nacheinem Narkosemittel gefunden worden. Heutzutage benutzt man selbstverstndlichbei der Entwicklung neuer Medikamente das mithilfe der oben genannten Verfahrengewonnene Wissen, zum Beispiel ber Rezeptoren und Transmitter, und versucht,

    29 Eschweiler/Wild/Bartels 2003.30 Auch Leukotomie genannt.31 Antonio Moniz erhielt hierfr sogar 1949 den Nobelpreis (s. Janson 1998).

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    19/117

    19

    Hirnforschung gestern und heute

    Medikamente zu entwickeln, die mglichst genau bestimmte Rezeptor-Untertypenstimulieren.

    So ist die Behandlung seelischer Erkrankungen weiterhin ein wichtiger Fokus derHirnforschung. Akutsymptome wie Halluzinationen und Wahn lassen sich zwar gut

    behandeln, schizophrene Denkstrungen oder andere behindernde Symptome hin-gegen bisher noch nicht ausreichend. Es dauert oft lange, bis Antidepressiva eineWirkung entfalten, und diese Medikamente sind auch nicht bei allen Betroffenenwirksam. Die Behandlung von Menschen mit Persnlichkeitsstrungen ist ebensoschwierig.

    Es wird lebhaft diskutiert, wie genetische Faktoren psychische Erkrankungenhervorrufen knnen. Nachdem sich die Suche nach dem Schizophrenie-Gen oderdem Aggressions-Gen als bisher vergeblich erwiesen haben und wahrscheinlichhoffnungslos sind, werden nun auch epigenetische Phnomene, also zum Beispiel

    die Beeinflussung von Genaktivitt durch die Produkte anderer Gene, untersucht.Spannend ist auch die Frage, inwiefern die Neubildung von Nervenzellen, wie siezum Beispiel im Hippocampus auch beim Erwachsenen nachgewiesen wurde, beein-flusst werden kann. Lassen sich hierdurch Gedchtnisfunktionen verbessern? Spieltdie Strung dieses Prozesses, zum Beispiel durch erhhte Kortisol-Spiegel unterStress, eine Rolle fr die Entwicklung einer Demenz? Selbstverstndlich sind die de-generativen Hirnerkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder die ParkinsonscheErkrankung, deren Bedeutung ja mit dem zunehmenden Anstieg des Bevlkerungs-anteils der lteren Menschen wchst, auch im Fokus der aktuellen Hirnforschung.Die Suche nach Mglichkeiten zur Frherkennung und Prvention und natrlichauch zur Behandlung des Krankheitsprozesses ist intensiv.

    Neben diesen therapeutischen Aspekten stellt sich die aktuelle Hirnforschungnach wie vor die Frage, wie unser Denken, Fhlen und Handeln im Gehirn repr-sentiert sind und insbesondere, inwieweit wir Herr im eigenen Haus sind.32 Wiesehr sind wir determiniert durch unsere genetische Ausstattung, durch Kindheits-erlebnisse oder auf psychologischen Erkenntnissen basierenden Manipulationsme-thoden? Knnen wir unserer Entscheidungen und Handlungen selbst lenken oderwerden wir beeinflusst von Prozessen, die unserem Bewusstsein gar nicht zugnglichsind? Steuern wir unsere Hirnfunktionen oder steuern sie uns?

    32 Dieser Begriff wurde von Freud benutzt, der die Frage verneinte (s. Freud 2006).

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    20/117

    20

    Barbara Wild

    LiteraturAlcaro, Antonio; Huber, Robert; Panksepp, Jaak (2007): Behavioral Functions of the MesolimbicDopaminergic System: An Affective Neuroethological Perspective. In: Brain Research Reviews, 56 (2),S. 283-321.

    Bennett, Max R.; Hacker, Peter M. S. (2008): History o Cognitive Neuroscience. Chichester.Berger, Hans (1929): Ueber das Elektrenkephalogramm des Menschen. In:Archiv r Psychiatrie undNervenkrankheiten , 87, S. 527-570.

    Brodmann, Korbinian (1909): Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde: in ihren Principiendargestellt au Grund des Zellenbaues. Leipzig.

    Eschweiler, Gerhard; Wild, Barbara; Bartels, Mathias (2003): Elektromagnetische Therapien in derPsychiatrie. Darmstadt.

    Finger, Stanley (2000): Minds Behind the Brain: A History o the Pioneers and Their Discoveries. NewYork.

    Finger, Stanley (1994): Origins o Neuroscience: A History o Explorations into Brain Function. New

    York.Freud, Sigmund (2006): Das Lesebuch. Schriten aus vier Jahrzehnten. Frankfurt/Main.

    Fritsch, Gustav; Hitzig, Eduard (1870): Ueber die elektrische Erregbarkeit des Grosshirns. In:Archivr Anatomie, Physiologie und wissenschatliche Medicin, 37, S. 300-332.

    Gallese, Vittorio (2003): The Roots of Empathy: The Shared Manifold Hypothesis and the NeuralBasis of Intersubjectivity. In: Psychopathology, 36 (4), S. 171-180.

    Jansson, Bengt (1998): Controversial Psychosurgery Resulted in a Nobel Prize. Online im Internet:http://nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/articles/moniz/index.html [5.11.2009].

    Leeuwenhoek, Antonivan (1674): Microscopical Observations Concerning Blood, Milk, Bones, theBrain, Spittle, and Cuticula. In: Philosophical Transactions, 9, S. 121-128.

    Loewi, Otto (1921): ber humorale bertragbarkeit der Herznervenwirkung. In: Pgers Archiv rdie Gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, 189, S. 239-242.

    MacLean, Paul (1949): Psychosomatic Disease and the Visceral Brain. Recent Developments Bea-ring on the Papez Theory of Emotion. In: Psychosomatic Medicine, 11 (6), S. 338-353.

    Nobel Foundation (Hrsg.) (1967): Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1901-1921. Amsterdam.

    Penfeld, Wilder; Rasmussen, Theodore (1950): The Cerebral Cortex o Man. A Clinical Study o Locali-zation o Function. New York.

    Vesalius, Andreas (1543): De humani corporis abrica libri septem. Basel.

    Wild, Barbara et al. (2006): Humor and Smiling: Cortical Areas Selective for Cognitive, Affective

    and Volitional Components. In: Neurology, 66 (6), S. 887-893.Wild, Barbara et al. (2003): Why are smiles contagious? An fMRI Study of the Interaction betweenPerception of Facial Affect and Facial Movements. In: Psychiatry Research: Neuroimaging, 123 (1),S. 17-36.

    Willis, Thomas (1667): Pathologiae Cerebri et Nervosi Generis Specimen. Oxford.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    21/117

    21

    JOHN-DYLAN HAYNES

    Bilder des Gehirns als Bilder des Denkensund Fhlens

    Zusammenassung

    Kann man allein auf der Basis der aktuellen Gehirnaktivitt einer Person bestimmen,was sie gerade denkt und fhlt? In dem neuen Forschungsgebiet des brain reading(wrtlich: Gehirnlesen) wird untersucht, inwiefern es mglich ist, aus den Hirnpro-zessen einer Person auf ihre Gedankeninhalte zu schlieen. Die Grundidee ist, dass

    jeder Gedanke mit einem charakteristischen Aktivierungsmuster im Gehirn einher-geht. Trainiert man einen Computer darauf, solche Muster zu erkennen, wird esmglich, die Gedanken einer Person allein aus der Hirnaktivitt auszulesen.

    Bereits heute sind eine Reihe verschiedener Gedanken bereits ausgelesen worden.Dazu zhlen visuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen, Erinnerungen, Absich-ten und sogar Gefhle. Es ist bisweilen sogar mglich, aus der Hirnaktivitt mehrber die mentalen Prozesse einer Person auszulesen, als ihr selbst bewusst ist. Sokann man in bestimmten Situationen Absichten, bereits mehrere Sekunden bevor siedas Bewusstsein erreichen, auslesen.

    Trotz der erheblichen Erfolge in den letzten Jahren stt das brain readingjedochauch schnell an Grenzen. So ist es zum Beispiel aus prinzipiellen Grnden schwierig,beliebige Gedanken auszulesen oder Erkenntnisse von einer Person auf andere zubertragen. Es ist also noch ein langer Weg bis zu einer hypothetischen universellenGedankenlesemaschine, bei der die beliebigen Gedanken einer beliebigen Versuchs-person auf Anhieb ausgelesen werden knnen. Allerdings zeichnen sich bereits mitden heute verfgbaren einfacheren Anstzen vielfltige Anwendungsmglichkeiten

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    22/117

    22

    John-Dylan Haynes

    ab, wie etwa in der Forensik und Kriminologie, in der Steuerung von Computern undknstlichen Prothesen mittels der Hirnaktivitt, oder auch im Neuromarketing.

    EinleitungDie Mglichkeit, die Gedanken einer anderen Person zu lesen, hat Menschen seit

    jeher fasziniert.1 Eine wichtige Frage ist, ob es mglich ist, mit Hilfe neuer Verfah-ren zur Messung der Hirnaktivitt die Gedanken einer Person direkt aus dem Ge-hirn auszulesen. Bei der Messung von Hirnaktivitt und Hirnstruktur gab es inden letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte. Mittels Computertomografie (CT)und Magnetresonanztomografie (MRT) knnen Schnittbilder gemessen werden,die Aufschluss ber den strukturellen Aufbau des Gehirns geben (Gewebetypen wie

    graue und weie Substanz, Liquor, Knochen). Diese Verfahren werden routinem-ig in der neuroradiologischen Diagnostik zur Feststellung von Erkrankungen undVerletzungen des Zentralnervensystems eingesetzt. Allerdings gibt eine Messungder Hirnstruktur keinen Aufschluss ber die momentanen mentalen Zustnde (wieVorstellungen, Gedanken, Absichten und Gefhle) einer Person, die sich von Sekun-de zu Sekunde ndern knnen.

    Um die momentanen mentalen Zustnde einer Person zu bestimmen, ist eineMessung der momentanen Hirnaktivitt erforderlich. Dazu gibt es eine Reihe vonMessverfahren: Zum einen die Messung der elektromagnetischen Signale der Hirn-aktivitt mithilfe von Elektroenzephalografie (EEG) und Magnetenzephalografie(MEG). Damit lsst sich die Hirnaktivitt mit hoher zeitlicher Auflsung messen (imMillisekunden-Bereich). Allerdings ist die rumliche Auflsung dieser Verfahrensehr gering (mehrere Zentimeter). Komplementr zu EEG/MEG erlaubt die funkti-onelle Magnetresonanztomografie (fMRT) die Messung der Hirnaktivitt mit hoherrumlicher Auflsung (wenige Millimeter), allerdings niedriger zeitlicher Auflsung(mehrere Sekunden). Im Gegensatz zu EEG sind fMRT-Signale nur ein indirekterMarker der Aktivitt von Nervenzellverbnden, weil diese Aktivitt ber den Sau-erstoffgehalt des Blutes ermittelt wird. Allerdings ist die fMRT das einzige aktuell

    verfgbare nicht-invasive Verfahren, mit dem eine Messung der Hirnaktivitt mit

    1 In der Wissenschaft wird solches Gedankenlesen blicherweise nicht thematisiert, vermutlich um eineAssoziation mit Esoterik und Parapsychologie zu vermeiden. Dabei wird leicht vergessen, dass rudimentresGedankenlesen eine wichtige kognitive Fhigkeit darstellt. Aus dem Rotwerden einer Person schlietman darauf, dass sie verlegen ist, oder man schliet aus ihrer zittrigen Stimme auf ihre Nervositt. DasForschungsgebiet Theory o Mind ist ein Teilgebiet der Sozialpsychologie und befasst sich mit der Frage,wie Menschen Reprsentationen der mentalen Zustnde anderer Menschen erwerben. Allerdings sind dieMglichkeiten, aus der Mimik und Gestik zu schlieen, was eine Person gerade denkt, sehr begrenzt.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    23/117

    23

    Bilder des Denkens und Fhlens

    hoher rumlicher Auflsung mglich ist, ohne in das Gehirn chirurgisch eingreifenzu mssen.2

    Das neue Forschungsgebiet des brain readingerforscht, inwiefern aus diesen Mes-sungen der Hirnaktivitt auf die mentalen Zustnde einer Person geschlossen wer-

    den kann. Bereits in den 1960er-Jahren gab es Anstze, mittels EEG, allein mit derKraft der Gedanken, Texte zu diktieren. Allerdings ist das EEG auf das Ausle-sen einfacher Kommandos beschrnkt, wie etwa einen Text per Morsealphabet zu

    verschlsseln oder einen Computercursor auf einem Bildschirm zu bewegen. Kom-plexere Gedanken lassen sich aufgrund der mangelnden rumlichen Auflsung desEEG nicht auslesen. In letzter Zeit sind Techniken entwickelt worden, die es erlau-ben, die Gedanken einer Person mit einer wesentlich hheren Detailschrfe aus ihrerHirnaktivitt zu erschlieen. Dabei ist die hohe Auflsung der fMRT von Vorteil.Eine Neuerung, mit deren Hilfe sich die Gedanken einer Person auslesen lassen, ist

    die Anwendung multivariater Mustererkennung. Dabei macht man sich zunutze,dass jeder Gedanke mit einem charakteristischen Aktivierungsmusterim Gehirn ein-hergeht. In Analogie zu Fingerabdrcken kann man sich solch ein Muster als eineneinzigartigen, unverwechselbaren Abdruck des Gedankens im Gehirn vorstellen.Wenn man ein solches Gehirnmuster vorfindet, wei man, was eine Person geradedenkt.

    Zunchst werden mittels fMRT die Hirnaktivittsmuster einer Person mit einersehr hohen rumlichen Genauigkeit gemessen. Dann trainiert man Computer, diespezifischen Aktivierungsmuster im Gehirn zu erkennen, die bei den verschiedenenGedanken auftreten. Dabei kommen sogenannte Mustererkennungs-Algorithmenzum Einsatz, die das Vorliegen bestimmter Aktivittsmuster statistisch optimal er-kennen knnen. Dieselben Algorithmen werden zur Erkennung von Fingerabdr-cken oder zur Identifikation von Gesichtern aus berwachungsvideos verwendet.Mit der Entwicklung der Algorithmen befasst sich das Gebiet des MaschinellenLernens. Anders als bei herkmmlichen Methoden werden bei der Musterkennung

    2 Ein wichtiger Forschungstrend in diesem Bereich ist die Integration beider Verfahren, um eine gleicherma-en hohe zeitliche und rumliche Ausung zu erlauben, allerdings sind die Mglichkeiten der Integrationder Signale begrenzt. Es gibt neben den hier erwhnten Verfahren noch weitere neurowissenschaftlicheMesstechniken, die sich allerdings fr brain reading eher ungeeignet sind. Dazu zhlen:(1) die Messung radioaktiv markierter Substanzen mittels Positronenemissionstomograe (PET), die auf-grund der radioaktiven Belastung nicht fr technische Anwendungen geeignet ist;(2) die Messung der Hirnaktivitt mittels Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS), die die Messung der Hirnak-tivitt nur mit schlechter rumlicher und zeitlicher Ausung erlaubt (allerdings ist NIRS sehr leicht mobileinzusetzen);(3) die Messung der elektrischen Hirnaktivitt mittels implantierter Tiefenelektroden und Elektrodengrids:Diese erlaubt zwar eine wesentlich przisere Messung der lokalen Nervenzellaktivitt, allerdings ist diesesVerfahren invasiv und insofern fr nicht klinische Anwendungen ungeeignet;(4) Ebenfalls erwhnt werden sollte auch die Transkranielle Magnetstimulation (TMS), mit deren Hilfe sichdie Hirnaktivitt zwar nicht messen, aber beeinussen lsst. Allerdings ist dieses Verfahren zurzeit nochsehr unspezisch und erlaubt es nicht, die Aktivitt einzelner Nervenzellen gezielt zu verndern.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    24/117

    24

    John-Dylan Haynes

    Messungen aus vielen Gehirnbereichen kombiniert, um zum Beispiel die Absichtenoder Gefhle eines Probanden zu entschlsseln.

    Dass das so gut funktioniert, hngt mit der Funktionsweise des Gehirns zusam-men. Die detaillierten Inhalte der Gedanken sind nicht in einzelnen Nervenzellen

    gespeichert, sondern in einem rumlich verteilten Muster neuronaler Aktivitt.Zwar gibt es eine regionale Spezialisierung bestimmter Hirnregionen fr bestimmteKategorien von Gedanken, wie etwa visuelle Erlebnisse, Erinnerungen, oder Absich-ten. Innerhalb der Areale sind die Details der Gedanken jedoch in verteilten Ak-tivittsmustern kodiert. Durch die Kombination von fMRT mit Mustererkennunghat das brain readingin den letzten fnf Jahren einen enormen Entwicklungssprunggemacht. In bestimmten Fllen konnten selbst detaillierte Gedankeninhalte ausge-lesen werden: Dazu zhlen visuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen, Gedcht-nisinhalte, und sogar Absichten und Emotionen. Interessanterweise lassen sich bis

    zu einem gewissen Grad sogar implizite und unbewusste mentale Zustnde auslesen,wie etwa unbewusste Wahrnehmungen und Entscheidungen.Ein Beispiel ist das Auslesen von Absichten aus Hirnaktivittsmustern. Im Rah-

    men eines klar definierten Versuchsaufbaus lieen wir Probanden frei zwischen zweimglichen Entscheidungen whlen. Die Versuchspersonen sollten sich vornehmen,bei der nchsten Rechenaufgabe zwei Zahlen entweder zu addieren oder zu subtra-hieren. Diese Absicht konnten wir mit 70-prozentiger Genauigkeit allein anhand derGehirnaktivitt der Probanden entschlsseln noch bevor diese die Zahlen zu sehenbekamen und zu rechnen begannen. Die Probanden trafen ihre Wahl verdeckt undwussten zunchst nicht, welche zwei Zahlen sie addieren oder subtrahieren sollten.Dadurch wurde sichergestellt, dass ausschlielich die Absicht der Probanden aus derGehirnaktivitt abgelesen wurde. Andere neuronale Aktivitten, wie zum Beispieldie eigentliche Durchfhrung der Rechenaufgabe oder die Vorbereitung der Hand-bewegung zum Anzeigen der Lsung, fanden in dem Zeitraum der Messungen, ausdenen die Vorhersage getroffen wurde, nicht statt. Erst einige Sekunden spter er-schienen die Zahlen auf dem Bildschirm und die Probanden konnten die gewhlteRechenaufgabe ausfhren. In einem Bereich des Gehirns, im sogenannten mittlerenSchlfenlappen, konnten wir aus Mikromustern der Hirnaktivitt auslesen, welcheAbsichten ein Proband gefllt hatte (Abb. 1). In einem weiteren Experiment konntenwir zeigen, dass sich solche frei gewhlten Absichten aus der Hirnaktivitt auslesenlassen, noch bevor ein Proband sich selber entschieden hat (Abb. 2).

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    25/117

    25

    Bilder des Denkens und Fhlens

    Addieren

    Subtrahieren

    Abb. 1: Hirnregionen, aus denen menschliche Absichten ausgelesen werden knnen. Fein-krnige Hirnaktivierungsmuster (rechts) sind unterschiedlich, wenn ein Proband eine Additi-on oder eine Subtraktion verdeckt vorbereitet. Aus Aktivierungsmustern in den wei markier-

    ten Regionen knnen verborgene Absichten ausgelesen werden, bevor sie vom Probandenausgefhrt werden. Aus den schwarz markierten Regionen knnen die Absichten ausgelesenwerden, wenn der Proband begonnen hat, die Absicht in die Tat umzusetzen (Haynes et al.2007).

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    26/117

    26

    John-Dylan Haynes

    Entscheidung

    Vorhersage

    Abb. 2: Ein Experiment zu unbewussten neuronalen Mechanismen der Entscheidungsn-dung. Ein Proband wird gebeten, sich zu einem frei whlbaren Zeitpunkt frei auszusuchen,ob er einen Knopfdruck mit links oder rechts durchfhren mchte. Parallel dazu luft eineBuchstabenfolge ber den Bildschirm und der Proband soll sich merken, wann er sich bewusstentschieden hat, den Knopf zu drcken. Die Hirnaktivitt zeigt bereits bis zu zehn Sekundenvor der bewussten Entscheidung zu einem gewissen Grad an, welche Auswahl der Probandgleich treffen wird (Soon et al. 2008).

    Methodische Grenzen

    Diese Fortschritte sollten jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass wissenschaft-liches Gedankenlesen noch in seinen Anfngen steckt. Ist es nur eine Frage der Zeit,bis man in ein paar Jahren eine universelle Gedankenlesemaschine bauen kann,also eine hypothetische Maschine, an die man jede beliebige Person nur anschlieenmsste, um zu erfahren, woran genau sie gerade denkt? Dies ist noch Zukunftsmusik

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    27/117

    27

    Bilder des Denkens und Fhlens

    und wird es auch noch auf absehbare Zeit bleiben. Es gibt verschiedene Grnde, wes-halb die Mglichkeiten, beliebige Gedanken eines beliebigen Probanden auszulesen,sehr begrenzt sind.

    Grenzen der Messtechnik

    Heute verfgbare Messverfahren fr Hirnaktivitt haben bei Weitem keine ausrei-chende Auflsung, um feine Unterschiede zwischen verschiedenen Aktivittsmus-tern (und mithin zwischen verschiedenen Gedanken) zu erkennen. Dazu msstedie Auflsung der Messmethoden erheblich verbessert werden, zumindest bis hinzu einer rumlichen Auflsung von einem halben Millimeter oder weniger, was derAuflsung der sogenannten kortikalen Kolumnen entspricht (der kleinsten topo-

    grafischen Struktureinheit im menschlichen Kortex). Die Langsamkeit des fMRT-Signals in Kombination mit dem erheblichen Rechenaufwand fr eine Mustererken-nung macht ein brain reading in Echtzeit zurzeit noch sehr schwierig. Die Signale

    von EEG und fMRT sind zudem noch durch starkes Rauschen beeintrchtigt, dasvon der Hintergrundaktivitt des Gehirns stammt. Dies limitiert zwar die Treffer-quote der Verfahren, allerdings sind auf einigen Gebieten auch hohe Trefferquoten

    von 100 Prozent erzielbar.

    Unterschiede zwischen Personen

    Die Kodierung der Details mentaler Zustnde im Gehirn unterscheidet sich erheb-lich zwischen Individuen. Dies liegt daran, dass die Entwicklung der rumlichenAufgabenverteilung in lokalen Nervenzellpopulationen Selbstorganisationsprozes-sen unterliegt. Dabei spielen auch individuell unterschiedliche Erfahrungen einegroe Rolle (zum Beispiel bei den individuellen Assoziationen und Konnotationen,die bei vielen Gedanken wichtig sind). Es ist deshalb schwierig bis unmglich, dieKlassifikationfeiner Details der Gedanken einer Person an einer Gruppe von ande-ren Probanden zu erlernen.

    Auslesen beliebiger Gedanken

    Fr das Auslesen beliebiger mentaler Zustnde einer Person muss man die Aktivi-ttsmuster jedes ihrer Gedanken kennen. Das Aktivittsmuster muss also fr jedenGedanken vorher gelernt werden. Dies liegt daran, dass man eine brute-force-Zuord-nung von Gedanken zu Aktivittsmustern mittels statistischer Verfahren vornimmt.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    28/117

    28

    John-Dylan Haynes

    Zurzeit ist die Sprache des Gehirns bzw. der neuronale Code noch nicht bekannt,was erforderlich wre, um die Aktivittsmuster syntaktisch und semantisch inter-pretieren zu knnen. In wissenschaftlichen Publikationen wird deshalb der BegriffGedankenlesen durch den prziseren Ausdruck Decodierung mentaler Zustn-

    de ersetzt. Diese Decodierung kann als eine bersetzung von mentalen Zustndenin Hirnaktivittsmuster verstanden werden. Um beliebige Gedanken dekodierenzu knnen, msste man also mit heutigen Verfahren eine Person im Scanner jedendenkbaren Gedanken zunchst einmal denken lassen, um das zugehrige Muster zumessen. Dies ist offensichtlich nicht mglich. Es gibt jedoch erste Anstze, die auskurzen Kalibrierungsmessungen eine Vielzahl von Gedanken auszulesen erlauben,allerdings ist dies erst im Bereich einfacher Wahrnehmungen gezeigt worden.

    Lernen und Plastizitt

    Eine weitere bislang ungeklrte Frage bezieht sich auf die Dynamik und Vernder-barkeit des neuronalen Codes. Zurzeit gehen die meisten Decodierungsverfahren

    von einer statischen, das heit gleichbleibenden Beziehung zwischen Gedankenin-halten und neuronalen Aktivierungsmustern aus. Allerdings wird das Gehirn stndigdurch Lernprozesse verndert. Dies wird besonders deutlich, wenn man die gesamteLebensspanne einer Person betrachtet. So sind etwa die Assoziationen, die jemandals Kind und als Erwachsener mit dem Begriff Lieblingsfilm hat, in der Regel vlligunterschiedlich. Es ist also durchaus vorstellbar, dass auch der neuronale Code frbestimmte Gedanken verndert wird. Obwohl zum Thema Lernen und Plastizitt

    viel geforscht worden ist, ist ber deren Auswirkung auf neuronale Codierung bisherwenig bekannt.

    Anwendungen

    Aus den oben genannten Grnden ist die Entwicklung einer universellen Gedan-kenlesemaschine, die die mentalen Zustnde einer Person mit beliebiger Detail-schrfe ausliest, auch auf lange Sicht nicht zu erwarten. Allerdings ist ein Auslesender feinen Details mentaler Zustnde fr viele technische Anwendungen nicht erfor-derlich. So erfordert zum Beispiel die Identifikation einer Lge nur eine binre Aus-sage (Lge/Wahrheit). Eine detaillierte Ermittlung der Gedanken einer Person wrezwar ntzlich, aber nicht unbedingt erforderlich. Fr eine Klassifikation der grobenKategorien mentaler Aktivitt sind die Aktivittsmuster verschiedener Probandeneinander meist ausreichend hnlich und erlauben somit eine grobe Klassifikationdes mentalen Zustands, auch wenn die Decodierung an anderen Probanden gelernt

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    29/117

    29

    Bilder des Denkens und Fhlens

    wird (dies ist zum Beispiel fr die Lgendetektion gezeigt worden). Im Folgendenwird der aktuelle Forschungsstand zweier wichtiger brain-reading-Anwendungenkurz dargestellt.

    Lgendetektion

    Die klassische Lgendetektion erfolgt mittels der Polygrae, eines Verfahrens, mitdem mehrere Werte gemessen werden, die die Erregung eines Probanden anzeigen(zum Beispiel Hautwiderstand, Herzfrequenz, Atemfrequenz). Diese Verfahren sindbei einer Anwendung an naiven Probanden zuverlssig. Allerdings ist wiederholtgezeigt worden, dass Probanden mit entsprechender Vorbereitung ihr Erregungsni-

    veau gezielt kontrollieren knnen. Anleitungen dazu sind beispielsweise im Internet

    verfgbar.

    3 Deshalb ist eine Manipulation von Polygrafie-Ergebnissen durch vorin-formierte Probanden nicht auszuschlieen und die Gltigkeit der Messergebnissedeshalb zweifelhaft. Das Problem der klassischen Polygrafie ist, dass sie die Erregungals physiologischen Marker fr Tuschung verwendet.

    Alternativen dazu bietet eine gehirnbasierte Lgendetektion, die die kognitivenProzesse bei der Produktion einer Lge oder beim Wiedererkennen tatrelevan-ten Materials als Signatur verwendet. Dazu werden fMRT-Signale (und evtl. auchEEG-Signale) aufgezeichnet, whrend ein Proband im Scanner tatrelevantes Mate-rial betrachtet oder zu bestimmten Fragen mit Ja/Nein antwortet. In der Forschungwird vielfach mit sehr einfachen Lgenszenarios gearbeitet. So werden zum BeispielProbanden gebeten, darber zu lgen, ob sie bestimmte Spielkarten bereits gesehenhaben. Mit solchen einfachen Lgenexperimenten sind bereits hohe Trefferquotenerzielt worden. Allerdings sind diese Laborexperimente noch sehr weit von der Ein-satzwirklichkeit entfernt, da die knstlichen Laborlgen keinen Aufschluss darbergeben, ob Lgen auch whrend einer polizeilichen oder gerichtlichen Untersuchungerkannt werden knnten.

    Die Laborsituationen unterscheiden sich in einer Reihe wichtiger Parameter vonder realen Untersuchung (wie etwa Motivation des Probanden, Persnlichkeits-merkmale der Untersuchungsstichprobe, oder Belohnungs-/Bestrafungswert der zuerwartenden Konsequenzen). Obwohl die fMRT-basierte Lgendetektion gegenberder Polygrafie sicherlich eine technische Verbesserung darstellt und ein erheblichesEntwicklungspotenzial besitzt, stehen zur Bewhrung dieser Technik unter realisti-schen Einsatzbedingungen noch Untersuchungen aus. Die Anflligkeit fr gezielteVerflschungen ist bei hirnbasierten Verfahren als geringer einzuschtzen als bei

    3 Die Manipulierbarkeit von Polygrae-Ergebnissen ist sowohl fr klassische Kontrollragentests als auch frdie vermeintlich sichereren Tatwissenstests wissenschaftlich belegt.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    30/117

    30

    John-Dylan Haynes

    konventioneller Polygrafie, da dies eine gezielte Erzeugung eines spezifischen Akti-tivtsmusters der Hirnaktivitt erfordern wrde. Zudem wird eine Verlagerung vonLgendetektion auf die Aufdeckung verborgenen Wissens, die keine Antwort desProbanden erfordert, die Mglichkeit der Manipulation weiter verringern (etwa das

    verdeckte Wiedererkennen von Merkmalen eines Tatortes, hnlich dem Tatwissens-test). Allerdings ist auch hier eine Kooperation des Probanden erforderlich, da selbstkleinste Bewegungen des Probanden im Scanner die Messergebnisse unbrauchbarmachen. Die fMRT-basierte Lgendetektion scheint also vielversprechend, befindetsich aber noch im Entwicklungsstadium. Deshalb ist es als sehr problematisch anzu-sehen, dass bereits heute einige Firmen fMRT-Lgendetektion anbieten4, obwohl dieVerfahren noch nicht wissenschaftlich abgesichert sind.

    Neuromarketing

    Ein weiteres zuknftiges Einsatzgebiet der Neurotechnologie ist das sogenannte Neu-romarketing. Dazu zhlt zum Beispiel die Vorhersage von Konsumentenverhaltenauf der Basis der Hirnaktivitt oder die Optimierung von Produkten und von Wer-bung. In den letzten Jahren hat dieser Bereich ein enormes Interesse gefunden undes gab wiederholt Versuche, Marketingkonzepte durch Hinzunahme von Informa-tionen ber die Reaktionen des Gehirns auf Produktdarbietung zu optimieren. Einezentrale Rolle spielen hierbei die Reaktionen der Belohnungszentren des Gehirns. Sowird etwa eine hhere Antwort im sogenannten Nucleus accumbens als Indikatoreiner Belohnungswirkung des Produkts angesehen, die im Extremfall ein starkesVerlangen (craving) nach dem Produkt auslsen knnte. Obwohl diese Interpretati-on sehr plausibel ist, muss in der Forschung noch ausgeschlossen werden, dass dieseReaktionen womglich durch andere Produkteigenschaften hervorgerufen werden(etwa durch die Aufflligkeit oder Salienz der Produkte). Aus mehreren Grn-den ist jedoch davon auszugehen, dass das Neuromarketing sich schnell entwickelnknnte. Dies liegt daran, dass es nicht erforderlich ist, komplexe produktbezogeneGedankeninhalte in allen Details auszulesen. Stattdessen ist eine einfache Entschei-dung ber die Valenz des Produkts ausreichend (das heit, ob es von den Proban-den als positiv und angenehm erlebt wird). Es kommt vereinfachend hinzu, dass dieBelohnungszentren des Gehirns an anatomisch klar vorhersagbaren Hirnpositionenliegen. Damit lsst sich eine Technik an einer Gruppe von Probanden entwickelnund an einer anderen Gruppe von Probanden anwenden. In unserer Forschungkonnten wir zeigen, dass man in Laborsituationen Kaufentscheidungen sehr gut aus

    4 Siehe zum Beispiel die US-amerikanischen Firmen Noliemri (http://noliemri.com) und Cephos(http://www.cephoscorp.com).

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    31/117

    31

    Bilder des Denkens und Fhlens

    der Hirnaktivitt vorhersagen kann. Allerdings stehen auch hierzu Kenntnisse berAnwendungssituationen noch aus.

    UsabilityNeben derprinzipiellen Machbarkeit ist die usabilityein wichtiger Faktor, der berden Einsatz neurowissenschaftlicher Techniken in Alltagsanwendungen entscheidenwird. Hier geht es um die Frage, wie einfach (oder umstndlich) die Technik zu ver-wenden ist und wie viel Freude (oder Frustration) bei ihrer Verwendung aufkommt.Es sind noch zahlreiche Entwicklungen und Anpassungen erforderlich, bis das brainreadingzu breiten Anwendungen fhren kann. Ein wichtiger usability-Faktor ist dieMobilitt der Techniken. So sind die derzeit verwendeten Messtechniken nur be-

    grenzt fr mobilen Einsatz geeignet. Insbesondere die MRT wird hier auf absehbareZeit noch ein stationres Verfahren bleiben, da die Tomografen mehrere Tonnenwiegen und hohe Sicherheitsanforderungen stellen. Trotzdem gibt es Anwendun-gen, wie etwa die Lgendetektion, bei denen der Proband zum Scanner kommenkann, statt den Scanner zum Probanden zu bringen.

    Darber hinaus ist zurzeit die Verwendung von EEG und fMRT noch sehr um-stndlich. Beim EEG mssen Ableitelektroden mit einer speziellen Elektrodenpaste

    versehen und mit der Kopfhaut in Kontakt gebracht werden. Dies erfordert eineerhebliche Aufbauzeit (je nach Elektrodenzahl bis zu einer Stunde). Auerdem sindnach der Messung die Rckstnde der Paste durch eine Haarwsche zu entfernen. Freinzelne Anwendungen wie beim Neuromarketing oder der Lgendetektion sind sol-che Zeiten eventuell in Kauf zu nehmen, fr Alltagsanwendungen (zum Beispiel dieFernsteuerung des Fernsehers oder Computers mittels EEG) sicherlich nicht. Hiermuss die Weiterentwicklung gelfreier Elektroden abgewartet werden. Im Gegensatzdazu ist die MRT kontaktfrei, allerdings ist hier die Vorbereitung der Probanden inanderer Hinsicht aufwendig, weil zunchst eine Reihe von Sicherheits- und Aus-schlusskriterien bercksichtigt werden muss, da bei dieser Methode starke Magnet-felder eingesetzt werden. Auszuschlieen sind Probanden, die etwa unter Klaustro-phobie leiden, magnetisierbares Metall im Krper haben5, einen Herzschrittmacheroder einen Hirnstimulator besitzen. Auerdem darf sich der Proband whrend derMessung ber einen Zeitraum von bis zu einer Stunde nicht bewegen.

    5 Im Einzelfall kann geprft werden, inwiefern implantierte Metalle magnetisierbar sind. Von Zahnfllungengeht in der Regel keine Gefahr aus.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    32/117

    32

    John-Dylan Haynes

    Ethische Aspekte

    Sollte man berhaupt eine Technik entwickeln, die die Gedanken einer Person ausle-sen kann? Wie in vielen Bereichen biomedizinischer Forschung steht man vor einem

    Dilemma. Auf der einen Seite lassen die Ergebnisse auf eine Verbesserung klinischerund technischer Anwendungen hoffen. So gibt es heute schon erste Anstze, mitcomputergesttzten Prothesen oder brain-computer interfaces schwerstgelhmtenPatienten das Leben zu erleichtern. Auf der anderen Seite stehen Anwendungen, die

    von vielen Menschen kritisch gesehen wrden. Dazu zhlen vor allem kommerziel-le Anwendungen, wie das Auslesen einer Produktprferenz zu Marketingzweckenoder das Messen der gefhlsmigen Einstellung eines Jobkandidaten zu einem Un-ternehmen. Aus diesen Grnden fordern wir seit einiger Zeit eine breitere gesell-schaftliche Debatte darber, welche dieser Techniken von einer breiten ffentlich-

    keit untersttzt werden. Zum Abschluss werden hier im berblick die wichtigstenethischen Aspekte dieser Forschung dargestellt:Mentale Privatsphre: Es ist eine wesentliche menschliche Grunderfahrung, dass

    die Gedanken eines Menschen privat sind und nicht von auen ausgelesen werdensollen. Deshalb muss mit besonderer Sensibilitt mit Techniken umgegangen wer-den, die diese klassische Grenze durchbrechen und das vermeintlich Private tech-nisch zugnglich machen.

    Datensicherheit: Die meiste neuroimaging-Forschung findet zurzeit in universit-ren Kontexten statt, wo strenge Datenschutzrichtlinien gelten. Bei dem fortschrei-tenden Einsatz solcher Techniken fr kommerzielle Anwendungen ist absehbar, dassgroe Mengen sensibler Informationen anfallen, aus denen private Firmen potenzi-ell wichtige personenbezogene Information extrahieren knnten, auch jenseits derInformationen, fr die ein Test ursprnglich vorgesehen war. So ist denkbar, dassein Proband fr eine Lgendetektionsuntersuchung zu einer privaten Firma kommt,

    jedoch die Daten auch in anderer Hinsicht, zum Beispiel in Bezug auf Krankheitsri-siken oder die Persnlichkeit, ausgewertet werden (Kollateral-Information).

    Qualittsstandards: Zurzeit liegen noch keine genauen Richtlinien vor, die Quali-ttsstandards fr erfolgreiches Auslesen von mentalen Zustnden definieren wr-den. Dies ist problematisch, da wie oben ausgefhrt bereits einige Firmen mitbrain-reading-Anwendungen auf den Markt drngen, ohne dass eine wissenschaft-liche Bewertung des Erfolges dieser Methoden vorliegen wrde. Zwar liegen einigeUntersuchungen zur Zuverlssigkeit von MRT-Lgendetektoren vor, diese beziehensich jedoch auf artifizielle Laborsituationen, die keine Aussagen auf Einstze in re-alen Szenarien erlauben. Es ist jedoch fr die nchste Zeit zu erwarten, dass Wis-senschaftler aus diesem Gebiet damit beginnen, Richtlinien und Qualittsstandardsbeginnen zu definieren.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    33/117

    33

    Bilder des Denkens und Fhlens

    LiteraturBles, Mart; Haynes, John-Dylan (2008): Detecting Concealed Information Using Brain-ImagingTechnology. In: Neurocase, 14 (1), S. 82-92.

    Haynes, John-Dylan; Rees, Geraint (2006): Decoding Mental States from Brain Activity in Humans.

    In: Nature Reviews Neuroscience, 7 (7), S. 523-534.Haynes, John-Dylan et al. (2007): Reading Hidden Intentions in the Human Brain. In: Current Biolo-

    gy, 17 (4), S. 323-328.

    Schnabel, Ulrich; Uehlecke, Jens (2009): Sind die Gedanken noch frei? In: Die Zeit, vom 2.7.2009.

    Soon, Chun S. et al. (2008): Unconscious Determinants of Free Decisions in the Human Brain. In:Nature Neuroscience, 11 (5), S. 543-545.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    34/117

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    35/117

    35

    Hintergrund

    Die sich durch den Einsatz bildgebender Verfahren erffnenden Erkenntnismg-lichkeiten fhren in unterschiedlichstem Kontext und auf verschiedenen Ebenenzu rechtlichen Fragestellungen, die bislang weitgehend der Klrung harren; dies giltsowohl mit Blick auf Forschungsvorhaben als auch vor dem Hintergrund mgli-cher praktischer Anwendungen. Die Bandbreite rechtlicher Implikationen umfasstdabei nicht nur verfassungs-, sondern auch zivil-, straf- und strafprozessrechtlicheFacetten.

    Verassungsrecht

    Die grundrechtliche Dimension der Thematik spricht smtliche klassischenGrundrechtsfunktionen1 an: Als Abwehrrechte beschrnken die Grundrechte dasHandeln des Staates und verbieten ihm, in Ermangelung etwaiger Rechtfertigungs-grnde grundrechtsbeschrnkend ttig zu werden. Die aus einigen Grundrechtenabzuleitenden Schutzpflichten fordern den Staat, nicht nur eigene Eingriffe zu un-terlassen, sondern sich darber hinaus aktiv schtzend vor den Brger zu stellen

    1 Zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen neurowissenschaftlicher Forschung und Anwendung:Spranger 2009.

    TADE MATTHIAS SPRANGER

    Das glserne Gehirn? Rechtliche Problemebildgebender Verahren

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    36/117

    36

    Tade Matthias Spranger

    und die betreffenden Berechtigungen zu schtzen. ber die sogenannte mittelbareGrundrechtsdrittwirkung prgen die Grundrechte darber hinaus die gesamte sons-tige Rechtsordnung, mit der Folge, dass staatliche Institutionen wie Behrden oderGerichte bei der Anwendung einfachen, also unterverfassungsrechtlichen Rechts

    dieses mit Blick auf die Grundrechte auszulegen und anzuwenden haben.

    Schranken staatlichen Handelns

    Die Frage nach den Schranken staatlichen Handelns ist vor allem im Lichte der Ein-satzoptionen bildgebender Verfahren im Bereich des brain readingoder mind rea-dingzu konkretisieren. Wie bereits der Titel dieser Veranstaltung anklingen lsst,sind es Befrchtungen vor dem glsernen Gehirn bzw. das hieraus resultierende

    Bild des glsernen Menschen, die hnlich wie bei der Fortentwicklung der Ge-nomforschung den Ausgangspunkt der weiteren Betrachtungen bilden.Nach aktuellem Erkenntnisstand ermglichen bildgebende Verfahren unter eng

    umrissenen (Labor-) Bedingungen beispielsweise die Qualifizierung eines bestimm-ten Gedankens oder etwa die Einordnung einer Wertung als eher emotional odereher rational. Die Intention einiger Forschungsvorhaben geht jedoch dahin, dieErmittlung konkreter Gedankeninhalte zu ermglichen und so Instrumente bereit-zustellen, die ein Gedankenlesen ermglichen.

    Ein durch den Staat erzwungener Einsatz derartiger Technologien wre etwa beider Verbrechensaufklrung oder im Rahmen der Terrorismusbekmpfung denkbar.Dass solche Optionen durchaus das Interesse von Sicherheitsbehrden wecken kn-nen, zeigt beispielsweise die Arbeit der vom US-amerikanischen Verteidigungsmi-nisterium betriebenen Defense Academy for Credibility Assessment(DACA, ehemalsDepartment of Defense Polygraph Institute).

    In Deutschland msste sich ein erzwungener Einsatz primr am Mastab derMenschenwrde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie des allgemeinen Persnlichkeitsrechts(Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG) namentlich in Ausgestaltungdes Rechts auf informationelle Selbstbestimmung messen lassen. Wre tatschlichdie Konkretisierung von Gedankeninhalten mglich, so wrde sich eine hierauf Zu-griff nehmende staatliche Manahme als Eingriff in den Kernbereich menschlicherPersnlichkeit darstellen.

    Eine derartige Ausleuchtung der Person liee sich mit den genannten Grundrech-ten auch dann nicht in Einklang bringen, wenn der Staat hiermit den Schutz ande-rer, ebenfalls hchstrangiger Rechtsgter anstrebte. Dieser Befund ergibt sich ausder Abwgungsfeindlichkeit der Menschenwrde und findet eine deutliche Bestti-gung etwa auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsi-cherheitsgesetz: Hier wurde die Aufrechnung des Lebens einiger weniger gegen das

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    37/117

    37

    Das glserne Gehirn?

    Leben einer greren Zahl von Personen schlicht fr unmglich gehalten und dievom Gesetzgeber als zulssig erachtete Gterabwgung als eine die Menschenwrdeverletzende Verobjektivierung qualifiziert.

    Anders zeigt sich die Lage, wenn ein Betroffener den Einsatz entsprechender

    Technologien selbst ausdrcklich wnschte. Erachtet man die Grundrechte undinsbesondere die Menschenwrde als in ihrer Geltung durch das Individuum be-stimmbare Verbrgungen, so besteht die Mglichkeit eines Grundrechtsverzichts.Bekanntlich konnte sich die in der Rechtsprechung vereinzelt vertretene Auffassung

    von einer Unverzichtbarkeit der Menschenwrde letztlich nicht durchsetzen. Tat-schlich kollidiert die Vorstellung einer dem Einzelnen aufgezwungenen Menschen-wrde mit dem Grundgedanken freiheitsrechtlicher Verbrgungen. Als praktischesProblem verbleibt in einer solchen Konstellation freilich die Ermittlung der Freiwil-ligkeit: Wird etwa die Durchfhrung eines Tests auf freiwilliger Basis angeboten, so

    kann bereits die Verweigerung eines solchen Prozederes als Indiz gewertet und berdiese Wertung ein faktischer Zwang aufgebaut werden.

    Schutzpichten des Staates

    Staatliche Schutzpflichten werden blicherweise aus dem Grundrecht der Men-schenwrde, aus dem allgemeinen Persnlichkeitsrecht sowie aus dem Recht aufLeben und krperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) abgeleitet. Wenngleichder sich in einem Korridor zwischen Untermaverbot einerseits und bermaver-bot andererseits bewegende Gestaltungsspielraum des Staates bei der Erfllung vonSchutzpflichten bekanntlich weit ist, sodass sich die Verdichtung zu einer spezifi-schen Anwendungspflicht nur selten begrnden lsst, kommt der Ausgestaltungstaatlicher Schutzpflichten gerade in rechtspolitisch umstrittenen Fragen eine nichtzu unterschtzende Bedeutung zu. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts zum Abtreibungsrecht oder der Kompromisscharakter des Stammzellgesetzesmgen hierfr als eindrucksvolle Belege gelten.

    Mit Blick auf bildgebende Verfahren ist die Aktivierung staatlicher Schutzpflich-ten in zwei grundverschiedenen Konstellationen denkbar, die sich grob vereinfa-chend mit Schutz des Betroffenen und Schutz vor dem Betroffenen umschrei-ben lassen.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    38/117

    38

    Tade Matthias Spranger

    Schutz des Betroffenen

    SchuldhigkeitIn der erstgenannten Konstellation geht es primr um die Frage nach der rechtli-

    chen, insbesondere der strafrechtlichen Verantwortlichkeit einer Person. 20 StGBbestimmt zur Schuldunfhigkeit:

    Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischenStrung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstrung oder wegen Schwachsinns odereiner schweren anderen seelischen Abartigkeit unfhig ist, das Unrecht der Tat einzuse-hen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

    Die verminderte Schuldfhigkeit ist Gegenstand des 21 StGB:

    Ist die Fhigkeit des Tters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht

    zu handeln, aus einem der in 20 bezeichneten Grnde bei Begehung der Tat erheblichvermindert, so kann die Strafe nach 49 Abs. 1 gemildert werden.

    Sollten bildgebende Verfahren in der Lage sein, den Anwendungsbereich der genann-ten Vorschriften im Einzelfall spezifischer zu fassen, so wrde sich die Mglichkeiterffnen, die Schuldunfhigkeit bzw. die verminderte Schuldfhigkeit gerechterfestzustellen. Hier geht es also nicht um die im Folgenden nher zu behandelndeFrage, ob und inwieweit neurowissenschaftliche Verfahren das Schuldprinzip alssolches in Frage stellen. Vielmehr geht es um eine przisere Anwendung der bereits

    vorliegenden und derzeit angewandten Rechtskategorien.

    Psychisch-Kranken-GesetzeNeben einer Spezifizierung strafrechtlicher Kategorien sind vor allem auch Auswir-kungen auf die Anwendung der sogenannten Psychisch-Kranken-Gesetze zu erwar-ten, die auf Personen Anwendung finden, bei denen Anzeichen einer psychischenKrankheit bestehen, die psychisch erkrankt sind oder bei denen die Folgen einerpsychischen Krankheit fortbestehen.2 Die Psychisch-Kranken-Gesetze der Lnderermchtigen nicht nur zur Zwangseinweisung, sondern unter bestimmten Voraus-setzungen auch zu Zwangsbehandlungen, zur Fixierung der Betroffenen, zur ber-wachung des Schriftverkehrs, oder zur Beschrnkung des Besuchsrechts. Anlass zurKritik bieten die entsprechenden Gesetze nicht nur mit Blick auf die Schwere dermglichen Grundrechtsbeeintrchtigungen, sondern auch vor dem Hintergrundeiner uerst divergenten, von Bundesland zu Bundesland und auch innerhalb ei-nes einzelnen Landes mitunter stark variierenden Anwendung: So steigt nicht nurdie Gesamtzahl der Zwangsunterbringungen; auch das Risiko, von entsprechenden

    2 So etwa 1 Abs. 1 Nr. 1 PsychKG NRW.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    39/117

    39

    Das glserne Gehirn?

    Zwangsmanahmen betroffen zu sein, ist je nach Kommune oder Bundesland deut-lich hher oder niedriger.3

    Auch hier zeigt sich: Sind bildgebende Verfahren dazu geeignet, das Vorlie-gen bestimmter psychischer Erkrankungen spezifischer zu bestimmen, so ge-

    bieten die genannten staatlichen Schutzpflichten eine Nutzung der betreffendenInstrumentarien.

    BetreuungsrechtVergleichbar zeigt sich die Lage im Bereich des Betreuungsrechts: Wenn zwecks Be-grndung eines Betreuungsverhltnisses gem 1896 Abs. 1 BGB das Vorliegen ei-ner psychischen Krankheit oder eine seelischen Behinderung nachzuweisen ist unddie bislang zur Anwendung kommenden Methoden einer fachpsychiatrischen Kon-kretisierung durch den Einsatz neurowissenschaftlicher Instrumente verfeinert bzw.

    ergnzt werden knnen, so fordert eine der Menschenwrde geschuldete Anwen-dung des Betreuungsrechts im Rahmen des Begutachtungsprozesses jedenfalls dannden Rckgriff auf derartige Optionen, wenn eine deutlich spezifischere Aussagekraftals gesichert gelten kann.

    Schutz vor dem Betroffenen

    Andererseits besteht die Mglichkeit, nicht nur die Schuldunfhigkeit oder den Ge-sundheitszustand genauer zu evaluieren, sondern umgekehrt die Schuldfhigkeit,aber auch im Kontext der Prognose4 die Gefhrlichkeit einzelner Tter besser nach-zuweisen, als dies bislang mglich erscheint. Schon jetzt weisen Hirnforscher daraufhin, dass neurowissenschaftliche Verfahren seien dies nun bildgebende oder ande-re Techniken Antworten etwa auf folgende Fragen geben knnen:

    >> Sind neurogenetische Varianten vorherrschend, die das Delinquenzrisiko erh-hen?

    >> Ist die emotionelle Verarbeitung gestrt?>> Gibt es psychopathische Charakterzge?>> Wie gestaltet sich die Triebstruktur einer Person?>> Sind therapeutische Manahmen erfolgreich gewesen?>> Gibt es eine Diskrepanz zwischen den verbalen uerungen einer Person und

    ihren inneren Gefhlen (beispielsweise im Bereich der Pdophilie)?

    3 Online im Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Psychisch-Kranken-Gesetz [15.5.2009].4 66 StGB verzichtet auf die Verwendung des Prognosebegriffes. Die in diesem Zusammenhang gefhrten

    Diskussionen knnen jedoch vorliegend ausgeblendet bleiben.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    40/117

    40

    Tade Matthias Spranger

    Die Beantwortung derartiger Fragen ist durchaus dazu geeignet, die aktuelle undknftige Gefhrlichkeit einer Person spezifischer zu eruieren. Soweit jedoch der ef-fektive Schutz der Gesellschaft vor Gewaltttern betroffen ist, aktualisiert sich dieSchutzpflichtendimension des Art. 2 Abs. 2 GG: Der Staat hat ein hinreichendes

    Ma an Sicherheit gegenber Gewaltttern zu gewhrleisten und ist dementspre-chend im Einzelfall verpflichtet, alle ihm zu Gebote stehenden Mittel zu ergreifen,um die Verletzung von Leib und Leben abzuwehren.5 Verstt er fahrlssig gegendiese Pflicht und kommt es hierdurch zu einem Schaden fr Dritte etwa weil ein

    vorzeitig aus der Haft Entlassener rckfllig wird so drohen gegebenenfalls sogarstrafrechtliche Konsequenzen fr diejenigen, die diese Entscheidung institutionellzu verantworten hatten.6

    Einfachrechtlicher Anknpfungspunkt fr eine diesbezgliche Einbindung neu-rowissenschaftlicher Verfahren wre etwa 66 Abs. 1 StGB, der zur Unterbringungin der Sicherungsverwahrung bestimmt:

    Wird jemand wegen einer vorstzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zweiJahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an,wenn

    der Tter wegen vorstzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat,1.schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteiltworden ist,er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat fr die Zeit von min-2.destens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbt oder sich im Vollzug einer freiheitsentzie-

    henden Maregel der Besserung und Sicherung befunden hat unddie Gesamtwrdigung des Tters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Han-3.ges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelischoder krperlich schwer geschdigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schadenangerichtet wird, fr die Allgemeinheit gefhrlich ist.

    Doch auch bei der Prfung einer Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheits-strafe zeigen sich im Wortlaut des Gesetzes deutliche Einfallstore fr die Verwen-dung neurowissenschaftlicher Erkenntnismethoden. 57 Abs. 1 StGB lautet:

    Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewh-rung aus, wenn

    zwei Drittel der verhngten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbt sind,1.dies unter Bercksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwor-2.tet werden kann unddie verurteilte Person einwilligt.3.

    5 Kommentar zu Art. 2 GG von Dietrich Murswiek in Sachs 2007, Rn. 196.6 Vgl. etwa BGH 5 StR 327/03 vom 13.11.2003 (BGH 2004).

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    41/117

    41

    Das glserne Gehirn?

    Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persnlichkeit der verurteilten Person, ihrVorleben, die Umstnde ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rckfall bedrohten Rechts-guts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhltnisse und dieWirkungen zu bercksichtigen, die von der Aussetzung fr sie zu erwarten sind.

    Grundrechtsdrittwirkung

    Die Figur der Grundrechtsdrittwirkung erlangt dann Relevanz, wenn der Einsatzbildgebender Verfahren bzw. die Nutzung der hierbei generierten Daten und Ergeb-nisse durch Private zur Diskussion steht. Die hier denkbaren Konstellationen lassensich mit den Verwerfungen vergleichen, die unter dem Begriff der genetischen Dis-kriminierung etwa im Kontext des Gendiagnostikgesetzes errtert werden.

    So besteht etwa die Mglichkeit, dass bestimmte Arbeitgeber im Rahmen vonEinstellungsuntersuchungen auch bildgebende Verfahren nutzen oder dass Versi-cherungsunternehmen vor dem Abschluss von Lebens- oder privaten Krankenver-sicherungen etwa auf bereits vorliegende Untersuchungsergebnisse zugreifen mch-ten, um das individuelle Versicherungsrisiko genauer ermitteln zu knnen. Untergrundrechtlichen Gesichtspunkten kollidieren hier ber die Berufsfreiheit (Art. 12Abs. 1 GG) und gegebenenfalls auch ber die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG)geschtzte Interessen der Unternehmen vor allem mit dem Recht auf informationel-le Selbstbestimmung des Betroffenen; zu beachten ist darber hinaus das Diskrimi-nierungsverbot des Art. 3 GG.

    Nicht nur das Spektrum der betroffenen Rechtsgter, sondern auch die spezifi-sche Qualitt der drohenden Beeintrchtigungen legt einen Vergleich zur Problema-tik genetischer Diskriminierungen nahe.7 Ebenso wie fr genetische Untersuchun-gen gilt beim Einsatz bildgebender Verfahren, dass nicht nur manifeste Krankheitendiagnostiziert werden knnen, sondern zugleich insofern ein Blick in die Zukunftermglicht wird, als mit ihnen Krankheiten erkannt werden knnen, die noch nichtausgebrochen sind und noch keine Symptome gezeigt haben.

    Gleichermaen sind die Erkenntnisse aus bildgebenden Verfahren mitunter mitsehr groen Unsicherheiten verbunden, sodass diese oftmals keine Gewissheit lie-fern, ob eine Krankheit ausbrechen wird, wie schwer sie verlaufen kann und welcheweiteren Faktoren Einfluss auf einen Ausbruch haben (knnen). Trotzdem knnenentsprechende Untersuchungen weitreichende Entscheidungen nach sich ziehenund das Leben der Betroffenen und der Angehrigen in hohem Mae beeinflussen,

    7 Die folgenden Erwgungen nden sich fr genetische Untersuchungen im Entwurf eines Gendiagnostikge-setzes der Abgeordneten Bender et al.; BT-Drs. 16/3233.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    42/117

    42

    Tade Matthias Spranger

    zum Beispiel bei der Lebens- und Familienplanung, insbesondere, wenn es sich umschwerwiegende Erkrankungen handelt.

    Schlielich knnen auch ber bildgebende Verfahren generierte Erkenntnisse un-ter Umstnden nicht nur Informationen ber die untersuchte Person ermglichen,

    sondern lassen auch Aussagen ber Dritte (Angehrige) zu, sodass auch deren Inte-ressen zu bercksichtigen sind.

    Strarecht

    Der Schwerpunkt der aktuellen rechtlichen Befassung mit der Hirnforschung liegteindeutig auf dem Gebiet des Strafrechts. Dies gilt nicht nur vor dem bereits an-gerissenen Hintergrund einer gegebenenfalls mglichen genaueren Ermittlung der

    Schuld(un)fhigkeit, sondern auch mit Blick auf die ungleich folgenschwerere Frage,ob das Schuldstrafrecht als solches berhaupt tragfhig ist oder bleibt.

    Geltung des Schuldprinzips

    Bereits vor mehr als 50 Jahren fhrte der Groe Senat des Bundesgerichtshofes zumSchuldbegriff aus:

    Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. [] Der innere Grund des Schuld-

    vorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestim-mung angelegt und deshalb befhigt ist, sich fr das Recht und gegen das Unrecht zuentscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten unddas rechtlich Verbotene zu vermeiden.

    Die Schuld ist folglich Grund und Ma der Strafe.8 Einigen Neurowissenschaftlernzufolge soll nun aber gerade die Mglichkeit einer wahren Selbstbestimmung nichtgegeben sein; vielmehr lgen Indizien fr einen neurobiologischen Determinismus

    vor, die der Annahme eines freien Willens diametral entgegenstehen.9 Gestalt undGehalt dieser sogenannten Willensfreiheitsdebatte sind hinlnglich bekannt undsollen daher im vorliegenden Zusammenhang nicht nher dargestellt werden. Andieser Stelle nur so viel:

    >> Schuld im Rechtssinne ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Konstruktion10, diedurch deterministische Erwgungen nicht erschttert werden kann.

    8 Hillenkamp 2005, S. 315 ff.9 Vgl. Roth 2003, S. 56.10 Jakobs 2009, S. 244 ff.

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    43/117

    43

    Das glserne Gehirn?

    >> Kein Vertreter eines harten Determinismus konnte bislang eine befriedigendeEinordnung von Erscheinungen wie Vernunft oder Abwgung leisten.11

    >> Nach bisherigen Erkenntnissen spricht alles dafr, dass der Mensch weder aus-schlielich neuronal, noch genetisch oder in irgendeiner anderen Weise deter-

    miniert ist, sondern dass auf bestimmten Ebenen und in bestimmten Facetteneine psychologische, genetische oder neuronale und somit weiche Determinationnachgewiesen werden kann, daneben aber auch lebensgeschichtliche Ursachenund Vorprgungen, Umwelteinflsse und nicht zuletzt auch die Erziehung einegewichtige Rolle fr die Entwicklung des Menschen und die Ausprgungen sei-ner Existenz spielen.12

    Eine nachhaltige Unterminierung des Schuldprinzips und damit auch des gesamtenmateriellen Strafrechts in seiner berkommenen Gestalt kann demnach als ausge-schlossen gelten.

    Prozessualer Einsatz bildgebender Verahren

    Neurowissenschaftliche Methoden drngen darber hinaus in den Gerichtssaal; diesgilt in besonderem Mae fr den Strafprozess. Whrend der etwa in Indien bereitspraktizierte Einsatz des BEOS-Tests (brain electrical oscillations signature) den Rah-men dieses Vortrages sprengt, weil BEOS letztlich auf Nutzung der Elektroenzepha-lografie (EEG) basiert, stellen die Angebote der US-amerikanischen Firmen Cephos13und No Lie MRI14 taugliche Beispiele fr den Einsatz bildgebender Verfahren inGestalt der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) zur Lgendetektionim gerichtlichen Kontext dar.

    Da bildgebende Verfahren gern als die im Vergleich zum Polygrafen bessere Al-ternative dargestellt werden, liegt es nahe, diesen Vergleich auch hinsichtlich derrechtlichen Bewertung zu ziehen. Indes wird die Mglichkeit einer solchen Analogiemitunter bezweifelt: Anders als beim Polygrafen wrden bei bildgebenden Verfah-ren keine krperlichen Reaktionen gemessen werden, die auf Aufregung, Angst oderNervositt hinweisen knnten, sondern lediglich mittelbar die Hirnaktivitt darge-stellt. Es gehe bei bildgebenden Verfahren also nicht um den Rckschluss von einerKrperfunktion auf ein Gefhl und von diesem auf die (Un-) Wahrheit, sondern um

    11 So speziell fr die neurowissenschaftliche Diskussion: Schreiber 2006, S. 1074.12 Schreiber 2006, S. 1076; Spranger 2007, S. 176.13 Online im Internet: http://www.cephoscorp.com [15.5.2009].14 Online im Internet: http://noliemri.com [15.5.2009].

  • 8/2/2019 Der Steuerbare Mensch - ber Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

    44/117

    44