Der Struwwelpeter

37

description

.........................

Transcript of Der Struwwelpeter

  • Wie der Struwwelpeterentstand

    Dr. Heinrich Hoffmann, der Verfasserdes Struwwelpeter, erzhlt dessenEntstehung wie folgt:

    Gegen Weihnachten des Jahres1844, als mein ltester Sohn drei Jahrealt war, ging ich in die Stadt, umdemselben zum Festgeschenke einBilderbuch zu kaufen, wie es derFassungskraft des kleinen menschlichenWesens in solchem Alter entsprechendschien. Aber was fand ich? LangeErzhlungen oder alberneBildersammlungen, moralische

  • Geschichten, die mit ermahnendenVorschriften begannen und schlossen,wie: Das brave Kind mu wahrhaftsein; oder: Brave Kinder mssen sichreinlich halten etc. Als ich nun garendlich ein Foliobuch fand, in welchemeine Bank, ein Stuhl, ein Topf und vielesandere, was wchst oder gemacht wird,ein wahres Weltrepertorium,abgezeichnet war, und wo bei jedemBild fein suberlich zu lesen war: dieHlfte, ein Drittel, oder ein Zehntel dernatrlichen Gre, da war es mit meinerGeduld aus. Einem Kind, dem man eineBank zeichnet, und das sich daranerfreuen soll, ist dies eine Bank, einewirkliche Bank. Und von der wirklichenLebensgre der Bank, hat und braucht

  • das Kind gar keinen Begriff zu haben.Abstrakt denkt ja das Kind noch garnicht, und die allgemeine Warnung: Dusollst nicht lgen! hat wenigausgerichtet im Vergleich mit derGeschichte: Fritz, Fritz, die Brckekommt!

    Als ich damals heimkam, hatte ichaber doch ein Buch mitgebracht; ichberreichte es meiner Frau mit denWorten: Hier ist das gewnschte Buchfr den Jungen! Sie nahm es und riefverwundert: Das ist ja ein Schreibheftmit leeren weien Blttern! Nun ja, dawollen wir ein Buch daraus machen!

    Damit ging es nun aber so zu. Ich wardamals, neben meinem Amt als Arzt der

  • Irrenanstalt, auch noch auf Praxis in derStadt angewiesen. Nun ist es ein eigenDing um den Verkehr des Arztes mitKindern von drei bis sechs Jahren. Ingesunden Tagen wird der Arzt und derSchornsteinfeger gar oft alsErziehungsmittel gebraucht: Kind,wenn du nicht brav bist, kommt derSchornsteinfeger und holt dich! oder:Kind, wenn du zu viel davon issest, sokommt der Doktor und gibt dir bittereArznei, oder setzt dir gar Blutegel an!Die Folge ist, da, wenn in schlimmenZeiten der Doktor gerufen in das Zimmertritt, der kleine kranke Engel zu heulen,sich zu wehren, und um sich zu tretenanfngt. Eine Untersuchung desZustandes ist schlechterdings unmglich;

  • stundenlang aber kann der Arzt nicht denBeruhigenden, Besnftigenden machen.Da half mir gewhnlich rasch einBlttchen Papier und Bleistift; eine derGeschichten wie sie in dem Buchestehen, wird rasch erfunden, mit dreiStrichen gezeichnet, und dazu mglichstlebendig erzhlt. Der wildeOppositionsmann wird ruhig, die Trnentrocknen, und der Arzt kann spielendseine Pflicht tun.

    So entstanden die meisten diesertollen Szenen, und ich schpfte sie ausvorhandenem Vorrate; einiges wurdespter dazu erfunden, die Bilder wurdenmit derselben Feder und Tintegezeichnet, mit der ich erst die Reimegeschrieben hatte, alles unmittelbar und

  • ohne schriftstellerische Absichtlichkeit.Das Heft wurde eingebunden und auf denWeihnachtstisch gelegt. Die Wirkung aufden beschenkten Knaben war dieerwartete; aber unerwartet war die aufeinige erwachsene Freunde, die dasBchlein zu Gesicht bekamen. Von allenSeiten wurde ich aufgefordert, esdrucken zu lassen und es zuverffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab;ich hatte nicht im Entferntesten darangedacht, als Kinderschriftsteller undBilderbchler aufzutreten. Fast widerWillen wurde ich dazu gebracht als icheinst in einer literarischenAbendgesellschaft mit dem einen meinerjetzigen Verleger gemtlich bei derFlasche zusammensa. Und so trat das

  • bescheidene Hauskind pltzlich hinausin die weite offene Welt und machte nunseine Reise, ich kann wohl sagen, um dieWelt, und ist heute seit einunddreiigJahren bis zur hundertsten Auflagegelangt. Von Uebersetzungen ist mir bisjetzt eine englische, hollndische,dnische, schwedische, russische,franzsische, italienische, spanische undeine portugiesische (fr Brasilien) zuGesicht gekommen.

    Ich mu dabei auch des sonderbarenErfolges erwhnen, den das Bchleinanfangs in Frankfurt selbst hatte. In denersten Monaten des Jahres 1846,nachdem der Struwwelpeter amvergangenen Christfest zum erstenmal indie Kinderwelt getreten war, wurde ich

  • oft von dankbaren Mttern oderentzckten Vtern auf der Straeangehalten, welche mich mit den Wortenbegrten: Lieber Herr Doktor, washaben Sie uns eine Freude gemacht. Ichhabe da zu Hause ein dreijhriges Kind,welches sich bis jetzt sehr langsamentwickelte und nun in ganz kurzer Zeitdas ganze Buch auswendig wei undganz allerliebst hersagt. Ich versichereSie, in dem Kinde steckt was! Damals waren die Genies unter denKindern ganz gemein geworden. Sptersahen freilich die Leute ein, da es nichtsowohl in den auergewhnlichenAnlagen der Kleinen, als in derglcklich getroffenen plastischen Diktionsteckte.

  • Trotzdem hat man den Struwwelpeteraber auch groer Snden beschuldigt,denselben als gar zu mrchenhaft, dieBilder als fratzenhaft oft herb genuggetadelt. Da hie es: Das Buch verdirbtmit seinen Fratzen das sthetischeGefhl des Kindes. Nun gut, so erzieheman die Suglinge in Gemldegalerienoder in Kabinetten mit antikenGypsabdrcken! Aber man mu dannauch verhten, da das Kind sich selbstnicht kleine menschliche Figuren auszwei Kreisen und vier geraden Linien inder bekannten Weise zeichne undglcklicher dabei ist, als wenn man ihmden Laokoon zeigt. Das Buch soll jamrchenhafte, grausige, bertriebeneVorstellungen hervorrufen! Das

  • germanische Kind ist aber nur dasgermanische Volk, und schwerlichwerden diese National-Erzieher dieGeschichte vom Rotkppchen, das derWolf verschluckte, vom Schneewittchen,das die bse Stiefmutter vergiftete, ausdem Volksbewutsein und aus derKinderstube vertilgen. Mit der absolutenWahrheit, mit algebraischen odergeometrischen Stzen rhrt man aberkeine Kinderseele, sondern lt sieelend verkmmern. Und wie vieleWunder umgeben denn nicht auch denErwachsenen, selbst den nchternstenNaturforscher! Dem Kinde ist ja allesnoch wunderbar, was es schaut und hrt,und im Verhltnis zum immer nochUnerklrten ist berhaupt die Masse des

  • Erkannten doch auch nicht so gewaltig.Der Verstand wird sich sein Recht schonverschaffen, und der Mensch istglcklich, der sich einen Teil desKindersinnes aus seinen erstenDmmerungsjahren in das Leben hinberzu retten verstand.

    Meine weiteren Bcher der Art,Knig Nuknacker, Im Himmel undauf der Erde, Bastian der Faulpelz,Prinz Grnewald und Perlenfein,entstanden in derselben Absicht und ausderselben Ansicht. Immer aber ging ichvon der Ueberzeugung aus: Das Kinderfat und begreift nur, was es sieht.(Aus der Gartenlaube, Jahrgang 1871Nr. 46)

  • 121231212341231211231231Wie der Struwwelpeter entstand