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  • Der Tod Gottes und die Wissenschaft

  • Der Tod Gottesund die WissenschaftZur Wissenschaftskritik Nietzsches

    Herausgegeben vonCarlo Gentili und Cathrin Nielsen

    De Gruyter

  • Gedruckt mit freundlicher Untersttzung der Villa Vigoni (Menaggio/Italien)

    ISBN 978-3-11-022074-2

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

    Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York

    Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gttingen Gedruckt auf surefreiem Papier

    Printed in Germany

    www.degruyter.com

  • Vorwort

    Kaum einWort in den letzten hundert Jahren hat mehr Berhmtheit erlangtals Nietzsches Wort vom ,Tode Gottes. Nietzsche hat damit eine ebensoproblematische wie hochaktuelle Diagnose ausgesprochen. Whrend sie imZusammenhang der daraus entspringenden moralisch-praktischen Fragenausfhrlich diskutiert wurde, ist sie in Bezug auf den Status und das Selbst-verstndnis der theoretischen Wissenschaften im Wesentlichen unthemati-siert geblieben, was unter anderem darauf zurckzufhren ist, dass sich diemoderneWissenschaft ihrem eigenen Selbstverstndnis nach ausdrcklich ineinem wertneutralen Raum zu bewegen hat. Gegenwrtig wird jedoch zu-nehmend deutlich, dass jene im Kantischen Kritizismus angelegte Trennungzwischen theoretischer und praktischer Vernunft eine Krise hervorruft, diesich auf den Sinn des Lebens im Ganzen bezieht. Die methodischen Re-striktionen ontologischer, theologischer und axiologischer Art, die dieWirksamkeit des wissenschaftlichen Zugriffs gewhrleisten, bleiben nichtfolgenlos fr den Bereich der Praxis, sondern scheinen ihn vielmehr auszu-hhlen, was sich vor allem in der konsequenten Ausbreitung eines natura-listischenWelt- und Selbstverstndnisses desMenschen geltendmacht. Es istdiese in seinem Wort vom ,Tode Gottes ausgesprochene Einsicht in dieTragweite der Konsequenzen einer in Bezug auf Ontologie, Theologie undMoral Neutralitt prtendierenden Wissenschaft, die Nietzsche fr die ge-genwrtigen Fragen aktuell sein lsst. Aus seiner Einsicht in den Interpreta-tionscharakterallerWeltzugngeund-auffassungenergibt sichdarberhinausdie Notwendigkeit einer Reflexion ber das Verhltnis von Ontologie undMethode, die wiederum die nach dem Verhltnis von wissenschaftlichemErkenntnisanspruch und weltanschaulicher Gesamtdeutung nach sich zieht.

    An dieser Stelle setzen die vorliegenden Aufstze ein, indem sie denspezifischen Wissenstyp neuzeitlicher Wissenschaft und seine ontologische,theologische und axiologische Leerstelle ausdrcklich aufeinander beziehen.Dabei verfolgen sie ein doppeltes Ziel. Zum einen ist die Frage leitend, in-wiefern sich in der wissenschaftlichen Weltauffassung, wie in jeder anderenWeltauffassung auch, eine indirekte Gestalt von Theologie und Metaphysikals einer Auffassung vom Absoluten auswirkt, wie auch umgekehrt jedeTheologie einebestimmteWelt-,Selbst-undNaturauffassungnach sich zieht.Liegt nicht auch im Objektivittsverzicht der Wissenschaften ebenso wie inihrer prtendierten Wertindifferenz ein impliziter Anspruch auf Totalitt?

  • Wenn sich aber gerade in der Zurckweisung vonmetaphysischer Verortungdie implizite Theologie und Metaphysikgebundenheit der Wissenschaft be-kunden,was bedeutet es dann, dass diemoderneWissenschaftmit dem ,TodeGottes zusammenfllt?Wie ist dieser ,Tod genauer zu verstehen und welcheDimensionen berhrt er? Fllt er mit der ontologischen, theologischen undaxiologischen Wertneutralitt der Wissenschaft zusammen, ja bedeutet erderen konsequenteste, volle Behauptung? Oder hebt dieser Tod die existen-ziellen Gefahren hervor, die ein solcher wissenschaftlicher Reduktionismusfr eine ganzheitliche Sicht des Menschen mit sich bringt?Was kann auf deranderen Seite an die Stelle des ,gestorbenenGottes treten?Oder ist ganz imGegenteilNietzschesGrunderfahrungdes ,TodesGottes in ihrerRadikalittdurchdieGeschichte,auchdieWissenschaftsgeschichte,wennnichtberholt,so doch zu modifizieren?

    ImGegensatz zu der hitzigen Dringlichkeit, mit der die Debatte um denNihilismusgefhrtwurde,bevor sie indiemedialeGleichgltigkeitversank,bemerkt Nietzsche einmal lakonisch, es dauere durchaus lange, bis eineWeltuntergehe.IndiesenlangenAtemwollensichdieBeitrgeeinschreiben,indemsiemitmglichst groerGenauigkeit das zu verstehen und zu deuten suchen,was nicht den einfachen Bruch eines Paradigmas darstellt, sondern dessenuntergrndigeWeiterschreibungen, Projektionen, Schatten undbergnge:

    EinZeitalterdesberganges: soheit unsereZeit bei Jedermannund jedermannhat damit Recht. Indessen nicht in dem Sinne als ob unseremZeitalter diesWortmehr zukomme als irgend einem anderen. Wo wir auch in der Geschichte Fufassen, berall finden wir die Ghrung, die alten Begriffe im Kampf mit denNeuen; und die Menschen der feinen Witterung, die man ehemals Prophetennannte,dieabernurempfandenundsahen,wasan ihnengeschahwutenesundfrchteten sich gewhnlich sehr. Geht es so fort, fllt alles in Stcke, nun somudieWelt untergehen.Aber sie ist nichtuntergangen, die alten StmmedesWaldeszerbrachen, aber immerwuchseinneuerWaldwiederundzujederZeit gabeseineverwesende und eine werdende Welt. (Nietzsche; N 1880, KSA 9, 4[212])

    Dem Buch ging eine Tagung voraus, die unter dem Titel Die Ankndigungeines ,Todes Gottes und dieWissenschaftsfrage. Aspekte der Aktualitt NietzschesimSeptember2007alsKooperationsveranstaltungderGuardiniStiftung e.V.und der Villa Vigoni (Mennagio / Italien) stattfand.

    Wir widmen das Buch Karl Pestalozzi zum 80. Geburtstag.

    Carlo GentiliCathrin Nielsen, im Februar 2010

    VorwortVI

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

    Werner StegmaierDer Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft. NietzschesAphorismus vom tollen Menschen im Kontext seiner FrhlichenWissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    Andreas Urs SommerGott Nihilismus Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritikbei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    Edith DsingGottestod Nihilismus Melancholie. Nietzsches Denkweg alsDiagnose und Therapie des Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

    Marco BrusottiKern und Schale. Wissenschaft und Untergang der Religion beiNietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

    Giuliano CampioniDie Schatten Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

    Friederike Felicitas GntherAm Leitfaden des Rhythmus. Kritische Wissenschaft undWissenschaftskritik in Nietzsches Frhwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

    Babette BabichDas Problem der Wissenschaft oder Nietzsches philosophischeKritik wissenschaftlicher Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    Damir BarbaricWille zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

    Annamaria LossiGenealogie derWissenschaft. ber das Verhltnis von Philosophieund Wissenschaft bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

    Cathrin NielsenWissenschaft und Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

  • Carlo GentiliDie Wissenschaft und der Schatten Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . 233

    Wolf ZachriatNietzsches frhe Fortschrittskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

    Reinhold EsterbauerTolle Wissenschaft? Zum Verhltnis von Gottestod undNaturerklrung mit Blick auf Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

    Maria Cristina FornariVon Natur aus gut: Schatten Gottes und Neuroethik . . . . . . . . 283

    Federico VercelloneMorphologie. Eine philosophische Perspektive? . . . . . . . . . . . . . . 303

    Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

    Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

    InhaltVIII

  • Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft.Nietzsches Aphorismus vom tollen Menschen im

    Kontext seiner Frhlichen Wissenschaft

    Werner Stegmaier

    1. Der Glaube an Gott und der Glaube an seinen Tod

    Der vielleicht berhmteste Aphorismus Nietzsches, der AphorismusNr. 125 der Frhlichen Wissenschaft, stellt ein Glaubwrdigkeits-Problem.Nietzsche inszeniert hier eine dramatische Geschichte, wie er sie zuweilenunter seine Aphorismen einstreut und wie sie Also sprach Zarathustra imGanzen darstellt. Geschichten sind keine Lehren, sie werden nicht als wahr,noch nicht einmal als klar vorausgesetzt. Ihr Reiz liegt darin, dass sie aus-gelegt und, im strksten Fall, immer neu ausgelegt werden knnen. Klas-sische Paradigmen sind die gleichnishaften Geschichten des Jesus von Na-zareth. Sie schaffenGlaubenbei dem,der sie auslegt, einenGlaubennicht andieGeschichten, sondern einenGlauben,derder eigenenOrientierungHaltgibt. Geschichten sind so glaubwrdig, wie sie fr die eigene Orientierungglaubwrdig ausgelegt werden knnen; ber die Glaubwrdigkeit oder,modern gesprochen, Plausibilitt, also die Zustimmungsfhigkeit der Ge-schichten, entscheidet der, der sie auslegt.1 Er entscheidet dabei selbst berseinen Glauben, und wo sich die Frage der Glaubwrdigkeit oder Plausi-bilitt ausdrcklich stellt, entscheidet er darber bewusst. Er fragt dann, obetwas ,wrdigoder wert ist, an es zu glauben, und ,glauben heit dann, sichbis auf Weiteres auf es zu verlassen, ohne ein zuverlssigesWissen von ihmzuhaben, auf das sich jeder andere auch verlassen knnte. Glauben dieser Artdurchzieht die menschliche Orientierung, in der man sich nur von sehrwenigem ein zuverlssiges Wissen verschaffen kann, und fragt man be-harrlich weiter, lst sich alles vermeintliche Wissen in ein vorlufigesGlauben auf. Man muss ,sich zuletzt stets ,auf etwas oder jemanden ver-lassen, d. h. buchstblich die eigene Orientierung verlassen und sich einer

    1 Zur letzten Orientierung an Plausibilitten vgl. Werner Stegmaier, Philosophie derOrientierung, Berlin / New York 2008, S. 1422, S. 306 f. , S. 649653.

  • andern anvertrauen, ,auf die, wie man glaubt, ,Verlass, die ,zuverlssig ist.Der religiseGlaube anGott ist nur der aufflligste; wir sind ebenso auf denGlauben an die Zuverlssigkeit anderer Menschen, unserer selbst, derTechnik, des Staates, der Moral, der Wissenschaft, des Fortgangs unseresLebens, unseres Glckes angewiesen und auf alles, was mit ihnen zusam-menhngt. Nichts davon ist letztlich sicher.2

    Der Aphorismus Nr. 125 der Frhlichen Wissenschaft bietet eine Ge-schichte in der Geschichte: Er erzhlt eine Geschichte von einem tollenMenschen,der einmal,wiewirwissen,Zarathustra sein sollte. Sie ist, so fhrtNietzsche sie ein, eine Geschichte vom Hrensagen, also eine kaumglaubwrdige Geschichte (Habt ihr nicht von jenem tollen Menschengehrt, Man erzhlt noch). Der tolleMensch, der als tollerMenschalles andere als glaubwrdig ist, erzhlt inderGeschichteLeuten,dieaufdemMarkt zusammenstehen,wiederumeineGeschichte, nicht vomTodGottes,sondern von der Ttung Gottes, vom Mord an Gott und dessen bevorste-henden Folgen dieGeschichte ist eher eineZukunftsgeschichte und damiteine noch weniger glaubwrdige Prophezeiung, die wiederum nicht inklaren Ankndigungen, sondern in offenen und bilderreichen Fragen vor-getragen wird. Sie erweist sich gleichwohl als so faszinierend, dass zunchstder Autor, Nietzsche, sie nach einem Gedankenstrich wie ein wahresEreignis wiedererzhlt (Da dort gerade) auch dies nicht glaubwr-dig , und dass dann die umstehenden Leute in der Geschichte durch sie inihrem eigenenGlauben irritiert werden.Nietzsche lsst sie, als sie den tollenMenschen mit seiner am hellen Vormittag angezndeten Laterne unauf-hrlich schreienhren ,Ich sucheGott! Ich sucheGott!, zuerst lachenundScherze machen, dann aber, als der tolle Mensch mit durchbohrendenBlicken sein immer eindringlicheres ,Wir alle sind seineMrder! []Wietrsten wir uns, die Mrder aller Mrder? ausstt, schweigen und be-fremdetauf ihnblickensie,die zuvornochganz selbstverstndlichnichtanGott geglaubt hatten, wissen nun nichtmehr, was sie glauben sollen, sind inihrem festen Glauben, dass es nie einen Gott gab, verunsichert und stehen

    2 Zuverlssigkeit ist fr jede Gesellschaft ein hoherWert sie ermglicht sie erst. Frdie Wissenschaft dagegen ist sie fragwrdig. Vgl. Nietzsche, FW 296: ,Man kannsich auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich: das ist in allen gefhrlichen Lagen derGesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat. [] Diess ist nun je-denfalls, mag sonst der Vortheil dieser Denkweise noch so gross sein, fr dieErkenntniss die allerschdlichste Art des allgemeinenUrtheils : denn gerade der guteWille des Erkennenden, unverzagt sich jederzeit gegen seine bisherige Meinung zuerklren und berhaupt in Bezug auf Alles, was in uns fest werden will, misstrauischzu sein, ist hier verurtheilt und in Verruf gebracht.

    Werner Stegmaier2

  • nun vor einer Entscheidung ber ihren Glauben.3 Ihre eigene Glaubwr-digkeit schwindet und die des tollen, unglaubwrdigenMenschen steigt. Ermacht sich ebendadurch glaubwrdig, dass er den bisher festenGlaubenderZuhrer ins Schwanken bringt, dass er sie betroffen macht. Das Gegen-einander von Glaubwrdigkeiten wird in der Geschichte nicht beigelegt,nicht beruhigt. Wenn der tolle Mensch, wie man [noch] erzhlt, des-selbigen Tages in verschiedene Kirchen eindringt, umGott sein Requiemaeternam deoanzustimmen, bleibt er einerseits konsequent, sofern er Gottwie jedem Toten Segen im Tod erbittet, und macht sich dadurch weiterglaubwrdig; andererseits macht er sich aufs Neue unglaubwrdig, sofernnachseinerAussageda jakeinGottmehr ist,derdieBitteumSegengewhrenknnte und am wenigsten fr sich selbst, der nun tot ist. Er fhrt in Para-doxien.4 Die Leser des Aphorismus bleiben ebenso ratlos zurck wie dieHrerderGeschichte inderGeschichte.DerganzeAphorismusNr. 125undin ihmdie Frage des Todes oder der TtungGottes ist eine einzige Probe aufdenGlauben, die Glaubensbereitschaft seiner Leser aber auf denGlaubenworan?

    Ein Gott, den Menschen tten knnen, kann nur ein Gott sein, denMenschen geschaffen haben.5 Sie haben ihn offenbar geschaffen, erdacht,weil sie den Glauben an ihn ntig hatten. Gott wurde in der christlichenReligion so geglaubt und in der griechisch-christlichen Philosophie so ge-

    3 Vgl. E. Biser, Der Zuspruch im Widerspruch: Nietzsches provokative Kritik desChristentums, in: D. Mourkojannis u. R. Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche imChristentum. Theologische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des TodesGottes, Basel 2004, S. 2329. Auch in MA II 84 (Die Gefangenen) erzhltNietzsche eine Geschichte, in der er den Sohn des Gefngniswrters die Gefan-genenzumGlaubenan ihnauffordern lsst,der siebefreienwerde.Alsberichtetwird,der Gefngniswrter sei tot, und der Sohn mild daran festhlt, dass mein Vaternoch lebt, lachten [die Gefangenen] nicht, zuckten aber mit den Achseln undlieen ihn stehen.

    4 Vgl. Werner Stegmaier, Philosophischer Idealismus und die Musik des Lebens.Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien. Eine kontextuelle Interpretation desAphorismus Nr. 372 der Frhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 33, 2004,S. 90128, hier S. 914.

    5 Vgl. dieNachlass-SkizzeNietzsches vomHerbst 1881,KSA9, 12[202]: Gott /Wirhaben ihnmehr geliebt als uns und ihmnicht nur unseren ,eingeborenen Sohn zumOpfer gebracht. / Ihrmacht es euch zu leicht, ihrGottlosen!Gut, esmag so sein, wieihr sagt: die Menschen haben Gott geschaffen ist dies ein Grund, sich nicht mehrumihnzukmmern?Wirhabenbisherumgekehrt geschlossen,Gott,we i l erdie /AchFreund,was haben denn dieMenschen seit Jahrtausenden gethan als sich umihrenGott gekmmert usw.Wenn er nun trotzalledem nicht leben kann, und keineNahrung ihn mehr bei Krften erhlt : so .

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 3

  • dacht, dass er der Welt eine Ordnung gegeben hat, an die das Denken sichhalten konnte. Er gab der Orientierung einen letzten und festen Halt, denHalt eines festen Glaubens, der allem brigen Glauben einen letzten Haltgibt.6 Sein Dasein war, wie Kant gegen Descartes und Anselm deutlichgemacht hatte, jedochweder beweisbar nochwiderlegbar,7 unddas gilt dannauchfr seinenTod.Nichtnur imFalldesDaseinsGottes, auch imFall seinesTodes bleibt nur der Glaube.8 Wenn aber mit diesem Glauben, so oder so,aller Glaube steht und fllt, kommt mit der Frage des Todes Gottes dasGlauben berhaupt in Not, wird alles Glauben fragwrdig und entscheid-

    6 Vgl. Nietzsche, JGB 191: Plato [] wollte mit Aufwand aller Kraft der grsstenKraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! sich beweisen, dass Vernunftund Instinkt von selbst auf EinZiel zugehen, auf dasGute, auf ,Gott; und seit Platosind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn, das heisst, inDingenderMoralhatbisherder Instinkt,oderwiedieChristen esnennen, ,derGlaube, oderwie ich es nenne, ,die Heerde gesiegt. Manmsste dennDescartes ausnehmen, denVater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), welcher derVernunft allein Autoritt zuerkannte: aber die Vernunft ist nur einWerkzeug, undDescartes war oberflchlich.

    7 In einer Reihe vonNachlass-NotatenwrdigtNietzsche dieKonsequenzDescartes.Vgl. N 1885, KSA 11, 36[30]: Man ist unbillig gegen Descartes, wenn man seineBerufung auf Gottes Glaubwrdigkeit leichtfertig nennt. In der That, nur bei derAnnahmeeinesmoralischuns gleichartigenGottes ist vonvornhereindie ,Wahrheitunddas SuchenderWahrheit etwas, das Erfolg verspricht undSinnhat.DiesenGottbei Seite gelassen, ist die Frage erlaubt, ob betrogen zu werden nicht zu den Be-dingungen des Lebens gehrt. Wre Gott nun doch ein Betrger [], trotzDescartes (N 1885, KSA 11, 34[71]), gesetzt es gbe imGrunde der Dinge etwasBetrgerisches, ausdemwir stammten,washlfe es, deomnibusdubitare!Es knntedas schnsteMittel sein, sich zu betrgen. berdies: ist esmglich? (N 1885, KSA11, 39[13]). Descartes hatte einen Begriff davon, da in einer christlich-morali-schenGrunddenkweise,welche an einenguten Gott als Schpfer derDinge glaubt,die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile ve rbrg t . Abseits voneiner religisen Sanktion undVerbrgung unsrer Sinne undVernnftigkeit wohersolltenwir einRecht auf Vertrauen gegendasDaseinhaben!DadasDenkengar einMaa desWirklichen sei, da was nicht gedacht werden kann, nicht i s t , ist einplumpes nonplus ultra einermoralistischenVertrauens-seligkeit (auf ein essentiellesWahrheits-Princip imGrund derDinge), an sich eine to l l e Behauptung, der unsreErfahrung in jedem Augenblicke widerspricht. Wir knnen gerade gar nichtsdenken, in wiefern es i s t (N 1885/86, KSA, 12, 2[93]). Das tolle Denken einesgutenGottes ist nicht schlechter als ein tollesDenken, das ihn entbehren zu knnenglaubt.

    8 Vgl. Niklas Luhmann, Die Realitt der Massenmedien, 2., erw. Aufl. , Opladen1996,S. 210:,Gott ist tot,hatmanbehauptetundgemeint:der letzteBeobachterist nicht zu identifizieren.

    Werner Stegmaier4

  • bar. Der Aphorismus Nr. 125 der Frhlichen Wissenschaft stellt das Plausi-bilitts-Problem schlechthin.9

    2. Die Wissenschaft als Tod Gottes

    Dem Glauben jeder Art scheint das Wissen und mit ihm die Wissenschaftentgegenzustehen. Ja, je gewisser die Wissenschaft wurde, umso fragwr-diger konnte derGlaubewerden.Das traf vor allemden religisenGlauben.Nach Nietzsche ist die Wissenschaft urschlich fr den Tod Gottes, sie istaber auch von ihmbetroffen. Sie istmitGott tiefer verstrickt, als sie sichnachdem Abebben der christlichen Religion im Europa des 19. Jahrhundertsglaubenmachenmochte.10 Gott wurde in der Antike so gedacht, dass er dieWissenschaft erst mglich machte, als ihr Anreger und als Garant ihreshchsten Wertes, der Wahrheit. Parmenides fhrte eine neue namenloseGttin ein, umseiner neuenWissenschaftAutoritt zu verschaffen, Sokratessah sich imWissen, dass er nichts wusste, vomGott in Delphi aufgefordert,nach wahremWissen zu suchen:Wenn dieWahrheit nicht das Ergebnis derwissenschaftlichen Suche sein konnte, so sollte sie doch ihrFluchtpunkt sein.Seither wurde es zum Programm der europischen Philosophie und Wis-senschaft, zum Programm ihrer Aufklrung, statt tatschlicheWahrheit(en)zuerreichenkritischber vermeintlicheWahrheit(en)hinauszufhrenauchdies aber noch im Zeichen der Wahrheit. Fr die moderne Aufklrung, wieDescartes sie begrndete, sollte Gott die Wahrheit der wissenschaftlichenErkenntnis ausdrcklich garantieren (indem er in seiner Gte nicht zulie,dass die menschliche Erkenntnis ins Leere greift) bis Kant erneut damitbrach, zur Wahrheit als bloem Fluchtpunkt der Aufklrung zurckkehrteund Gott in die Ferne eines bloen Postulats der moralischen Orientierungrckte. Sowarder im19. Jahrhundert fr tot erklrteGott,wieNietzsche imNachlass undnur imNachlass notierte, dermoralischeGott,11 er warHalt

    9 Zu den religionsgeschichtlichen Aspekten von Nietzsches Rede vom ,Tod Gottesvgl. J. Figl, Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bil-dungs- und Denkweges, Berlin / New York 2007, S. 301312.

    10 Vgl.Nietzsche,UB III 4,KSA1, S. 366 (DieGewsser der Religion fluthen ab undlassenSmpfeoderWeiher zurck)undN1873,KSA7,29[221] (MeinVertrauenzurReligion ist grenzenlos gering:die abfluthendenGewsser kannmansehen,nacheiner ungeheuren berschwemmung.).

    11 Vgl.Nietzsche,N1882,KSA10,3[1]432,S. 105: IhrnenntesdieSelbstzersetzungGottes: es ist aber nur seineHutung: er zieht seinemoralischeHaut aus! Und ihrsollt ihn baldwiedersehn, jenseits von gut und bse.,N1885,KSA11, 39[13]: die

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 5

  • fr die christlicheMoral-Hypothese, die demMenschen einen absolutenWerth verlieh, dem bel Sinn gab und fr das Wichtigste, dasWissen um absolute Werthe, adquate Erkenntni versprach (N1886/87,KSA12, 5[71]7, S. 211).Damit aber istWahrheit nichtmehr (wienoch fr Sokrates) Fundament, sondern Funktion der Moral. Die Moralihrerseits stufte Nietzsche als Funktion des Lebens ein, das seinerseits nichtzuerst nach Wahrheit und Irrtum, sondern nach Nutzen und Nachteil un-terscheidet. So wird verstndlich, wie die Wissenschaft den Tod Gottesherbeifhrenund ihnzugleich amLebenerhaltenkonnte: Siehat sich frdasLeben zunehmend als ntzlich erwiesen, dadurch immer mehr Glaub-wrdigkeit gewonnen, sich dann mit dieser Autoritt gegen ihre erste Au-toritt, den moralischen Gott, gekehrt und ihn schlielich fr unglaub-wrdig erklrt.Nietzsche denkt dabei nicht nur andieNaturwissenschaften,die in demMae, wie sie die Ordnungen der Natur nach Naturgesetzen zuverstehen lehrten, die Hypothese ihres gttlichen Ursprungs berflssigmachten, sondern auchandieVerwissenschaftlichungdesGlaubens anGottselbst, seine Theologisierung und Historisierung. Paulus vor allem brachtedie evangelische Praktikdes Jesus vonNazareth (AC33) auf Dogmen, diesie lehrbar machen sollten, sie damit aber auch einem nie endenden theo-logischen Streit aussetzten, bis sie zuletzt durch ihre Historisierung un-glaubwrdig wurden.12 Dies, so hatte Nietzsche schon in Die Geburt derTragdie festgestellt,

    ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nmlich die mythischenVoraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmssigen Augeneines rechtglubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischenEreignissen systematisirt werden und man anfngt, ngstlich die Glaubwr-digkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natrliche Weiterlebenund Weiterwuchern derselben sich zu struben, wenn also das Gefhl fr den

    WiderlegungGottes, eigentlich ist nurdermoralischeGottwiderlegt.,N1885/86,KSA12, 2[107]: NB.Die Religionen gehn an demGlauben derMoral zuGrunde:der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich ,Atheismus wie als ob eskeineandereArtGttergebenknne.undN1886/87,KSA12,5[71]7,S. 213:ImGrunde ist ja nur der moralische Gott berwunden.

    12 Dass der christliche Glaube durch seine bloe Historisierung unglaubwrdig wird,war auchOverbecksberzeugung.Vgl.H.-P.Eberlein,Nietzsches ,TodGottesundOverbecks ,Ende des Christentums eine Analogie, in: D. Mourkojannis u. R.Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theologische Perspektivennach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004, S. 6382.

    Werner Stegmaier6

  • Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historischeGrundlagen tritt. (GT 10, KSA 1, S. 74)13

    Nietzsche pflichtete dem Sieg des wissenschaftlichenAtheismusdurchausbei, doch unter dem Vorbehalt, dass er vorschnell an sich selbst glaube.Gerade bei Schopenhauer, der dem gesammt-europischen Ereigniss desNiedergangs des Glaubens an den christlichen Gott seinen klarsten undentschiedensten Ausdruck gegeben habe, zeige sich etwas Voreiliges, Ju-gendliches, nur eineAbfindung, einStehen-undSteckenbleiben in ebendenchristlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben anGott, der Glaube gekndigt war (FW 357). Der wissenschaftlicheAtheismus glaubte sich, wie Nietzsche den tollenMenschen hinausschreienlsst, stark genug, diese Erde von ihrer Sonne los[zuketten]und selbst einehaltbareOrientierung zu schaffen (FW125). Tatschlich aber beraubte sichdie Wissenschaft mit der langsamen Ttung Gottes selbst des Halts ihrerOrientierung an der Wahrheit an die sie weiterhin glaubte.

    3. Der Glaube der Wissenschaft an den Schatten Gottes,die Wahrheit

    Nach seinem Abschied von Schopenhauers Metaphysik setzte Nietzsche inMenschliches, Allzumenschliches selbst auf den wissenschaftlichen Atheis-mus und wandte in einiger Nhe zu Auguste Comtes soziologischemStadiengesetz Ernst Haeckels biogenetisches Grundgesetz auf die geistigeReifung junger Menschen an. Danach bilden, was bis heute auch gut zubeobachten ist, religiser Glaube, metaphysische Philosophie und Wis-senschaftnichtnur PhasendergeistigenCultur, andenendieMenschheitvielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat, sondern auch Jah-

    13 Vgl.Nietzsche,MA I 113: So etwas wie EinGott, dermit einem sterblichenWeibeKinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehrGericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zuachten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer an-nimmt; Jemand, der seine Jnger sein Blut trinken heisst ; Gebete um Wunder-eingriffe; SndenaneinemGott verbt, durcheinenGottgebsst ;Furcht vor einemJenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist ; die Gestalt des Kreuzes als Symbol in-mitten einer Zeit, welche die Bestimmungund die Schmach desKreuzes nichtmehrkennt, wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergan-genheit, an! In den Tautenburger Aufzeichnungen fr Lou von Salom von 1882notierte Nietzsche Gott hat Gott getdtet. (N 1882, KSA 10, 1[75], [76]), underluterte das bald darauf so: Gott erstickte an der Theologie (ebd., 3[1]7, S. 54).

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 7

  • resr inge der individuel len Cultur: auf die religisenEmpfindungender Kindheit folgen in der Jugend die Zauber einer metaphysischen Phi-losophie, bis schlielich der wissenschaftliche Sinn immer gebieterischer[wird] und den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und na-mentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens [fhrt] (MA I 272).Erst allmhlich wagte sich bei Nietzsche der Gedanke hervor, dass auch dieWissenschaft ihren Glauben braucht:

    WenndieWissenschaft nicht andie Lu s t derErkenntniss, andenNutzen desErkannten geknpft wre, was lge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht einwenigGlaube, LiebeundHoffnungunsere Seele zurErkenntniss hinfhrte,waszge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das IchNichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glckliche Ich, ja selbstschon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der wissen-schaftlichen Menschen. (MA II VM 98)

    Er begriff nun auch die Wissenschaft von Lebensnten aus. Weil sie ent-behrungsreicher ist und weniger Glanz und Ruhm verspricht als die Kunst,brauchenGelehrtemehrGlaube,Liebe,HoffnungalsKnstler (MAII206);sie mssen sich selbst der Bilder und Gleichnisse entschlagen, durch dieman berzeugt, aber nicht beweist, wollen gerade das Ueberzeugende,das Glaubl ich-Machende nicht und fordern von sich das kltesteMisstrauen: weil dasMisstrauen der Prfstein fr dasGold derGewissheitist (MA II 145). So aber stellt sich die Frage, was sie zu dieser unerbittlichenSuche nach Erkenntnis und Gewissheit, nach Aufklrung um jeden Preistreibt und was diese Aufklrung so glaubwrdig macht, die Gott un-glaubwrdig gemacht hat. Die wissenschaftliche Antwort darauf kannwieder nur eine Aufklrung, nun die Aufklrung der Aufklrung selbstsein.14 Diese Aufklrung der Aufklrung ist das Programm der FrhlichenWissenschaft und damit auch der Kontext des Aphorismus vom tollenMenschen.

    IndenerstenbeidenBchernderFrhlichenWissenschaft fhrtNietzschedie physiologische, psychologische und soziologische Aufklrung der eu-ropisch-christlichen Religion und Moral aus Menschliches, Allzumenschli-ches und der Morgenrthe fort, stets vor dem Hintergrund des Evolutions-

    14 Werner Stegmaier, Nietzsches und Luhmanns Aufklrung der Aufklrung: DerVerzicht auf ,dieVernunft, in: R.Reschke (Hg.),Nietzsche Radikalaufklrer oderradikaler Gegenaufklrer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft inZusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der StiftungWeimarerKlassik und Kunstsammlungen vom 15.17. Mai 2003 in Weimar, Berlin 2004,S. 167178.

    Werner Stegmaier8

  • gedankens.15Das dritte Buch, in dessen erstemAphorismus zum erstenMalin NietzschesWerk fast nebenbei der Satz Gott ist todt fllt (FW 108)16 der Tod Gottes gilt auch hier als selbstverstndlich, und es geht auch hierschon um die ungeheuren schauerlichen Schatten, die er zurcklsst ,17

    aberhandeltdannvondendogmatischenundmoralischenVoraussetzungender Wissenschaftlichkeit selbst (FW 109113). Nietzsche warnt zunchstvor den scheinbaren Selbstverstndlichkeiten der Wissenschaft (Htenwir uns ! , FW 109) und fragt nach deren eigenen Lebensbedingungen.Danach liegt die Kraf t der Erkenntnis [] nicht in ihrem Grade vonWahrheit, sondern in ihremAlter, ihrer Einverleibtheit, ihremCharakter alsLebensbedingung (FW 110). Auch das Logische und alle ,Erklrungdes Werdens, des Flusses des Geschehens, haben ihre Herkunft inbesonderen und zuflligen Lebensumstnden (FW 111, FW 112). In derWissenschaft haben die unterschiedlichsten Triebe zusammengewirkt,zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwar-tendeTrieb, der sammelndeTrieb, der auflsendeTrieb, und imVereinmitknstlerischen Krften und der praktischen Weisheit des Lebens einhheres organisches System gebildet; jeder fr sich wre Gift gewesen

    15 Vgl. Werner Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem derEvolution, in: Nietzsche-Studien 16, 1987, S. 264287; Aldo Venturelli, Kunst,Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Quellenkritische Untersuchungen(Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 47), Berlin / New York2003, S. 238253; M. Skowron, Nietzsches Anti-Darwinismus, in: Nietzsche-Studien 37, 2008, S. 160194. Nietzsches Ausgang vom Evolutionsgedanken lieKritik an Darwin und am Darwinismus, insbesondere an seinen moralischenVoraussetzungen und Folgerungen, im Einzelnen durchaus zu. Vgl. G. Moore,Nietzsche, Biology and Metaphor, Cambridge 2002, und dazu die sehr kritischeBesprechung von M. Stingelin, Nietzsche und die Biologie. Neue quellenkritischeStudien, in: Nietzsche-Studien 32, 2003, S. 503513.

    16 Zu den Vorformulierungen, deren bedeutsamste Max Mllers Essays zur ver-gleichendenReligionswissenschaft (M.Mller,Essays, 4Bde.,Leipzig18691876,Bd. 1, S. 211 f.) entnommen und auf die germanischen Gtter bezogen ist: Ichglaube andasurgermanischeWort: alleGttermssen sterben (N1870/71,KSA7,5[115]), vgl. Figl, Nietzsche und die Religionen, S. 233 u. S. 306 f. Nietzsche hat,anders als Mller, den einen jdisch-christlichen Gott mit den vielen griechischen,germanischen und auereuropischen Gttern gleichgestellt. Zu weiteren For-mulierungen desTodesGottes inNietzsches verffentlichtemWerk vgl. J. Figl, ,TodGottesunddieMglichkeit ,neuerGtter, in:Nietzsche-Studien 29, 2000, S. 82101, hier S. 9294.

    17 Auch das Bild von den Schatten Gottes knnte auf MaxMller zurckgehen. Vgl.Figl, Nietzsche und die Religionen, S. 307, Anm. 55, der auf Mller, Essays, Bd. 1,S. 237, verweist.

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 9

  • (FW 113). Damit der gute Glaube an die Wissenschaft (FW 123) ent-stehen konnte, bedurfte es darber hinaus einer hochdifferenzierten unddurch dieReligion gefestigtenMoral, fr die eben dieWahrheit ein hchsterWert ist (FW114122).Sobildetendie europischeWissenschaft,Religionund Moral ihrerseits ein System, in dem sie einander wechselseitig Haltgaben, und als dieses System sich immer strker wissenschaftlich festigte,konnte es schlielich auf Gott als Halt verzichten es ttete ihn, und dieWissenschaft wurde zur Ersatz-Religion. An dieser Stelle lenkt der Apho-rismusNr. 125 auf die Religion zurck, die imAnschluss das beherrschendeThema bleibt (FW 126151). Die Religion und der TodGottes werden soim Kontext der Wissenschaft, aber auch die Wissenschaft im Kontext derReligion thematisiert. Nietzsche befragt beide auf den grossen Gesammt-glauben (FW 76) hin, der sich in ihnen zeigt dies ist seine neue Frage-stellung. Dass die Glubigen des grossen Gesammtglaubens bei einanderbleiben und ihren Tanz weitertanzen, lsst auf eine Nothdurft erstenRanges schlieen, welche hier gebietet und fordert, hatte er schon imzweiten Buch geschrieben (FW 76). Mit dem Gesammtglauben, derseinen Anfang und seine Spitze in der Religion hat, wird aber nun auch dieSttze, die ihm mit der Zeit eingezogen wurde, die Wissenschaft, frag-wrdig.Die Auflsung desGlaubens anGott stellt auch dieWissenschaft inFrage ihren Glauben an die Wahrheit.

    Das fnf Jahre nach den ersten vier Bchern (und nach Also sprachZarathustra und Jenseits von Gut und Bse) erschienene fnfte Buch derFrhlichen Wissenschaft18 nimmt zu Beginn den Aphorismus Nr. 108 aus

    18 Dem Werk Die frhliche Wissenschaft hat sich die Nietzsche-Forschung ver-gleichsweise wenig zugewandt. Immerhin hat Giorgio Colli in seinemNachwort inder KSA (Colli 1980)mit souverner Kennerschaft und feinem Sinn fr NietzschesNuancen inTonundKompositiondie ersten vierBcherderFrhlichenWissenschaftals einenHhepunkt inNietzschesSchaffengewrdigt.Siezeichneten sichausdurchdie Distanz des Genesenen, das Fehlen von Schmhungen, bedeuteten einenmagischen Augenblick der Ausgewogenheit in Nietzsches Werk, seine einzigeErfahrung in vlliger ,Gesundheit, die ihn alle Extreme in entspannter Weisemiteinander verbinden lie. Diese Bcher seien Nietzsches gelungenster Versuchphilosophischer Mitteilung, ein souvernes, ganz leichtes In-der-Schwebe-Blei-ben. hnlich hatte sich bereits Walter Kaufmann in der Einleitung zu seinerkommentierten bersetzung ins Amerikanische geuert. Dem knnen wir nurzustimmen. ImfnftenBuchhatColli freilichnurnoch Zustzedazugesehenundes damit wohl unterschtzt. Auch spter ist das fnfte Buch trotz seiner herausra-gendenAphorismen zumeist als bloerAnhang zuden ersten vier gelesenworden; eswurde in derNietzsche-Forschung nochweniger beachtet. Jrg Salaquarda, der sichhohe Verdienste fr eine sorgfltige Nietzsche-Lektre erworben hat, hat in seiner

    Werner Stegmaier10

  • Vorbemerkung zu den Abhandlungen von ihm selbst, Wolfram Groddeck, MarcoBrusotti, Gert Mattenklott und Renate Reschke, die der Frhlichen Wissenschaftanlsslich des Nietzsche-Kolloquiums Sils-Maria 1995 gewidmet und in denNietzsche-Studien 26, 1997, S. 163259, abgedruckt wurden, wohl darauf hin-gewiesen, wie wenig Aufmerksamkeit der Frhlichen Wissenschaft in der Nietzsche-Forschung bisher gewidmet worden war, lsst in seinem Beitrag Die FrhlicheWissenschaft zwischen Freigeisterei und neuer ,Lehre das fnfte Buch aber wie-derum ganz beseite. Erst Wolfram Groddeck geht in seiner literaturwissenschaft-lichen AbhandlungDie ,Neue Ausgabe der Frhlichen Wissenschaft. berlegungenzu Paratextualitt und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach Zarathustradarauf ein, warum und wie Nietzsche das fnfte Buch mit den ersten vier Bcherverknpft hat (W. Groddeck, Die ,Neue Ausgabe der Frhlichen Wissenschaft.berlegungen zu Paratextualitt und Werkkomposition in Nietzsches Schriftennach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 184198). Die Frage derFrhlichkeit der Wissenschaft berhrt Marco Brusotti. Danach bildet die Frh-lichkeit der Kunst ein Gegengewicht zum Ernst der Wissenschaft und hilft Nietz-sche, sich gelegentlich von der Leidenschaft zur Erkenntni zu distanzieren undzu erholen (M. Brusotti, Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischenMorgenrthe und der Frhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 26, 1997,S. 199225). Brusotti spricht von einem Pendeln des Erkennenden zwischenRedlichkeit und Kunst, Nietzsche freilich in einem (von Brusotti, ebd., S. 222,zitierten) Notat (N 1885, KSA 11, 38[20]) von einer Beherrschung der Leiden-schaft zur Erkenntni, die er eingangs ein leidenschaftliches Vergngen an denAbenteuern der Erkenntninennt: einMensch der Leidenschaftmuss auch derHerr seiner Leidenschaften sein, er mu, wie heftig auch immer in ihm derWillezurWahrheit ist es ist seinwildesterHund, zur gewhltenZeit der leibhafteWillezurUnwahrheit, derWille zurUngewiheit, derWille zurUnwissenheit, vor Allemzur Narrheit sein knnen. GertMattenklott hat in seinem Beitrag zu denTempi inder Frhlichen Wissenschaft (G. Mattenklott, Der Taktschlag des langsamenGeistes. Tempi in der Frhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 26, 1997,S. 226238) mehr den Proze der Moderne als die konkrete ,musikalischeGestaltung und Anordnung der Aphorismen im Blick; auch er bercksichtigt dasfnfte Buch nicht, wiewohl die Musik dort zu einem Leitbegriff wird. Auch beiRenate Reschke bleibt das fnfte Buch am Rande (R. Reschke, Welt-Klugheit Nietzsches Konzept vom Wert des Mediokren und der Mitte. Kulturkritischeberlegungen des Philosophen im Umkreis seiner Frhlichen Wissenschaft, in:Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 239259). Michael Tanner gibt in seiner kurzenEinfhrung zuNietzsche der FrhlichenWissenschaft zwar eine Sonderstellung, weilNietzsche sich hier traue, ber die unzhligen Andeutungen seiner zwei frherenBcher [gemeint sind MA und M] hinauszugehen, jedoch noch ohne das prophe-tische Gewicht zu tragen, das die Autorschaft des Zarathustra ihm auferlegte. (M.Tanner, Nietzsche, aus dem Engl. bers. v. Andrea Bollinger, Freiburg i. Br. 1999,S. 57)HierwerdeeinumfassenderesVerstndnis sprbar frdas,was er [Nietzsche]will (ebd.); zugleich erreiche Nietzsche eine neue schriftstellerische Vollkom-menheit : Die ersten vier Bcher von FW bilden eine ansteigende Kurve in punctoBrillianz und Eindringlichkeit (ebd., 59). FW 290 (Eins ist noth. Seinem

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 11

  • dem dritten Buch mit seiner Metapher der Schatten Gottes wieder auf undgibt nundie knappste und klarste Bestimmung desTodesGottes mitHilfedesBegriffsderGlaubwrdigkeit : DasgrssteneuereEreigniss, dass ,Gotttodt ist, dass derGlaube an den christlichenGott unglaubwrdig gewordenist beginnt bereits seine ersten Schatten berEuropa zuwerfen. (FW343)Hier folgen denn auch groe Aphorismen zur ,Frmmigkeit auch derWissenschaft in ihrem Glauben an die Wahrheit (FW 344), zur Moral, dieder Grund dieser Frmmigkeit ist und darum nun zum Problem wird (FW345), zur Kraft zum Misstrauen und zum Nihilismus als Ma der Philo-sophie (FW 346) und zum Bedrfniss nach Glauben, das dieser Kraftentgegensteht (FW 347). Darauf folgen Aphorismen zu den (engen) Be-dingungen der Gelehrsamkeit (FW 348 u. 349), aber auch zu Ehren derhomines religiosi und der priesterlichen Naturen (FW 350 u. 351), zurUnentbehrlichkeit derMoral fr Europer (FW 352) und zum verwandtenUrsprungderReligionen (FW353), desBewusstseins, derMitteilungundderErkenntnis (FW354u.355).MitderVerwebungdieserAphorismen,dieer imRest des fnftenBuches in immerkomplexereKontexte entfaltet, fhrtNietzsche die Verwebung von Wissenschaft, Religion und Moral im euro-pischen Gesammtglauben geradezu sinnlich vor. An der Wissenschaftund insbesondere an der Philosophie aber liegt es, notiert er zur Zeit derEntstehung des fnften Buches der Frhlichen Wissenschaft, diesen Ge-sammt-Glauben durch systematische Conceptionen zu einem starrenzu machen, wozu es einerseits schematischer Kpfe, andererseits desLeidens an derUngewiheit bedrfe. Freilich gebe es auch andere, die ander Unsicherheit nicht le iden, sondern Lust haben und darum ungernschematisiren (N 1886/87, KSA 12, 5[17]). Zur Ermutigung dieserLetzteren und unter ihnen seiner selbst hat Nietzsche die Frhliche Wis-senschaft geschrieben, solcher also, die am Tod Gottes gerade nicht mehrleidenwieder tolleMenschundseineZuhrer,die er leidenmacht.Sie leidennichtmehr an ihm, sind also durch das Leiden hindurchgegangen, haben esausgestanden und knnen, wie es Nietzsche bei sich selbst beobachtet,darumauchdenGedankenertragen, dass auchwirErkennendenvonheute,wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem

    Charakter ,Stil geben) stellt Tanner in den Mittelpunkt seiner ganzen Interpre-tation.Das fnfteBuch, in demNietzscheweit deutlicher geworden ist, ,was erwill,und in dem er, nach Also sprach Zarathustra, neue stilistische und kompositorischeHhen erreicht, bleibt auch hier beiseite. Kathleen Marie Higgins hat eine ersteMonografie zur Frhlichen Wissenschaft, jedoch wieder nur zu den Bchern I-IVvorgelegt (KathleenM.Higgins,ComicRelief.NietzschesGayScience,NewYork /Oxford 2000).

    Werner Stegmaier12

  • Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzndet hat, jenerChristen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, dass Gott die Wahrheitist, dass dieWahrheit gttlich ist, freilich auch, dass dies gerade immermehr unglaubwrdigwird, [dass]Nichts sichmehr als gttlich erweist, es seidenn der Irrthum, die Blindheit, die Lge, [dass] Gott selbst sich als unsrelngste Lge erweist? (FW 344).

    4. Ein befreites Leben der Wissenschaft : Frhliche Wissenschaft

    Wissenschaft wird frhlich, wenn sie das moralische Leiden am Tod desmoralischen Gottes berwunden hat und amDasein wieder froh gewordenist. Sie kann die Wahrheit dann als das verstehen, was sie ist, als bloenFluchtpunkt ihrer Forschungen.EinFluchtpunkt ist inder perspektivischenMalerei der Punkt, denman, angeleitet vondenPerspektiven einesBildes, ines hineinsieht, umvon ihmaus seineOrdnung zu erfassen. Er ist selbst in derRegel auf dem Bild nicht zu sehen, ist nur ein Punkt zur eigenen Orien-tierung.19 Wenn die Wissenschaft die Wahrheit sucht (wie religise Men-schen Gott und tolleMenschen den toten Gott), findet sie die Ordnungen,die sie durch ihre eigenen Hinsichten stiftet. ,Wissenschaf t bleibt einVorurthei l, soweit und solange sie die Wahrheit gegenstndlich, ineindeutig Feststellbarem sucht, sich darum auf Zhlen, Rechnen, Wgen,SehnundGreifenbeschrnktundsodieLebendigkeitderWelt ineine starreMechanik zwingt. Orientierung vollzieht sich anders, mit Hilfe von Ho-rizont-Linie[n], Perspektiven (FW 373) und vorlufigen Versuchs-Standpunkten (FW 344). Perspektiven sind Gesichtsfelder, die sich vonStandpunkten aus vorHorizonten erffnen; sie sindmit den Standpunkteneinerseits unddenHorizonten andererseits verschiebbar, sind alsobeweglichundsomit immervorlufigeGesichtsfelder.20HltmansichanbeweglichePerspektiven statt an einen festenGlauben,willmandasDasein nicht seinesvie ldeutigen Charakters entkleiden, sondern ihn im Gegenteil zumimmerneuenAnlass immerneuerBewegungenseinerPerspektivennehmen,die die Welt immer neu bereichern. Fr die Welt-Interpretation in Per-spektivenhatNietzschedasGleichnis derMusik, ander mechanischkaumetwas zu verstehen ist:

    eine essentiell mechanische Welt wre eine essentiell s inn lose Welt! Gesetzt,man schtzte den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezhlt,

    19 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 212 u. .20 Ebd., S. 206216.

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 13

  • berechnet, in Formeln gebracht werden knne wie absurd wre eine solche,wissenschaftliche Abschtzung der Musik! Was htte man von ihr begriffen,verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr,Musik ist ! (FW 373).

    Musik nimmt ein, nimmtmit, entwirft eigene Orientierungs-Welten,21 dieso ausfllenknnen,dassmandenRestderWelt vergisst, dieman jedochnurauf sehr oberflchliche und drftige Begriffe bringen kann und die stattdessen immer neue Interpretationen und Interpretationen von Interpreta-tionen herausfordern. Nietzsche spiegelt das dritte im fnften Buch derFrhlichen Wissenschaft: im dritten Buch schickt er dem AphorismusNr. 125 vom tollen Menschen den Aphorismus Nr. 124 Im Horizontdes Unendl ichen voraus hier klingt noch eine leise Klage an, dass wirschon zu Schiff gegangen sind, die Brcke und das Land hinter unsabgebrochen haben und uns nun einem unbegrenzten, bald ruhigen, baldstrmischenOzeananvertrauenmssen,und imfnftenBuch lsst er aufden Aphorismus Nr. 373 (,Wissenschaf t a l s Vorurthei l) denAphorismus Unser neues ,Unendliches folgen, in dem nun mutigund heiter der Mglichkeit entgegengefahren wird, dass die Welt un-endliche Interpretationen in sich schliesst. Im grossen Schauder, derbleibt, rhrt sich wohl weiter die Versuchung, dieses Ungeheure vonunbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergttlichen, dochinzwischen stehen dem bereits zu viele ungtt l iche Mglichkeiten derInterpretationentgegen (FW374)Also sprachZarathustraund Jenseits vonGut und Bse sind erschienen.Die Frhlichkeit der Wissenschaft liegt in der Perspektivierung der Wis-senschaft selbst, ihrer ffnung fr unendliche Interpretationen, im gelas-senen Sich-Einlassen auf das Gegeneinander von Glaubwrdigkeiten oderPlausibilitten. Dabei muss, worauf Nietzsche streng besteht, die wissen-schaftlicheDisziplin imAllgemeinenundmssendieDisziplinenderFcherim Besonderen durchaus beibehalten werden. Doch wird sich die Philo-sophie den Wissenschaften nicht mehr mit einem eigenen doktrinalenWissen berordnen, sondern sie statt dessen ihren wechselnden Lebensbe-dingungen zuordnen, darunter auch ihren offenen oder latenten Bedrf-nissen nach Religion und Moral. Wissenschaftliche Perspektiven sind wiealltgliche Perspektiven immer auch an doktrinale und moralische Stand-punkte undHorizonte gebunden; man braucht sie, um sich von Fall zu Fall

    21 Werner Stegmaier, Musik des Lebens. Orientierung in Rhythmen, Routinen undReligionen, in: I. U. Dalferth u. St. Berg (Hg.), Sinngestaltungen. Orientierungs-strategien in Religion und Musik, Tbingen 2010.

    Werner Stegmaier14

  • orientieren zu knnen. Doch man kann sie ntigenfalls wechseln dieFrhlichkeit derWissenschaft zeigt sich,wieNietzsche inZurGenealogie derMoral schreibt (III 12), im Vermgen, sein Fr undWider in der Gewaltzu haben und aus- und einzuhngen: so dass man sich gerade die Ver-schiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen fr dieErkenntniss nutzbar zumachen weiss (GM III 12, vgl.MA, Vorrede 1886,6). Nietzsche bekennt sich dies ist die einzige terminologische Festlegungseines Philosophierens in seinem verffentlichten Werk zum Nicht-Standpunkt des Phnomenalismus und Perspektivismus (FW354).Nachder groen Karriere des Orientierungsbegriffs, den Nietzsche noch kaumgenutzt hat,22 knnte man seine frhliche Wissenschaft auch eine orien-tierende Wissenschaft nennen, der es darauf ankommt, wechselnden Le-bensbedingungen gerecht zuwerden unddie darum in sich so beweglichwiemglich oder kurz: ihrerseits lebendig sein muss.

    Der heutige ,Glaube an die Wissenschaft ist kein Glaube an ihreWahrheit oder an eine eindeutige Feststellbarkeit derWeltmehr, sondern andenNutzen derWissenschaft fr die Gesellschaft, sei es unmittelbar fr dieTechnik, die Medizin, die Wirtschaft und die politische Planung, sei es frdie Aufklrung der Geschichte und der aktuellen Situation der Kultur oderKulturenderGesellschaft. Er ist auchkeinGlaube andieWertneutralitt derWissenschaft mehr, wie sie Max Weber nach Nietzsche noch einmal pos-tuliert hat.23 Stattdessen haben sich zunehmend Programme der Finalisie-rung und damit der Politisierung und konomisierung der Wissenschaftdurchgesetzt, eine Tendenz zur Plan-Wissenschaft im Wettbewerb. Nietz-sche mag sich das im Einzelnen so nicht vorgestellt haben; im Allgemeinenverwirklicht sich darin vieles von seinen Vorstellungen, insbesondere dieTemporalisierung derWissenschaft, zum einen in groen und unplanbarenParadigmen-Wechseln im Sinne Kuhns, zum andern in der Befristung auf

    22 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 55150, zu Nietzsche S. 113.Nietzsche hat den Begriff ,Orientierung nicht in seinen Werken, kaum in seinenNotizen, um so mehr aber in seinen Briefen gebraucht.

    23 Max Weber bestand angesichts der Wertungsfreudigkeit der Wissenschaft seinerZeit (auf dem Boden der traditionellen Moral) wohl auf Werturteilsfreiheit derWissenschaft (Max Weber, Die ,Objektivitt sozialwissenschaftlicher und sozial-politischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufstze zur Wissenschafts-lehre, hg. v. J. Winckelmann, Tbingen, 6. Aufl., 1985, S. 146214). Dennochversuchte er einewissenschaftlicheUntersuchung derMoral als einerGrundlage derWirtschaft, seine Genealogie des Geistes des Kapitalismus, so wie Nietzsche dieMoral als eine Grundlage der Wissenschaft entdeckt hatte (Max Weber, Die pro-testantischeEthik undderGeist desKapitalismus (1904/05), in: ders. ,GesammelteAufstze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tbingen, 9. Aufl. , 1988, S. 17206).

    Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft 15

  • kurz-, mittel- oder langfristige Projekte, die die Wissenschaft bei allenEinbuen, die damit einhergehen fr neue Entscheidungen offenhlt.

    5. Ein Gott fr die frhliche Wissenschaft: Dionysos

    Die frhliche Wissenschaft macht auch wieder neue Gtter nach demmoralischen Gott denkbar.24 Nietzsche erweckte den Gott seiner philoso-phischenAnfnge zuneuemLeben:Dionysos.25Dionysosdasbrauchtnunnichtmehr ausgefhrt zuwerden ist nach der griechischenMythologie einGott, der alsMensch leidet, der inOrgien geqult, zerfleischt, zerrissenwird und daraus immer wieder neu ersteht, das Symbol eines sich ewig er-neuernden Lebens. Er ist nicht nur ein schnerGott, der das Apollinische insich einbezieht, sondern auch ein auermoralischer Gott, dem das Bse,Unsinnige undHssliche gleichsam erlaubt ist. In Jenseits vonGut und BsehatteNietzscheden GottDionysoszumBegri f f des Dionysosunddamit zum Gott seines Philosophierens gemacht (JGB 295, EH, Za 6).26

    Auch er ist einGott fr Philosophen der aber nun die Beschrnkungen desmoralischen Gottes sichtbar macht, mit dem und an dem Europa berJahrtausendegelittenhat,derhilft, ber ihnaufzuklrenundsichvon ihmzulsen.

    24 Vgl. Figl, ,Tod Gottes und die Mglichkeit ,neuer Gtter, S. 98101; W. Steg-maier, Nietzsches Theology: Perspectives for God, Faith, and Justice, bers. v. JuliaJansen, in: New Nietzsche Studies (New York) 4, 3/4, 2000/2001, S. 7389;deutsch u. d. T.: Advokat Gottes und des Teufels : Nietzsches Theologie, in: U.Willers (Hg.), Theodizee im Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fragen jenseits vonMoral und Religion, Mnster 2003, S. 163177; Wiederabdruck u. d. T.:Nietzsches Theologie. Perspektiven fr Gott, Glaube und Gerechtigkeit, in: D.Mourkojannis und R. Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theo-logische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004,S. 121; Figl, Nietzsche und die Religionen, S. 310 f.

    25 Dionysos als neuenGott fr Philosophen und freieGeister zieht Figl,Nietzsche unddie Religionen, nicht in Betracht.

    26 Vgl. P. van Tongeren, DieMoral vonNietzschesMoralkritik. Studie zu Jenseits vonGut und Bse, Bonn 1989, S. 243 f.; W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz.Dilthey und Nietzsche, Gttingen 1992, S. 365372.

    Werner Stegmaier16

  • Gott Nihilismus Skepsis.Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche

    Andreas Urs Sommer

    In der Moderne hat Gott aufgehrt, selbstverstndlich zu sein. Das provo-ziert neue Strategien, mit seinem vorgeblichen Sein oder seinem vorgebli-chenNichtsein umzugehen.Der ersteTeil dieserAusfhrungenwidmet sicheiner knappen Interpretation des notorischen Aphorismus 125 aus derFrhlichen Wissenschaft, whrend der zweite Teil die mit dem GottestodverbundeneNihilismus-Diagnose insVerhltnis zumMotivderSkepsis setztund fragt, wie weit sich hier ein begehbarer Ausweg womglich auch fr diephilosophische Reflexion nach Nietzsche auftut.1

    I. ,Gott ist todt

    Den Leuten auf dem Markt ist Nietzsches toller Mensch mit seiner Suchenach Gott zunchst nur Anlass zu groem Gelchter; sie fragen zurck, obsich sein Gott wohl verlaufen habe oder was sonst mit ihm geschehen seinmge. Fr seine pathetische Antwort, wir htten ihn gettet und seien seineMrder, und fr seine Frage, wie wir diese ungeheure Tat htten vollbringenknnen, durch die wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten (FW 125),erntet er nur betretenes Schweigen, worauf er seine Laterne auf den Bodenschmettert und von sich sagt, er komme zu frh, habe doch die Kunde vomGottesmord die Menschen noch nicht erreicht. Warum, fragt der auf-merksame Leser zurck, sollte sie dieMenschen schon erreicht haben, wennder tolle Mensch ihr erster Verkndiger ist? Diese That ist ihnen immernoch ferner, als die fernsten Gestirne, und doch haben sie diese lbegethan ! (Ebd.) Dennoch sind dieMenschen, denen der tolleMensch auf

    1 Der erste Teil dieses Textes beruht teilweise auf A. U. Sommer, ,Gott ist todt oder,Dionysos gegen den Gekreuzigten? ber Friedrich Nietzsche, in: R. Faber u. S.Lanwerd (Hg.), Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalitt?, Wrzburg2006, S. 7590; der zweite Teil nimmtberlegungen aus A.U. Sommer,Nihilismand Skepticism in Nietzsche, in: K. Ansell Pearson (Hg.), A Companion toNietzsche, Oxford / Malden 2006, S. 250269 auf.

  • dem Markt begegnet, keineswegs Glubige, die zum ersten Mal vom TodGottes hren, sondern sind ausdrcklich solche, welche nicht an Gottglaubten.Was ihnen fehlt, ist dasBewusstseinderTragweite jenes scheinbarso simplen Faktums Gott ist todt! Gott bleibt todt! (ebd.) Dieses Faktumbedeutet nmlich, dass sie jeder externen Orientierung, wie ihr Leben undwie ihreWelt zu gestalten ist, verlustig gegangen sind.Dass dieses ihr Leben,diese ihreWelt kein Zentrummehr hat, das von sich aus gegeben wre. DiebequemenUnglubigen, die sich auf demMarkt tummeln, haben sich nichtbewusst gemacht, dass die Menschen eine vllig neue Brde auf ihrenSchultern tragen, wenn sie all das auf sich nehmenmssen, was bisher Gottihnen abnahm.DerGott, umden es hier geht, ist gleichermaen die obersteInstanz der jdisch-christlichenOffenbarungsreligion wie die hchste Idee,auf die die rationale Metaphysik des Abendlandes angewiesen war. Wennsich die Menschen beider Gtter entledigen, dann ist der Atheismus dieVerabschiedung Gottes wegen erwiesener Nichtexistenz oder erwiesenerErmordungdurchdasSchwertmetaphysischerRedlichkeit ,dann ist dieserAtheismus der Anfang einer ganz neuen Form von Menschsein. EinesMenschseins nmlich, dem nichts mehr als gesichert gilt, das keine festenWerte mehr hat, sondern sich in vollem Bewusstsein um die Bodenlosigkeitdes Daseins auf dieses Dasein als Experiment mit hchst ungewissemAusgang einlsst.

    Nun ist die Versuchung gro, Nietzsche mit jenem tollenMenschen zuidentifizieren, der die Kunde von der Ermordung Gottes auf den Markttrgt.Aberdieswre ebensovoreiligwie eineGleichsetzungderZarathustra-Figur mit dem Verfasser von Also sprach Zarathustra. Beide sind literarischeKunstfiguren, die weniger zur Verlautbarung philosophischer Wahrheitenbenutzt werden, als vielmehr zu deren Veranschaulichung und Erprobung.Die Erschaffung solcher literarischer Kunstfiguren ist integraler Bestandteilvon Nietzsches Experimentalphilosophie.2 Kunstfiguren, wie Nietzsche sieeinsetzt, sind ideale Handlanger von Experimentalphilosophie in praxi: IhrHandelnund ihrSprechenentbindendenExperimentalphilosophendavon,selber Position beziehen, sich auf irgendeine Ansicht oderDoktrin festlegenzu mssen. Kunstfiguren schaffen Distanz und geben ihrem ErfinderSpielraum, den er als Philosoph weidlich ausnutzt. Nietzsche hat mit derErfindung literarischer Kunstfiguren, die als Agenten aller mglichen An-

    2 Zum Thema siehe V. Gerhardt, Experimental-Philosophie, in: M. Djuric u. J. Si-mon (Hg.), Kunst undWissenschaft bei Nietzsche,Wrzburg 1986, S. 4561, derdie Skepsis als ein wesentliches Verfahrensmoment der Experimental-Philoso-phie beschreibt (ebd., S. 53).

    Andreas Urs Sommer18

  • sichten auftreten unddie Entscheidung, was fr wahr oder wichtig zu haltensei, an den Leser delegieren, eine Form skeptischen Schreibens entwickelt,die ihn als Autor von letzten Stellungnahmen dispensiert. In FW 125 auchvon der Stellungnahme, ob es einen Gott gibt und oder welche Konse-quenzen sein Tod htte.

    Derjenige, der diese Konsequenzen in dieWelt hinausposaunt, ist nichtallein durch das Attribut der Tollheit deutlich vom Verfasser der FrhlichenWissenschaftdistanziert. InAbschnitt 125diesesBucheswirddieGeschichtevom tollen Menschen und seiner Gottestod- und Gottesmord-Verkndi-gung so erzhlt, als ob es sich um eine Episode aus vergangenen Tagenhandelte, die man vielleicht schon bei Diogenes Laertius nachlesen knnte.Das Erzhltempus, das diese Historizitt indiziert, ist das Imperfekt whrend im vorangehenden Abschnitt 124, wo die hufig das Wort fh-renden Wir davon sprechen, sie htten das Land verlassen und seien zuSchiff gegangen, das Perfekt keinen historisierenden Leser-Blick evoziert.Eine weitere historische Distanzierung findet dadurch statt, dass die Ge-schichte nicht einfach erzhlt wird, sondern die Leser zunchst unmittelbarangesprochen werden: Habt ihr nicht von jenem tollenMenschen gehrt,der am hellen Vormittage eine Laterne anzndete [] (FW 125). Diesmindert alles nicht die Wucht der Anfragen, mit denen der tolle Menschseine Zuhrer und Nietzsche seine Leser konfrontiert.

    Die Parole Gott ist todt taucht in Abschnitt 125 nicht zum erstenMalauf. Abschnitt 108 der FrhlichenWissenschaft, der das dritte Buch einleitet,in dessen Zentrum Abschnitt 125 steht, lautet:

    Neue Kmpfe . NachdemBuddhatodtwar, zeigtemannochJahrhundertelang seinen Schatten in einer Hhle, einen ungeheuren schauerlichenSchatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleichtnoch Jahrtausende lang Hhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. Und wir wir mssen auch noch seinen Schatten besiegen! (FW 108)

    Hier entbindet keine literarische oder historische Figur den Philosophendavon, selbst eine Ansicht kundzutun. Zwar ist die Diagnose vom TodGottes einmal mehr eingebettet in einen historischen Kontext, nmlich alsAnalogie zu einer Erzhlung berBuddha. Aber dieDiagnose selbst ist nichtBestandteil dieser Erzhlung. Sie formuliert vielmehr ein Programm, undzwar das Programm, nach der Vernichtung Gottes seinen Schatten zu ver-nichten.Aufgegeben istdiesdenWir,diedenAutor ebenso einzubegreifenscheinen wie die Leser, zumindest die wenigen auserwhlten Leser, denenVerstndnis zuzutrauen ist. Mit diesen Wir stiehlt sich der Experimen-talphilosophfreilich schonwiederausderVerantwortung fr seinSchreiben:

    Gott Nihilismus Skepsis 19

  • Manmag zwar sagen, er sei als Ich (das kommt hier nicht vor)mit von derPartie, wenn die Wir sich zu groen Taten aufraffen. Aber ist es so sicher,dassdas IchdesHerrnNietzschedieRichtungangibt,wohindie Wirsichwenden?DieDiagnosevomGottestodselbst istkeinemSubjektzugeordnet;niemand bernimmt fr sie die Verantwortung. In jedem normalen Stckphilosophischer Prosa wrde man darin ganz einfach die Autorenmeinungzu erkennen glauben; im Falle einer Nietzsche-Schrift, die alle Kunstgriffezur Verschleierung allflliger wahrer Ansichten ihres Verfassers virtuos an-wendet, ist grere Vorsicht geboten. Ich schlage daher vor, die Diagnosevom Tod Gottes nicht als Nietzsches dogmatische Verlautbarung zu ver-stehen, sondern als eine experimentalphilosophische Hypothese, aus dereinige weitreichende Folgerungen gezogen werden knnen.

    Die Metapher vom Schatten Gottes lsst sich in Beziehung setzen zudem, was der tolle Mensch in Gestalt mehr oder weniger deliberativ-rhe-torischer Fragen an Konsequenzen des Gottesmordes aufzhlt: Wenn wirGott eliminieren, bedeutet das nicht nur im Hinblick auf die monotheis-tischen Offenbarungsreligionen im engeren Sinn, sondern fr die lebens-weltliche Orientierung im Allgemeinen, dass die Menschen nun vllig aufsich selbst gestellt sind. Der Schatten Gottes, auch wenn wir wie die Men-schenaufdemMarktnichtmehranGottesExistenzglauben,dieser SchattenGottes besteht fort, solange wir an einer Moral festhalten, die zumindestversteckt noch immer ein Gottespostulat bentigt. Wobei Moral hier dasumfassende System von Wertungen und Frwahrhalten meint, in dasMenschen als sozialisierte Wesen notwendig eingebunden sind. DiesesSystem ist der SchattenGottes unddieses System ist es, was zwar den aktivenGlauben anGott noch einige Zeit, noch Jahrhunderte, berdauern kann,aber zumindest aus der Perspektive des tollenMenschen endlich einstrzenmuss. Kster hat zurecht vorgeschlagen,3 dieDiagnose vomTodGottes unddie daraus fr den Menschen folgende unausweichliche Ntigung derGre in Verbindung mit jenem starken Willen zu sehen, den eineNachlassnotiz vomFrhjahr 1884 als heuristisches Principaufbietet ; umzu sehen, wie weit man damit kommt (KSA 11, 25[307]).

    In einem Die ewige Wiederkunft genannten Werkentwurf aus demNachlass von 1885/86 wird unter dem Abschnitttitel Gottes Todtenfesteine Peststadtgeschildert, indieZarathustra alsoNietzschesKunstgestalt hineinzugehen wage, und wo ihm alle Arten des Pessimismus begeg-neten: Die Sucht zumAnders, die Sucht zumNein, endlich die Sucht zum

    3 P. Kster, Gott, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben Werk Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 245248, hier S. 247.

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  • Nichts folgen sich. (N 1885/86, KSA 12, 2[129]). Zarathustra habe nuneine Erklrung fr dieses gespenstische Treiben parat. Sie lautet: Gottist todt, dies ist die Ursache der grten Gefahr: wie? sie knnte auch dieUrsache des grtenMuths sein! (Ebd.)Zarathustra zufolge lassen sich alsoganz unterschiedliche, ja kontradiktorische Konsequenzen aus dem Be-wusstwerden des Gottestodes ziehen: Es kann den lebensverneinendenPessimismus ebenso bewirken wie grten, soll wohl heien: lebensbeja-hendenMut. Nietzsches Analyse von Geschichte und Gegenwart mit Hilfedes Nihilismus-Begriffes ist nichts anderes als eine Analyse der weltge-schichtlichen Reaktionen auf den Tod Gottes.4

    Und genau hierin liegt das Problem der Gottestod-Diagnose: Sie ist zumaldann,wennsie einer literarischenKunstfigur indenMundgelegtwirdprinzipiell deutungsoffenund lsst einen zugroenSpielraum frdenFall,dass man mit ihr politische Absichten verfolgt. Nimmt man den Tod jenesunterbestimmten, artikellosen Gottes ernst, hngen die Folgerungen un-mittelbar von dem ab, was man in Gott hineinprojiziert hat, was seineFunktionen waren, undwas nun also eliminiert worden ist beziehungsweiseneu konfiguriert werden muss. Hat man in Gott den Inbegriff des Lebens,die Quelle aller Freude gesehen, welkt mit seinem Tod leicht alle Freudedahin und alles Hoffen erstirbt im Eisstrom des Nihilismus. Hat man Gotthingegen als ins Kosmische bersteigerten, orientalischen Stammesgott-Despoten verdchtigt, wird man die Zeit nach seinem Tod als Eintreten ineine fast knstlich-paradiesische Idylle der Selbstverantwortlichkeit emp-finden. Wem Gott als Garant und Schlussstein der physikalischen undmoralischen Ordnung erschienen ist, wird nach seinem Hinscheiden miteiner chaotischen Welt konfrontiert, whrend derjenige, dem Gott alsGegenprinzip zu einem blo kausalmechanisch sich abspulenden Weltge-triebe gegolten hat, sich nach Eintritt des gttlichen Exitus mit der Trost-losigkeit dieser rein kausalmechanischen Ordnung abfinden muss. Und sofort. Was uns der Tod Gottes angeht, hngt mit anderen Worten davon ab,welcheFunktiondieserGottunddie auf ihngrndendenWertvorstellungenfr uns gehabt haben. Und dass diese Funktionen selbst innerhalb desabendlndisch-monotheistischen Kulturkreises keineswegs immer diesel-ben gewesen sind, drfte Nietzsche kaum verborgen geblieben sein.

    Die Parole vom Tod Gottes erlaubt also keinen prospektiven Indukti-onsschluss darauf, wie die Reaktionen jener Menschen beschaffen sein

    4 Vgl. z. B. E. Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus,Berlin / New York 1992 und dies. , Nihilismus, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben Werk Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 293302.

    Gott Nihilismus Skepsis 21

  • werden, die davon erfahren. Das zeigt schon der prekre Erfolg der Got-testod-Verkndigung durch den tollen Menschen. Retrospektiv kann manhingegen alle mglichen geschichtlichen Ereignisse und mentalitren Er-scheinungen wie Nietzsche es eben bei Pessimismus und Nihilismus tut mit dem Tod Gottes erklren. Aber damit lsst sich keine Groe Politikbestreiten, die Nietzsche zumindest mit manchen der Rollen, in die erschlpft im Sptwerk zum Programm erhoben hat.5

    II. Nihilismus und Skepsis

    Nihilismus ist fr Nietzsche ein Epochenphnomen mit langer Vorge-schichte, dem er sich selbst einerseits zurechnet, gegen das er andererseitsseine eigene Philosophie profilieren mchte. Nihilismus erscheint ihm alsdcadence-Symptom, als krankhafter Verlust von Weltvertrauen im wei-testenSinne.Skepsis,diebeiNietzschehufigpositivkonnotiert ist (z. B.AC54), drfte eine probeweise Suspension des Weltvertrauens implizieren,ohne freilich notwendig zu amoralischen, immoralistischen oder hyper-moralischen Konsequenzen fhren zu mssen, die fr den Nihilismuskennzeichend sind: Der von der Skepsis gebte Erkenntnisverzicht musskeine Verneinung der moralischen Ordnung oder des Sinns der Welt im-plizieren. Aber er vergleichgltigt sie.

    Obwohl Nietzsche zeitweilig einen bestimmten Typ der ,schwachenSkepsis fr ein gegenwartsspezifisches Dekadenzphnomen hlt (JGB208),6 das nihilistischeTendenzen der zeitgenssischenPhilosophie anzeigt,wird Skepsis trotz der sonstigen Tendenz zur Physiologisierung geistigerErscheinungen in Nietzsches Schriften und Nachlass hufig als eine ab-strakte erkenntnistheoretische Position, nur selten als Ausdruck spezifischerphysiologisch-psychologischer Gegebenheiten behandelt. Skepsis undskeptische Fragen werden dann im Sinne der Tradition als Fragen der phi-losophischen Theoriebildung errtert, wogegen Nihilismus keine Fragender Theorie, sondern der Lebenspraxis und des lebenspraktischen Orien-tierungsverlustes betrifft. Skepsis undNihilismus sind beiNietzsche also auf

    5 Dazu eindringlich H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche. 2., ver-besserte und vermehrte Aufl. , Berlin / New York 1999, S. 239292.

    6 Dazu ausfhrlich A. U. Sommer, Skeptisches Europa? Einige Bemerkungen zumSechstenHauptstck:wirGelehrten (FriedrichNietzsche, Jenseits vonGut undBse,Aphorismen 204213), in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesell-schaft, Bd. 14: Nietzsche und Europa Nietzsche in Europa, Berlin 2007, S. 6778.

    Andreas Urs Sommer22

  • unterschiedlichenEbenen angesiedelt ; dennoch berhren sie sich darin,wassie bewusst oder unbewusst zum Ausdruck bringen, nmlich das Ende derWahrheit, das fr den Nihilismus auch ein Ende der Werte ist.

    Das bei Nietzsche vielfach variierte Thema des Todes Gottes macht dieReflexion ber denNihilismus erst mglich. Erst wenn der Glaube an Gottals oberstemWert liquidiert ist, verliert die althergebrachte WerthierarchieihrenHalt, undman kann dieWelt insgesamt nur noch unter der Prambeldes schieren Umsonst sehen. Andererseits ist das Christentum Nietzschezufolge selber schon nihilistisch, insofern es die gegebene Welt zugunsteneiner Hinterwelt zu eskamotieren trachte und einen Wille[n] zum Ende,einen nihilistische[n] Wille[n] (AC 9) kultiviere. Seine asketischen Pr-ferenzen machen das Christentum ohnehin nihilismusverdchtig (GM III26). Nihilist undChrist : das reimt sich, das reimt sich nicht bloss (AC58).

    Nihilismus ist in erster Linie eine Frage der Moral(entwertung) undnicht der Erkenntnistheorie. Er erscheint als Folge der moralischen Welt-Auslegung7; der bergang von Pessimismus zum Nihilismus wird alsEntnatrlichung der Werthe (N 1887, KSA 12, 9[107]) beschrieben:DieWerte beginnen, sich verurtheilendgegendasThun (ebd.) zuwenden,eine ideale Gegenwelt zu entwerfen, die schlielich auch verworfen wird.Wasbleibt, sind die r ichtenden Werthe, die janoch immerdieWertedesextremen Nihilismus sind, mit denen sich Nietzsche als Immoralist iden-tifiziert. Diese Konstellation, wo die Schwachen an den richtendenWertenzerbrechen, die Strksten sie aber berwinden, ergebe das tragischeZeitalter (ebd.). Diese Strksten huldigten gerade nicht mehr demMitleiden als Praxis des Nihilismus (AC 7), die nach GM, Vorrede 5 zueinem Europer-Buddhismus fhrt. Darin zeige sich, dass [j]ede reinmoralische Werthsetzung im Nihilismus ende (N 1887, KSA 12, 7[64]).Was nundagegen aufgebotenwerden soll, ist eine demextremenNihilismusentspringende Gegenbewegung, die sich als Umwerthung aller Werthemanifestiert. Der bermensch erscheint dann als Gegentypus zu ,gutenMenschen, zu Christen und andern Nihilisten (EH, Warum ich so guteBcher schreibe 1).

    An einigen Stellen im Nachlass wird die Wiederkunftslehre zum di-rekten Gegenstck des Nihilismus.8 Das ,Lenzerheide-Fragment9 fhrtdiese Idee breit aus und verwandelt die Wiederkunftslehre in einen AktGroer Politik, womit die Lehre auf ihren politisch-instrumentellen Wert

    7 N 1886/87, KSA 12, 7[43]; vgl. 1886/87, KSA 12, 7[8], S. 292.8 N 1888, KSA 13, 16[51]; vgl. KSA 13, 14[169].9 N 1887, KSA 12, 5[71], S. 211217, KGW IX/3: N VII 3, S. 1324.

    Gott Nihilismus Skepsis 23

  • beschrnkt wird und aufhrt, Nietzsches Denken als solches zu struktu-rieren. Daher spielt sie im Sptwerk, z. B. im Antichrist, kaum mehr einetragende Rolle. Zuerst diskutiert das ,Lenzerheide-Fragment die Vorteileder christlichen Moralhypothese, die aber von der aus dieser Moral selbsterwachsendenWahrhaftigkeit zersetzt worden sei.Nun erweise sichGott alseine viel zu extreme Hypothese (N 1887, KSA 12, 5[71], S. 212) gegenden Nihilismus; stattdessen tauche die umgekehrte, ebenso extreme Hy-pothese auf, alles sei sinnlos, wodurch alle Werte, ja, die bloe Mglichkeitvon Werten in Zweifel gezogen wrden. Im 6. Abschnitt tritt die ewigeWiederkehr auf als extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das,Sinnlose) ewig! (ebd., S. 213), nmlich alles ewig wiederkehrend, ohneSinn und Ziel. Die EwigeWiederkunft wird also als eine in ihrer Funktionund Extremheit der Gotteshypothese quivalente Hypothese eingefhrt und drfte ebenso die Wahrhaftigkeit gegen sich haben wie letztere. DerGedankengang fhrt nun zurck auf die Funktion der bisherigenMoral, diedarin lag, denunterdrcktenMenschengegendieHerrschenden zur Seite zustehen, nmlich gegen deren Wil len zur Macht. Die Unterdrcktenfielen in vollstndigsteVerzweiflung,wenn sie das RechtzurmoralischenVerachtung des Willens zur Macht (ebd., S. 215) verlieren. Aber mit derMoral habe sich gerade dieses Recht erledigt ; und jetzt wird von einemnichtnher bestimmten Standpunkt aus dekretiert : Es giebt nichts am Leben,wasWerth hat, ausser demGrade derMacht gesetzt eben, dass Leben selbstder Wille zur Macht ist. Die Unterdrckten wrden damit ihren Trostverlieren und zugrunde gehen, indem sie sich selber zugrunde richten. Soerschiene Nihilismus dann als Symptom davon, dass die Schlechtwegge-kommenen keinen Trost mehr haben (ebd., S. 216) und selber nach derRealisierung ihresMachtwillens streben.Diese Schlechtweggekommenenwerden sehr entschieden nicht politisch, sondern physiologisch be-stimmt; hier kehrt auch das Motiv der Wiederkunft wieder: Die unge-sundeste ArtMensch in Europa [] ist der Boden dies Nihilismus: sie wirdden Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, vondem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurckscheut (ebd.). Indiesem Kampf sind also sowohl der Wille zur Macht wie die Ewige Wie-derkunft als Katalysatoren eingesetzt, um eine neue Rangordnung derKrf te , vom Gesichtspunkte der Gesundheit aus zu etablieren (N 1887,KSA 12, 5[71], S. 217). Dafr sind die beiden ,Lehren keine letzten phi-losophischen Einsichten mehr.10 Die Strksten htten keine extremen

    10 Darauf hat Werner Stegmaier wiederholt hingewiesen, vgl. z. B. W. Stegmaier,Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien 29, 2000, S. 4169.

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  • Glaubensstze nthig also weder Gott noch Wiederkunft. So bleibt alsSchlusssatz nur noch die beinahe ironische Frage: Wie dchte ein solcherMensch an die ewigeWiederkunft? (Ebd.) Sie ist fr ihn womglich ohneRelevanz. Ebensowenig wie die Experimental-Philosophie bei der nihi-listischenNegation stehenbleibt (N1888,KSA13,16[32]),wirdsie sichmit,Lehrenwie EwigeWiederkunft oderWille zurMacht dauerhaft aufhalten.Die Strksten, die nach 5[71] (KSA 12, S. 217) zugleich die Mssigstensind, verspren offenbar eine starke Neigung zu skeptischen Vorbehalten.Die lsst auch die Nihilismusdiagnose, zumal in ihrer universalisiertenForm, nicht unbehelligt: pathologisch ist die ungeheure Verallgemeine-rung, der Schlu auf gar keinen Sinn (N 1887, KSA 12, 9[35]). Nicht nurderNihilismus ist ein negativerDogmatismus, sondernwomglich auchdieBehauptung, dass der Nihilismus unausweichlich und allgegenwrtig sei.

    WhrendNietzsche berNihilismus als Entwertung der oberstenWerteerst im Sptwerk ausgiebig spricht, ist Skepsis ein Thema, das in seinemgesamtenSchaffenprsent ist.Nietzscheverwahrt sichmehrundmehrgegeneinen Skeptizismus der Bequemlichkeit, der mit Mdigkeit und Mattwer-den identifiziert wird.11 Das Neue der eigenen Stellung wird damit ge-kennzeichnet, dass wir die Wahrheit nicht haben, whrend frherselbst die Skeptiker den Besitz vonWahrheit fr sich reklamiert htten.12

    Gerade im Hinblick auf jegliche Erfahrung bleibe Skepsis unerlsslich (N1881, KSA 9, 11[293]), mag sich der Skeptiker mitunter auch in ausge-lassener Schwrmerei Erholung gnnen (N 1880/81, KSA 9, 10[F101]).Welcher Form von Skeptizismus Nietzsche sich in seiner mittleren Schaf-fensphase verschreibt, legt eine Notiz von 1880 offen: Skepticismus! Ja,aber ein Scept ic ismus der Exper imente ! nicht die Trgheit der Ver-zweiflung13.Wenn in einerNotiz zumdrittenTeil desZarathustra Skepsisals Versuchung gilt (N 1883, KSA 10, 16[83]), wird in der unmittelbarfolgendenNotizdasLeben selbst als Versuchverstanden; dasGlck liegeim Errathen oder Versuchen (Scepsis) (N 1883, KSA 10, 16[84]): Skepsisals realisierte Eudaimonie! Die Feststellung, dass die Dinge unerkennbarseien, hat nach einer Aufzeichnung vom Winter 1882/83 eine therapeuti-sche Komponente, die auch fr den antiken Skeptizismus wesentlich war:Verzweiflung durch Skepsis beseitigt, wodurch sich das sprechende Ichdas Recht erworben habe, zu schaf fen (KSA 10, 6[1]). Diese ber-legungen kulminieren in FW51: Ich lobemir eine jede Skepsis, auf welche

    11 An Heinrich Romundt, 15. April 1876, KSB 5, 153.12 N 1880, KSA 9, 3[19]; vgl. auch KSA 9, 7[78].13 N 1880, KSA 9, 6[356]; vgl. KSA 9, 6[442].

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  • mir erlaubt ist zu antworten: ,Versuchen wirs ! Gegen skeptische[.] Be-liebigkeitwill sichNietzschedennochwappnen;dieneuerworbeneFreiheitvon der Tyrannei der ,ewigen Begriffe solle dazu bringen, die Begriffe alsVersuche zu betrachten, mit Hlfe deren bestimmte Arten von Menschengezchtet werden knnen (N 1885, KSA 11, 35[36]). Dies wird wohlinsbesondere von Nietzsches eigenen neuen Begriffen Wille zur Machtund Ewige Wiederkunft des Gleichen gelten. Nietzsches experimentelleSkepsis luft auf das Vermgen hinaus, sein Fr und Wider in derGewalt zu haben und aus- und einzuhngen: so dass man sich gerade dieVerschiedenhei t der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen frdie Erkenntniss nutzbar zu machen weiss (GM III 12). Die experimentellradikalisierte Skepsis zieht etwa die Konsequenz nach sich, die Unter-scheidung von Erscheinung und Ding an sich aufzugeben, weil noch dieseUnterscheidung ein Wissen suggeriert, das wir nicht haben knnen (N1886/87, KSA 12, 6[23]). Der perspektivische Charakter des Daseins seiunaufhebbar, ebensowenig sei die Mglichkeit abzuweisen, dass die Weltunendl iche Interpretat ionen in sich schl iesst (FW 374). Diesbedeutet zwar nicht die Leugnung von Erkenntnis berhaupt, aber doch dieunhintergehbarePerspektivitt undSituativitt allerErkenntnis.WennmanNietzsches experimentelle Skepsis ernst nimmt, wird man auch dasscheinbar dogmatische Sptwerk, insbesondere den Antichrist als Ausdruckeiner skeptischenStrategie lesen, nmlichbestimmte Interpretationengegenandere durchzusetzen. In AC 54 wird dieses Verfahren ausdrcklich re-flektiert. Zweifellos hat sich die experimentelle Skepsis des sptenNietzscheweit von der pyrrhoneischen Doktrin der Urteilsenthaltung entfernt.14

    Nietzsches Texte aus den letzten Schaffensjahren setzen gerade durch un-entwegtes Urteilen skeptische Neutralisierungen ins Werk, die sich dannergeben, wenn man die Urteile mit den befehdeten Urteilstypen (z. B. denchristlichen) kontrastiert.

    WennSkepsisWahrheitbezweifelt, steht sienaturgemmitReligionalseiner Institution gesellschaftlicher Wahrheitsverwaltung auf gespanntemFu.Gerade eine skeptische Einsicht ist es, dieGott, zumal den christlichenGott, eliminiert hat. Als erkenntnisstheoretische Skepsis sei die neuerePhilosophie antichr ist l ich, wiewohl keineswegs antireligis (JGB54). Als Reprsentanten einer achtenswerten Skepsis erscheinen nichtFachphilosophen, sondern beispielsweise Politiker wie Friedrich der Groe(JGB209)oderPilatus (AC46),der imAntichristdiegeheimeGegenfigur zu

    14 R.Bett,NietzscheontheSkeptics andNietzscheasSkeptic, in:Archiv frGeschichteder Philosophie 82, 2000, S. 6286, hier S. 81.

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  • PaulusundzuJesusdarstellt. Jesushnelt inderantichristlichenPsychologiedes Erlsers (AC28) brigens nicht nur Epikur (AC30), sondern durchausauchPyrrhon,wie er imNachlass1888 imAnschluss anVictorBrochardsLessceptiques grecs geschildert und in nahe Beziehung zu Epikur gebracht wird(KSA 13, 14[99], S. 276278). Jesus undPyrrhon gebrden sich auf ihremHeimatboden alsBuddha (Jesus:AC32;Pyrrhon:KSA13,14[162]); beidegeben um ihres Glckes willen al le[ . ] Grenzen und Distanzen imGefhl (AC 30) ebenso auf wie alles Urteilen und Verneinen. In beidenFllen fhrt Nietzsche das auf spezifische, durchaus krankhafte physiolo-gische Bedingungen zurck; seine eigene experimentelle Skepsis des Ver-neinens und Urteilens hebt sich in den Sptschriften umso schrfer vondiesen Modellen ab. Fr alle drei gilt indessen, was Nietzsche bei BrochardberPyrrhon lesenkonnte: Lescepticismenestpaspour luiune fin;cestunmoyen; il le traverse sans sy arrter.15

    Skepsis bleibt fr Nietzsche beileibe keine erkenntnistheoretischebung. Das moralgenealogische Konzept ist zutiefst von skeptischen Vor-aussetzungen geprgt,16 wobei im Gegenzug die Moral an den SkeptikernAnsto nimmt (MA II VM 71). Skepsis an der Moral gilt Nietzsche alsentscheidendeEntstehungsbedingungdesNihilismus (N1885/86,KSA12,2[126]). Andernorts rckt ins Blickfeld, dass die moralischen Skeptiker gutberaten wren, ihr Misstrauen gegen die Moral selbst wiederum miss-trauischerSkepsis zuunterwerfen(N1882,KSA10,3[1]120,S. 67 f.),denndie Skeptiker, die dieMoral zurDisposition stellen, vergen zu leicht, wieviel moralische Werthschtzung sie in ihrer Skepsis tragen (N 1885, KSA11, 34[193]). Scepsis derMoral knnte gar ein Widerspruch sein, dennsobald der Skeptiker nicht mehr an dieWahrheit glaubt, entfalle der Grundseines Zweifels, auer der Wil le zum Wissen habe noch eine ganzandere Wurzel [] als die Wahrhaf t igkeit (N 1885, KSA 11,35[5]). Folgerichtig mutmat Nietzsche 1885/86, keine Skepsis sei ohneHintergedankenentstandenunddieserHintergedanke seibislangstets einmoralischer gewesen (N 1885/86, KSA 12, 2[161]). Die Auseinanderset-zung mit den antiken Skeptikern 1888 kommt zu keinen grundlegendanderen Ergebnissen: Auch bei ihnen sei die Moral oberster Werth gewe-sen.17 Die Pyrrhoneer unterwerfen nach Nietzsche sogar ihre Epoch demHerdeninstinkt, leben wie der ,gemeine Mann (N 1888, KSA 13,14[107]).Gerade gegen solcheUnterordnung hegt die neue, experimentelle

    15 V. Brochard, Les sceptiques grecs [1887]. Zweite Aufl. , Paris 1932, S. 75.16 Vgl. z. B. N 1880, KSA 9, 4[37]; GM, Vorrede 5.17 N 1888, KSA 13, 14[135] und 14[137].

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  • Skepsis die entschiedenste Abneigung: Sie will Differenzen schaffen stattabbauen. Im Sieg der Skepsis gegen die Moral als Vorurtheil liegt sowomglich einmorgenrthliches Glck verborgen (N 1886/87, KSA 12,5[28]).Das findet sich freilich nur inmhsamerArbeit: Man soll dasReichderMoralitt Schritt fr Schritt verkleinern und eingrenzen (N1887,KSA12, 10[45]).

    So wie die moralische Skepsis eine entscheidende Entstehungsbedin-gung des Nihilismus ist, gehrt sie auch zu Nietzsches sptem Projekt einerUmwertung aller Werte, die er schlielich im Antichrist vollzogen zu habenglaubte. Diese Umwertung hat die Entwertung aller bisherigen Werte unddamit den Nihilismus zur Voraussetzung.18 Freilich kann die Umwertung,wenn sie nicht blo eine neue Form von Heteronomie herbeifhren will,unmglich auf einen Kanon neuer Werte herauslaufen, denen die Indivi-duen genauso zu gehorchen htten wie den alten. Dann wre die Freiheitzum Werteschaffen, die Nietzsche den starken Individuen gerade einge-rumt wissen will, erneut unterbunden. Umwertung aller Werte und in-sofern ist Der Antichrist tatschlich die vollzogene Umwertung bestehtgenau darin, diese Freirume zur Selbst- und Weltgestaltung zu schaffen,indem alle bisherigen Wertgegenstze durch Diaphonien neutralisiertwerden. Dies wiederum zwingt jeden einzelnen in seiner Lebens- undWeltgestaltung, statt sichwie diePyrrhoneer insHergebrachte einzuordnen,unhintergehbar eigene, unhintergehbar situative und unhintergehbar per-spektivische Entscheidungen zu treffen. Die Ephexis in AC 52 ist einphilologisches Prinzip,19 keine Perspektiven zu verabsolutieren, aber keinepyrrhoneische Suspension der eigenen Entscheidung: Die Epoch wird inNietzsches experimenteller Skepsis suspendiert.20 Insofern sind amEnde diePhilosophen sowohl Skeptiker wie Befehlende und Gesetzgeber(JGB 211), die sagen, wie es fr sie sein soll.

    DieGrenzen zwischen Skepsis undNihilismus sind hufig flieend. ImFrhwerk, als Nietzsche die Nihilismus-Formel noch nicht zur Verfgungstand, werden unter der Rubrik Skepsis gelegentlich Phnomene subsu-miert, die spter alsnihilistischgelten (z. B.HL8).SkeptischeAnklnge sindspter sowohl bei Bezugnahmen auf einen Nihilismus unberhrbar, von

    18 Vgl. L. P. Thiele, FriedrichNietzsche and the Politics of the Soul. A Study of HeroicIndividualism, Princeton NJ 1990, S. 79.

    19 Vgl. C. Benne,Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin / NewYork2005.

    20 Vgl. D. Obstoj, Skepsis bei Nietzsche, Diss. phil. Universitt Hannover 1985.

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  • demsichNietzsche entschieden abwendet,21wiebeiBezugnahmenauf einenNihilismus, den Nietzsche scheinbar fr sich reklamiert.22 Die extremsteForm des Nihilism, die nach einer weiteren Nachlassnotiz eine gtt-l iche Denkweise sein knnte (1887, KSA 12, 9[41]), kommt in ihrerStrategie, smtliche Formen des Frwahrhaltens zu neutralisieren, mit derantichristlichen Skepsis zur Konvergenz.

    Whrend der Nihilismus wie der Skeptizismus als historische Erschei-nungen auf der dcadence grnden und Symptome niedergehenden Lebensdarstellen, sind extremer Nihilismus und experimentelle Skepsis zwei ver-schiedene Namen fr jene Strategie, die Nietzsche in seinen letzten Schaf-fensjahren einschlgt, um eine Umwertung aller Werte zu vollziehen. ImVerhltnis zu dieser Umwertung erscheinen die vermeintlichen ,Haupt-lehren Wille zurMachtund EwigeWiederkunft desGleichennurmehrals Mittel, nicht als Zwecke. Extremer Nihilismus und experimentelleSkepsis sind Praktiken radikaler Distanznahme zu allem bisher GeglaubtenundGltigen; dieUnfhigkeit zurDistanz, die die historischen Formen vonNihilismus und Skepsis kennzeichnen, sollen hier berwundenwerden.Diegeschichtsphilosophische Nihilismus-Diagnose ist dann keine Nietzsche-scheGlaubenslehre, keine starke Proposition einer verkapptenMetaphysik,sondern selbst ein Strategem jener Skepsis, die zur Macht will, und zwarzugunsten individuell verantworteter Wert- und Welterschaffung.

    Zusammengefasst : Die dem tollen Menschen in den Mund gelegteGottestod-Diagnose ist ein Symptom, das Nietzsche einer umfassendenKulturdiagnose zugrunde legt. Diese Kulturdiagnose firmiert unter demNamen Nihilismus. Was Nietzsche im Sptwerk als Skepsis, zumal alsexperimentelle Skepsis fasst, istdemgegenberkeineDiagnose, sonderneineTherapie. Freilich nur eine mgliche unter anderen Therapien.

    21 Zum Beispiel GM III 24; N 1888, KSA 13, 14[74].22 N 1888, KSA 13, 14[24]; N 1888, KSA 13, 17[3]3.

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  • Gottestod Nihilismus Melancholie. NietzschesDenkweg als Diagnose und Therapie des Nihilismus

    Edith Dsing

    1. Nietzsches hypothetischer Atheismus und Skizze seinerWissenschaftskritik

    1.1 Atheismus als Notwehrhandlung im Scheitern an der Theodizee

    Der sachliche Gehalt in Nietzsches Formel vom ,TodGottes ist nicht blo,mitHeidegger, von jedemvulgrenAtheismus abzurcken, sondern vonderPosition eines dogmatischen Atheismus berhaupt. So ist es sinnvoll, vonNietzsches u. a. naturwissenschaftlich inspiriertem methodischen Atheismuszu sprechen. Er favorisiert auf freigeistige Art einen Sieg des neuzeitlichenAtheismus, wobei er als guter Kantianer erkenntnistheoretisch um dieUnbeweisbarkeit der Nichtexistenz Gottes wei.

    Den raschen Sieg des wissenschaftlichen Atheismus als gesamteuro-pisches Ereignis bringt Nietzsche in direkte Korrelation zum Niedergangdes Glaubens an den christlichenGott (FW357), den er dramatisch in dasWort vom ,Tode Gottes fasst. Als dessen unausweichliche Folgelast dia-gnostiziert er denNihilismus. In der ihm typisch eigenenMagie des Extremsbestimmt er den Nihilismus als radikalen Umschlag vomGlauben ,Gott istdieWahrheit in dieMeinung ,Alles ist falschoder ,Alles ist nichts. Es ist, alssei eine altbekannte Sonne untergegangen, PlatonsVernunftglaube an dasagathon, ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht (FW 343).Hegel und Nietzsche verhalten sich zueinander, so Eugen Fink prgnantvereinfachend, wie ein alles-begreifendes Ja zu einem alles-bestreitendenNeindemSeienden imGanzen gegenber.1Hegel war es nicht beschieden,fr die evangelische Kirche das zu werden, was Thomas von Aquin fr diekatholische geworden ist.2 InNietzschesAugen istHegel zu attestieren, er sei

    1 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, 3. Aufl. , Stuttgart 1973, S. 7.2 Die Frage von Karl Barth; vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im

    19. Jahrhundert, 3. Aufl. , Zrich 1960, Bd. 1, S. 320.

  • ein Verzgerer par excellence (FW 357) des neuzeitlichen Atheismus, daHegel in grandiosem enzyklopdischem Durchblick das unendliche Ver-trauen in die gttlicheVernunft undVorsehung in derGeschichte verteidigthat. Nietzsche spannt geschichtsphilosophisch einen weiten Bogen: AufHegels gotische Himmelstrmerei durch die Zentralstellung einer Ver-nunft, der die Wahrheit in ihrer ganzen, auf das Absolute, auf Gott hin,transparenten Totalitt zugnglich ist, erfolgt als Gegenschlag ein Sieg derantiteleologischen mechanistischen Denkweise als regulat iver Hypo-these (N 1884, KSA 11, 26[386]), wie er als Pr-Popperianer wohlab-gewogen erklrt und auf den Sieg der Darwinisten zielt. Im Einklang mitKants Kritik der Physiokratie aber bezeichnet er zugleich den Physikalismusals die sinnrmste aller Weltinterpretationen; eine blo mechanische Weltwre eine essentiell s innlose Welt! (FW 373) Das methodische Ja undzugleich ethische Nein zum Mechanismus zeigt die Spannweite vonNietzsches Denken auf.

    Bis heute giltNietzsche als einerder entschiedenstenPropagandistendesmodernen Atheismus. Dabei hat schon Karl Barth in der Kirchlichen Dog-matik3 Nietzsches Selbstdeutung unterstrichen, er kenne und vertrete denAtheismus weder als Ergebnis noch als Ereignis, woraus er zurecht ent-nimmt, dass Nietzsches eigentliches Interesse nicht an Argumenten fr dieBestreitung des Daseins Gottes hing, wohl aber an solchen der Bestreitungeiner moralischen Weltordnung und der Mglichkeit eines reinen gutenWillens. Die Gottesfrage hngt fr Nietzsche eng mit seiner naturphiloso-phischen Sicht und der Theodizeefrage zusammen. Im entwicklungsge-schichtlichen Rckgang von Nietzsches Denkweg wird berraschend klar,dass F. A. Langes im Anschluss anDarwin vollzogene Verabschiedung einerteleologisch verfassten Natur, die den jungen Nietzsche als unbezwinglicheEvidenz berkam, sein Glocken-Grabes-Gelut auf den ,Tod Gottes we-sentlich mit eingelutet hat.4 Die Methode der Natur nmlich ist fr den

    3 Barth:KirchlicheDogmatik III/2:DieLehrevonderSchpfung,2. Teil,2. Auflage,Zrich 1959, S. 284 f.DieEcce-Homo-Stelle (EH,Warum ich so klug bin 4, KSA6,278 f.), auf die Barth anspielt, vertritt wohl einen Atheismus aus Instinkt, in derargumentativen Pointe jedoch aufgrund einer Anti-Theodizee. Die einzige Ent-schuldigung Go