Der Tod im Kasino: Ein Fall für Philo Vance. Kriminalroman aus New York.

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Kriminalroman aus New York Philo Vance erhält einen merkwürdigen Brief: Der anonyme Schreiber kündigt an, in der wohlhabenden und berühmten New Yorker Familie Llewellyn werde demnächst ein schlimmes Verbrechen geschehen. Der Privatdetektiv soll sich in ein bekanntes Kasino in der Upper West Side begeben. Dort erlebt Vance tatsächlich, wie der junge Lynn Llewellyn zusammenbricht – offenbar nach einem Giftanschlag. Während Llewellyn überlebt, stirbt seine Frau noch in der gleichen Nacht, ebenfalls nach einer Vergiftung. Vance ermittelt – dann passiert ein weiterer Giftmord … Dieser Krimi aus der Philo-Vance-Reihe wurde 1935 erfolgreich verfilmt. Mit dieser Ausgabe bei krimischaetze.de ist die Original-Übersetzung erstmals als E-Book verfügbar.

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S. S. Van Dine

Der Tod im Kasino

Ein Fall für Philo Vance.

Kriminalroman aus New York.

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S. S. Van Dine

Der Tod im Kasino

Ein Fall für Philo

Vance. Kriminalroman aus New York.

(The Casino Murder Case)

Original: Bern; Leipzig; Wien, Goldmann, 1935

Übersetzung: Hans Herdegen

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2014 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-531-3

www.krimischaetze.de

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Inhaltsverzeichnis

Über krimischaetze.de...........................................................6

Über den Autor.........................................................................8

Über den Romanhelden Philo Vance................................10

Über dieses Buch....................................................................13

Handelnde Personen.............................................................14

1. Der anonyme Brief.............................................................16

2. Das Kasino...........................................................................38

3. Die erste Tragödie............................................................56

4. Das Zimmer der toten Frau............................................82

5. Gift!......................................................................................106

6. Ein Schrei in der Nacht...................................................127

7. Noch mehr Gift.................................................................149

8. Der Arzneischrank...........................................................170

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9. Eine schmerzhafte Befragung.......................................187

10. Der Obduktionsbericht................................................199

11. Wasserscheu....................................................................225

12. Vance unternimmt eine Reise....................................244

13. Eine verblüffende Entdeckung..................................260

14. Das weiße Etikett..........................................................282

15. Die Zwei-Uhr-Verabredung.......................................308

16. Die Schlusstragödie.......................................................327

krimischaetze.de..................................................................357

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Über krimischaetze.de

Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Aga-tha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (1875-1932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtig-sten Auszeichnungen für deutschsprachige Krimi-Autoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weima-rer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit je-doch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für kri-mischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller

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neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit er-klärenden Fußnoten versehen.

Das krimischaetze.de-Programm startet zunächst mit sechs Titeln – sowohl Übersetzungen aus dem Englischen (S.S. Van Dine) und Schwedischen (Julius Regis), als auch deutschsprachige Originale: In je zwei Fällen ermitteln Philo Vance, der »amerikanische Sher-lock Holmes«, und Maurice Wallion, der »Detektivre-porter« und »Urvater« von Stieg Larssons »Milleni-um«-Protagonist Mikael Blomqvist. Ebenfalls vertreten sind die vergessenen Werke zweier jüdischer Autoren: Die in Budapest, Paris und San Sebastián spielende Kri-mikomödie »Fräulein Bandit« des Österreichers Joseph Delmont sowie der humorvolle Kriminalroman »Das verschwundene Haus – oder: Der Maharadscha von Breckendorf« des Frankfurters Karl Ettlinger.

In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regel-mäßig weitere Titel erscheinen.

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Über den Autor

Noch heute wird S.S. Van Dine immer wieder gemein-sam mit Autoren wie Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers als Mitbegründer des goldenen Zeitalters des Kriminalromans genannt. William Huntington Wright – so lautet der echte Name des US-Autors – wählte für seine Kriminalromane ein fiktives Ich-Erzähler-Pseud-onym: »Van« ist sein dritter Vorname und nicht mit dem niederländischen Adelsprädikat zu verwechseln, »S.S.« steht für »steamship« (Deutsch: »Dampf-schimpf«).

Wright wurde 1888 in Virginia geboren, wo seine El-tern ein Hotel führten. Er studierte mit mäßigem Er-folg an drei Colleges, unter anderem in Harvard. Da-nach ging er für ein Kunststudium nach München und Paris. Zurück in den USA machte er sich in den 1910er

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Jahren einen Namen als Literatur- und Kunstkritiker für die Los Angeles Times sowie als Redakteur eines Li-teraturmagazins. Außerdem veröffentlichte er ein Fachbuch über Friedrich Nietzsche (»What Nietzsche Taught«, 1915) – ein kommentierter Überblick über alle Werke des deutschen Philosophen – sowie mehrere Kurzgeschichten.

Seine Karriere als Krimi-Autor begann in New York, als er von seinem Arzt eine zweijährige Bettruhe ver-ordnet bekam – offiziell aufgrund von Herzproblemen, tatsächlich in Folge seiner heimlichen Kokainsucht. In dieser Zeit, ab 1923, wühlte er sich intensiv durch das Genre der Kriminal- und Detektivliteratur, die damals in literarischen Zirkeln einen schlechten Ruf hatte. Wright erschuf als Gegenpol seinen aus der reichen und eleganten Gesellschaft stammenden Protagonisten Philo Vance, der schnell zum erfolgreichsten Krimi-Ermittler seiner Zeit avancierte, bis er ab 1939 – dem Jahr in dem Wright verstarb – allmählich von Ray-monds Chandlers Detektiv Philip Marlowe abgelöst wurde.

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Über den Romanhelden Philo Vance

Ein amerikanischer Sherlock Holmes der 1920er und 1930er – bis heute ist Philo Vance immer wieder mit diesem Etikett versehen worden. In der Tat erinnert schon die Erzählweise an Arthur Conan Doyle: In die-sem Fall heißt der Chronist nicht Dr. Watson, sondern S.S. Van Dine (siehe: Über den Autor) – ein guter Freund von Philo Vance und dessen Berater und Pri-vatsekretär.

Philo Vance ist Mitte dreißig, groß und kräftig, scharf geschnittene Gesichtszüge, graue Augen – ein durchaus attraktiver Mann, aber kein Schönling. Zu-weilen wirkt er etwas snobistisch und distanziert. Dazu passen auch die stets tadellose Kleidung, seine private Kunstsammlung sowie exklusive Interessen wie Polo, Hundezucht oder Bogenschießen. Dieser Typ New

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Yorker kann nur aus der oberen Gesellschaftsschicht der Metropole stammen.

Vance hat im britischen Oxford studiert, ist durch eine Erbschaft finanziell unabhängig und wohnt mit seinem Butler Currie in der 38. Straße Ost in einem lu-xuriösen Stadthaus – ein sogenanntes Brownstone mit Dachgarten. Durch seine langjährige Freundschaft mit dem Bezirksstaatsanwalt John Markham wird Philo Vance immer wieder in spannende Kriminalfälle hin-eingezogen. Auch Sergeant Heath, Leiter der Mord-kommission des New York Police Department (NYPD), greift gerne auf den Scharfsinn und die hohe Bildung des Amateurdetektivs zurück. Kriminalfälle als intellek-tuelle Herausforderung: Indizien sammeln, Fakten ana-lysieren – darin ist Philo Vance ähnlich gut wie einige Jahrzehnte vor ihm Sherlock Holmes.

Nach dem durchschlagenden Erfolg der Krimi-Rei-he wurden von 1929 bis 1947 insgesamt fünfzehn Filme mit wechselnden Philo Vance-Darstellern gedreht. Einmal (1930) übernahm auch der Amerikaner Basil Ra-thbone die Rolle, der ein paar Jahre später als Sherlock Holmes-Darsteller weltberühmt werden sollte. Auch

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für das Radio wurden die Philo Vance-Krimis adaptiert, NBC brachte in den 1940er Jahren drei Hörspielserien.

Einige Jahrzehnte später gab es das erste Revival: 1974 wagte das italienische Fernsehen eine filmische Neu-auflage und drehte eine dreiteilige Mini-Serie, 2002 entstand ein tschechischer TV-Film.

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Über dieses Buch

Philo Vance erhält einen merkwürdigen Brief: Der an-onyme Schreiber kündigt an, in der wohlhabenden und berühmten New Yorker Familie Llewellyn werde dem-nächst ein schlimmes Verbrechen geschehen. Der Pri-vatdetektiv soll sich in ein bekanntes Kasino in der Up-per West Side begeben. Dort erlebt Vance tatsächlich, wie der junge Lynn Llewellyn zusammenbricht – offen-bar nach einem Giftanschlag. Während Llewellyn über-lebt, stirbt seine Frau noch in der gleichen Nacht, ebenfalls nach einer Vergiftung. Vance ermittelt – dann passiert ein weiterer Giftmord …

Dieser Krimi aus der Philo-Vance-Reihe wurde 1935 erfolgreich verfilmt. Mit dieser Ausgabe bei krimischaetze.de ist die Original-Übersetzung erstmals als E-Book verfügbar.

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Handelnde Personen

Philo Vance: Privater Ermittler in New York.

S.S. Van Dine: Privatsekretär von Philo Vance und im Hintergrund bleibender Ich-Erzähler. Wird von Philo Vance mit seinem dritten Vornamen »Van« angespro-chen.

John Markham: Bezirksstaatsanwalt von New York.

Sergeant Heath: Leiter der Mordkommission des New York Police Department (NYPD)

Mrs. Anthony Llewellyn: Witwe und Oberhaupt einer wohlhabenden und berühmten New Yorker Familie.

Richard Kinkaid: Ihr Bruder und Besitzer eines stadt-bekannten Kasinos in der Nähe der West End Avenue.

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Lynn Llewellyn: Ihr Sohn, bekannt für seine Spiellei-denschaft.

Amelia Llewellyn: Ihre Tochter, Kunststudentin.

Virginina Llewellyn, geborene Vale: Lynn Llewellyns Ehefrau, ehemalige Operettensängerin.

Morgan Bloodgood: Chefcroupier in Kinkaids Kasino.

Dr. Allan Kane: Freund der Familie Llewellyn

Dr. Rogers: Mediziner

Dr. Hildebrandt: Einer der besten Toxikologen der Vereinigten Staaten.

Dr. Emanuel Doremus: New Yorker Polizeiarzt und Leichenbeschauer

Hennessey, Sniktin, Sullivan, Burke: Detectives des NYPD

Currie: Englischer Butler und Hausmeister von Philo Vance

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1. Der anonyme Brief

(Sonnabend, 15. Oktober, 10:00 Uhr)

iese Geschichte beginnt mit einem Brief, der am Sonnabend, dem 15. Oktober, morgens mit der

Post kam und aus zwei mit Maschine geschriebenen Seiten bestand. Ich betrachtete den Umschlag und sah, dass er in Closter, New Jersey, aufgegeben und am vor-hergehenden Tag gegen zwölf Uhr mittags abgestem-pelt worden war. Vance hatte sich am Freitagabend lange mit seiner Lieblingsarbeit beschäftigt: Er hatte die letzten Funde der mesopotamischen Expedition mit den bisher bekannten sumerischen Töpfereien ver-glichen. Deshalb stand er erst um zehn Uhr auf. Ich wohnte damals bei Vance in der 38. Straße Ost. Eigent-lich war ich sein Rechtsbeistand und Vermögensver-

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walter, aber während der letzten drei Jahre hatte sich meine Stellung zu der eines Generalsekretärs ent-wickelt. »Stellung« ist vielleicht nicht der richtige Aus-druck, denn Vance und ich waren gute Freunde, seit-dem wir zusammen auf der Harvard-Universität stu-diert hatten. Diese Freundschaft veranlasste mich auch, die Verbindung mit der Anwaltsfirma meines Va-ters aufzugeben und mich nur noch den Angelegenhei-ten von Vance zu widmen. Wie gewöhnlich hatte ich an diesem rauen, fast winterlichen Oktobermorgen die Post sortiert, geöffnet und alle Schreiben ausgesucht, die ich allein beantworten konnte. Ich war noch damit beschäftigt, als Vance in die Bibliothek kam. Er nickte mir zu, dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel vor dem offenen Kamin.

An diesem Morgen trug er ein kostbares, altes Man-darinengewand und chinesische Sandalen. Ich sah ihn etwas erstaunt an, denn er erschien nur selten in sol-cher Kleidung zum Frühstück.

Die erste Mahlzeit bestand wie gewöhnlich aus tür-kischem Kaffee, wozu er mehrere Zigaretten rauchte. Als ich dem Butler geklingelt hatte, sagte er: »Sieh mich

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doch nicht so überrascht an, Van, als ob ich das achte Weltwunder wäre. Heute Morgen fühlte ich mich sehr niedergeschlagen, weil ich verschiedene Inschriften und Zeichnungen auf den alten Tonzylindern nicht entziffern konnte. Ich habe schlecht geschlafen und deshalb heute früh dieses Gewand angelegt, in der Hoffnung, dass es mir etwas orientalische Ruhe gibt.«

In dem Augenblick brachte Currie, der alte Butler und Majordomus, den Kaffee herein. Nachdem sich Vance eine Zigarette angesteckt und an der Tasse ge-nippt hatte, sah er müde zu mir herüber.

»Ist etwas Besonderes in der Post?«, fragte er gleichgültig.

Ich war so interessiert an dem seltsamen anonymen Brief, der eben angekommen war, dass ich ihm ohne eine Bemerkung das Schreiben hinüberreichte. Er hob leicht die Augenbrauen und sah auf die rätselhafte Un-terschrift. Nachdem er die Kaffeetasse auf den Tisch gesetzt hatte, las er den Brief langsam durch. Ich beob-achtete ihn dabei und sah einen merkwürdigen Aus-druck in seinen Augen. Sein Erstaunen wuchs, und als

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er das Schreiben bis zu Ende durchgelesen hatte, machte er ein ernstes Gesicht.

Der Brief befindet sich noch in Vances Akten, und wie ich schon berichtete, war er mit der Maschine ge-schrieben, aber der Schreiber hatte wenig Übung, was man an jedem Wort und an jeder Zeile feststellen konnte. Der Inhalt lautete:

»Mein lieber Mr. Vance, ich bitte Sie um Ihre Hilfe, da ich mich in Schwierigkei-ten befinde. Auch im Namen der Gerech-tigkeit und Menschlichkeit wende ich mich an Sie. Ich kenne Ihren Ruf – Sie sind der einzige Mann in New York, der vielleicht in der Lage ist, eine schreckliche Katastrophe zu verhüten, oder, wenn es zu spät dazu sein sollte, den Schuldigen zur Rechenschaft zu zie-hen. Schwarze Schicksalswolken sammeln sich schon seit Jahren über einer Fami-

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lie in New York, und ich weiß, dass der Gewittersturm nun losbrechen wird. Ge-fahr und Unglück liegen in der Luft. Bitte, lassen Sie mich nicht im Stich, auch wenn ich Ihnen ganz fremd bin. Was geschehen wird, weiß ich nicht. Wenn ich es wüsste, würde ich mich selbstver-ständlich an die Polizei wenden. Aber falls sich amtliche Stellen einmischten, würde der Verbrecher gewarnt werden und die beabsichtigte Tat auf später ver-schieben. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen, aber dazu bin ich leider nicht in der Lage. Es ist alles so unge-wiss, aber es herrscht eine unheilvolle Spannung, und es wird sich sicher etwas Schreckliches ereignen. Lassen Sie sich nicht durch den Schein irreführen. Sie müssen in die Tiefe dringen und nicht nach oberflächlichen Eindrücken urtei-

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len. Alle, die in die Sache verwickelt sind, haben einen verbrecherischen, hin-terlistigen und verschlagenen Charakter. Unterschätzen Sie die Beteiligten nicht. Hier folgt alles, was ich Ihnen sagen kann.

Sie haben den jungen Lynn Llewellyn ken-nengelernt, das ist mir bekannt. Wahr-scheinlich haben Sie auch von seiner Heirat erfahren, die vor drei Jahren er-folgte. Seine Frau ist die schöne Ope-rettensängerin Virginia Vale, die sei-netwegen ihre Bühnenlaufbahn aufgab. Lynn und sie wohnen seitdem in dem alten Haus der Familie. Aber die Heirat war ein Fehlschlag; seit drei Jahren sammeln sich Gewitterwolken, und jetzt sind die Verhältnisse zu einer Krise gekommen, eine Katastrophe steht unmittelbar be-

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vor. Außer den Llewellyns sind aber auch noch andere beteiligt.

Einem von ihnen droht schwere Gefahr – ich weiß aber nicht genau, wer es sein mag. Und morgen, am Sonnabend, wird der Sturm losbrechen.

Sie müssen Lynn Llewellyn sorgfältig be-obachten und die Bewachung scharf durch-führen.

Morgen Abend findet ein Essen im Hause Llewellyn statt, bei dem alle Beteilig-ten zugegen sein werden Richard Kinkaid, Morgan Bloodgood, der junge Lynn, seine unglückliche Frau, seine Schwester Ame-lia und seine Mutter, deren Geburtstag bei der Gelegenheit gefeiert werden soll.

Es wird wahrscheinlich schon beim Abendessen Auseinandersetzungen geben,

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aber daran können Sie nichts ändern. Schließlich kommt es auch nicht darauf an. Das Essen ist nur der Beginn, die Katastrophe tritt erst später ein.

Ich weiß bestimmt, dass etwas Furchtba-res geschehen wird. Die Zeit ist reif, und das Unglück lässt sich nicht mehr abwenden.

Nach dem Essen wird Lynn Llewellyn in Kinkaids Kasino gehen, um dort zu spie-len. Das tut er jeden Sonnabend, und ich weiß, dass auch Sie das Kasino mehrmals besucht haben. Ich bitte Sie also, mor-gen Abend dort zu sein, Sie müssen hin-gehen und Lynn Llewellyn scharf überwa-chen. Lassen Sie ihn nicht aus den Au-gen. Beobachten Sie auch Kinkaid und Bloodgood.

Sie wundern sich vielleicht, dass ich selbst nichts in der Angelegenheit un-

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ternehme, aber ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, dass meine Stellung und die näheren Umstände mir das voll-kommen unmöglich machen.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen Genaueres mitteilen, aber alles andere müssen Sie selbst herausfinden.«

Die Unterschrift war ebenfalls mit der Maschine ge-schrieben und lautete: »Einer, den es nahe angeht.« Als Vance den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und streckte behaglich die Beine aus.

»Das ist ja ein sonderbares Schreiben«, meinte er, nachdem er einige Zeit nachdenklich geraucht hatte. »Außerdem vollkommen verlogen. Hier und da will sich der Schreiber durch leere Phrasen einen literarischen Anstrich geben, und ein wenig Theater ist auch dabei. Gelegentlich blickt auch durch, dass es ihm sehr darauf ankommt, mich für die Sache zu interessieren. Die Un-terschrift entspricht ganz dem Inhalt des Briefs. Ja …

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das ist klar. Die Buchstaben sind bedeutend stärker an-geschlagen, als ob der Betreffende eine leidenschaftli-che Aufwallung gehabt hätte. Ich lese etwas Rachsucht aus diesen Zeilen, außerdem eine unnatürliche Angst …« Er schwieg eine Weile. »Ja, Angst«, fuhr er dann fort, als ob er mit sich selbst spräche. »Das geht aus je-der Zeile hervor. Aber warum der Betreffende sich ängstigt? Und um wen sorgt er sich? Um den jungen Lynn, der ziemlich oft zu spielen scheint? … Das mag sein. Und doch …« Wieder verlor sich seine Stimme. Er nahm den Brief auf und überflog ihn noch einmal. Dazu klemmte er das Monokel ins Auge.

»Ein gewöhnlicher Bogen, wie man ihn überall kau-fen kann, und ein glattes Kuvert ohne Futter! Der Schreiber hat dafür gesorgt, dass man ihn nicht mit Hilfe des Briefpapiers entdecken kann. Das ist schade. Ich wünschte nur, der Betreffende hätte gelernt, etwas besser mit der Maschine umzugehen. Die Schrift ist abscheulich. Er macht keine richtigen Zwischenräume; manchmal hat er sich vertippt und die falschen Buch-staben ausgestrichen. Von Abstand oder Einteilung hat er keine Ahnung.«

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Er steckte sich noch eine Zigarette an und trank seine Tasse aus. Dann lehnte er sich in den Stuhl zu-rück und las den Brief zum dritten Mal durch. Selten hatte ich ihn so interessiert gesehen.

»Ich möchte nur wissen, warum er mir diese Ein-zelheiten über die Familie Llewellyn mitteilt«, sagte er schließlich. »Jeder, der nur einigermaßen Bescheid weiß, kennt doch die Verhältnisse im Hause Llewellyn. Die hübsche blonde Operettensängerin war in New York sehr bekannt, und es erregte damals einiges Auf-sehen, dass sie einen jungen Mann der Gesellschaft heiratete. Zuerst protestierte die Mutter heftig dage-gen, aber nachher nahm sie die Schwiegertochter doch in ihr Haus auf. Lynn Llewellyn ist ein gerngesehener Gast in den Nachtklubs. Seine Schwester ist ernster veranlagt, ihr scheint das gesellschaftliche Leben nicht besonders zuzusagen. Sie hat sich dem Kunststudium zugewandt. Das weiß man doch alles. Die Mutter macht viel von sich reden, weil sie im Vorstand aller möglichen wohltätigen Vereinigungen sitzt. Auch der alte Kinkaid, ihr Bruder, ist nicht unbekannt, sehr zum Ärger seiner Schwester. Außerdem ist die Familie so

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reich, dass allein schon deshalb viel über sie gespro-chen wird.« Vance verzog das Gesicht. »Und doch hält es der Schreiber für nötig, mir all diese Einzelheiten mitzuteilen. Warum hat er überhaupt diesen Brief ge-schrieben? Und ausgerechnet an mich? Wozu diese langen Auseinandersetzungen, diese scheußliche Schrift, das billige Papier, die ganze Geheimniskräme-rei? Ich möchte nur wissen …«

Er erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Ich war erstaunt, dass dieser Brief einen solchen Eindruck auf ihn gemacht hatte. So kannte ich ihn sonst nicht. Ich hatte an dem Schreiben nichts Beunruhigendes ge-funden. Es war allerdings etwas außergewöhnlich, aber ich hielt den Absender für einen hysterischen Men-schen. Vielleicht war es auch jemand, der etwas gegen die Familie Llewellyn hatte und ihr Unannehmlichkei-ten bereiten wollte. Vance jedoch musste etwas zwi-schen den Zeilen gelesen haben, was mir entgangen war.

Plötzlich stellte er das Umherwandern ein, ging zum Telefon und sprach mit Bezirksstaatsanwalt Mark-

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ham, den er dringend aufforderte, am Nachmittag in unsere Wohnung zu kommen.

»Es handelt sich wirklich um eine wichtige Angele-genheit. Ich muss Ihnen ein seltsames Schriftstück zei-gen. Also, seien Sie so gut und kommen Sie zu mir.«

Nachdem er eingehängt hatte, saß er lange schwei-gend am Tisch. Schließlich stand er wieder auf und ging zu den Bibliotheksschränken, in denen er seine psychoanalytischen Bücher untergebracht hatte. Er nahm verschiedene Werke von Freud,1 Jung,2 Stekel3 und Ferenczi4 heraus, suchte im Index nach und schlug die Stellen auf, die er brauchte. Er arbeitete etwa eine Stunde lang, dann stellte er die Bände wieder zurück

1 Der Österreicher Sigmund Freud (1856-1939) gilt als Begründer der Psychoanalyse

2 Der Schweizer Carl Gustav Jung (1875-1961) gilt als Begründer der analytischen Psychologie

3 Der Österreicher Wilhelm Stekel (1868-1940) spielte eine wichti-ge Rolle in der frühen Geschichte der Psychoanalyse

4 Der Ungar Sándor Ferenczi (1873-1933) war seinerzeit ein be-deutender Psychoanalytiker

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und holte sich Nachschlagewerke über die Mitglieder der oberen Gesellschaft, zum Beispiel »Who’s Who«, das New Yorker »Social Register« und das »American Biographical Dictionory«. Endlich zuckte er die Schul-tern, und während er ein Gähnen unterdrückte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, auf dem noch die Bil-dertafeln der großen Expeditionswerke lagen.

Der Bezirksstaatsanwalt hatte am Sonnabend nur einen halben Arbeitstag, daher kam er schon kurz nach zwei Uhr zu uns. Inzwischen hatte sich Vance ange-kleidet und zu Mittag gegessen. Er empfing seinen Freund in der Bibliothek.

»Ein trüber Herbsttag«, sagte er melancholisch und bot Markham einen Sessel vor dem Kamin an. »In sol-chen Stunden ist es nicht gut, wenn man allein ist und grübelt. Ich bin furchtbar deprimiert. Draußen ist es rau und kalt, deshalb bin ich zu Haus geblieben. Ich setze mich lieber an den Kamin und schaue in die Flammen. Vielleicht werde ich vor der Zeit alt und fan-ge deshalb jetzt schon an herumzuspinnen. Aber ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind. Wie

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ist es mit einem Kognak Napoleon? Der könnte einen wieder in Ordnung bringen.«

»Ich habe heute keine besonderen Sorgen«, ent-gegnete Markham und betrachtete Vance genau. »Und wenn Sie so ein dummes Zeug reden von frühem Alt-werden, ist das nur ein Zeichen, dass Sie scharf über etwas nachdenken. Jedoch, einen hundertjährigen Ko-gnak Napoleon lehne ich nie ab. Warum haben Sie am Telefon eigentlich so geheimnisvoll getan?«

»Mein lieber Markham – habe ich wirklich geheim-nisvoll getan? Daran ist sicher dieses melancholische Herbstwetter schuld.«

»Werden Sie doch vernünftig, Vance!« Markham wurde allmählich ärgerlich. »Wo ist denn das interes-sante Schriftstück, das Sie mir zeigen wollten?«

»Ach ja – das hätte ich beinahe vergessen.« Vance fasste in die Tasche, nahm den anonymen Brief heraus, den er am Morgen erhalten hatte, und reichte ihn Markham. »So ein Wisch muss ausgerechnet an einem trüben Herbsttag kommen!«

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Markham las das Schreiben gleichgültig durch, dann legte er es auf den Tisch. Es schien keinen beson-deren Eindruck auf ihn gemacht zu haben.

»Was soll damit sein?«, fragte er und versuchte, sei-ne Interesselosigkeit zu verbergen. »Ich hoffe doch, dass Sie einen derartigen Unfug nicht ernst nehmen!« »Das ist weder Unfug, noch nehme ich die Sache auf die leichte Achsel«, seufzte Vance. »Im Gegenteil, ich fühle, dass etwas Merkwürdiges, vielleicht sogar Wich-tiges dahintersteckt. Aus diesem Brief ergeben sich al-lerhand Möglichkeiten.«

»Aber ich bitte Sie, Vance – jeden Tag bekomme ich solche Wische! Wenn wir uns darum kümmern wollten, hätten wir überhaupt nichts anderes mehr zu tun. Vie-le Leute sind nun einmal Querulanten und müssen alle Augenblicke Briefe schreiben, um anderen Menschen das Leben schwerzumachen. Aber das wissen Sie doch ebenso gut wie ich. Außerdem sind Sie ein guter Psy-chologe.«

Vance nickte ungewöhnlich ernst.

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»Ja, ja, ich weiß. Es laufen viele herum, die einen Briefschreibekomplex haben – eine Kombination von Feigheit, Sadismus und Selbstdünkel. Aber ich bin da-von überzeugt, dass der Schreiber dieses Briefes nicht unter die Kategorie fällt.«

Markham schaute auf. »Glauben Sie, dass der Mann es ehrlich meint? Dass es ihm wirklich so nahegeht, und dass er die Verhältnisse so gut kennt?«

»Das will ich gerade nicht behaupten – im Gegen-teil, die Sache liegt tiefer.« Vance betrachtete nach-denklich seine Zigarette. »Wenn der Brief offen und ehrlich gemeint wäre, hätte sich der Schreiber klarer ausgedrückt. Gerade seine vielen Phrasen weisen dar-auf hin, dass er etwas anderes mit dem Brief bezweckt. Die Sache ist mir zu sehr ausgeklügelt, dahinter steckt zu viel Gedankenarbeit … außerdem deutet die Ge-schichte nichts Gutes an. Er hat sich lange überlegt, wie er den Text abfassen soll. Ich glaube, dass sich wirklich eine Katastrophe vorbereitet. Fast habe ich das Gefühl, der Betreffende plant selbst ein Verbre-chen plant und macht sich gleichzeitig darüber lustig. Mir gefällt der Brief nicht …«

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Markham sah Vance überrascht an. Er wollte etwas sagen, aber dann nahm er den Brief wieder auf und las ihn noch einmal, diesmal etwas sorgsamer. Als er fertig war, schüttelte er langsam den Kopf. »Nein«, prote-stierte er. »Das trübe Herbstwetter hat Ihre Gedanken zu sehr beeinflusst. Der Brief ist wahrscheinlich von ei-ner hysterischen Frau geschrieben.«

»Ja, manche Ausdrücke deuten auf einen weiblichen Charakterzug, das habe ich auch bemerkt. Aber der all-gemeine Ton des Schreibens macht mir nicht den Ein-druck, als ob der Briefschreiber unter Halluzinationen litte oder sich das alles nur einbildete.«

Markham machte eine ablehnende Handbewegung. »Kennen Sie eigentlich die Llewellyns persönlich?«, fragte er dann.

»Ich habe Lynn Llewellyn einmal auf einer Gesell-schaft getroffen und bin ihm vorgestellt worden. Spä-ter habe ich ihn mehrmals im Kasino gesehen. Er ist der Typ des verzogenen Lieblingssohnes aus reicher Familie, aber er wird von seiner Mutter in Bezug auf Geld knapp gehalten. Selbstverständlich kenne ich

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auch Kinkaid – alle Leute kennen ihn, nur nicht die Polizei und der Bezirksstaatsanwalt.« Vance sah Mark-ham mit einem leicht spöttischen Lächeln an. »übri-gens haben Sie ganz Recht, wenn Sie sich nicht um sei-nen Spielsalon kümmern und sein Haus nicht schlie-ßen. Bei ihm wird wirklich ohne Betrügereien gespielt, und nur Leute, die es sich leisten können, gehen dort-hin. Es wäre auch zu naiv, wenn die Behörden glaub-ten, sie könnten das Glücksspiel durch Gesetze und Polizeirazzien unterdrücken. Das Kasino ist ein anstän-diger, vornehmer Klub; Sie würden sich sicher dort auch wohlfühlen, wenn Sie nur nicht Ihr hohes Amt be-kleideten …«

Markham bewegte sich unruhig in seinem Stuhl und warf Vance einen vorwurfsvollen Blick zu, aber schließlich musste er doch lächeln. »Vielleicht gehe ich später einmal hin, wenn ich nicht mehr im Amt bin. Kennen Sie noch jemand von den anderen Personen, die in dem Brief erwähnt werden?«

»Nur noch Morgan Bloodgood. Er ist der Chefcrou-pier in Kinkaids Kasino – sozusagen seine rechte Hand. Ich kenne ihn nur vom Spielsalon her, aber ich habe

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gehört, dass er ein Freund der Familie Llewellyn ist und Lynns Frau schon kannte, als sie noch auf der Bühne auftrat. Er hat studiert und ist ein sehr begabter Ma-thematiker. Kinkaid hat mir einmal erzählt, dass sich Bloodgood auf der Universität in Princeton durch seine mathematischen Kenntnisse sehr auszeichnete und verschiedene Prämien erhielt. Er war zwei Jahre lang Lehrer, aber die Stellung gab er auf, als Kinkaid ihn zu sich rief. Wahrscheinlich war ihm die Lehrtätigkeit zu langweilig. Die anderen Leute, die im Brief erwähnt werden, kenne ich nicht persönlich. Virginia Vale habe ich nicht gesehen, denn während der kurzen Zeit ihrer großen Bühnenerfolge war ich auf Reisen. Der alten Mrs. Llewellyn bin ich niemals begegnet, ebenso wenig ihrer Tochter Amelia, die sich seit einiger Zeit dem Kunststudium widmet.«

»Wie sind denn die Beziehungen zwischen Kinkaid und der alten Mrs. Llewellyn? Stehen die beiden so gut miteinander, wie es eigentlich zwischen Bruder und Schwester sein sollte?«

»Natürlich schämt sich die alte Dame etwas wegen ihres Bruders; für eine Dame der Gesellschaft, die sich

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besonders in der sozialen Fürsorge und Wohltätigkeit hervortut, ist ein Bruder, der gewerbsmäßiger Spieler ist, selbstverständlich eine peinliche Erscheinung. Äu-ßerlich scheinen sie ganz gut miteinander zu stehen, aber ich glaube, dass es öfter zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen kommt, besonders da das Haus in der Park Avenue beiden gehört und sie unter demselben Dach wohnen. Aber ich nehme nicht an, dass Mrs. Lle-wellyn irgendein Verbrechen gegen ihren Bruder plant … Nein, eine solche Erklärung dieses Schreibens wäre zu unwahrscheinlich.«

In den Augenblick trat Currie in die Bibliothek.

»Verzeihen Sie«, sagte er besorgt, »am Telefon hat sich jemand gemeldet und gefragt, ob Sie heute Abend die Absicht hätten, ins Kasino zu gehen?«

»Ein Herr oder eine Dame?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen«, entgegnete Currie verlegen. »Die Stimme klang so schwach und undeutlich – ich muss annehmen, dass die Person ab-sichtlich ihre Stimme verstellt. Aber der Unbekannte

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ließ sich nicht abweisen und wartet noch am Telefon auf Antwort.«

»Das habe ich beinahe erwartet«, sagte Vance halb zu sich selbst, dann wandte er sich an Currie. »Sagen Sie, dass ich heute Abend um zehn Uhr dort sein wer-de.«

Markham nahm die Zigarre aus dem Mund, sah auf Vance und runzelte die Stirn.

»Wollen Sie tatsächlich wegen des Briefes ins Kasi-no gehen?«

Vance nickte ernst.

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2. Das Kasino

(Sonnabend, 15. Oktober, 22:30 Uhr)

as berühmte Spielkasino von Richard Kinkaid lag in der 73. Straße West, in der Nähe der West End

Avenue, und in dem glänzenden Nachtleben New Yorks spielte es damals eine hervorragende Rolle. Das große, palastähnliche Haus war in den neunziger Jahren von Richards Vater errichtet worden. Bei der Erbteilung wurde Richard Kinkaid dieses Haus allein zugespro-chen. Die ganze andere Hinterlassenschaft ging ge-meinsam an Kinkaid und Mrs. Anthony Llewellyn, die damals bereits Witwe war. Ihre beiden Kinder Lynn und Amelia waren zu der Zeit zwölf und zehn Jahre alt gewesen.

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Richard Kinkaid hatte mehrere Jahre nach dem Tod seines Vaters allein in dem grauen Sandsteinhaus ge-wohnt, aber dann hatte er es eines Tages geschlossen. Die Fensterjalousien wurden heruntergelassen, und er begab sich auf Reisen, um Abenteuer zu erleben. Die entferntesten Gegenden der Erde hatte er aufgesucht, aber nie von einem unwiderstehlichen Hang zum Glücksspiel lassen können – vielleicht hatte er den von seinem Vater geerbt. Während seiner Europa-Reisen hatte er die meisten berühmten Spielkasinos besucht, und mehrmals beschäftigten sich die Zeitungen in New York mit seinen außerordentlich hohen Gewinnen und Verlusten. Als sein Verlustkonto das seiner Gewinne bedeutend überstieg, kehrte er nach Amerika zurück. Er war wohl ärmer an Geld, aber zweifellos hatte er viele wertvolle Erfahrungen gesammelt.

Im Vertrauen auf den politischen Einfluss seiner Freunde und seine guten persönlichen Beziehungen gründete er ein Spielkasino, um seine Verluste wieder auszugleichen. Das große Haus in der 73. Straße West ließ er innen vollständig umbauen und neu ausstatten. Das Kasino wurde als Privatklub aufgezogen wie die

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meisten gesetzwidrigen Gründungen während der Prohibitionszeit, und die Mitglieder wählte er sehr vor-sichtig. Alle, die sich um den Eintritt bewarben, wurden einer eingehenden Prüfung unterzogen. Außerdem war das Eintrittsgeld so hoch, dass schon dadurch eine große Anzahl von Leuten abgeschreckt wurde.

Als ersten Croupier und aufsichtsführenden Direk-tor engagierte Kinkaid Morgan Bloodgood, einen gebil-deten, jungen Mann, der Mathematik studiert hatte. Er hatte ihn in der Familie seiner Schwester kennenge-lernt. Bloodgood hatte mit Lynn zusammen die Univer-sität besucht, und zufällig machte der junge Llewellyn durch Bloodgood die Bekanntschaft seiner späteren Frau – Virginia Vale.

Auch alle anderen Croupiers und Angestellten, die an den Spieltischen tätig waren, stammten aus guten Familien. Kinkaid achtete besonders auf gutes Ausse-hen und tadelloses Benehmen; er ließ sie lange vor Er-öffnung des Kasinos sorgfältig in ihren neuen Pflichten unterweisen.

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Kinkaid hatte mit seinem Unternehmen großen Er-folg. Wenn man von dem »Kasino« sprach, meinte man seinen Spielsalon. Er begnügte sich mit den gewöhnli-chen Prozenten, die der Bank mit mathematischer Si-cherheit zufließen mussten, und selbst die erfah-rensten Spieler konnten ihm niemals nachweisen, dass er das Spiel zu seinen Gunsten beeinflusst hätte. Wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen einem Spieler und einem Croupier entstand, wurde der Spieler ohne weiteres voll ausgezahlt. Viele Vermögen rollten über die Spieltische des Kasinos während seiner verhältnis-mäßig kurzen Existenz. Es wurde immer hoch gespielt, besonders am Freitag und Sonnabend. Als ich an dem schicksalsschweren Abend des 15. Oktober mit Vance dort ankam, waren nur wenige Gäste anwesend, denn die Menge der Gewohnheitsspieler erschien erst nach Theaterschluss.

Nachdem wir die Steintreppe hinaufgestiegen wa-ren, die von dem äußeren, mit breiten Marmorplatten belegten Vorhof zum Haupteingang hinaufführte, tra-ten wir in einen schmalen Vorraum, dessen Fenster-rahmen aus kunstvollem Schmiedeeisen bestanden.

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Die Fenster selbst waren Glasgemälde von großem Wert. Ein chinesischer Portier begrüßte uns durch eine kurze Verbeugung und trat dann zur Seite, um uns vorbeizulassen. Durch irgendein Geheimsignal wurde unsere Ankunft nach innen gemeldet, und als wir das Vestibül5 erreichten, tat sich wie von selbst die große Bronzetür auf, und wir kamen in die Empfangshalle, die etwa zehn Meter im Quadrat messen mochte. Die Wände waren mit reichen Goldtapeten und mit alten, kostbaren Gemälden geschmückt. Kinkaid hatte den Raum im Stil der italienischen Hochrenaissance ein-richten lassen. Zwei Diener in dezenter Livree6 nahmen uns Hüte und Mäntel ab. Es fiel mir auf, dass die beiden besonders groß und kräftig waren.

Die Mitte des Empfangssaals nahm ein Springbrun-nen ein, der von innen durch verdecktes elektrisches Licht magisch erleuchtet war. An der Rückseite der Halle führte eine doppelarmige Marmortreppe zu den Spielsälen.

5 Repräsentativer Eingangsbereich

6 uniformähnliche Kleidung für Hausbedienstete

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Im oberen Geschoss hatte Kinkaid die beiden großen Gesellschaftszimmer zu einem einzigen verei-nigt, dem »Goldenen Saal«, der die volle Länge des Hauses einnahm und etwas über zwanzig Meter lang sein mochte. Er war in klassizistischem Stil gehalten, und Marmorpfeiler in zartem Elfenbein mit gelben Adern gliederten die Wände.

In der Mitte standen drei Roulettetische, an den Seiten gab es Gelegenheit, sich anderen Glücksspielen zu widmen, und im Hintergrund schloss sich westlich ein Privatsalon für Kartenspieler an. Ein Angestellter des Kasinos führte dort die Aufsicht, zog Verluste ein und zahlte Gewinne aus. Im Osten lag die Kristall-Bar, die sich wiederum in einem großen Bogen zum Saal öffnete. Hier wurden nur die edelsten Liköre und aus-gesuchtesten Weine ausgeschenkt. Das Privatbüro Ri-chard Kinkaids hatte einen Zugang zur Bar, einen an-deren zum Goldenen Saal. Es mochte ungefähr vier Meter im Quadrat messen; die Wände waren von einer Vertäfelung aus kaukasischem Nussbaum bedeckt. Der Raum machte einen sehr gediegenen, fast feierlichen Eindruck. Er besaß nur ein einziges Fenster, das zum

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vorderen Hof führte. Als wir den kleinen Vorraum im oberen Geschoss erreicht hatten, warf Vance einen gleichgültigen Blick in die beiden Spielsäle, dann ging er in die Bar.

»Ich glaube, wir haben noch genügend Zeit, um ein Glas Sekt zu trinken, Van«, sagte er merkwürdig ruhig und zurückhaltend. »Unser junger Freund Lynn sitzt für sich auf einem Diwan im Goldenen Saal und über-legt anscheinend, wie er seine Einsätze machen soll. Er ist Systemspieler, und er muss viele Vorbereitungen treffen, bevor er anfangen kann, zu setzen. Wenn ihm heute Abend wirklich Gefahr droht, scheint er entwe-der nichts davon zu wissen oder sich nicht darum zu kümmern. Es ist aber augenblicklich niemand im Gol-denen Saal, der das leiseste Interesse für ihn zeigt. Wir, können also ruhig noch einige Zeit hierbleiben.«

Er bestellte eine Flasche und lehnte sich in den be-quemen Sessel zurück. Der Sekt wurde auf einem nied-rigen, runden Tisch serviert, den uns ein Diener hin-schob. Obwohl sich Vance äußerlich gleichgültig zeig-te, wusste ich doch, dass er innerlich erregt und ge-spannt war. Das sah ich schon an der besonderen Art,

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wie er die Zigarette aus dem Mund nahm und die Asche abstreifte.

Wir hatten kaum unsere Flasche vor uns stehen, als Morgan Bloodgood aus der nächsten Tür trat, um durch die Bar in den Goldenen Saal zu gehen. Der große, schlanke Mann hatte eine hohe, etwas vortre-tende Stirn, eine schmale Adlernase, etwas sinnliche Lippen und ein spitzes Kinn. Seine Ohren standen ein wenig ab, und seine Augen hatten eine graugrüne Fär-bung. Sein Haar war nicht allzu dicht und sandfarben, sein Teint bleich. In seinem Auftreten und seinem We-sen drückten sich Ruhe und Gesetztheit aus. Auf mich wirkte er durchaus sympathisch. Ich wusste, dass er erst dreißig Jahre alt sein konnte, aber er machte einen so ausgeglichenen Eindruck, dass man ihn auch für vierzig und mehr halten konnte. Als er Vance sah, hielt er an und begrüßte ihn höflich, wenn auch zurückhal-tend.

»Nun, Mr. Vance, wollen Sie heute Abend auch Ihr Glück versuchen?«, fragte er mit sanfter Stimme.

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»Ja, die Absicht habe ich«, entgegnete Vance lä-chelnd. »Wissen Sie auch, dass ich ein neues System habe?«

»Das ist ja glänzend für unser Haus«, lächelte Bloodgood. »An Systemspielern verdienen wir immer das meiste.«

»Mit Mathematik gebe ich mich aber nicht ab – mein System ist einfach und klar«, entgegnete Vance. »Ich handle nach Napoleons Grundsatz, frisch und fröhlich den Kampf zu beginnen, und dann je nach der gegebenen Situation etwas zu unternehmen.«

»Das ist ebenso gut oder schlecht wie irgendein an-deres System. Schließlich läuft doch alles auf dasselbe hinaus.« Bloodgood verneigte sich kurz und trat in den großen Spielsaal.

Durch die Bogenöffnung sahen wir, dass er seinen Platz am Rad des mittleren Roulettetisches einnahm. Vance setzte sein Glas nieder und steckte sich eine Zi-garette an.

»Meiner Meinung nach ist jetzt die Zeit gekommen, dass wir uns auch einmal im Goldenen Saal umsehen.«

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In dem Augenblick öffnete sich die Tür zu Kinkaids Pri-vatbüro, und der Inhaber des Kasinos erschien. Als er Vance bemerkte, lächelte er verbindlich.

»Guten Abend. Sie kommen so selten, dass Sie fast ein Fremder geworden sind.«

»Dann freut es mich umso mehr, dass Sie mich nicht ganz vergessen haben. Ich möchte Sie heute Abend sprechen.«

Kinkaid richtete sich unwillkürlich etwas auf. »Nun, wir reden ja im Augenblick schon miteinander«, meinte er gutgelaunt.

»Gewiss«, entgegnete Vance liebenswürdig, »aber ich würde es vorziehen, mich in Ihrem Privatbüro mit Ihnen zu unterhalten.«

Kinkaid sah ihn scharf an, aber mein Begleiter erwi-derte lächelnd den Blick.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich Kinkaid um und öffnete die Tür zu seinem Privatraum. Höflich trat er zur Seite und ließ Vance und mich hin-

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eingehen. Erst dann folgte er uns und schloss die Tür. Er blieb hochaufgerichtet stehen.

Vance nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies den blauen Rauch zur Decke. »Wie ist es – können wir uns nicht setzen?«

»Ja, bitte – wenn Sie müde sind«, entgegnete Kin-kaid in hartem, metallischem Ton, während sein Ge-sicht vollständig ausdrucklos blieb.

»Vielen Dank.« Vance tat so, als ob er die ablehnen-de Haltung des Mannes nicht bemerkte, ließ sich in ei-nem der niedrigen Ledersessel in der Nähe der Tür nieder und legte ein Bein über das andere.

Obwohl Kinkaid äußerlich abweisend und un-freundlich erschien, fühlte ich, dass er im Grund nichts gegen Vance hatte. Als alter, erfahrener Spieler nahm er nur unwillkürlich eine Verteidigungsstellung ein, da Vances Mitteilung eine Drohung sein mochte. Wie je-der andere in der Stadt wusste er, dass mein Freund mit dem Bezirksstaatsanwalt sehr gut bekannt war. Ri-chard Kinkaid war ein kultivierter, kluger Mann von großer, imponierender Erscheinung. Er maß nahezu

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einen Meter achtzig. Obwohl er etwas zur Korpulenz neigte, war er doch wohlproportioniert. Das graue Haar, das er zurückgekämmt trug, stand im Gegensatz zu seiner gesunden, roten Farbe. Das ovale Gesicht hatte regelmäßige Züge, nur waren die Augen klein, und die Lider senkten sich etwas nach den äußeren Ecken. Sein Blick ließ Klugheit, Ausdauer und vielleicht auch etwas Grausamkeit erkennen.

Er stand vor uns und hatte eine Hand auf den schön geschnitzten Schreibtisch gelegt, die andere in die Sei-tentasche seines Rocks gesteckt. Unbewegt ruhte sein Blick auf Vance, ohne Zu- oder Abneigung zu verraten. Es war klar, dass er diese Gelassenheit beim Pokerspiel gelernt hatte.

»Ich habe heute Morgen einen Brief erhalten, den ich Ihnen zeigen möchte, Mr. Kinkaid. Ich dachte, das Schreiben würde Sie interessieren, da Ihr Name darin in nicht sehr schmeichelhafter Weise erwähnt wird. Und der Inhalt handelt nicht nur von Ihnen, sondern auch von anderen Angehörigen Ihrer Familie.« Kinkaid behielt die abwartende Haltung bei. Er sagte nichts, und er rührte sich nicht.

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»Ich glaube, Sie lesen den Brief am besten selbst einmal durch.«

Vance fasste in die Tasche und reichte ihm die bei-den maschinegeschriebenen Bogen.

Kinkaid nahm sie gleichgültig entgegen und faltete sie auseinander.

Während er las, beobachtete ich ihn genau. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich nicht, aber sei-ne Gesichtsfarbe wurde dunkler, und seine Backen-muskeln arbeiteten. Sein Hals quoll über den Kragen, als er sich zurücklehnte, und unangenehme rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangen.

Die Hand, die den Brief hielt, ließ er zur Seite sin-ken, als ob er müde geworden wäre, dann wandte er sich langsam zu Vance um.

»Nun, was soll denn damit sein?«, fragte er gering-schätzig.

Vance machte eine leichte Handbewegung.

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»Ich selbst wollte noch keine Ansicht darüber äu-ßern. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht etwas sa-gen.«

»Und wenn ich das nicht tue?«

»Dann kann ich nichts daran ändern.«

Kinkaid zögerte einen Augenblick, dann setzte er sich in den Schreibtischsessel und legte den Brief vor sich hin. Schließlich klopfte er mit den Fingern auf den Bogen und zuckte die Schultern.

»Ich vermute, dass jemand, der nicht ganz normal ist, das geschrieben hat«, sagte er verächtlich.

»Nein, Mr. Kinkaid, darin täuschen Sie sich. So kommen wir dem Problem nicht näher. Sie haben auf die falsche Nummer gesetzt, und diesmal verlieren Sie. Aber warum versuchen Sie es nicht noch einmal?«

»Zum Donnerwetter, was wollen Sie denn von mir?«,. explodierte der Mann, wandte sich im Dreh-stuhl um und sah Vance scharf an. »Ich bin doch kein Detektiv, zum Kuckuck noch einmal! Was hat denn der Brief überhaupt mit mir zu tun?«

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Vance antwortete nicht, sondern sah ihn nur kühl an. Zum ersten Mal traf Kinkaid einen Gegner, der ihm gewachsen war. Er wusste, dass Vance den Blick nicht senken würde, und in dem stillen Kampf, in dem sich ihre Augen maßen, musste er nachgeben. »Nun gut«, sagte er, »ich werde sehen, ob ich mit einer anderen Erklärung mehr Glück habe, wenn Ihnen das Freude macht und ich Ihnen damit einen Dienst erweisen kann.« Er warf wieder einen Blick auf den Brief. »Was hier steht, ist leider zum größten Teil wahr. Der Schreiber muss sehr genau über die Verhältnisse in unserer Familie Bescheid wissen.«

»Benutzen Sie selbst eine Schreibmaschine?«

Kinkaid fuhr zusammen, dann lachte er gezwungen. »Ja, ich schreibe aber genau so schlecht wie dieser Mann.« Er zeigte auf den Brief.

Vance nickte verbindlich.

»Ich verstehe auch nicht viel davon. Diese Schreib-maschinen sind eine Teufelserfindung. Glauben Sie wirklich, dass jemand die Absicht hat, dem jungen Lle-wellyn etwas zuleide zu tun?«

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»Das weiß ich nicht, aber ich hoffe es«, entgegnete Kinkaid sofort und grinste hämisch. »Er verdient es, dass man ihn umbringt.«

»Warum tun Sie es denn nicht selbst?«, fragte Van-ce. Kinkaid lachte laut und hart.

»Ich habe schon oft daran gedacht, aber er ist das Risiko nicht wert.«

»Im Allgemeinen begegnen Sie Ihrem Neffen in der Öffentlichkeit aber doch zuvorkommend.«

»Das tue ich der Familie wegen. Meine Schwester ist in ihn vernarrt.«

»Er ist verhältnismäßig oft im Kasino.«

Kinkaid nickte.

»Er versucht, mir Geld abzunehmen, weil seine Mutter ihm nicht genügend Taschengeld gibt, und schließlich tue ich ihm den Gefallen. Warum auch nicht? Er spielt ein System. Ich wünschte, alle spielten System, dann würde die Bank mehr gewinnen. Die Leu-te, die aufs Geratewohl spielen, haben gewöhnlich Glück und bringen der Bank die meisten Verluste.«

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Vance brachte das Gespräch wieder auf den Brief: »Glauben Sie, dass Ihre Familie von Unglück bedroht ist?«

»Wenn Sie wollen, steht jeder Familie früher oder später irgendein Unglück bevor. Aber wenn Lynn etwas zustoßen sollte, hoffe ich nur, dass es nicht ausgerech-net hier im Kasino geschieht!«

»Auf jeden Fall wünscht der Briefschreiber drin-gend, dass ich ins Kasino komme, um Ihren Neffen hier zu beobachten.«

»Das habe ich auch dem Brief entnommen.«

»Aber Sie haben doch zugegeben, dass im Brief Din-ge erwähnt werden, die der Wahrheit entsprechen.« Kinkaid saß eine Weile still und richtete den Blick auf die gegenüberliegende Wand. Schließlich beugte er sich vor und sah Vance gerade an.

»Ich will offen mit Ihnen sein, Mr. Vance«, erklärte er ernst. »Ich habe eine Ahnung, wer diesen Brief ge-schrieben hat. Es ist ein Fall von Furcht und Geistesge-störtheit … Vergessen Sie die Sache.«

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»Das ist ja sehr interessant«, entgegnete Vance lei-se, drückte die Zigarette aus und erhob sich. Er nahm den Brief wieder an sich und steckte ihn in die Brustta-sche. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände ge-macht habe … ich werde mich jetzt ein wenig im Spiel-saal umsehen.«

Kinkaid stand nicht auf und sagte auch kein Wort, als wir hinausgingen.

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3. Die erste Tragödie

(Sonnabend, 15. Oktober, 23:15 Uhr)

as Kasino hatte sich allmählich mit Gästen ge-füllt. Es waren nun mindestens hundert Mitglie-

der des Klubs anwesend, die an verschiedenen Tischen dem Glücksspiel huldigten oder in kleinen Gruppen umherstanden und sich unterhielten. Überall herrschte angeregte Stimmung. Die japanischen Diener in ihrem Eingeborenenkostüm bewegten sich lautlos durch den Saal. An jeder Seite der gewaltigen Bogentür standen zwei Diener in Livree. Keine Bewegung, so harmlos sie auch sein mochte, entging den scharfen Augen dieser Wächter.

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Es war eine glänzende Versammlung; ich konnte eine Anzahl hervorragender Persönlichkeiten der Ge-sellschaft und der Wirtschaft unter den Anwesenden erkennen.

Lynn Llewellyn saß immer noch auf dem Diwan und war mit einem Notizbuch und einem Bleistift beschäf-tigt. Er war so sehr in seine Kalkulationen vertieft, dass er auf nichts achtete, was um ihn vorging. Vance schlenderte quer durch den Saal und grüßte ein paar Bekannte. Vor einem der kleineren Tische an der Ost-wand blieb er stehen und kaufte ein paar Chips. Diese setzte er auf eins, verdoppelte seinen Einsatz bis zu fünfmal und begann dann wieder von vorne. Es war unglaublich, wie häufig eins auf dem Würfel unter dem Glas erschien; nach einer Viertelstunde hatte Vance nahezu tausend Dollars gewonnen. Trotzdem schien er unruhig zu sein und kümmerte sich wenig darum, ob er gewann oder verlor. Schließlich trat er an den Roulet-tetisch, an dem Bloodgood das Spiel leitete. Er stellte sich hinter einen der Spieler und beobachtete einige Sätze. Dann nahm auch er Platz, und zwar so, dass er

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zum Diwan hinübersehen konnte, auf dem Lynn Lle-wellyn immer noch rechnete und kalkulierte.

Die Einsätze für das nächste Spiel wurden gemacht. Es beteiligten sich etwa sechs der Leute, die um den Tisch versammelt waren. Bloodgood wartete, während er die Kugel zwischen Mittelfinger und Daumen hielt, um sie in das Roulette zu schleudern. Aber aus irgend-einem Grund zögerte er noch.

»Monsieur, faites votre jeu!«, rief er in dem herge-brachten, singenden Ton und sah Vance dabei an. Van-ce wandte schnell den Kopf und begegnete dem etwas spöttischen Blick des Croupiers.

»Danke vielmals für die persönliche Einladung«, er-widerte er übertrieben liebenswürdig, dann lehnte er sich über den Tisch und legte einen Hundertdollar-schein auf Null. »Nach meinem System muss ich jetzt mit der Bank gehen.«

Das Lächeln auf Bloodgoods Gesicht verschwand, und er zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe. Dann setzte er das Rad geschickt in Bewegung.

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Es dauerte ziemlich lange, bis die Kugel einigerma-ßen zur Ruhe kam. Schließlich schien sie in die Vertie-fung einer Nummer sinken zu wollen, aber das Rad drehte sich noch zu schnell; sie sprang wieder heraus und machte noch zwei Umkreisungen, dann blieb sie in dem grünen Feld auf Null.

Eine Bewegung ging durch die Anwesenden, als der Croupier alle anderen Einsätze zusammenraffte, aber obwohl ich Bloodgoods Züge genau beobachtete, konnte ich nicht die leiseste Veränderung in seinem Aussehen feststellen. Er war der vollendete Croupier, den nichts aus der Ruhe bringen konnte.

»Ihr System scheint ja gut zu arbeiten«, bemerkte er, als er Vance dreißig gelbe Chips auszahlte. »Sie ha-ben ganz nach Napoleons Grundsatz gehandelt aber was hoffen Sie denn damit zu erreichen?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, entgegnete Vance, der die Hundertdollarnote und die Chips an sich nahm. »Ich hoffe nichts – ich lasse mich vom Zu-fall treiben.«

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»Auf jeden Fall haben Sie heute Abend Glück«, lä-chelte Bloodgood.

»Das müssen wir noch abwarten …« Vance steckte den Gewinn ein und verließ den Tisch.

Langsam ging er in das Zimmer der Kartenspieler und trat an den Tisch, an dem Vingt-et-un gespielt wurde. Zwei Stühle waren frei, aber Vance wartete. Der Angestellte, der hier die Aufsicht führte, saß auf einem erhöhten Stuhl. Als der Spieler rechts von ihm sich er-hob, nahm Vance dessen Platz ein, denn erst von hier aus konnte er Llewellyn beobachten.

Er legte einen gelben Chip als Einsatz vor sich auf den Tisch. Eine verdeckte Karte wurde ihm gereicht, und er warf schnell einen Blick darauf. Da ich hinter ihm stand, sah ich, dass es das Karo-As war. Die näch-ste Karte, die er erhielt, war wiederum ein As. »So ein unverschämtes Glück!«, sagte er leise über die Schul-ter.

Er drehte das erste As um und legte das zweite da-neben. Auch darauf kam ein gelber Chip. Vance war der letzte, der die Karten zog, und zu meinem Erstaunen

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nahm er die beiden oberen. Es waren ein Bube und eine Königin. Die Zusammenstellung von einem As und einem Figurenbild ist die höchste Kombination, und Vance hatte zweimal dieses Glück während eines Spiels.

Er war gerade im Begriff, zum zweiten Mal zu set-zen, als sich Llewellyn erhob und mit dem Notizbuch in der Hand zum Roulettetisch ging. Vance setzte das Spiel nicht fort, er glitt schnell von seinem hohen Stuhl herunter und ging ebenfalls zum Roulettetisch hinüber. Er blieb gegenüber von Llewellyns Platz hinter den Stuhlreihen stehen.

Lynn war mittelgroß und stark und konnte seinem Aussehen nach ein guter Boxer sein. Seine Bewegun-gen waren energisch und zielbewusst, sein Blick leb-haft. Sein schmales, etwas hageres Gesicht verriet Schwäche und Verschlagenheit, im Ganzen machten seine Züge einen intelligenten Eindruck. Man konnte sich vorstellen, dass gewisse Frauen ihn für schön hiel-ten.

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Als er Platz genommen hatte, sah er sich schnell um, nickte Bloodgood und den anderen zu, übersah dabei aber Vance, obwohl dieser ihm direkt gegen-überstand. Einige Minuten beobachtete er das Spiel und notierte die herauskommenden Nummern in sein kleines Notizbuch. Nach fünf oder sechs Spielen run-zelte er die Stirn, drehte sich in seinem Stuhl um und rief einen der japanischen Diener an den Tisch.

»Whisky und gewöhnliches Wasser!«, bestellte er. Während der Japaner in die Bar eilte, notierte er wei-ter, und als schließlich dreimal drei Nummern dersel-ben Reihe hintereinander kamen, begann er eifrig zu spielen. Als der Japaner ihm den Whisky brachte, wink-te er ungeduldig ab und konzentrierte sich auf das Spiel.

Eine halbe Stunde lang beobachteten wir sein Spiel. Ich versuchte, aus seinen Einsätzen Schlussfolgerun-gen auf sein System zu ziehen, aber es gelang mir nicht, und so gab ich es auf. Später sagte mir Vance, das System sei absolut wertlos.

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Aber so schlecht Llewellyns System vom wissen-schaftlichen Standpunkt aus auch sein mochte, an die-sem Abend hatte er Glück. Hätte er wie ein Amateur-spieler seinen Einsatz stehen lassen, so hätte er noch mehr gewonnen. Aber nach jedem Gewinn zog er einen Teil ein und verdoppelte nur, wenn das Glück gegen ihn entschied. Vor jedem Einsatz warf er einen raschen Blick auf die sorgfältig ausgearbeiteten Zahlentabellen in seinem Notizbuch, und trotz aller Versuchungen, davon abzuweichen, hielt er sich streng an seine For-mel.

Kurz nach Mitternacht hatte er eine längere Reihe von Verlusten und hatte immer wieder verdoppelt. Als schließlich die Spannung aufs höchste stieg, kam die richtige Nummer heraus, und sein Gewinn war groß. Er nahm sechs Rollen gelber Chips an sich, atmete hör-bar und erleichtert auf und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Nach meiner rohen Berechnung hatte er bis dahin ungefähr zehntausend Dollar gewonnen. Die Nachricht von seinem Glück verbreitete sich schnell unter den anderen Spielern im Saal, und verschiedene Neugierige kamen an unseren Tisch.

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Ich sah mich unter den Leuten um. Die einen schauten ironisch drein, andere beneideten ihn, die Mehrzahl zeigte sich nur interessiert. Bloodgood selbst blieb vollkommen ruhig. Weder durch den Ton seiner Stimme noch durch sein Aussehen verriet er, dass et-was Ungewöhnliches geschehen war. Er arbeitete feh-lerlos wie eine Maschine und erfüllte seine Pflichten mit staunenswerter Pünktlichkeit.

Als Llewellyn sich nach diesem Gewinn in den Ses-sel zurücklehnte und aufschaute, bemerkte er Vance und verneigte sich kurz. Dann beschäftigte er sich mit seinen Berechnungen und Überlegungen und notierte auch die Gewinnnummern in sein Buch. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und seine Lippen bewegten sich nervös. Seine Hände zitterten, und in kurzen Zwi-schenräumen holte er tief Atem. Ein- oder zweimal be-merkte ich, dass er die linke Schulter vorschob und den Kopf nach links beugte wie jemand, der an Angina pectoris leidet und dadurch den Schmerz in der Herz-gegend zu lindern sucht.

Nach dem sechsten Spiel lehnte sich Llewellyn vor und beteiligte sich wieder. Aber diesmal wich er von

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seinem früheren System ab und machte Satz und Ge-gensatz, um sein Geld zu »versichern«.

»Dieses Nebenspiel gehört nicht zu seinem Sy-stem«, flüsterte mir Vance zu. »Mir scheint, er verliert die Nerven und will sich nun auch die Vorteile anderer Systeme zunutze machen. Aber es kommt schließlich nicht im Mindesten darauf an. Wenn er Glück hat, ge-winnt er sowieso, und wenn er keines hat, verliert er. Systeme sind nur für Optimisten und für Träumer da. Es bleibt die unumstößliche Tatsache, dass die Bank fünfunddreißigfachen Gewinn auszahlt, während sechsunddreißig Möglichkeiten vorhanden sind. Das ist eben ihr Verdienst, und dagegen kann niemand etwas machen.«

Llewellyn hatte anscheinend an dem Abend fortge-setzt Glück. Es dauerte nicht lange, bis er wieder mit einer einzelnen Nummer, auf die er eine große Summe gesetzt hatte, herauskam. Als er die Chips an sich nahm, zitterte seine Hand so sehr, dass er einen Stoß nicht zusammenhalten konnte. Die Chips fielen ausein-ander, und es wurde ihm schwer, sie wieder zu sam-meln. Wieder sank er in den Stuhl zurück und ließ die

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nächsten Spiele vorübergehen, ohne sich daran zu be-teiligen. Seine Gesichtsfarbe war noch dunkler gewor-den, seine Augen glänzten unnatürlich, und die Mus-keln um seinen Mund zuckten. Er sah aufgeregt um sich und bemerkte die gewinnende Nummer nicht, so dass er Bloodgood danach fragen musste, weil er sie in sein Buch eintragen wollte.

Es war, als stiege die Spannung an dem mittleren Roulettetisch permanent an. Auch der Zuschauer be-mächtigte sich eine gewisse Erregung: Die Unterhal-tung verstummte, und alle achteten nur auf das Spiel, denn der ungleiche Kampf zwischen einem einzelnen Spieler und den unergründlichen Gesetzen der Wahr-scheinlichkeit war faszinierend. Llewellyn saß auf sei-nem Platz und hatte ein Vermögen in Chips vor sich aufgehäuft. Wenn er noch ein paar tausend Dollar ge-wann, war die Bank gesprengt. Kinkaid hatte für diesen Tisch allabendlich ein Kapital von vierzigtausend Dollar festgesetzt.

Während des gespannten Schweigens hörte man nur das Rollen der Kugel, das Zusammenstoßen der Chips und Bloodgoods ruhige Stimme. Dann öffnete

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sich die Tür des Büros, und Kinkaid kam herüber. Er blieb neben Vance stehen und beobachtete eine Weile gleichgültig das Spiel.

»Heute hat Lynn offenbar Glück«, bemerkte er bei-läufig.

»Das steht wohl außer Frage«, entgegnete Vance, ohne den Blick von Llewellyn zu wenden.

In diesem Augenblick gewann Lynn wieder den Ein-satz auf eine einzelne Nummer, und nach seinem Sy-stem musste dies wohl das Ende eines mathematischen Zyklus bedeuten, denn er nahm seine Chips fort und lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück. Er atmete schwer, als ob er nicht genug Luft bekommen könnte, und wieder schob er die linke Schulter vor.

Ein japanischer Diener ging vorüber, und Llewellyn sprach ihn an. Er bestellte einen Whisky. Es machte ihm sichtlich Mühe, die letzte Gewinnnummer in sein Notizbuch einzutragen.

»Hat er heute Abend schon viel getrunken?«, fragte Kinkaid meinen Freund.

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»Vor einiger Zeit hat er ein Glas Whisky bestellt, aber nicht getrunken. Dies wird wohl der erste Whisky sein, den er heute Abend zu sich nimmt.« Ein paar Mi-nuten später setzte der Japaner ein kleines Silberta-blett neben Llewellyn nieder. Darauf standen ein klei-nes Glas Whisky, ein großes, leeres Glas und eine Fla-sche Sodawasser. Bloodgood hatte eben die Kugel ins Rad geworfen und sah nun auf das Tablett.

»Mori«, rief er dem Diener zu, »Mr. Llewellyn trinkt nur gewöhnliches Wasser.«

Der Japaner wandte sich sofort um, setzte den Whisky auf den Tisch vor Llewellyn, nahm das Tablett mit dem Sodawasser auf und eilte fort. Als er um die Ecke des Tisches bog, winkte ihm Kinkaid. »Sie können von der Karaffe in meinem Büro nehmen.«

Der Diener nickte und beeilte sich, den Auftrag aus-zuführen.

»Lynn muss schnell etwas zu trinken haben«, sagte Kinkaid zu Vance. »Wenn der Japaner erst zur Bar geht, dauert es zu lange, denn dort muss er warten. Lynn scheint vom Spiel sehr mitgenommen zu sein. Wenn er

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heute Abend nach Hause geht, hat er bestimmt keinen einzigen Dollar mehr!«

Als ob Kinkaids Prophezeiung in Erfüllung gehen sollte, setzte Llewellyn hoch und verlor. Er sah in sei-nem Buch nach, um den nächsten Einsatz zu machen, aber der Japaner erschien wieder und stellte ein Glas reines Wasser neben ihn. Lynn leerte das Glas Whisky mit einem Zug und trank das Wasser sofort darauf. Dann schob er die beiden leeren Gläser beiseite und setzte für das nächste Spiel.

Wieder entschied die Kugel gegen ihn. Er verdop-pelte seinen Einsatz und verlor aufs Neue. Noch einmal setzte er das Zweifache, aber er hatte wieder Pech. Dann wurde er vorsichtiger und verdoppelte nicht, aber auch beim nächsten Einsatz hatte er kein Glück. Als Bloodgood die Chips einkassierte, saß Llewellyn auf seinem Platz und starrte auf das grüne Tuch. Fünf Mi-nuten blieb er sitzen und ließ das Spiel weitergehen, ohne sich, daran zu beteiligen. Ein paarmal fuhr er mit der Hand über die Augen und schüttelte heftig den Kopf, als ob er verwirrt wäre und keinen klaren Gedan-ken mehr fassen könnte. Vance war einen Schritt vor-

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getreten und beobachtete ihn unausgesetzt, und auch Kinkaid schien sich über Llewellyns Haltung Sorge zu machen. Bloodgood warf Lynn von Zeit zu Zeit einen Blick zu, verriet aber kein besonderes Interesse.

Llewellyns Gesicht war nun dunkelrot; er presste die Hände gegen die Schläfen und holte tief Atem wie ein Erstickender.

Plötzlich sprang er mit größter Anstrengung auf, stieß seinen Stuhl um und wollte vom Tisch fortlaufen. Aber er konnte nur drei Schritte tun, beim vierten tau-melte er und stürzte zu Boden.

Die Umstehenden schauten überrascht und be-stürzt auf Llewellyn und einige traten näher, um zu helfen. Aber die beiden Diener in Livree waren schon zur Stelle, hoben Llewellyn auf und trugen ihn ins Pri-vatbüro. Kinkaid war bereits dorthin geeilt und hielt die Tür für sie auf.

Vance und ich folgten den beiden ins Büro, ehe Kin-kaid die Tür schließen konnte.

»Was wollen Sie?«, fragte er unfreundlich.

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»Ich bleibe zunächst einige Zeit hier«, entgegnete Vance kühl und entschlossen. »Ich bin eben neugierig, wenn Sie durchaus einen Grund wissen wollen.« Kin-kaid brummte etwas und schickte die beiden Diener durch eine Handbewegung hinaus.

»Van, hilf mir«, sagte Vance zu mir. »Wir wollen Llewellyn in den bequemen Sessel setzen.«

Wir hoben den Bewusstlosen auf und trugen ihn zum Sessel. Vance neigte Lynn soweit vor, dass dessen Kopf zwischen den Knien hing. Llewellyn war bleich geworden. Vance fühlte seinen Puls. Dann wandte er sich an Kinkaid, der regungslos neben dem Schreib-tisch stand und die Szene mit einem spöttischen Lä-cheln beobachtete.

»Haben Sie etwas Riechsalz?«, fragte er kurz. Kin-kaid zog eine Schublade des Schreibtisches auf und reichte ihm eine kleine, grüne Flasche, die Vance sofort aufschraubte und unter Llewellyns Nase hielt. In die-sem Augenblick kam Bloodgood schnell herein. »Was ist denn los?«, fragte er.

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»Gehen Sie doch zu Ihrem Roulettetisch zurück«, befahl Kinkaid ärgerlich. »Es ist nichts Besonderes pas-siert. Der junge Lynn ist nur ohnmächtig geworden.« Bloodgood zögerte und warf Vance einen schnellen Blick zu. Dann zuckte er die Schultern und ging wieder hinaus.

Vance untersuchte noch einmal Llewellyns Puls, dann richtete er ihn auf und lehnte ihm den Kopf zu-rück. Vorsichtig hob er ein Augenlid und betrachtete die Pupille. Kurz entschlossen hob er dann Llewellyn auf und legte ihn der Länge nach auf den Teppich. Auf einen Wink reichte ich ihm eines der Lederkissen von den Stühlen, das er ihm unter den Kopf schob.

»Das ist keine gewöhnliche Ohnmacht, Kinkaid«, sagte Vance grimmig. »Das ist ein ernster Fall: Lynn Llewellyn ist vergiftet worden!«

»Ach, Unsinn!«

»Wissen Sie einen Arzt hier in der Nähe?«, fragte Vance mit eisiger Ruhe.

Kinkaid atmete hörbar.

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»Ja, es wohnt einer im nächsten Haus, aber …«

»Rufen Sie ihn an«, befahl Vance, »und zwar sofort!« Kinkaid stand einen Augenblick hochaufge-richtet, und es war ihm anzusehen, dass er sich ärger-te, aber dann nahm er den Hörer vom Apparat und wählte eine Nummer. Nach einer kurzen Pause räus-perte er sich.

»Ist dort Dr. Rogers? Hier Kinkaid. Wir haben einen Unfall im Kasino gehabt – kommen Sie bitte sofort … danke vielmals.«

Er legte den Hörer heftig zurück und wandte sich an Vance, indem er einen Fluch unterdrückte.

»Das ist ja ein schöner Unfug«, sagte er böse und trat zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Silbertablett stand. Er nahm die Karaffe auf und wollte eins der Kri-stallgläser füllen, aber die Karaffe war leer. »Zum Don-nerwetter!«, polterte er, dann drückte er auf einen Knopf an der Wand. »Ich muss ein Glas Kognak trin-ken. Wie steht es mit Ihnen?«, wandte er sich an Van-ce.

»Ja bitte, ich würde auch gern einen nehmen.«

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Die Tür zur Bar öffnete sich, und einer der Ange-stellten erschien.

»Kognak!«, befahl Kinkaid kurz. »Und füllen Sie die Karaffe mit Wasser«, fügte er hinzu und zeigte auf den kleinen Tisch.

Der Japaner nahm die Wasserflasche und ging in die Bar zurück. Als er kurz darauf den Kognak brachte, trank Kinkaid das Glas mit einem Zug aus, während Vance nur vorsichtig an dem seinen nippte. Einige Mi-nuten später klopfte einer der beiden livrierten Diener und ließ den Arzt herein, einen großen, korpulenten Herrn mit wohlwollendem, freundlichem Gesicht.

»Hier liegt Ihr Patient«, sagte Kinkaid und zeigte auf Llewellyn. »Wir möchten wissen, was ihm fehlt.« Dr. Rogers kniete neben Llewellyn am Boden nieder. »Ein Glück, dass ich zu Hause war. Ich hatte kurz vorher eine Geburt und war eben erst zurückgekommen.« Er untersuchte Lynn schnell, sah nach dessen Pupillen, maß den Puls und benutzte das Stethoskop, um die Herztätigkeit zu kontrollieren. Dann befühlte er die Handgelenke und das Genick. Währenddessen wollte

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er wissen, was Llewellyn vor dem Zusammenbruch ge-macht hätte. Vance antwortete und beschrieb genau Llewellyns außerordentliche Nervosität am Roulette-tisch, seine rote Gesichtsfarbe und die anderen Er-scheinungen.

»Es sieht aus, als hätte der Mann Gift bekommen«, erklärte Dr. Rogers, zu Kinkaid gewandt. Dann öffnete er schnell den kleinen Koffer, den er mitgebracht hatte, und bereitete eine Einspritzung vor. »Ich kann noch nicht sagen, worum es sich handelt. Er ist augenblick-lich in vollkommen bewusstlosem Zustand. Beschleu-nigter Puls, schwache Atmung, unnatürliche Vergröße-rung der Pupillen – das sind alles Symptome einer aku-ten Vergiftung. Dazu passt auch, dass er vorher rot wurde und jetzt unheimlich bleich ist. Das alles deutet zweifellos darauf hin, dass er irgendein Gift zu sich ge-nommen hat … ich werde ihm jetzt eine Spritze Koffein geben – das ist alles, was ich im Augenblick tun kann.«

Nachdem er die Injektion gemacht hatte, erhob er sich schwerfällig und legte die Spritze wieder in den kleinen Koffer.

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»Der Mann muss sofort in ein Krankenhaus ge-schafft werden. Es gehört eine sehr energische Be-handlung dazu, um ihn am Leben zu erhalten. Ich wer-de einen Krankenwagen kommen lassen …« Mit diesen Worten ging er zum Telefon.

Kinkaid trat einen Schritt vor. Er war jetzt wieder der kühle Spieler mit dem undurchdringlichen Poker-gesicht.

»Gut, bringen Sie ihn ins nächste Krankenhaus«, er-widerte er gelassen. »Ich werde inzwischen hier für al-les andere sorgen.«

Dr. Rogers nickte.

»Am besten ins Parkham-Krankenhaus – das liegt hier ganz in der Nähe.« Sofort nahm er den Hörer vom Apparat und wählte eine Nummer.

Vance ging zur Tür.

»Ich glaube, es ist das Beste, ich empfehle mich jetzt.« Seine Gesichtszüge waren entschlossen und ru-hig, und er sah Kinkaid lange und vielsagend an. »Der

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Brief, den ich bekam, war doch ganz interessant – mei-nen Sie nicht auch? … Also, bis später!«

Ein paar Minuten darauf standen wir in der 73. Straße. Ein kalter Sprühregen machte die raue, kühle Nacht noch ungemütlicher.

Vance hatte seinen Wagen etwa dreißig Meter vor dem westlichen Eingang des Kasinos geparkt. Als wir die kurze Entfernung zu Fuß zurücklegten, trafen wir die Detectives Snitkin und Hennessey in der Tornische eines nahegelegenen Hauses.

»Ist alles in Ordnung, Mr. Vance?«, fragte Snitkin leise und ernst.

»Was machen Sie beide denn hier in so einer grau-sigen Nacht?«

»Sergeant Heath gab uns den Befehl, in der Nähe des Kasinos aufzupassen, falls Sie uns brauchen sollten. Er sagte, Ihrer Meinung nach würde in der Gegend et-was passieren.«

»So, hat er das gesagt?« Vance war ehrlich erstaunt. »Der Sergeant ist tatsächlich tüchtig. Aber Sie brau-

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chen sich weiter keine Sorgen zu machen, es ist alles in die Wege geleitet. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind, aber es hat wenig Sinn, dass Sie noch länger hierbleiben. Ich selbst gehe nach Haus und lege mich ins Bett.«

Aber anstatt nach Hause zu gehen, fuhr er zu Mark-harns Wohnung.

Zu meinem Erstaunen war der Staatsanwalt noch auf und begrüßte uns freundlich, als wir in sein Ar-beitszimmer traten. Wir nahmen vor dem Kamin Platz, und Vance wandte sich fragend an ihn.

»Snitkin und Hennessey haben mich heute Abend bewacht und behütet – wissen Sie zufällig, aus wel-chem Grund das geschah?«

Markham lächelte verlegen.

»Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, Vance: Nach-dem ich heute Nachmittag Ihre Wohnung verlassen hatte, dachte ich, dass doch etwas an dem Brief sein könnte, deshalb läutete ich Sergeant Heath an und er-zählte ihm alles, so gut ich mich darauf besinnen konn-te. Dabei erwähnte ich auch, dass Sie heute Abend ins

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Kasino gehen würden, um den jungen Llewellyn zu be-obachten. Wahrscheinlich hielt er es für notwendig, ein paar Leute hinzuschicken, falls sich die düstere Vor-aussage des Briefes bewahrheiten sollte.«

»Ach so, jetzt verstehe ich. Aber es war wirklich nicht nötig, mir eine Leibwache beizugeben. Der Inhalt des Briefes hat sich übrigens bestätigt.«

»Was sagen Sie da?«, fragte Markham interessiert. »Es war wirklich ein inhaltsschwerer Brief, denn Lynn Llewellyn ist vor meinen Augen vergiftet worden.«

Markham sprang auf und starrte ihn entsetzt an. »Ist er tot?«

»Er war noch nicht tot, als ich ihn verließ, aber ich bin nicht lange dort geblieben«, entgegnete Vance nachdenklich. »Auf jeden Fall befand er sich in einer sehr bedenklichen Verfassung. Augenblicklich ist er in Pflege von Dr. Rogers und liegt im Parkham-Kranken-haus. Eine verdammt sonderbare Situation ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.«

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Auch Vance erhob sich. »Warten Sie einen Augen-blick.« Er ging in das Arbeitszimmer und telefonierte dort. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück.

»Ich habe eben mit dem wohlbeleibten Arzt gespro-chen. Der Zustand Llewellyns ist immer noch derselbe, nur ist die Atmung noch langsamer und schwächer ge-worden. Der Blutdruck ist von siebzig auf fünfzig her-untergegangen, und es haben sich Zuckungen gezeigt. Sie tun alles, was in ihren Kräften steht – sie haben ihm schon die verschiedensten Spritzen gegeben, um die Herztätigkeit wieder anzuregen, Adrenalin, Koffein, Di-gitalis – außerdem haben sie ihm den Magen ausge-pumpt. Eine endgültige Diagnose ist natürlich unter diesen Umständen noch nicht möglich, aber mir gibt die Sache viel zu denken, Markham.«

In dem Augenblick klingelte das Telefon, und Mark-ham ging zum Apparat. Bald darauf kam er aus dem Ar-beitszimmer zurück, bleich und aufgeregt. Mit unsi-cheren Schritten ging er zu dem großen, runden Tisch, der in der Mitte stand. »Um Himmels willen, Vance – es ist etwas Teuflisches im Gang! Sergeant Heath war eben am Apparat. Es ist eine Meldung ans Polizeipräsi-

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dium durchgegeben worden, und Heath hat mich so-fort davon verständigt, wahrscheinlich, weil ich ihm von diesem sonderbaren Brief erzählt habe …«

Markham machte eine Pause und sah ins Leere. Vance betrachtete ihn neugierig.

»Was hat der Sergeant denn berichtet?«

Mit größter Anstrengung versuchte Markham, sich zu fassen.

»Die junge Frau Lynn Llewellyns ist tot – vergiftet!«

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4. Das Zimmer der toten Frau

(Sonntag, 16. Oktober, 1:30 Uhr)

V ance hob die Augenbrauen.

»Das hatte ich allerdings nicht erwartet! Und doch … der ganzen Sache liegt ein Plan zu Grunde. Hat der Sergeant gesagt, wann das Unglück passierte?«

»Nein. Es scheint, als ob zuerst ein Arzt gerufen und dann erst die Polizei benachrichtigt wurde. Wir können annehmen, dass der Tod vor etwa einer halben Stunde eintrat.«

»Vor einer halben Stunde!« Vance trommelte mit den Fingern auf der Lehne seines Sessels. »Also unge-

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fähr zur selben Zeit, in der Llewellyn zusammenbrach … das ist allerdings sehr seltsam – wirklich unheimlich. Haben Sie nichts Näheres erfahren?«

»Nein. Heath sagte, er würde sofort mit ein paar Beamten zu Llewellyns Haus fahren. Vermutlich ruft er uns wieder an, wenn er dort angekommen ist.« Vance warf seine Zigarette in den Kamin und erhob sich. »Wir werden jedenfalls dann nicht mehr hier sein«, sagte er grimmig zu Markham. »Wir wollen selbst zur Park Ave-nue fahren und versuchen, herauszufinden, was dort passiert ist. Mir kommt die Geschichte grauenhaft vor. Irgendein teuflischer Plan ist im Gang. Das fühlte ich schon, als ich den Brief las. Ein Mörder hat all dies aus-gedacht, und die beiden Giftmorde sind vielleicht nur der Anfang. Ein Giftmörder ist der schlimmste aller Verbrecher, denn man weiß nicht, wie weit er geht … kommen Sie mit.«

Ich habe Vance selten so verstört und gleichzeitig so entschlossen gesehen. Auf Markham machte die Haltung meines Freundes Eindruck, denn Vance sprach schließlich nur das aus, was er selbst dachte. So folgte er der Aufforderung ohne weiteren Protest, und wir

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fuhren alle drei in Vances Auto zu dem alten, vorneh-men Haus der Familie Llewellyn in der Park Avenue.

Das schöne Gebäude mit der würdigen Sandstein-fassade stand ein paar Meter von der Straße entfernt. Ein hoher, schmiedeeiserner Zaun mit einem mächti-gen Eisentor nahm die ganze Breite des Grundstücks ein. Der Eingang war nicht gepflastert, sondern mit Kies bestreut und zu beiden Seiten mit einer Hecke eingefasst. Zwei Lebensbäume standen rechts und links von der Tür, und außerdem waren geometrische Blumenbeete im Vorgarten angelegt. Bald standen wir vor der großen, massiven Eisentür. Die Polizei war be-reits eingetroffen; zwei uniformierte Beamte des näch-sten Reviers standen in dem kleinen Vorgarten auf Po-sten. Sie erkannten den Staatsanwalt und salutierten, als er nähertrat. »Sergeant Heath und einige Beamte der Mordkommission sind eben ins Haus gegangen«, meldete der eine und drückte auf die Hausklingel.

Die Tür wurde sofort von einem großen, hageren Mann in einem schwarzweißen Morgenrock geöffnet. »Ich bin der Staatsanwalt«, erklärte Markham. »Ich

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möchte Sergeant Heath sehen. Soviel ich weiß, kam er vor ein paar Minuten ins Haus.«

Der Mann verneigte sich steif und würdevoll.

»Jawohl«, entgegnete er höflich. »Wollen Sie bitte nähertreten. Die Polizeibeamten sind bereits oben im Zimmer von Mrs. Lynn Llewellyn, das an der Südseite der großen Halle liegt. Ich bin der Butler, und ich er-hielt den Auftrag, hier an der Tür zu warten. Entschul-digen Sie bitte, wenn ich Sie nicht nach oben begleite.«

Wir gingen an ihm vorbei und stiegen die breite Wendeltreppe hinauf, die hellerleuchtet war. Als wir den ersten Treppenabsatz erreichten, begrüßte uns Detective Sullivan.

»Der Sergeant wird froh sein, dass Sie gekommen sind«, meinte er. »Die Sache sieht sehr ernst aus«. Er führte uns quer durch die Mittelhalle.

An der Südseite öffnete der Beamte eine Tür, und wir traten in einen großen, beinahe quadratischen Raum mit einer hohen, schöngeschmückten Decke und einem altmodischen, geschnitzten Kamin. Schwere sei-dene Vorhänge hingen über den Fenstern, und die Ein-

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richtung war im Empire-Stil gehalten. Soweit ich es beurteilen konnte, waren die Möbel echte, kostbare Stücke. An den Wänden hingen alte Drucke, die jedem Kupferstichkabinett Ehre gemacht hätten. Auf dem ho-hen Bett lag unter einem Baldachin7 eine junge Frau von etwa dreißig Jahren. Sie hatte beide Arme über dem Kopf verschränkt, ihr Haar war zurückgebürstet und in ein Netz eingebunden. Ihr mit Creme eingefet-tetes Gesicht war aufgetrieben, und der verzerrte Aus-druck verriet, dass sie in einem Krampfzustand gestor-ben sein musste. Die weit aufgerissenen Augen starr-ten leblos zur Decke hinauf.

Sergeant Heath, zwei weitere Mitglieder der Mord-kommission – die Kriminalbeamten Burke und Guilfoy-le – und Leutnant Smalley vom nächsten Polizeirevier befanden sich in dem Zimmer. Der Sergeant saß an dem großen, runden Tisch in der Mitte und hatte ein Notizbuch vor sich.

Vor ihm stand eine große, stattliche Dame von etwa sechzig Jahren. Ihr Gesicht ähnelte dem eines Adlers.

7 Himmel beim Himmelbett bzw. Zierdach

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Sie wischte sich die Augen mit einem kleinen Taschen-tuch. Obwohl ich sie vorher nie gesehen hatte, erkann-te ich sie doch nach den Bildern, die von Zeit zu Zeit in Zeitungen von ihr erschienen. Es war Mrs. Anthony Llewellyn.

In ihrer Nähe bemerkte ich eine junge Dame, die Lynn Llewellyn sehr ähnlich sah. Ich nahm an, dass sie Amelia Llewellyn, seine Schwester, war. Ihr dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt, glatt zurückge-kämmt und hinten in einen Knoten gelegt. Ihr Gesicht glich auch dem ihrer Mutter; es zeigte gutgeschnittene Züge, nur waren sie etwas härter und hatten einen leicht ironischen Ausdruck. Als wir eintraten, sah sie uns kühl und gleichgültig an. Die beiden Damen trugen seidene, wattierte Morgenröcke, die wie japanische Ki-monos geschnitten waren. Vor dem Kamin stand ein schlanker, nervöser Herr, der etwa fünfunddreißig Jah-re zählen mochte. Er war im Abendanzug und rauchte eine Zigarette aus einer langen Elfenbeinspitze. Wir er-fuhren bald darauf, dass es Dr. Allan Kane war, ein Freund Miss Llewellyns, der in der Nähe wohnte und den sie telefonisch herbeigerufen hatte. Der junge Arzt

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hatte die Polizei von dem Tod von Mrs. Llewellyn ver-ständigt. Obwohl er aufgeregt war, bewahrte er doch seine Haltung. Er trat von einem Fuß auf den anderen, aber sein Blick war aufrichtig, und er machte einen gu-ten Eindruck auf uns.

Sergeant Heath erhob sich und begrüßte uns, als wir eintraten.

»Ich hoffte, Sie würden kommen, Mr. Markham«, sagte er und atmete erleichtert auf, »aber ich hatte nicht erwartet, dass Mr. Vance Sie begleiten würde. Ich dachte, er sei im Kasino.«

»Dort war ich auch«, erwiderte Vance ernst und mit leiser Stimme. »Und ich danke Ihnen, dass Sie Snitkin und Hennessey zu meiner Unterstützung geschickt ha-ben. Gebraucht habe ich sie allerdings nicht.«

»Lynn!«, sagte Mrs. Llewellyn klagend, dann wandte sie sich ängstlich an Vance. »Haben Sie meinen Sohn dort gesehen? Wie geht es ihm?«

Vance betrachtete sie einige Zeit, als ob er sich erst überlegte, was er ihr antworten sollte, dann sagte er mitfühlend, aber klar und deutlich:

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»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn ver-giftet worden ist …«

»Ist er tot?«, fragte sie so scharf, dass ich unwill-kürlich zusammenschauderte. Vance schüttelte den Kopf.

»Nein, nach den letzten Nachrichten lebt er noch. Er ist in ärztlicher Behandlung im Parkham-Kranken-haus.«

»Ich muss zu ihm!«, rief sie und wollte aus dem Zimmer stürzen. Aber Vance hielt sie freundlich zu-rück. »Nein, bitte gehen Sie jetzt nicht hin. Sie können im Krankenhaus doch nicht helfen, und hier werden Sie dringend gebraucht. Ich werde bald wieder dort anrufen und nachfragen, wie es ihm geht. Es hat mir außerordentlich Leid getan, dass ich Ihnen diese trau-rige Nachricht übermitteln musste, aber früher oder später hätten Sie es doch erfahren. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Die Mutter richtete sich auf und biss die Zähne zu-sammen wie eine Spartanerin.

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»Niemand soll behaupten, dass wir Llewellyns je da-vor zurückwichen, unsere Pflicht zu tun«, erwiderte sie mit harter, klarer Stimme. Dann setzte sie sich hoch-aufgerichtet auf einen Stuhl am Ende des Bettes. Ame-lia Llewellyn hatte ihre Mutter zynisch und gleichgültig beobachtet.

»Das klingt alles sehr vornehm und edel«, bemerkte sie und zuckte die Schultern. »Wir Llewellyns – das ist die gewöhnliche Zauberformel. Damit soll alles ge-macht werden. Firmitas et fortitudo8 , das ist das alte Familienmotto – dazu ein Greif, der steht oder sitzt oder sich duckt; ich habe vergessen, was er macht. Das sieht unserer Familie so ganz ähnlich: Zu allem fähig – und zu nichts nutze.«

»Vielleicht fliegt der Greif«, meinte Vance. Sie be-trachtete ihn einige Sekunden, dann entgegnete sie ironisch: »Das mag sein. Die Llewellyns sind im Allge-meinen etwas flüchtig.«

Vance sah sie forschend an, als sie mit einem son-derbaren Lächeln auf ihn zutrat.

8 Festigkeit und Tapferkeit

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»Also, dann ist der nette, liebe Lynn, dieses Muster-beispiel von einem Sohn, auch vergiftet worden?« Das Lächeln schwand plötzlich aus ihrem Gesicht. »Es scheint jemand die Absicht zu haben, die ganze jüngere Familie auszurotten. Ich wäre nicht erstaunt, wenn ich demnächst selbst an die Reihe käme … es ist zu viel Geld in unserer Familie.« Sie verzog spöttisch den Mund, als die Mutter ihr einen ärgerlichen Blick zu-warf, setzte sich auf den Tischrand und steckte sich eine Zigarette an.

Markham wurde ungeduldig. »Machen Sie vorwärts, Sergeant«, befahl er schroff. »Wer hat die junge Frau tot aufgefunden?«, fragte er und zeigte mit der Hand auf das Bett.

»Ich habe sie zuerst entdeckt«, erwiderte Amelia Llewellyn, die sehr ernst geworden war.

»Bitte, erzählen Sie uns die näheren Umstände«, bat Vance, der sich inzwischen gesetzt hatte und sie wie-der interessiert beobachtete.

»Gegen elf Uhr zogen wir uns alle auf unsere Zim-mer zurück. Onkel Dick und Mr. Bloodgood waren

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nach dem Essen ins Kasino gegangen, Lynn folgte ih-nen ungefähr eine Stunde später. Und Allan – ich, mei-ne Dr. Kane – hatte noch einige Krankenbesuche zu machen und ging mit Lynn aus dem Haus.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Vance und hob die Hand. »Soviel ich verstehe, war das Essen heute Abend eine Art Familienfeier? War Dr. Kane auch anwesend?«

»Ja, er war hier. Ich wusste von Anfang an, was eine Geburtstagsfeier im Familienkreis bedeutet: Unange-nehme Erinnerungen, Vorwürfe, allgemeine Auseinan-dersetzungen. Der Gedanke machte mich nervös, und so bat ich im letzten Augenblick Dr. Kane, zum Abendessen zu uns zu kommen. Ich dachte, seine An-wesenheit würde die Gegensätze etwas ausgleichen. Natürlich war auch Morgan Bloodgood hier, aber der ist so gut mit uns bekannt, dass er schon fast zur Fami-lie gehört. Wir nehmen uns vor ihm nicht mehr zusam-men und erörtern unsere Differenzen in seiner Gegen-wart.«

»Und hat Dr. Kanes Erscheinen tatsächlich den ge-wünschten Erfolg gehabt?«

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»Leider nicht. Es war zu viel aufgespeicherte Lei-denschaft vorhanden, die sich irgendwie entladen musste.« Vance zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach.

»Lynn, Ihr Onkel und die anderen Herren gingen also fort, und Sie, Ihre Mutter und Ihre Schwägerin zo-gen sich etwa um elf Uhr zurück. Was geschah dann?«

»Ich war aufgeregt und nervös und konnte nicht schlafen. Gegen Mitternacht stand ich auf und arbeite-te an einer Skizze. Nach ungefähr einer Stunde wollte ich mich gerade wieder hinlegen, als ich hörte, dass Virginia heftig aufschrie. Mein Schlafzimmer liegt auch in diesem Teil des Hauses und ist von dem Virginias nur durch eine Art Privatgang getrennt, den ich zur Aufbewahrung meiner Garderobe benutze.« Sie deute-te mit dem Kopf auf eine Tür im hinteren Teil des Zim-mers. »Konnten Sie Ihre Schwägerin wirklich hören, wenn die beiden Türen geschlossen waren, obwohl der Gang dazwischenlag?«

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»Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich nichts gehört, aber ich war gerade in den Zwischengang ge-treten, um meinen Morgenrock aufzuhängen.«

»Und was machten Sie dann?«

»Ich ging an die Tür, um zu lauschen, und es hörte sich an, als sei Virginia am Ersticken. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, fand sie nicht verschlossen und…«

»War das außergewöhnlich?«, unterbrach sie Van-ce.

»Nein. Die Zwischentür ist nur selten abgeschlos-sen.«

»Bitte, fahren Sie fort.«

»Virginia lag in ihrer jetzigen Haltung auf dem Bett. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke empor, und ihr Gesicht war dunkelrot. Meiner Mei-nung nach litt sie an schrecklichen Krämpfen. Ich lief sofort in die Halle hinaus und rief meine Mutter, die auch gleich kam. ›Ruf sofort einen Arzt!‹ waren ihre er-sten Worte. Ich telefonierte mit Dr. Kane, dessen Woh-nung in unmittelbarer Nähe liegt, und er machte sich

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auch gleich auf den Weg. Aber bevor ich das Gespräch beendet hatte, sank Virginia zurück und wurde still – ganz still. Ich – ich wusste, dass sie – tot war …«

Sie schauderte zusammen.

»Nun möchte ich Dr. Kane verschiedenes fragen«, wandte sich Vance an den jungen Mann, der am Kamin stand.

Nervös trat der Arzt vor. Seine Hand zitterte, als er die Zigarettenspitze aus dem Mund nahm. »Als ich ein paar Minuten später kam«, erklärte er mit einer gewis-sen Würde, »war Mrs. Llewellyn bereits tot. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Pupillen so stark ver-größert, dass ich kaum die Iris sehen konnte. Das Ge-sicht war so rot, als ob sie an Scharlach gelitten hätte. Außerdem stellte ich ein Ansteigen der Bluttemperatur nach dem Tod fest. Die Lage der Arme, die Verzerrung der Gesichtszüge und der Krampf in den Halsmuskeln ließen darauf schließen, dass sich die Atmungsorgane zusammengezogen hatten und die Frau an Erstickung gestorben war. Wahrscheinlich war sie durch ein Gift der Belladonna-Gruppe – Hyoscin, Atropin oder Sco-

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polamin gestorben. Ich ließ den Körper, wie ich ihn fand, und warnte auch Mrs. Llewellyn und ihre Toch-ter, die Tote anzurühren. Gleich darauf telefonierte ich mit der Polizei.« »Sie haben vollkommen korrekt ge-handelt«, erwiderte Vance. »Dann haben Sie auf unsere Ankunft gewartet?«

»Natürlich«, entgegnete der junge Arzt, der inzwi-schen seine Fassung wiedergewonnen hatte.

»Und hier im Zimmer ist nichts angerührt worden?«

»Nein. Ich war die ganze Zeit hier. Miss Llewellyn und ihre Mutter haben hier mit mir zusammen gewar-tet.«

Vance nickte langsam.

»Können Sie maschineschreiben?«, fragte Vance. Kane sah ihn erstaunt an.

»Ja. Ich habe schon auf der Universität meine Kran-kenberichte mit der Maschine geschrieben. Sehr flott geht es allerdings nicht – aber ich verstehe nicht, warum Sie danach fragen?«

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»Ach, ich wollte es nur gern wissen«, entgegnete Vance gleichgültig, dann wandte er sich an Heath.

»Haben Sie den Polizeiarzt benachrichtigt?«

»Selbstverständlich«, entgegnete der Sergeant dü-ster. »Ich habe Doremus in seiner Wohnung angerufen. Es war mir peinlich, dass ich ihn ausgerechnet mitten in der Nacht …«

»Wahrscheinlich war er wütend?«

»Das kann ich wohl sagen. Aber ich erklärte ihm, dass Mr. Markham wahrscheinlich zugegen sein würde. Darauf willigte er ein, sofort zu kommen. Meiner Mei-nung nach muss er jede Sekunde eintreffen.« Vance er-hob sich.

»Ich glaube, im Augenblick habe ich keine weiteren Fragen an Sie zu stellen, Doktor«, wandte er sich an Kane. »Aber ich muss Sie bitten, hierzubleiben, bis der Polizeiarzt erscheint. Vielleicht können Sie ihm helfen … Würden Sie so liebenswürdig sein, sich solange un-ten im Wohnzimmer aufzuhalten?«

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»Natürlich.« Dr. Kane verneigte sich kurz und ging zur Tür. »Ich freue mich, wenn ich Ihnen irgendwie be-hilflich sein kann.«

Als er gegangen war, drehte sich Vance zu den bei-den Frauen um.

»Es tut mir leid, dass Sie noch aufbleiben müssen, aber wir werden Sie noch brauchen. Ich muss Sie bit-ten, in Ihre Zimmer zu gehen und dort zu warten.«

Obwohl er sanft und liebenswürdig gesprochen hatte, klang seine Stimme doch entschieden und mehr nach Befehl als nach Aufforderung.

Mrs. Llewellyn erhob sich mit blitzenden Augen.

»Warum darf ich nicht zu meinem Sohn gehen? Hier kann ich doch nichts tun. Ich weiß überhaupt nichts über diese ganze Angelegenheit.«

»Ihrem Sohn können Sie nicht helfen«, entgegnete Vance fest, »aber uns. Ich werde sehen, dass ich Ihnen einen Bericht vom Krankenhaus verschaffe.«

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Er ging zum Telefon, und eine Minute später sprach er mit Dr. Rogers. Nach dem Anruf kehrte er zu Mrs. Llewellyn zurück.

»Ihr Sohn ist aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, und die Atmung ist wieder normal. Der Puls ist stärker, und es hat den Anschein, als sei er außer Gefahr. Sie werden sofort benachrichtigt, wenn eine Wendung zum Schlechteren eintreten sollte.«

Mrs. Llewellyn presste das Taschentuch gegen die Augen und verließ schluchzend das Zimmer.

Amelia Llewellyn wartete, bis sich die Tür hinter ih-rer Mutter schloss, dann sah sie fragend auf Vance. »Warum fragten Sie Dr. Kane, ob er maschineschreiben könnte?«

Vance zog den Brief aus der Tasche, durch den er in diese Angelegenheit hineingezogen worden war, und reichte ihr das Schreiben ohne weitere Bemerkung. Er beobachtete sie durch halbgeschlossene Augen, wäh-rend sie die engbeschriebenen Blätter las. Sie runzelte die Stirn, aber sonst schien sie nicht erstaunt zu sein.

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Als sie zu Ende gelesen hatte, faltete sie den Brief lang-sam zusammen und gab ihn Vance zurück.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie, wandte sich um und ging zur Tür.

»Einen Augenblick, Miss Llewellyn«, sagte er, als sie gerade die Hand auf die Türklinke legte. »Benutzen Sie vielleicht auch eine Schreibmaschine?« Sie nickte resi-gniert.

»Ja, ich erledige meine Korrespondenz auf meiner kleinen Maschine, aber ich kann viel besser schreiben als die Person, die den Brief verfasste.«

»Und wie steht es in der Beziehung mit den ande-ren Mitgliedern der Familie? Verstehen sie sich auch darauf?«

»Ja, wir sind doch alle so fortschrittlich«, entgegne-te sie gleichgültig. »Selbst meine Mutter schreibt das Konzept zu ihren Reden immer erst in die Maschine. Und Onkel Dick, der früher einmal ein paar Bücher verfasst hat, tippt sehr schnell, wenn auch nur mit zwei Fingern.«

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»Und Ihre verstorbene Schwägerin?«

Amelia wandte sich unwillkürlich zum Bett um und seufzte.

»Virginia machte sich auch an der Maschine zu schaffen, wenn Lynn ausgegangen war, um im Kasino zu spielen. Lynn kann verhältnismäßig gut schreiben. Früher hat er einmal die Handelsschule besucht, wahr-scheinlich, weil er glaubte, dass er später einmal das Llewellynsche Vermögen verwalten sollte. Aber meine Mutter war nicht damit einverstanden, und so betätig-te er sich stattdessen in Nachtklubs.«

»Dann bleibt also nur noch Mr. Bloodgood übrig«, unterbrach Vance Amelia.

»Er schreibt auch«, erwiderte sie schnell. Ihre Au-gen nahmen einen eigentümlichen Ausdruck an, und ich fühlte, dass ihre Haltung Bloodgood gegenüber nicht nur freundschaftlich war. »Er hat seine langen Berichte über die Automaten immer unten auf unserer Maschine getippt.« Vance hob interessiert die Augen-brauen, als er das hörte.

»Haben Sie unten eine Schreibmaschine?«

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Sie nickte. »Wir haben immer eine Maschine im Haus gehabt – gewöhnlich steht sie in der kleinen Bi-bliothek neben dem Wohnzimmer.«

»Glauben Sie, dass der Brief, den ich Ihnen eben zeigte, auf der Maschine geschrieben würde?«

»Das wäre möglich«, gab sie zu und seufzte. »Sie hat die gleichen Typen und dieselbe Farbe des Bandes … aber das trifft ja auch für soundso viele andere Ma-schinen zu.«

»Vielleicht haben Sie eine Vermutung, wer den Brief geschrieben haben könnte?«

»Ich könnte mehrere Vermutungen äußern«, er-klärte sie ärgerlich. »Aber ich habe nicht die Absicht, das zu tun.« Schnell öffnete sie die Tür und verließ das Zimmer.

»Da haben Sie aber wirklich viel erfahren«, meinte Heath ironisch. »Man sollte fast annehmen, dass die Mitglieder dieser Familie alle mehr oder weniger als Stenotypisten ausgebildet worden sind.«

Vance sah den Sergeant nachsichtig an.

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»Ich habe viel erfahren.«

Heath verzog das Gesicht und schob die Zigarre in den anderen Mundwinkel.

»Das mag stimmen oder auch nicht. Der Fall ist so-wieso ziemlich verworren. Llewellyn wurde im Kasino vergiftet, und zu gleicher Zeit wurde seiner Frau hier der tödliche Trank beigebracht. Es sieht mir fast so aus, als ob das alles das Werk einer ganzen Verbre-cherbande wäre.« »Es ist aber doch möglich, dass bei-de Verbrechen von derselben Person begangen wur-den«, entgegnete Vance. »Ich bin sogar ziemlich sicher, dass es sich so verhält. Außerdem glaube ich, dass die gleiche Person diesen sonderbaren Brief schrieb … Warten Sie einen Augenblick.«

Er ging zum Telefon und zog ein kleines Papier un-ter dem Apparat hervor.

»Ich sah das schon, als ich das Krankenhaus anrief, aber ich kümmerte mich absichtlich nicht darum, so-lange die Damen noch im Zimmer waren.«

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Er entfaltete das Blatt und ging damit in die Nähe der Leselampe. Es war nur ein einfacher, hellblauer Briefbogen mit Maschinenschrift bedeckt.

»Das ist allerdings erstaunlich«, sagte Vance, als er die Mitteilung gelesen hatte.

Schließlich reichte er Markham den Bogen, und dieser hielt ihn so, dass Heath und ich mitlesen konn-ten. Die Mitteilung war ebenso schlecht geschrieben wie der Brief.

»Mein lieber Lynn!

Ich kann dich nicht glücklich machen, und der Him-mel weiß, niemand in dem großen Haus hat jemals den Versuch gemacht, mich glücklich zu machen. Onkel Dick ist der einzige, der nett und liebenswür-dig zu mir gewesen ist. Man will mich hier nicht ha-ben, und ich fühle mich todelend. Deshalb werde ich mich vergiften.

Lebe wohl – möge dir dein neues System beim Rou-lettespiel so viel Glück bringen, dass du das Vermö-

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gen zusammenscharren kannst, um das du dich mehr sorgst als um irgendetwas anderes.«

Die Unterschrift »Virginia« war ebenfalls mit der Ma-schine getippt.

Markham faltete das Papier zusammen und verzog die Lippen.

»Das scheint ja den Fall wesentlich zu vereinfa-chen«, meinte er.

»Ich bin anderer Ansicht«, erwiderte Vance. »Im Gegenteil, dieser Brief kompliziert die Lage bedenk-lich.«

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