Der Wandel im Bildverständnis der Malerei

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1 Bernhard Marx Der Wandel im Bildverständnis der Malerei * Der Inhalt unserer Kunst liegt darin, in dem, was unsere Augen denken. - Paul Cézanne, Gespräche - Im alten Griechenland und in der europäischen Renaissance hatten die Künstler das Bestreben, ihre Bilder den Erscheinungen der Natur, den Objekten anzugleichen, ja sie ihnen so ähnlich zu machen, daß das Auge geradezu getäuscht werden könnte. Generationen der Moderne bevorzugen die eher freie, gegenstandslose oder zumindest gegenstandsferne Malerei, bei der die subjektive Entäußerung im Mittelpunkt zu stehen scheint. Die Kunst und desgleichen wohl auch die Sprache bewegen sich immer mehr oder weniger „zwischen zwei Polen, einem objektiven und einem subjektiven. Keine Theorie der Sprache oder der Kunst“, so schreibt Ernst Cassirer in seinem Buch Versuch über den Menschen, „konnte einen dieser beiden Pole ignorieren oder vernachlässigen, wenngleich einmal dieser, ein andermal jener Pol stärker hervorgehoben wurde.“ 1 Damit ist bereits einer scharfen Trennung von nachahmender und symbolischer bzw. abstrakter Kunst widersprochen, ebenso einer Einteilung von Kunstwerken in Abbild und Gebild. Was im Kunstwerk zur Darstellung kommt, ist etwas, was erscheint und verweist, was ist und bedeutet. In einem spannungsvollen Prozeß visueller Entdeckung und bildnerischer Aneignung führt uns die Kunst in eine Wirklichkeitsnähe, die unsere Art zu sehen immer wieder aufs Neue bestimmt. Insofern begegnen wir in den Kunsterfahrungen auch uns selbst. Paul Klee (1879-1940) hat seinen Stil zu malen als ,kühle Romantik‘ bezeichnet. Damit meint er nicht nur die z.T. romantischen Motive seiner Bilder, sondern auch sein ganz spezielles individuelles Weltbild, das er mit ins Bild setzen will. Klee folgt dabei einem Polaritätsdenken, einem Denken in Gegensätzen (wie: Subjekt – Objekt, Diesseits – Jenseits), das nicht trennt, sondern eint und im Kunstwerk als schöpferische Ganzheit sichtbar werden soll. Im Akt des Bildens werden Sehen und Erleben, Sehnen und Empfinden zusammengeführt. Was ihn so besonders mit den Romantikern um 1800 verbindet, ist sein Anspruch einer „verinnerlichten Anschauung des Gegenstandes“ 2 ; er will neben dem rein optischen Verhältnis zwischen Ich und Gegenstand auch ein inneres Verhältnis zu diesem zur Geltung bringen. 1923 hat Klee in seinem 1 E. Cassirer, Versuch über den Menschen, Hamburg 1996, 213. In der von Theodor W. Adorno vorgelegten Kunsttheorie heißt es: „Soweit geschichtlich-real Subjekt und Objekt auseinandergetreten sind, ist Kunst möglich nur als durchs Subjekt hindurch gegangene.“ In: Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 253. Ernst Gombrich hat in einer Reihe von ,Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung‘ die Aspekte der Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit in kunsthistorischer Sicht untersucht. Vgl. E. Gombrich, Bild und Auge, Stuttgart 1984. Hans-Georg Gadamer schreibt, daß wir „aus den Dingen das Bild gleichsam heraussehen und daß wir in die Dinge das Bild einbilden.“ In: H.-G. Gadamer, Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 109. 2 P. Klee, Wege des Naturstudiums, in: Paul Klee. Schriften, Rezensionen und Aufsätze (hrsg. von Christian Geelhaar), Köln 1976, 124-126, 125. Vgl. auch J. Glaesemer, Paul Klee und die deutsche Romantik, in: Paul Klee. Leben und Werk (hrsg. von Paul Klee Stiftung, Kunstmuseum Bern, Museum of Modern Art New York), Ostfildern-Ruit 1996, 13-29. Auf die Nähe zu den Denkergebnissen Martin Heideggers hat Werner Haftmann, der Freund und Biograph Paul Klees, hingewiesen. Vgl. W. Haftmann, Der Mensch und seine Bilder. Aufsätze und Reden zur Kunst des 20. Jahrhunderts (hg. von Karl Gutbrod), Köln 1980, 25 f.

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Bernhard Marx

Der Wandel im Bildverständnis der Malerei *

Der Inhalt unserer Kunst liegt darin,

in dem, was unsere Augen denken.

- Paul Cézanne, Gespräche -

Im alten Griechenland und in der europäischen Renaissance hatten die Künstler das Bestreben, ihre Bilder den Erscheinungen der Natur, den Objekten anzugleichen, ja sie ihnen so ähnlich zu machen, daß das Auge geradezu getäuscht werden könnte. Generationen der Moderne bevorzugen die eher freie, gegenstandslose oder zumindest gegenstandsferne Malerei, bei der die subjektive Entäußerung im Mittelpunkt zu stehen scheint. Die Kunst und desgleichen wohl auch die Sprache bewegen sich immer mehr oder weniger „zwischen zwei Polen, einem objektiven und einem subjektiven. Keine Theorie der Sprache oder der Kunst“, so schreibt Ernst Cassirer in seinem Buch Versuch über den Menschen, „konnte einen dieser beiden Pole ignorieren oder vernachlässigen, wenngleich einmal dieser, ein andermal jener Pol stärker hervorgehoben wurde.“1 Damit ist bereits einer scharfen Trennung von nachahmender und symbolischer bzw. abstrakter Kunst widersprochen, ebenso einer Einteilung von Kunstwerken in Abbild und Gebild. Was im Kunstwerk zur Darstellung kommt, ist etwas, was erscheint und verweist, was ist und bedeutet. In einem spannungsvollen Prozeß visueller Entdeckung und bildnerischer Aneignung führt uns die Kunst in eine Wirklichkeitsnähe, die unsere Art zu sehen immer wieder aufs Neue bestimmt. Insofern begegnen wir in den Kunsterfahrungen auch uns selbst. Paul Klee (1879-1940) hat seinen Stil zu malen als ,kühle Romantik‘ bezeichnet. Damit meint er nicht nur die z.T. romantischen Motive seiner Bilder, sondern auch sein ganz spezielles individuelles Weltbild, das er mit ins Bild setzen will. Klee folgt dabei einem Polaritätsdenken, einem Denken in Gegensätzen (wie: Subjekt – Objekt, Diesseits – Jenseits), das nicht trennt, sondern eint und im Kunstwerk als schöpferische Ganzheit sichtbar werden soll. Im Akt des Bildens werden Sehen und Erleben, Sehnen und Empfinden zusammengeführt. Was ihn so besonders mit den Romantikern um 1800 verbindet, ist sein Anspruch einer „verinnerlichten Anschauung des Gegenstandes“2; er will neben dem rein optischen Verhältnis zwischen Ich und Gegenstand auch ein inneres Verhältnis zu diesem zur Geltung bringen. 1923 hat Klee in seinem

1 E. Cassirer, Versuch über den Menschen, Hamburg 1996, 213. In der von Theodor W. Adorno vorgelegten

Kunsttheorie heißt es: „Soweit geschichtlich-real Subjekt und Objekt auseinandergetreten sind, ist Kunst möglich nur als durchs Subjekt hindurch gegangene.“ In: Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 253. Ernst Gombrich hat in einer Reihe von ,Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung‘ die Aspekte der Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit in kunsthistorischer Sicht untersucht. Vgl. E. Gombrich, Bild und Auge, Stuttgart 1984. Hans-Georg Gadamer schreibt, daß wir „aus den Dingen das Bild gleichsam heraussehen und daß wir in die Dinge das Bild einbilden.“ In: H.-G. Gadamer, Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 109.

2 P. Klee, Wege des Naturstudiums, in: Paul Klee. Schriften, Rezensionen und Aufsätze (hrsg. von Christian Geelhaar), Köln 1976, 124-126, 125. Vgl. auch J. Glaesemer, Paul Klee und die deutsche Romantik, in: Paul Klee. Leben und Werk (hrsg. von Paul Klee Stiftung, Kunstmuseum Bern, Museum of Modern Art New York), Ostfildern-Ruit 1996, 13-29. Auf die Nähe zu den Denkergebnissen Martin Heideggers hat Werner Haftmann, der Freund und Biograph Paul Klees, hingewiesen. Vgl. W. Haftmann, Der Mensch und seine Bilder. Aufsätze und Reden zur Kunst des 20. Jahrhunderts (hg. von Karl Gutbrod), Köln 1980, 25 f.

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Abb. 1 Paul Klee, Bildnerische Mechanik. Schema Ich-Du-Erde-Welt (1923)

Aufsatz Wege des Naturstudiums anhand einer Illustration sein bildnerisches Denken zusammengefaßt (Abb. 1): Das Zentrum und der Empfänger aller Impulse von der Erde, der Welt und dem gegen-ständlichen Gegenüber ist das ,Ich‘ des Künstlers. Mit dem Auge sieht er sein Gegenüber auf dem optisch-physischen Weg. Zugleich aber wird dieses Gegenüber verinnerlicht auf metaphysischem Weg durch die irdische Verwurzelung und die kosmische Gemein-samkeit. In der Verbindung der Wahrnehmungsebenen des Sinnlichen und des Seelischen entsteht Wirk-lichkeit neu. Die Zwiesprache des Künstlers mit der Natur beschreibt er wie folgt: „Sämtliche Wege treffen sich im Auge und führen, von ihrem Treffpunkt aus in Form umgesetzt, zur Synthese von äußerem Sehen und

innerem Schauen. Von diesem Treffpunkt aus formen sich manuelle Gebilde, die vom optischen Bild eines Gegenstandes total abweichen und doch, vom Totalitätsstandpunkt aus, ihm nicht widersprechen.“3 An einer anderen Stelle heißt es bei Klee: „Schon seit geraumer Zeit gibt die Malerei nicht gesehene Dinge wieder, sondern sie ist der gestaltete Prozeß der Auseinandersetzung von Mensch und Welt, Mensch und Natur, Mensch und Ding.“4 Anfang des 20. Jahrhunderts vollzieht sich anknüpfend an die reflexive Empfindungswelt der Romantiker in der expressionistischen Kunst (insbesondere in Deutschland) - und wie sich auch zeigen ließe parallel in den Natur- und Geisteswissenschaften - jener Paradigmenwechsel, an dessen Ende die Einsicht in das „Versagen der dinglichen Objektivierbarkeit“ steht, wie es Carl Friedrich von Weizsäcker einmal formulierte.5 Die Trennung von Mensch und Natur (Welt), von Subjekt und Objekt wird aufgegeben. In einem kunstgeschichtlichen Rückblick soll versucht werden, den Wandel im Bildverständnis der Malerei bis zu jener Epoche hin zu verdeutlichen. Die nun folgende gleichsam äußerst geraffte Kunstbildgeschichte ist notwendigerweise zeitgeschichtlich und in der Auswahl von Maler und Werk begrenzt, aber sie mag dennoch einen Eindruck davon vermitteln, was sich im Bildverstehen auch kulturgeschichtlich geändert hat.

3 Ebd., 125 f.. Vgl. auch W. Haftmann, Paul Klee. Wege bildnerischen Denkens, Frankfurt/M. 1961, 89-101. Bereits

Johann Wolfgang Goethe hat in seiner Schrift Das Allgemeinste über Farben (1805/06) die Metapher des spiegelnden Auges aufgegriffen: „Das Auge vernimmt und spricht. In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch.“ In: J. W. Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Bd. 3, Weimar 1951, 437. Diese Metapher bestätigt eben jene nicht hintergehbare Beziehung zwischen Ich und Welt, „indem sie nicht nur die Welt sich ‚von außen‘ im Auge abspiegeln läßt, sondern auch dem Subjekt gestattet, sich von innen darin, das heißt in seinem Bild von der Welt, zu sehen.“ So Ralf Konersmann in: ders, Lebendige Spiegel, Frankfurt/M. 1991, 191. Vgl. ferner G. Picht, Kunst und Mythos, Stuttgart 1996, 333 f. sowie L. Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, Reinbek 1997, 127 f.

4 P. Klee zit. in: A. Müller, René Magritte. Die Beschaffenheit des Menschen. Eine Kunst-Monographie, Frankfurt/M. 1989, 75.

5 C. F. von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1970, 42. Vgl. auch Werner Heisenberg: „Die Erkenntnis von der Grenze der Objektivierbarkeit bedeutet wohl mehr als nur eine neue naturwissenschaftliche Erfahrung nach vielen anderen; sie bedeutet, daß wir uns mit der Seite der Wirklichkeit auseinandersetzen müssen, bei deren Erkenntnis vom Erkenntnisprozeß nicht mehr abgesehen werden kann.“ In: ders., Ordnung der Wirklichkeit, München 1990, 175.

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Abb. 2 Leonardo da Vinci, Proportionsstudie des menschlichen Körpers (um 1492)

Künstlerisches Wirken im späten Mittelalter – in der Zeit der Hochrenaissance – besteht vorrangig darin, die Leistungen der Antike zu erreichen oder gar zu übertreffen und ist begleitet von einem intensiven Streben nach Wirklichkeitstreue. Oberstes Prinzip ist – der antiken Ästhetik folgend – die Mimesis, d.h. die Nachahmung der Natur. Kunst wird als nachahmende Darstellung verstanden. Beispielhaft seien als Vertreter Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer und Jan Vermeer genannt. In den uns überlieferten Aufzeichnungen Leonardo da Vinci’s (1452-1519) über die Malerei lesen wir, daß diese allein „Nachahmerin aller offenbaren Werke der Natur“6 sein sollte: „Der Geist des Malers hat dem Spiegel zu gleichen, der sich stets in die Farbe des Gegenstandes wandelt, den er zum Gegenüber hat, und der sich mit so viel Ähnlichem anfüllt, als Dinge sind, die ihm gegenüber stehen.“7 In der Sprache der Renaissance bedeutet ,nachahmen‘ (imitare) weitaus mehr, als nur abbilden, kopieren oder wiedergeben. Im Nachahmen vollzieht sich zugleich auch ein Erkenntnis- und Schöpfungsakt. Leonardo schreibt: „Der Maler, der sich beim Zeichnen allein auf Übung und das Urteil des Auges verläßt, aber seine Vernunft nicht gebraucht, gleicht einem Spiegel, der alles wiedergibt, was vor ihn hingestellt wird, ohne zu wissen, was.“8 Die in der Kunst geschaffenen Formen sollen den gleichen Gesetzen gehorchen, wie die Natur selbst. Für Leonardo und andere seiner Zeitgenossen ist Malerei so etwas wie eine Wiedererschaffung der sichtbaren Welt. Stellvertretend für eine Fülle von Bildern, die aus diesem Geist entstanden, soll auf seine bekannte Proportionsstudie verwiesen werden (Abb. 2). Leonardo will den menschlichen Körper mit seinen

idealen Proportionen nicht nur studieren und darstellen, sondern gleichsam erschaffen. Der Vorgabe Vitruvs folgend zeichnet er einen männlichen Körper, der sich mit ausgestreckten Armen sowohl in ein Quadrat als auch in einen Kreis legen läßt. Mit diesen mathematisch bestimmten Proportionen soll der körperlich perfekte Mensch dem vollkommenen Maß der Schönheit entsprechen. Je genauer einer sich der Natur durch Nachahmung nähert, um so künstlerischer ist auch für Albrecht Dürer (1471-1528) sein Werk. Dürer hat in den Vier Büchern von menschlicher Proportion (1528) seine Ansichten über die Kunst in einem großen ästhetischen Exkurs zusammengefaßt: „Das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit aller Ding. Darum sieh sie fleißig an, richt dich darnach und geh

6 L. da Vinci, zit. in: Leonardo. Forscher-Künstler-Magier (hg. von Ladislao Reti), Köln 1996, 293. Vgl. auch K.

Clark, Leonardo da Vinci, Reinbek 1996, 73 ff. 7 Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei (hg. von Heinrich Ludwig), Wien 1882, Bd.1, Nr. 56, zit. nach J.

Kulenkampff, Spieglein, Spieglein an der Wand..., in: B. Recki, L. Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion, 270-293, München 1997, 284.

8 L. da Vinci, zit. in: The Literary Works of Leonardo da Vinci (hg. von Jean Paul Richter), London 1970, Bd.1, Nr. 20, zit. nach J. Kulenkampff, a. a. O., 284.

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nitt von der Natur in dein gut Gedünken, daß du wöllest meinen, das Besser von dir selbst zu finden; dann du wirdest verführt. Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie... Je genäuer dein Werk dem Leben gemäß ist in seiner Gestalt, je besser dein Werk.“9 Er gehört jener Generation an, die die Malerei als eine exakt zu lösende Aufgabe der darstellenden Geometrie ansieht und ausübt. Im Vordergrund steht, was sich durch Messung fassen läßt. Für Dürer ist Kunst, ist Malerei eine Wissenschaft, durch die Welt, Mensch und Natur nach theoretischer Einsicht veranschaulicht werden, nicht wie sie uns erscheinen. Sein besonderes Interesse gilt dabei auch der Darstellung des menschlichen Körpers, immer verbunden mit der Suche nach dem idealen Schönheitsbild, das auf die antike Kunst zurückgeht. Zwei Werke aus seinem Schaffen können dies veranschaulichen. Da ist zunächst sein Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes aus dem Zyklus Underweysung der Messung aus dem Jahr 1538 (Abb. 3). Der

Künstler als Betrachter der Welt schaut wie durch ein Fenster auf die Welt, die er zu rekonstruieren versucht. Mit Hilfe der Linear-perspektive soll das Objekt – hier der Körper einer Frau – maßstabs-getreu abgebildet werden. Dabei schaut der Maler durch ein quadratisch gemustertes Gitter, um

so das Objekt Punkt für Punkt zu erfassen und auf seinen ebenfalls quadratisch gemusterten Zeichenbogen zu übertragen, zu reproduzieren.10 In der hier dargestellten Beziehung zwischen dem Maler und der Frau, die ihren Körper gleichsam darbietet, wird zugleich die besitzergreifende Haltung gegenüber der Welt der Objekte deutlich. Als zweites soll auf sein Aquarell Das große Rasenstück aus dem Jahr 1503 hingewiesen werden. In natürlicher Größe und in schärfster Präzision bildet er mit allen Feinheiten Gräser, Scharfgarbe, Wegerich und Löwenzahn, so wie sie in ihrem zufälligen Wachstum stehen, nach. Er verzichtet in seiner gleichsam mikroskopischen Naturschau nicht auf die kleinsten Einzelheiten. Damit wird den Gräsern in ihrer Geschöpflichkeit ein Eigenwert zuerkannt und sie scheinen uns in ihrer Lebendigkeit greifbar nahe. Beinahe fotografische Perfektion erzielt der niederländische Maler Jan Vermeer (1632-1675). Mit großer Sicherheit und Genauigkeit vermag er mit dem Spiel von Farbe und Licht Szenen des Alltags wiederzugeben, wobei häufig schlichte Gestalten in einem typisch holländischen Zimmer gezeigt werden. Als ein Beispiel dafür gilt sein Bild Das Milchmädchen um 1660. Mit großer Sicherheit und Präzision vermag Vermeer alle Abstufungen der Farbtöne und Formen wiederzugeben. Wie ein Fotograf mindert er die starken Kontraste in seinem Bild, gibt Weichheit und Klarheit den Vorzug, ohne die Form in irgendeiner Weise aufzulösen. Auch bei Vermeer wird deutlich, daß das Bild wie ein Fenster, wie ein markierter Ausschnitt erscheint. Das Gesehene wird zum Ausblick und die Distanz des Betrachters zu dem, was im Bild zu sehen ist, wird bestimmt durch die perspektivische Darstellung. Die meisterhaft ins Bild gesetzten Lichteffekte überträgt Vermeer auch auf Außenräume. So wirken in seiner Ansicht von Delft Lichtreflexe und

9 A. Dürer, Schriften und Briefe (hg. von Ernst Ullmann), Leipzig 1971, 255. Vgl. auch H. Wölfflin, Die Kunst

Albrecht Dürers, München 1984, 275-291.

Abb. 3 Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes (1538)

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Abb. 4 Jan Vermeer, Ansicht von Delft (1658-1660)

Morgenhimmel zusammen (Abb. 4). Eine reale Stadtansicht wird nahezu naturgetreu durch Anwendung einer Camera obscura wiedergegeben, wobei er hier die bauliche Substanz in unüberbietbarer Plastizität darstellt: den rohen Naturstein einer Brücke, die Backsteine, den Mörtel der Mauern und die gewellten Dachpfannen scheinen greifbar nah. Vermeer vermittelt Realitätsnähe, will aber auch eine gewisse Bewunderung der prachtvollen Stadt zum Ausdruck bringen. Das die Innenstadt überflutende Licht ist sowohl bildhaft als auch natürlich zu deuten und betont die vitale Kraft dieser Stadt. Die Wider-

spiegelung der Stadtsilhouette im Wasser, die fast wie ein Schatten wirkt, den Vermeer nachweislich in der Endfassung des Bildes verlängerte, gibt den Bauten am gegenüberliegenden Ufer ein zusätzliches Gewicht und Ansehen.11 Bei allem Spielraum für die Kreativität des Künstlers bleibt doch das Prinzip der Nachahmung das vornehmste Ziel der Malerei bzw. der Kunst bis weit in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit Jean-Jacques Rousseau und Johann Wolfgang von Goethe bricht die klassische und neoklassische Kunsttheorie zusammen; die ‚nachahmende‘ Kunst weicht – zugespitzt formuliert – allmählich der ‚charakteristischen‘ bzw. expressiven Kunst. In Goethes Schrift Von deutscher Baukunst (1772) heißt es: „Die charakteristische Kunst ist nun die einzig wahre. Wenn sie aus inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag sie aus rauher Wildheit oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig.“12 Und in seinen Maximen und Reflexionen lesen wir dazu: „Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezuges ist.“13 Wirklichkeiten werden neu entdeckt; die Deutung von Wirklichkeit durch vermittelte Anschauung wird zum bestimmenden Merkmal der anbrechenden Kunstepoche. Mit der Frühromantik Ende des 18. Jahrhunderts bildet sich zugleich eine neue Autonomie des Künstlers heraus, der sich seiner individuellen Perspektive und seines schöpferischen Aktes bewußt wird. Die philosophische Theorie, die auf diese sich verändernde Situation am deutlichsten antwortet, ist die Ästhetik Kants. Als bedeutender Maler dieser Epoche sei hier zunächst Philipp Otto Runge (1777-1810) genannt. Angeregt von der Klopstock-Ode Lehrstunde der Nachtigall beginnt Runge mit seinem malerischen Hauptwerk, einem gleichnamigen Zyklus, in dem er das Amor-Psyche-Thema

10 Vgl. U. Pörksen, Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart 1997, 148 f. 11 Vgl. A. K. Wheelock, Jr. (Hrsg.), Vermeer. Das Gesamtwerk, Stuttgart-Zürich 1996, 120 ff. 12 J. W. Goethe, Von deutscher Baukunst, in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich

Trunz), München 1998, Bd. XII, 7-15, 13. 13 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Goethes Werke, a. a. O., 365-547, 467.

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Abb. 5 Philipp Otto Runge, Der Morgen (1808)

aufnahm. Nach Vollendung des ersten Bildes 1802 entdeckt Runge die Möglichkeit des aktiven Verhältnisses des Malers und Betrachters zu Motiv und Bild, die Möglichkeit, eigene Gedanken

sowohl hineinzulegen, als auch herauszulesen – eine Leistung, die wohl als eine der fundamentalsten der bildenden Kunst der Romantik bezeichnet werden kann. „So dringt der Mensch seine eignen Gefühle den Gegenständen um sich her auf, und dadurch erlangt alles Bedeutung und Sprache, (…) ein Kunstwerk hält so still, wenn man darüber sitzt, und läßt sich

empfinden und wenden, wohin man’s haben will“14 – so schreibt Runge an seinen Bruder Daniel im Jahre 1802. Ein Jahr später notiert Runge in Bezug auf seinen Kupferstichzyklus zu den vier Tageszeiten: „Ich habe nun den ‚Abend‘ ganz anders gezeichnet und umgearbeitet, so daß er mir nun ganz recht ist; die Figur in der ‚Nacht‘ habe ich in mir selbst auch fertig und komme so in Hinsicht der Bilder völlig zustande mit dem, was ich will.“15 Für ihn war die ‚Landschaft‘ Aufgabe der Kunst seiner Zeit, freilich nicht in konventioneller Hinsicht, sondern als symbolhafte Darstellung zur Veranschaulichung des Göttlichen. Die Bildfindungen für diesen genannten Zyklus sind darauf angelegt, Lebensrhythmen als Sinnbild für das Bleibende und Veränderliche darzustellen. In seinem Bild Der kleine Morgen aus dem Jahr 1808 schwebt über dem Horizont die Gestalt gewordene Aurora als Lichtbringerin (Abb. 5).16 Das neugeborene Kind ist

anschaulich auf die Göttin der Morgenröte bezogen, da es gleichsam von ihrem Licht erweckt wird; das Licht hat Schöpfungskraft. Die die Göttin umkreisenden Kinder stellen eine Verbindung zwischen der Himmelswelt und der irdischen Landschaft her. Dies wird auch im Rahmenbild deutlich, wo von der Erde, die die Sonne verdeckt, Genien und Blumen zum himmlischen Licht aufsteigen. Von Runge werden hier abstrakte Vorstellungen, entstanden in der Reflexion über die Schöpfung als Offenbarung Gottes, gleichnishaft ins Bild gesetzt. Diese Bildsprache ist freilich auch Ausdruck seiner pantheistischen Weltanschauung. Von den Arbeiten Runges beeinflußt, finden wir auch in den Landschaftsbildern Caspar David Friedrichs (1774-1840) ein gesteigertes Naturgefühl, das zu einem allgemeinen Lebensbedürfnis wird und sich

insbesondere in der Vorliebe für kontrastreiche Abstufungen innerhalb seiner Bilder zeigt. Nicht die Natur selbst wird ins Bild gesetzt, sondern die Erscheinung der Natur, so wie sie ihm erscheint. Ihm geht es nicht um eine naturgetreue Darstellung von Luft, Wasser, Felsen und Bäumen, sondern seine Empfindung, seine Seele soll sich im Bild widerspiegeln; das, was er in sich sieht. In seinem Empfinden bewahrheitet sich Natur, auch ihr spirituelles Wesen. „Schließe

14 Ph. O. Runge, Die Begier nach der Möglichkeit neuer Bilder. Briefwechsel und Schriften zur bildenden Kunst

(hrsg. von Hannelore Gärtner), Leipzig 1978, 110, 25. 15 Ebd., 137. 16 Die Schrift Aurora oder die Morgenröte im Aufgang von Jacob Böhme scheint insbesondere mit ihren

Kupferstich-Illustrationen für dieses Bild Pate gestanden zu haben. Vgl. H. Hohl, Die Epiphanie des ‚Morgen‘, in: Runge in seiner Zeit (hrsg. von Werner Hofmann), München 1977, 204-219.

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Abb. 6 Caspar David Friedrich, Eismeer (1823/24)

dein leibliches Auge, damit du mit deinem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen“, so Friedrich, und weiter: „Die einzig wahre Quelle der Kunst ist unser Herz, die Sprache eines reinen kindlichen Gemütes. Ein Gebilde, so nicht aus diesem Borne entsprungen, kann nur Künstelei sein.“17 Ein zentrales Thema, das in vielen seiner Bilder mitschwingt, ist die Sehnsucht, ja ein Streben nach Harmonie, nach sinnerfüllter Menschlichkeit, nach Befreiung der Seele, wodurch sich gleichzeitig ein Protest gegen den Rationalismus der Aufklärung manifestiert. Auch die brechenden Eisschollen in seinem Bild Eismeer (Die verunglückte Hoffnung), gemalt in bloßer Vorstellung der Arktis, zeugen von der Empfindungskraft und dem Symbolhaften im

Dargestellten selbst (Abb. 6): Zum einen die Unendlichkeitssehnsucht, erwachsen aus dem Freiheitswillen der Zeit der Befreiungskriege und zum anderen die Verzweiflung und Resig-nation, resultierend aus der Enttäuschung der Restaurationszeit.18 Die sinnstiftende Betrach-tungsweise, getragen von einer reflektierenden Innerlichkeit, wie sie sich in der Romantik herausbildet, ist die Grundvoraussetzung für das Verständnis der modernen Kunst. Auf Natur und Welt schaut der Künstler aus seiner ganz persönlichen Sicht und entwirft in der Reflexion seines Dabeiseins ein durch sein Empfinden geprägtes Bild.

Ähnliche Überlegungen finden wir bei Eugène Delacroix (1798-1863), jenem führenden Maler der französischen Romantik und Vorbereiter des Impressionismus. In seinen Tagebuch-aufzeichnungen (1853) heißt es: „Geschieht die Nachahmung, um der Phantasie zu gefallen oder einfach um eine merkwürdige Art von Gewissenhaftigkeit zu befriedigen, die für den Künstler darin besteht, das Modell, das er vor Augen hat, so genau als möglich kopiert zu haben? (…) Der Maler, der sich peinlich darauf beschränkt, nur das zu geben, was in der Natur da ist, wird in seiner Arbeit immer kälter wirken, als die Natur, die er nachzuahmen glaubt; (…) es ist also für den Künstler viel wichtiger, dem Ideale, das er in sich trägt und das ihm eigen ist, nahezukommen, als das vergängliche Ideal, das die Natur darbieten kann, festzuhalten. (…) Ich glaube ganz fest, daß wir immer etwas von uns in die Empfindungen hineinmischen, die von den Objekten, die uns ergreifen, auszugehen scheinen.“19 Unter dem Eindruck der Juli-Revolution von 1830, in deren Folge der französische König Karl X. abdanken muß, malt Delacroix das bekannte Bild Die Freiheit auf den Barrikaden, auch bekannt unter dem Titel Die Freiheit führt das Volk. Hier ergreift er bildlich Partei für die Freiheitsbewegung jener Zeit. Es gibt keine statische Bindung mehr an objektive Normen, es vollzieht sich der Schritt in eine freiheitliche Kunst, die individuelles Leben offenbart. Um die Dramatik seiner Bilder zu erhöhen, macht Delacroix sich

17 Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen (hrsg. von Sigrid Hinz), München 1968, 92. Vgl. auch W.

Geismeier, Caspar David Friedrich, Leipzig 1998, 31 ff. 18 Vgl. M. Levey, Von Giotto bis Cézanne, Leipzig 1993, 268 ff., sowie W. Geismeier, Caspar David Friedrich,

a.a.O., 51. 19 E. Delacroix, Mein Tagebuch, Zürich 1993, 122 ff., 127 f.

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Abb. 7 William Turner, Dampfer im Schneesturm (1842)

neben dem traditionellen Hell-Dunkel-Kontrast auch den Kontrast aneinandergrenzender Komplementärfarben zunutze. Er gibt damit der Farbe eine neue zusätzliche Bedeutung, denn er berücksichtigt nicht nur ihren Darstellungswert, sondern auch ihre emotionale Kraft und Eigengesetzlichkeit. Mit der Absage an akademische Regeln geht einher der Anspruch auf schöpferische Autonomie. Daß Delacroix seiner allegorischen Figur der Freiheit auch eine lichtsymbolische Bedeutung beimißt, scheint unverkennbar: ihr hochgestreckter rechter Arm als dunkle Silhouette vor dem weißen Streifen der Trikolore; auch der halbentblößte Oberkörper der Frauengestalt – erinnernd an die Nacktheit von Heiligendarstellungen – ist umgeben von einem goldgelben Himmelslicht.20 Die Freisetzung der Farbe ist auch für den englischen Romantiker William Turner (1775-1851) typisch. Eine präzise Naturbeobachtung ist für seine Malerei zweitrangig. Er will nicht den Natureindruck abbildlich wiedergeben, sondern er ist auf der Suche nach einem malerischen Äquivalent. Deshalb ergibt sich die Stimmung in seinen Bildern, wie z.B. beim Dampfer im Schneesturm weniger aus dem Gegenstand der Darstellung, als vielmehr aus der künstlerischen Machart (Abb. 7). Von einem energiegeladenen Zentrum aus scheint die Materie an den Rand

geschleudert zu werden. Ein Schiff in der aufgewühlten See ist einem Sturm und Schneetreiben ausgesetzt. Farbe und Linienführung sind nicht naturalistisch, sondern folgen allein der Empfindung und dem Gefühl Turners. Bei der Betrachtung des Bildes glaubt man, „das Brausen des Windes zu hören und das Toben der Wellen zu spüren.“21 Licht und die Bewegtheit der Farbe führen zu einer Verschleierung und atmosphärischen Auflösung, ja zu einer Entstofflichung des Motivs. Romantische

Erhabenheit und Rätselhaftigkeit der Natur werden im Bild gleichsam poetisiert. Nicht

Abbildung der Wirklichkeit, sondern Visualisierung der Wahrnehmung, Verbildlichung, ist der Kernpunkt seiner Malkunst. Damit gehört Turner unbestreitbar zu den Wegbereitern der modernen abstrakten Malerei. Einer der bedeutendsten Maler im Ausgang des 19. Jahrhunderts, Paul Cézanne (1839-1906), hat es wie kaum ein zweiter verstanden, Äußerlichkeit und Innerlichkeit eines Bildmotivs in Form und Farbe zu setzen, gerade so, wie sich die Dinge ihm zeigen. Er selbst schreibt: „Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen verwirklichen.“22

20 Vgl. J. Traeger, Die Epiphanie auf der Barrikade, in: B. Brock, A. Preiß (Hrsg.), Ikonographia. Anleitung zum

Lesen von Bildern, München 1990, 139-153. Traeger analysiert den von Delacroix gestalteten ‚Lichtgestus‘, der einen Vergleich mit der Aurora in Runges Kleinen Morgen zu rechtfertigen scheint. Ebd., 141.

21 E. H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, Frankfurt/Main 1997, 494. 22 P. Cézanne, zit. in: Gespräche mit Cézanne (hrsg. von Michael Doran), Zürich 1982, 54.

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Abb. 8 Paul Cézanne, La Montagne Sainte-Victoire (1900)

Cézannes „Blick auf die Natur schließt immer die Beobachtung des eigenen Sehens ein. Wenn er von ‚Sehdaten‘ spricht, so ist dies für einen Maler überhaupt nur sinnvoll, wenn er im Blick ‚auf etwas‘ stets die Eigenart seines Blickens mitreflektiert“; (...) diese Wendung im Blick auf die Wirklichkeit „bestimmt das Verhältnis von Auge, Bild und Realität neu. Was sich wandelt ist die Rolle des Sehens“23 und damit des Subjekts. Diese Zuspitzung auf das Subjekt bedeutet nicht einfach ein In-sich-kehren oder Sich-ins-Bild-drängen durch Subjektivierung. Eher umgekehrt, die Bedingtheit eigenen Sehens zu erkennen, schlechthin die Bewußtwerdung eigener Wahrnehmung, bedeutet vielmehr eine „neue Art von Sachlichkeit“; Cézannes „Wende besteht also darin, die Wirklichkeit ausschließlich als ein Ereignis des Auges zu begreifen, alles vermeintliche Wissen von ihr auszuschalten. Insofern wird das subjektive Sehen zur Instanz, (…) zum Medium und Instrument der Kunst.“24 Mit seiner Malerei ändert sich in radikaler Weise die bis dahin weitgehend festgefügte Relation von standortgebundenem Betrachter, dem Bild als Fenster und der dargestellten Welt. Es entsteht eine neue autonome Bildwelt, in der der Maler und damit auch der Betrachter gleichsam mit der geschauten Wirklichkeit verschmelzen. Der Maler als Teil der Wirklichkeit bleibt nicht außerhalb des Bildes, er ist vielmehr mit im Bild.25

Ein Blick auf eines seiner Montagne-Sainte-Victoire-Landschaften aus dem Jahr 1900 kann dies verdeutlichen (Abb. 8). Was wir im Bild sehen ist eine scheinbar prosaische Abfolge von Farbflecken, die mehr oder weniger vieldeutig lesbar sind. Dem einzelnen Fleck läßt sich oft nichts Konkretes, Faßbares zuordnen. Dem Ganzen aber lesen wir sehr wohl ein Stück Wirklichkeit, nämlich Natur heraus: ein verschattetes Tal mit Häusern, bizarre Wolken, die einen Berg umhüllen. Noch

einmal sei Cézanne zitiert: „Die Natur lesen heißt sie durch den Schleier der Inter-

pretation mittels farbiger Flecken sehen.“26 Cézanne möchte die Dinge in ihrer Zeitlosigkeit und Unzerstörbarkeit sehen und vermitteln. Dabei wird der Berg mit seinem harten, die Zeiten überdauernden Felsgestein zu einem Sinnbild des Erhabenen und Bleibenden. Der Berg ist nicht mehr Bild-Motiv, sondern wird zur Motivation seines Malens schlechthin. Er nähert sich nicht

23 G. Boehm, Paul Cézanne. Montagne Sainte-Victoire. Eine Kunst-Monographie, Frankfurt/M. 1988, 30. „Cézanne

ging es um eine Gleichung, in der sich Bild und Wirklichkeit wechselseitig verständlich machen, ohne daß die Malerei auf Nachahmung beruhte. Die Autonomie des Bildes konvergiert mit dem Blick auf die Natur.“ ebd., 29. Vgl. auch K. Leonhard, Paul Cézanne, Reinbek 1993, 86 f.

24 Ebd., 31. Vgl. auch G. Boehm, Paul Cézanne und die Moderne, in: Fondation Beyeler, Cézanne und die Moderne (Ausstellungskatalog), Ostfildern-Ruit 1999, 10-27.

25 Gottfried Boehm spricht von einem ,Erkenntnismodell‘, das man zu den „geheimen Konstanten der Moderne rechnen darf,...: das Gegenüber-Bild, der Ausschnitt, das Fenster auf eine Welt wird ersetzt durch ein Feld, das den Betrachter impliziert.“ G. Boehm, Abstraktion und Realität, PhJb 97(1990), 225-237, 229.

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mittels einer richtigen Zeichnung dem Objekt, sondern der Berg wird gleichsam zur Inspiration. Cézanne will die Landschaft nicht erfassen und darstellen, sondern die Empfindung, die die Landschaft in ihm erzeugt, verwirklichen. Eine Antwort geben im Bild auf das den Maler berührende und von ihm durchdrungene Motiv, das hat Rainer-Maria Rilke als eines der wesentlichen Züge Cézanne’scher Malerei gesehen. In seinen Briefen über Cézanne heißt es: „Das Überzeugende, die Dingwerdung, die durch sein eigenes Erlebnis an dem Gegenstand bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit, das war es, was ihm die Absicht seiner innersten Arbeit schien.“27 Rilke spricht hier genau das an, was viele Künstler seiner Zeit in ganz unmittelbarer Weise erfahren, durchlebt und vermittelt haben: Die untrennbare Einheit von Kunstwerk und Künstler, das Sich-nicht-herausnehmen-können aus seinem Werk. Rilke erkennt zugleich, daß es sich hier „nicht nur um einen Wendepunkt in der abendländischen Malerei handle... Vielmehr wurde ihm mit jeden Tage deutlicher, daß sich hier ein Vorgang vollziehe, der nicht nur begriffen, sondern mitvollzogen werden müsse; um ein Geschehen, das die Distanz unbeteiligten Betrachtens und Vergleichens nicht mehr zulasse.“28

Dieses persönliche Angerührtsein entdecken wir auch in seinem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (erschienen 1910), der thematisch seiner Zeit weit voraus war und wo wir auf den ersten Seiten des Romans mehrfach lesen: ‚Ich lerne sehen‘. Aus der bloßen Weltsicht entsteht ein Weltbild, das der Versuch einer Antwort auf die Frage ist, wie die Welt der Objekte auf den Betrachter wirkt. Nicht die Wiedergabe von Wirklichkeiten, sondern die Gestaltung von Wirkungen werden zum Ziel der modernen Kunst. In diesem Gestaltungsprozeß werden malerische Wahrheiten ans Licht gebracht, die zu einer neuen Bildlichkeit des Sichtbarmachens führen. Dies ist die eigentliche Leistung Paul Cézannes, der zusammenfassend sagt: „Der Inhalt unserer Kunst liegt darin, in dem, was unsere Augen denken.“29 Noch einmal soll von Paul Klee die Rede sein. In seinem in Jena 1924 gehaltenen Vortrag Über die moderne Kunst heißt es: „Unser pochendes Herz aber treibt uns hinab, tief hinunter zum Urgrund. Was dann aus diesem Treiben erwächst, möge es heißen, wie es mag, Traum, Idee, Phantasie, ist erst ganz ernst zu nehmen, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mitteln restlos zur Gestaltung verbindet. Dann werden jene Kuriosa zu Realitäten, zu Realitäten der Kunst, welche das Leben etwas weiter machen, als es durchschnittlich scheint. Weil sie nicht nur

26 P. Cézanne, zit. in: Gespräche mit Cézanne, a. a. O., 54. Vgl. auch Paul Cézanne. Bilder einer Berges (Einführung

von Hajo Düchting), München 1990. Vgl. ferner Max Imdahl, der das „gegenstandsfreie Sehen“ Cézannes reflektiert. M. Imdahl, Bildautonomie und Wirklichkeit, Mittenwald 1981, 15 ff.

27 R. M. Rilke, Briefe über Cézanne, Frankfurt/M. 1983, 30. 28 H. W. Petzet, Nachwort zu R. M. Rilkes Briefen über Cézanne, a. a. O., 117. 29 P. Cézanne, zit. in: Gespräche mit Cézanne, a. a. O., 148 . In einem Gespräch mit J. Gasquet sagt Cézanne weiter:

„Die gesehene Natur, die empfundene Natur, ..., beide müssen sich durchdringen, um zu dauern, zu leben, ein halb menschliches , halb göttliches Leben, das Leben der Kunst. Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir.“ Ebd., 137. Ganz ähnlich beschreibt August Macke den Prozeß des Bild-Werdens in einem Beitrag zum Almanach ‚Der blaue Reiter‘: „ Der Mensch äußert sein Leben in Formen. Jede Kunstform ist Äußerung seines inneren Lebens. Das Äußere der Kunstform ist ihr Inneres. Jede echte Kunstform entsteht aus einem lebendigen Wechselverhältnis des Menschen zu dem Tatsachenmaterial der Naturformen.“ A. Macke, Die Masken, in: Der blaue Reiter (hrsg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc), München 1984, 56. In theologischer Reflexion heißt es bei Romano Guardini: „Sowohl das Wesen des Dinges wie auch des Künstlers selbst geht lebendig in eins zusammen und drängt in den Ausdruck.“ R. Guardini., Über das Wesen des Kunstwerks, Tübingen 1950, 13.

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Gesehenes mehr oder weniger temperamentvoll wiedergeben, sondern geheim Erschautes sichtbar machen.“30 Wenn Klee ganz ähnlich an anderer Stelle, sicher in Anlehnung an die Kunsttheorie Konrad Fiedlers, formuliert: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“31, so verweist er darauf, daß die Malerei nicht mehr ‚unkritisch‘ den Gegenstand darstellt, wie er – scheinbar objektiv – auch ohne unsere Wahrnehmung an sich ist, sondern immer nur, wie er mir erscheint, und daß diese Reflexion von nun an unverzichtbarer und unverlierbarer Bestandteil des Bildganzen ist. Das bedeutet, der Künstler verschweigt nicht die Art seines Sehens; er schafft nicht das Bild, sondern ein Bild, das unverwechselbar sein Bild ist. Die Teilhabe des Künstlers an seinem Werk wird damit explizit zum Inhalt erhoben. Der Künstler macht damit offenkundig nicht nur sichtbar, sondern er macht auch sehend: den Betrachter, aber auch allererst wohl sich selbst. Der Prozeß der Auseinandersetzung mit seiner Welt und seine Aneignung werden zum Bild und bleiben im Bild. In seinem Bild Tanz des trauernden Kindes II aus dem Jahr 1922

begegnen uns Frohsinn und Tanz auf der einen Seite, Bestürzung und Trauer auf der anderen – das scheint sich zunächst zu widersprechen (Abb. 9). Für ihn aber sind diese beiden Pole kennzeichnend für den ganzen Lebensweg des Menschen, der sich immer in einem Stadium des Übergangs, gleichsam in der Schwebe befindet. Häufig hat er auch das Motiv eines Seiltänzers gewählt, um auf das labile Gleichgewicht, den Balanceakt im menschlichen Dasein hinzuweisen. Beide Motive stehen sinnbildhaft für sein gelebtes Leben, seine Lebenshaltung, wie auch für das Leben des Menschen schlechthin.32 Viel stärker noch wird dieses Moment des Zerbrechlichen aber auch Fragmentarischen in seinen späten Zeichnungen sichtbar.

Hier nun müßte freilich auch auf andere Maler seiner Zeit verwiesen werden, etwa auf Franz Marc (1880-1916) mit seiner innigen Naturverbundenheit und seinem Hang zu romantischer Verträumtheit; auf Edvard Munch (1863-1944), der sich in seinen Bildern eingehend mit der

30 P. Klee, Über die moderne Kunst, in: Paul Klee, Kunst – Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur

bildnerischen Formlehre (hrsg. von Günther Regel), Leipzig 1995, 70-85, 83 f. 31 P. Klee, Schöpferische Konfession, in: Paul Klee. Schriften, a. a. O.,118-122, 118. Paul Klee rezipiert hier

offenkundig ein zentrales Theorem Konrad Fiedlers: „Die bildende Kunst gibt die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie sie gesehen werden.“ K. Fiedler, Schriften zur Kunst (eingeleitet von Gottfried Boehm), Bd. 2, München 1991, 59. In dieser Intention schreibt auch Ernst Gombrich: „Malen ist eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt, und so wird der Künstler eher sehen, was er malt, als malen, was er sieht.“ E. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin 2002, 73.

32 Paul Klee hat das Motiv des Seiltänzers „mit seiner Balancierstange als äußerste Verwirklichung des Symbols des Kräftegleichgewichtes“ bezeichnet. Paul Klee, Das bildnerische Denken (hrsg. von Jürg Spiller), Basel-Stuttgart 1956, zit. nach U. Bischoff, Paul Klee, München 1992, 37. In weiterführender kunstphilosophischer Betrachtung heißt es bei Dagobert Frey: „Das Kunstwerk wird Form des Lebens, das damit selbst Sinnbild wird.“ D. Frey, Bausteine zu einer Philosophie der Kunst (hrsg. von Gerhard Frey), Darmstadt 1976, 164. Weiterführend auch B. Marx, Balancieren im Zwischen. Zwischenreiche bei Paul Klee, Würzburg 2007.

Abb. 3 Paul Klee, Tanz des trauernden Kindes II (1922)

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Psyche und dem Lebensgefühl des modernen Menschen auseinandersetzt – erinnert sei an seinen Bilderzyklus Fries des Lebens, wo er existentielle Themen wie Liebe, Leid und Tod entfaltet; auf Wassily Kandinsky (1866-1944), der in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst darauf hinweist, daß das Geistige als einem dem Menschen innewohnende Kraft des Sehens ins Bild rücken müsse – weg von einem bloßen distanzierten Anschauen der Natur hin zu einer Bild-Komposition, in der sich das Zwiegespräch zwischen innerer Vorstellungs- und Gefühlswelt und äußerer Lebenswirklichkeit zeigt. „Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die das Werk heißt. Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand – durch Katastrophen ... Werkschöpfung ist Weltschöpfung.”33

Wenn Klee von seiner Bildwelt als einem ‚Gleichnis der Natur‘ spricht, so versteht er dies als eine Schöpfung in Analogie zur Natur, nicht aber als eine Spiegelung oder Reproduktion irgendeines Erscheinungsbildes. Das Ineinander von Natur- und Weltanschauung befähigen ihn zur Gestaltung eines Kunstwerkes, das gleichnishaft wird zu dem, was sich ihm in der Schöpfung als das Urbildliche zeigt. Was er schafft, was er im Gebild reflektiert darstellt, ist keine neue, keine fremde Welt, sondern eine von ihm so gesehene Wirklichkeit. Im Bild-Werden geschieht gleichsam die Freisetzung eines neuen Bezuges zur Welt. Paul Klee sagt: „Was wir sehen, ist ein Vorschlag, eine Möglichkeit, ein Behelf. Die wirkliche Wahrheit selbst liegt zunächst unsichtbar zugrunde.“34 Das Bild als das „gestaltgewordene Zwischen“35 ist freilich wirklich, aber die Wirklichkeit selbst bleibt hinter dem Bild zurück. Diese Einsicht kann uns freimachen, in einem Bild nicht das ‚Original‘ sehen zu wollen.

Quelle: R.-M.E. Jacobi, B. Marx, G. Strohmaier-Wiederanders (Hg.), Im Zwischenreich der Bilder, Leipzig 2004,

177-197.

33 W. Kandinsky, Rückblicke, Bern 1977, 24. 34 P. Klee, Tagebücher 1898-1918, (hrsg. von Felix Klee), Köln 1979, 382. Auch in seiner Abhandlung

Schöpferische Konfession schreibt Paul Klee, daß „das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind.“ Paul Klee. Schriften, a. a. O., 63. Vgl. auch W. Haftmann, Der Mensch und seine Bilder, a. a. O., 167-172. In einen seiner späten Essays schreibt Maurice Merleau-Ponty: „Die moderne Malerei, wie ganz allgemein das moderne Denken, zwingt uns, eine Wahrheit anzuerkennen, die nicht den Dingen ähnelt.“ M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (hrsg. von Hans Werner Arndt), Hamburg 1984, 87.

35 M. Buber, Urdistanz und Beziehung, Heidelberg 1978, 24. Vgl. auch Claude Monet: „Ich will darstellen, was zwischen dem Objekt und mir lebt.“ zit. in: Ch. Heinrich, Claude Monet, Köln 1994, 57. Im Schauen der Dinge, im Vernehmen, so heißt es bei Ernst Cassirer, „ist immer und notwendig zwischen dem menschlichen Geist und dem Wesen der Dinge als ein Mittleres die Welt der Bilder und Zeichen eingeschaltet.“ E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1997, 303. Auf die Differenz zwischen Wirklichkeit und Bild hat auch Reinhard Brandt hingewiesen; er charakterisiert Bilder als „anschauliche Zwiegebilde im ‚est et non‘, am Saum der erfahrbaren Wirklichkeit.“ R. Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes, München-Wien 1999, 21.