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Der Weg des jüdischen Arztes Otto Friedländer von Dannenberg nach Theresienstadt Elke Meyer-Hoos „Dr. Friedländer, den kenn’ ich nur vom Hörensagen, von meinen Eltern. Der hat in der Bahnhofstraße [in Dannenberg] gewohnt und der war, menschlich gesehen, ein ganz toller Arzt. Er hat arme Leute, die nicht zahlungsfähig waren, die in Not waren, genauso behandelt wie jeden anderen. Nach meiner Erinnerung hat mein Vater gesagt, dass die sich rechtzeitig irgendwie absetzen konnten.“ – „Kubinzki war ein hundertprozentiger SA-Mann. Der hatte sehr viele Kinder. Jedenfalls hatte der Friedländer die ganzen Kinder zur Welt gebracht.“ 1 Otto Karl Friedländer wurde am 5. Dezember 1890 in Potsdam als Sohn des Rechtsanwalts und Notars Justizrat Dr. Samuel Friedlaender (geb. 11. 11. 1855 in Landeck, Westpreußen, verst. 19. 3. 1910 in Potsdam, verheiratet mit Martha Abramczyk, Tochter eines Bankiers in Berlin) geboren. Er hatte noch zwei Brüder: Ernst Adolf, geb. 2.6.1888 und Rudolf Felix Paul, geb. 21.6.1893. 2 Sein Bruder Ernst, zuletzt wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, wird von der Geheimen Staats- polizei am 5. 7. 1944 an die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsi- denten Berlin als verstorben gemeldet. Diese zieht sein Vermögen einen Monat später am 9. 8. 1944 ein. 3 Das Schicksal von Rudolf ist unbekannt. Otto machte 1908 in Potsdam sein Abitur, studierte dann zwei Semester Medizin in Breslau, ein Semester in Freiburg i. Br., zwei Semester in Würzburg, ein Semester in Heidelberg und ab 1912 drei Semester in Leipzig. Dort legte er am 12. Januar 1914 das ärztliche Staatsexamen ab. Als Medizinalpraktikant war er in Mainz an einer Hebammenlehranstalt und an der Krankenanstalt des Hambur- gischen Waisenhauses sowie in der Anatomie des Hafenkrankenhauses tätig, er erhielt am 9. August 1914 seine Approbation. Von März 1915 bis März 1916 vertrat er einen Kollegen in einer „ausgedehnten Landpraxis.“ Eingezogen zum Heer arbeitete Friedländer in Lazaretten in Güstrow und Parchim. Noch während des 1 Interview S. und Interview M. durch die Verfasserin, 2008, im Stadtarchiv Dannenberg (StADbg). 2 Personenstandsunterlagen des Standesamtes Potsdam, Geburten-, Heirats- und Sterberegister, Film P 034, 037, 041, 058, 132, Stadtarchiv Potsdam. – StADbg, Die Synagogengemeinde in Dannenberg allgemein 1906-1944, J2/63/1. 3 Ernst Friedländer, Totenliste von nach dem 1.7.1943 bis 18.3.1945 Verstorbenen; Vermögens- einziehungsanordnungen, 1.2.1.1/0001-0060/0008/0300, Digitales Archiv, International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen. Hannoversches Wendland, Band 16/17, 1998-2011, Lüchow 2012, S. 49-58

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Der Weg des jüdischen Arztes Otto Friedländer von Dannenberg nach Theresienstadt

Elke Meyer-Hoos

„Dr. Friedländer, den kenn’ ich nur vom Hörensagen, von meinen Eltern. Der hat in der Bahnhofstraße [in Dannenberg] gewohnt und der war, menschlich gesehen, ein ganz toller Arzt. Er hat arme Leute, die nicht zahlungsfähig waren, die in Not waren, genauso behandelt wie jeden anderen. Nach meiner Erinnerung hat mein Vater gesagt, dass die sich rechtzeitig irgendwie absetzen konnten.“ – „Kubinzki war ein hundertprozentiger SA-Mann. Der hatte sehr viele Kinder. Jedenfalls hatte der Friedländer die ganzen Kinder zur Welt gebracht.“1

Otto Karl Friedländer wurde am 5. Dezember 1890 in Potsdam als Sohn des Rechtsanwalts und Notars Justizrat Dr. Samuel Friedlaender (geb. 11. 11. 1855 in Landeck, Westpreußen, verst. 19. 3. 1910 in Potsdam, verheiratet mit Martha Abramczyk, Tochter eines Bankiers in Berlin) geboren. Er hatte noch zwei Brüder: Ernst Adolf, geb. 2.6.1888 und Rudolf Felix Paul, geb. 21.6.1893.2 Sein Bruder Ernst, zuletzt wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, wird von der Geheimen Staats-polizei am 5. 7. 1944 an die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsi-denten Berlin als verstorben gemeldet. Diese zieht sein Vermögen einen Monat später am 9. 8. 1944 ein.3 Das Schicksal von Rudolf ist unbekannt.

Otto machte 1908 in Potsdam sein Abitur, studierte dann zwei Semester Medizin in Breslau, ein Semester in Freiburg i. Br., zwei Semester in Würzburg, ein Semester in Heidelberg und ab 1912 drei Semester in Leipzig. Dort legte er am 12. Januar 1914 das ärztliche Staatsexamen ab. Als Medizinalpraktikant war er in Mainz an einer Hebammenlehranstalt und an der Krankenanstalt des Hambur-gischen Waisenhauses sowie in der Anatomie des Hafenkrankenhauses tätig, er erhielt am 9. August 1914 seine Approbation. Von März 1915 bis März 1916 vertrat er einen Kollegen in einer „ausgedehnten Landpraxis.“ Eingezogen zum Heer arbeitete Friedländer in Lazaretten in Güstrow und Parchim. Noch während des

1 Interview S. und Interview M. durch die Verfasserin, 2008, im Stadtarchiv Dannenberg (StADbg).2 Personenstandsunterlagen des Standesamtes Potsdam, Geburten-, Heirats- und Sterberegister, Film P

034, 037, 041, 058, 132, Stadtarchiv Potsdam. – StADbg, Die Synagogengemeinde in Dannenberg allgemein 1906-1944, J2/63/1.

3 Ernst Friedländer, Totenliste von nach dem 1. 7. 1943 bis 18. 3. 1945 Verstorbenen; Vermögens-einziehungsanordnungen, 1.2.1.1/0001-0060/0008/0300, Digitales Archiv, International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen.

Hannoversches Wendland, Band 16/17, 1998-2011, Lüchow 2012, S. 49-58

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Krieges wurde er 1917 in Rostock promoviert („Morbidität und Mortalität an Diphtherie und Scharlach im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin in den Jahren 1904-1913 mit besonderer Berücksichtigung des Kindesalters“).4

Friedländer heiratete 1918 die protestantische Heidelbergerin Magdalena Kramer, geb. 29.10.1894, die er schon während seines Studiums kennengelernt hatte (Abb. 1). Sie war Halbwaise und bei ihren Großeltern in der Kepplerstraße 38 auf gewachsen. Der Großvater war „Privatier“; er war nicht einverstanden, dass seine Enkelin einen Juden heiratete.5 Magdalena, genannt Lene, hatte enge Bin-dungen an ihre Halbschwester Anna (verst. 1953), die bei ihrer Mutter mit zwei weiteren Kindern in einer neuen Beziehung lebte. Die Halbschwester Anna heira-tete Karl Rickel, der im „Dritten Reich“ Gefängnisaufseher in Mannheim war. Die Familie war durch Armut und Arbeitslosigkeit gezeichnet. Anna Rickel bekam eine Tochter und nannte sie Magdalena nach ihrer Halbschwester, die auch Patin wur-de. Als Patin beschenkte Frau Magdalena Friedländer ihre Nichte regelmäßig und hielt die Verbindung aufrecht. Ihr Mann zeigte sich immer sehr großzügig und unterstützte die Familie seiner Frau.6

4 Universität Rostock, Universitätsarchiv, Promotionsakte; Stadtarchiv Heidelberg: AW 47.74.47: Lebenslauf als Anlage zur Dissertation; Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Informationszentrum.

5 Interview Magdalena Siebert, geb. Rickel, Mannheim, 2010.6 Ebd.

Abb. 1: Magdalena und Dr. Otto Friedländer um 1918 (Archiv Museum Wustrow).

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Im Juli 2010 besuchte die Verfasserin Magdalena Siebert, geb. Rickel, das Paten-kind von Magdalena Friedländer, 85 Jahre alt, in Mannheim. Der Kontakt war im Januar 2010 über den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen (ITS) und ihre Tochter Gaby Bergbold ermöglicht worden. Ihre herzlichen Kindheitserinnerungen an die Patentante hat Frau Siebert im hohen Alter (2005) bewogen, mit Hilfe ihrer Tochter den Verbleib der Familie Friedländer zu klären, leider damals noch mit wenig Erfolg. Aber sie hat Briefe und Fotos von Otto Friedländer aufbewahrt, die nun weiterhelfen, das Schicksal dieser Familie zu klären.

Das Ehepaar Friedländer bekam am 25.4.1919 eine Tochter, Lilly, geb. in Heidel-berg-Neustadt.7 Am 22. Juli 1919 8 ließ sich Dr. Friedländer als praktischer Arzt in Dannenberg, Bahnhofstraße 2 nieder. Nur wenige Zeitzeugen aus Dannenberg erinnern sich noch an ihn. Friedländer war zeitweilig Vorstand der Synagogen-gemeinde Dannenberg (1926), eine Rabbinerstelle gab es nicht. Er zahlte regel-mäßig seinen Beitrag an die Landrabbinatskasse Hannover über die Stadt Dannen-berg (drei bis vier RM). Dieser wurde berechnet nach dem Steueraufkommen (Reichseinkommenssteuer), das bei Friedländer z.B. 1926 RM 721,- (zum Vergleich Hugo Wolff, Fellhandel und Kurzwaren in Dannenberg: 1926 ein Beitrag von RM 86,-) und 1932 RM 1 203,- betrug.9

Im September 1933 wanderte die Familie nach Zagreb/Jugoslawien aus. Die Familie lebte zunächst im Hotel Esplanade in Zagreb (Abb. 2).10 Die Gründe für den Wechsel liegen eindeutig in der neuen politischen Situation ab 1933 und der Gesetzgebung durch die Nationalsozialisten. Die Verordnung des Reichsarbeitsmi-nisters vom 24. 4. 1933 verbot die Zulassung „nicht-arischer“ Arzte zu den Kran-kenkassen. Beschwerden dagegen waren möglich, die zuständigen kassenärztlichen Vereinigungen führten die Verordnung auch nicht immer sofort durch.11 Aber die Perspektive für Dr. Friedländer war auf jeden Fall schlecht. In einer Liste der Emi-granten im Ortspolizeibezirk Dannenberg 1934 heißt es: „Friedländer glaubte hier sein Auskommen nicht mehr zu haben, nachdem für ihn die ärztliche Versorgung der Krankenkassenpatienten fortfiel.“ – An anderer Stelle schreibt der Bürgermeis-ter/Ortspolizeistelle Dr. Nörtemann 1936 an den Landrat [handschriftliches Ent-wurfsschreiben mit Korrekturen]: „ . . . Dannenberg aus politischen Gründen verlas-sen .. .“ und „Die Ausübung seines Berufes in Deutschland ist ihm unmöglich geworden.“ [Korrektur: „... schien ihm unmöglich zu sein.“]; „Politischer Lebens-lauf: sehr liberale Richtung“ und „Politisches Verhalten im Inland vor seiner Ab-wanderung: ist nicht öffentlich hervorgetreten.“ [Ergänzung: „Er kehrte gern seine

7 Stadtarchiv Heidelberg, AW 47.74.47: Lilly, manchmal auch Lilli.8 StADbg, Die Synagogengemeinde, J2/63/1.9 Die zu versteuernden Einkommen stiegen bei Friedländer kontinuierlich von 1924 bis 1928, nahmen

geringfügig ab bis 1932. 1922 und 1923 führt der Stadtkämmerer Lübeck bei der Auflistung der Reichseinkommenssteuer der „Israeliten“ neben Dr. Otto Friedländer auch Siegmund Mansfeld, Kauf-mann in Lüchow, W. Mansfeld, Kaufmann in Lüchow, Ernst Wolff, Kaufmann in Dannenberg, Krebs, Viehhändler in Lüchow, Dr. med. Salinger in Schnackenburg an. StADbg, Die Synagogengemeinde, J2/63/1.

10 StADbg, J2/63/1.11 Günter P LU M , Wirtschaft und Erwerbsleben, in: Wolfgang B E N Z (Hg.), Die Juden in Deutschland

1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1988, S. 290f.

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‚soziale’ Gesinnung hervor.“]12 Am 5.11.1943 verstarb Dr. Otto Friedländer in Theresienstadt.13

Magdalena Friedländer überlebte, sie ist am 19. März 1983 in Graz/Österreich, verstorben. Lilly Friedländer, verheiratete Burkart, lebte zuletzt in Graz und ver-starb dort am 21.8.1989. In der Liste der Glaubensjuden in der Kultusgemeinde Wien wird sie 1946 mit einer Adresse in Wien aufgeführt.14

Mutter und Tochter haben unseres Wissens nach dem Krieg nicht versucht, zu ihren Verwandten in Mannheim und Heidelberg Kontakt aufzunehmen.

Anna Rickel hatte versucht, ihre Halbschwester Lene in Mähren zu besuchen. Otto Friedländer hielt immer brieflichen Kontakt zur Schwester seiner Frau. Einige Briefe vom Sommer 1940 bis Dezember 1942 sind erhalten geblieben. Anna schrieb selten und antwortete immer weniger, was Dr. Friedländer bekümmerte. Die Fami-lie Rickel soll Angst gehabt haben vor Briefen eines Juden, weil der Vater als Ge-fängnisaufseher im Staatsdienst war.15

12 StADbg, J2/63/1.13 Dr. Otto Friedländer, 1.1.42.2/THERES 13/0079, Digitales Archiv, ITS Bad Arolsen.14 Lilly Friedländer, Liste der in Wien lebenden Glaubensjuden 1946, 3.1.1.3/0001-0197/0176/0004,

Digitales Archiv, ITS Bad Arolsen.15 Interview Magdalena Siebert, Mannheim, 2010 (Briefe im Archiv Museum Wustrow).

Abb. 2: Hotel Esplanade in Zagreb, 1933 (Archiv Museum Wustrow).

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Brief 3.7.1940, Luhacovice, Mähren,16 Villa BocekBrief 5.8.1940, Zlin /Mähren, Protektorat LuhacoviceBrief 5.8.1940, Luhacovice, Mähren, Villa Bocek

Die ersten drei Briefe von Otto Friedländers an Anna Rickel – alle sind mit Schreibmaschine eng geschrieben – drehen sich um einen geplanten Besuch bei Lene Friedländer durch ihre Mutter und ihre Halbschwester Anna in Luhacovice, Mähren. Otto Friedländer bemühte sich nach der Ankündigung des Besuches mit großer Eile um eine günstige Beschreibung des Bahnweges17 und um eine Einreise-genehmigung des Oberlandratsamtes in Zlin, wohin er extra fuhr. Otto Friedländer empfiehlt, unterwegs zu übernachten und legt eine Anzeige eines Bahnhofshotels in Pilsen bei. In Mannheim hatten sie „alle für eine Reise ins Protektorat erforder-lichen Papiere beisammen,“ nur der Oberlandrat vor Ort verweigert einen Pass (einen „Durchlass-Schein“), den die (nicht jüdische) Frau seines Bruders Ernst Friedländer, Rechtsanwalt in Berlin-Wilmersdorf, ohne weiteres bekommen hatte mit der Begründung, dass Lene Friedländer krank sei. Er entwirft für Lenes Mutter und Halbschwester ein Gesuch, das diese noch einmal abschreiben und dann an den Oberlandrat in Zlin schicken sollen. Die Bitte um Einreisegenehmigung nach „Luhatschowitz“ wird damit begründet, dass Magdalena Friedländer „Volksdeut-sche“ sei, „an einer Geisteskrankheit“ leide, die leider „unheilbar“ sei, und mit dem Wunsch einer „alten Mutter“, die „ihr unglückliches Kind noch einmal wieder-sehen“ möchte. Friedländer unterschreibt seinen Entwurf sogar mit „Heil Hitler!“ – wie schwer mag ihm das gefallen sein.18 Er besorgte ein Attest von einem Arzt, das bescheinigte, dass seine Frau tatsächlich krank ist. Einen Monat dauerte es, die schwierige Anreise und den Besuch überhaupt zu klären und vorzubereiten, aber offensichtlich ist es nicht gelungen, dass sich Mutter und Tochter noch einmal sehen konnten.

Brief 4.3.1941, Luhacovice, Mähren, Villa Bocek

Der nächste erhaltene Brief von Otto Friedländer wurde sieben Monate später geschrieben und bezieht sich auf einen Brief von Anna Rickel von Ende Oktober 1940. Friedländer ist überaus besorgt um die Familie seiner Frau wegen der Luft-angriffe auf Mannheim; er stellte sich vor, dass sie evtl. evakuiert wurden oder krank seien. Er schickte diesen Brief vorsorglich eingeschrieben, damit er erführe, dass er überhaupt angekommen ist. Er bat herzlich darum, gleich zu antworten und unterschrieb: „Ihr Ihnen sehr ergebener Schwager Otto Friedländer.“

16 Böhmen und Mähren (Tschechoslowakei) waren von 1939 bis 1945 Protektorat des Deutschen Reiches. 17 „Mannheim, Heidelberg, Prag, Brünn, Luhacovice; Übernachten am besten in Prag oder in Pilsen;

oder Samstag Nachmittag ab Mannheim über Würzburg nach Wien, dort übernachten, Sonntag früh weiter nach Lundenburg, Stare Mest („auf deutsch heißt das heute Altstadt“) und nach Luhacovice. Nur Sonntags fährt dieser Zug, er braucht nur 4 Stunden von Wien.“

18 Auf der Rückseite dieses Antragsentwurfes ist – mit vielen Tippfehlern – das Gedicht geschrieben: „Wenn Du noch eine Mutter hast, so danke Gott...“, unterschrieben „Hochachtungsvoll Frau Anna Ricjekel.“

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Brief 5.11.1941, Ungarisch Brod, Mähren, Schulgasse Nr. 854

Der Brief vom November 1941 reagiert auf einen Brief der schwiegermütterli-chen Familie vom Mai des Jahres. Seitdem ist keine Nachricht mehr aus Mannheim gekommen. Friedländer hatte am 5. Juni geantwortet und nun fünf Monate lang nichts gehört. Er erwähnt die „Heeresberichte von Einflügen in das westliche Deutschland“ und macht sich Sorgen (Abb. 3). „Länger will ich nun auch nicht warten, sondern ich will mich bemühen, durch einen eingeschriebenen Brief ... den abgerissenen Faden unserer mir so lieb gewordenen brieflichen Verbindung wieder anzuknüpfen ... Wieder will ich wünschen und hoffen, dass meine Befürchtungen um Sie und die lb. Ihren zu Unrecht bestehen.“ Auffällig ist, wie positiv und rück-sichtsvoll seine Briefe sind. Er klagt nicht über seine Situation, die sich seit 1933 von Jahr zu Jahr verschlechtert hat.

Jetzt, im Juni 1941, hat das nationalsozialistische Herrschaftssystem in einem vorletzten Schritt auf Friedländer zugegriffen; das Ziel war, alle Juden zu vernich-ten. Die Familie Friedländer wird getrennt, Otto als „Volljude“ – wie die nationalso-zialistische Klassifizierung hieß – gezwungen, in das Judenviertel von Ungarisch Brod überzusiedeln.19 Friedländer berichtet sachlich, dass die Wohnungsnot in Brod immer größer wird, weil jüdische Familien aus den Landgemeinden dorthin übersiedeln müssen. Er sucht eine Unterkunft für seine Frau und Tochter, was nicht gelingt, aber im August erhalten diese eine Verfügung, von Luhacovice nach Brod überzusiedeln. Die jüdische Gemeinde hätte ihnen eine Unterkunft zuzuweisen. Friedländer beschreibt diese Situation positiv: „So fand durch diese behördliche Anordnung ein Zustand ein Ende, der schon lange unhaltbar war.“ Er hatte eine Ausnahmegenehmigung bekommen, einmal in der Woche nach Luhacovice fahren zu dürfen – das Ghetto zu verlassen [diesen Begriff benutzt F. allerdings nie] – um sich um seine kranke Frau zu kümmern. Alle sind jetzt im Ghetto. Otto hat erst mit

19 Ungarisch-Brod, östlich von Brünn, westlich der Weißen Karpaten an der Grenze zur Slowakei – heute Uhersky Brod/Tschechien – lag ab 1939 im Protektorat Böhmen und Mähren unter der Ver-waltung des SS- und Polizeiführers Karl Hermann Frank und bis 1942 unter dem stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich.

Abb. 3: Dr. Friedländer an Frau Rickel, 5. Nov. 1941 aus Ungarisch Brod (Archiv Museum Wustrow).

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dem Sohn einer Familie zusam-men wohnen müssen, musste dann allein in eine kleine Kammer umziehen: „Auch dort war ich bei sympathischen Menschen nett auf-gehoben.“ Er und Lene bekommen dann ein größeres Zimmer. „Ein Zufall fügte es, dass dort – es ist ein ganz altes Haus in der Juden-stadt – sogar Badezimmer und WC vorhanden ist. Ich war recht zufrieden, als man Lene und mir in einem noch nicht gar so alten Haus ein schönes ... relativ großes Zimmer als Unterkunft zuwies. Es ist gleichfalls eine sympathische, hilfsbereite Familie, der dieses Zimmer abgenommen wurde ... Es gibt doch schon jüdische Wohnun-gen, in denen in 3 Räumen 3 ver-schiedene Familien zusammen wohnen.“ „Auch diese Wohnung hat Badezimmer und WC. Ich er-wähne das, weil es in dem uralten Judenviertel – ich habe zuvor so etwas noch nie gesehen – eine Ausnahme ist.“

Über seine Tochter – sie ist jetzt 22 Jahre alt – schreibt Friedländer: Lilly musste in einem kleinen „Durchgangszimmer ganz in unserer Nähe“ bleiben ... Im Weiteren berichtet Otto Friedländer, wie sie sich eingerichtet haben. Auch hier scheint es so, dass sie voller Glück und Dankbarkeit für ihr Leben sind; kein Wort der Klage. „Wir haben uns das Zimmer im Rahmen des Möglichen wohnlich ein-gerichtet. Durch eine besondere Aufstellung von zwei großen Schränken haben wir einen Schlafraum von einer Wohnküche abgetrennt ... Der Schlafraum ist 4,60 m x 2,65 m groß – besser gesagt ‚klein’ – aber obwohl darin die beiden großen Schränke stehen, ferner unsere zwei Betten, 2 Nachtkästen, 2 Stühle und noch ein Wäscheschrank, ist gerade noch genug Raum vorhanden, um sich zwischen den Möbeln zu bewegen und die Schranktüren zu öffnen. Die Wohnküche ist 4,60 m x 3,35 m groß, also auch verdammt begrenzt, aber auch dort ist das Notwendigste untergekommen. Wie ich Ihnen früher mal schrieb, haben wir ja vor unserem Fortzuge aus Zagreb sehr viel verkauft, um uns zu verkleinern, so unser Speisezimmer, unser Herrenzimmer und viele einzelne Möbel. Nachdem wir doch bald nach unserer Übersiedlung in die Tschechoslowakei sahen, dass auf die Dauer auch hier unser Bleiben nicht sein würde, haben wir in Luhacovice immer noch weiter allen überflüssigen Hausrat abgestoßen und wirklich nur noch das behal-ten, was man in unserer bedauerlichen Situation benötigt. In der Wohnküche steht unser schönes Küchenbuffet – wir hatten uns zur Auswanderung 1933 noch eine

Abb. 4: Lilly Friedländer im Alter von 10 Jahren, aufge-nommen in Dannenberg (Archiv Museum Wustrow).

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moderne Küche angeschafft – der Küchentisch daneben. Auf der anderen Seite steht ein Divan, davor ein Tisch und drei Sessel darum. Auf der Fensterseite steht noch ein weißer Schrank und an der 4. Seite steht der Ofen und ein kleiner Kochherd, den wir hier kaufen mussten. Das Zimmer hat auch Wasserleitung ... Alle finden, dass wir sowohl die Frage der Einteilung des Zimmers ... als auch die Einrichtung ... selbst nett getroffen haben und dass es noch ganz gemütlich bei uns ausschaut. Schöne Bilder, gute Teppiche, anständige Vorhänge machen ja bekanntlich auch sehr viel aus, dass ein Raum nett ausschaut.“

In diesem Brief schreibt Friedländer auch erstmalig über seine schwere Krank-heit (Angina Pectoris, Otto Friedländer ist damals 51 Jahre alt) und die Krankheit seiner Frau, die er als „Hemmung im Entschluss,“ „das Zwangsläufige ihrer Hand-lungsweise“ beschreibt und meint, „Lenes Zustand“ habe sich „etwas mehr auf-gelockert,“ das heißt, sie kocht etwas, sie hilft bei der Pflege ihres Mannes. Lilly gibt Deutschunterricht für einige Schülerinnen und fährt dazu mehrere Male in der Woche nach Luhacovice; sie darf sich also offensichtlich auch als „Halbjüdin“ frei bewegen.

„Damit will ich zum Schluss kommen. Ich hoffe, es hat sie interessiert, was ich Ihnen aus diesen letzten 6 Monaten mitgeteilt habe [. . .]“ Otto Friedländer schreibt so, als verschicke er einen Urlaubsbericht; welche Selbstverleugnung steht dahinter oder auch eine Verleugnung der Realität.

Brief März 1942, Ungarisch Brod, Mähren, Haus Nr. 854

Als Datum dieses Briefes ist mit Bleistift handschriftlich vermerkt: März 1943. Vermutlich wurde er aber – inhaltlich folgerichtig – im März 1942 abgeschickt. Friedländer schreibt, dass er seit seinem Brief im November letzten Jahres nichts mehr von der Familie seiner Frau gehört hat und wieder zeigt er seine Besorgnis. Er will diesen Brief eingeschrieben schicken: „[. . .] zwar etwas kostspielig, aber ich habe allein dadurch die Gewähr, dass der Brief in Ihre Hände gekommen ist.“ Wie immer benutzt Friedländer in seinem Briefwechsel mit der Schwägerin das förm-liche „Sie.“ Er berichtet nur kurz, dass in Lenes Befinden eine gewisse Besserung eingetreten ist, aber sie sei nicht „wieder geistig gesund.“

Brief 17.4.1942, Mannheim-Friedrichsfeld, Anna Rickel

Ein Teil des Briefes ist erhalten. Vielleicht wurde er nicht abgeschickt? Anna Rickel hatte die Adresse von Friedländer verloren und sie nun zufällig im Luft-schutzkeller unter Versicherungsscheinen wieder gefunden: „Dadurch [ist mir] ein Stein vom Herzen gefallen.“ Sie hofft, „dass sich Eure Adresse nicht wieder geändert hat.“ Auf erhaltene Briefe geht sie nicht ein. Anna schreibt vom Frühling, fragt nach ihrer lieben Schwester Lene, berichtet, dass die Mutter ihren 70. Ge-burtstag gefeiert habe, aber sehr leidend sei. Ihr ältester Sohn ist seit Juni 1941 bei der Kriegsmarine und „ganz begeistert.“ Der zweite Sohn wurde vom Arbeitsdienst

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zurückgestellt, weil er im Geschäft gebraucht wird und die Tochter Leni, das Paten-kind, hat ein Jahr ihrer Lehre [zur Schneiderin] beendet.

Brief 29.12.1942, Ungarisch Brod, Mähren, Haus Nr. 854

Fast ein halbes Jahr später, in einem Brief vom 29. Dezember 1942, sorgte sich Friedländer wieder – auf eineinhalb Schreibmaschinenseiten um die Familie seiner Frau. Friedländers haben am 10. Juli 1942 einen Brief aus Mannheim erhalten und zehn Tage später hat Otto Friedländer darauf geantwortet. Auch Lene hatte einige Zeilen an ihre Mutter beigefügt und grüßt sie.

In nur acht Zeilen geht Otto Friedländer in dem Brief vom 29.12. auf ihre der-zeitige Situation in Ungarisch-Brod ein: „Von uns ist seit dem letzten Briefe eigent-lich gar nichts Neues zu berichten. Derzeit steht Ungar. Brod, wo Juden nach und nach konzentriert wurden, unter dem Zeichen der für Ende Januar angesetzten Ab-transportierung der Juden. Ich setze hier voraus, dass Ihnen diese Evakuierungs-maßnahmen von dort aus bekannt sind. Ich persönlich bin als ,arisch-versippt’, wie der Fachausdruck dafür heißt, von diesem Abtransport vorerst verschont. Ich sage ‚vorerst’, denn was noch kommt, kann man nie wissen.“ Dann schreibt er, dass sein gesundheitlicher Zustand „recht wenig günstig“ ist. Zum Schluss sendet er gute

Abb. 5: Todesnachweis aus Theresienstadt (Terezin) mit der vormaligen Adresse von Dr. Friedländer in Uhersky (Uh.) Brod 854 und seinem Todesdatum (Quelle: Karte der sog. Ghetto-Theresienstadt-Kartei, 1.1.42.2/THERES13/0079, Digitales Archiv ITS Bad Arolsen).

Wünsche für das neue Jahr und seine Frau schreibt einige Zeilen an ihre Schwester Anna: „... Hier ist jetzt Winter geworden und man muss ... mit Kohle sparen. Das Wirtschaften wird immer schwieriger. Wir bekommen täglich pro Person einen sechzehntel Liter Milch und wöchentlich 35 Gramm Butter ...“

Dies ist der letzte erhaltene Brief von Dr. Otto Friedländer. Er steht vor dem Abtransport nach Theresienstadt,20 vermutlich im Februar/März 1943, was er als „Evakuierungsmaßnahme“ bezeichnet und wovon er sich noch keine Vorstellung machen kann. In seiner Sachlichkeit ist diese übermittelte Nachricht besonders erschütternd. Ein dreiviertel Jahr lang erleidet er noch das Lager Theresienstadt.

Im November 1943 wird er – bereits geschwächt durch seine Angina pectoris – aufgrund der Lagerbedingungen versterben.21

20 Nach der Besetzung von Böhmen und Mähren entstand 1941 in Terezín/Theresienstadt ein Konzen-trationslager. Nach der Wannseekonferenz (20.1.1942, „Endlösung“) machte Heydrich das Ghetto zu einem Lager für jüdische Menschen aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, für alte oder als prominent geltende Juden aus Deutschland und jüdische Kriegsveteranen. Für Propagandazwecke wurde es als angebliche „jüdische Mustersiedlung“ verschiedenen ausländischen Besuchern vor-geführt. Für Protektoratsjuden war Theresienstadt nur eine Zwischenstation auf dem Weg ins Ver-nichtungslager Auschwitz. Insgesamt wurden mehr als 140 000 Juden in dieses Lager geschickt; rd. 33 500 sind dort gestorben, rd. 90 000 wurden deportiert. Vgl. Raul H I L B E R G , Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt 1991, S. 449ff.

21 Im November 1941 kamen die ersten jüdischen Häftlinge nach Theresienstadt, im Januar 1942 fuhr der erste Transport nach Auschwitz. Bis März 1945 verbrachten 122 Züge insgesamt 73 608 Personen aus dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Theresienstadt. Vgl. Jan Björn P O T T H A S T, Anti-jüdische Maßnahmen im Protektorat Böhmen und Mähren und das „Jüdische Zentralmuseum“ in Prag, in: F R I T Z B AU E R I N S T I T U T (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemein-schaft, Raub und Gedächtnis. Jahrbuch 2000 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, S. 157. – Frau Siebert und ihrer Tochter Gabriele Bergbold sei an dieser Stelle gedankt.

Elke Meyer-Hoos58