Der wilde Alexander, sog. „Kindheitsballade“ · PDF file2 dô erhôrten...

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1 Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in Zusammenarbeit mit Dr. Martin Schuhmann (Universität Frankfurt/Main) Texte aus mittelhochdeutscher und althochdeutscher Zeit in Original und Übersetzung. Martin Schuhmann freut sich auf Ihr Feedback: [email protected] ; http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ADL/mitglieder/schuhmann/Lyrikmail.html ------------------------------ Lyrikmail Nr. , 14.10.2009 ------------------------------- Der wilde Alexander, sog. „Kindheitsballade“ (Übersetzung in Anschluss an das Original) [I] Hie vor dô wir kinder wâren und diu zît was in den jâren daz wir liefen ûf die wisen her von jenen wider ze disen, dâ wir under stunden vîol vunden, dâ siht man nu rinder bisen. [II] Ich gedenk wol daz wir sâzen in den bluomen unde mâzen welch diu schoenest möhte sîn. dô schein unser kintlich schîn mit dem niuwen kranze zuo dem tanze. alsus gêt diu zît von hin. [III] Seht, dô lief wir ertber suochen von der tannen zu der buochen über stoc und über stein der wîl daz diu sunne schein. dô rief ein waltwîser durch diu rîser: „wol dan, kinder, und gêt hein!“ [IV] Wir enpfingen alle mâsen gestern, do wir ertber lâsen; daz was uns ein kintlich spil. [I] Früher, als wir junge Leute waren und als auch die Zeit noch so jung war, dass wir auf die Wiesen liefen (von den einen wieder zurück zu den anderen) / - da fanden wir manchmal Veilchen. / Dort sieht man jetzt die Rinder, von Bremsen geplagt, einherspringen. [II] Ich erinnere mich gut daran, dass wir inmitten der Blumen saßen und verglichen, welche die Schönste wäre. Da leuchtete unsere Kindlichkeit unter einem neuen Kranz beim Tanz hell hervor. So geht die Zeit dahin. [III] Seht, da liefen wir, um Erdbeeren zu suchen, von der Tanne zur Buche, über Stock und über Stein, solange die Sonne schien. Da rief einer, der sich im Wald auskannte durch die Zweige: / „Gut jetzt, ihr jungen Leute, geht nach Hause!“ [IV] Wir wurden alle fürs Leben gezeichnet, / gestern, als wir Erdbeeren sammelten; / das war für uns [nur] ein kindlicher Zeitvertreib.

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Page 1: Der wilde Alexander, sog. „Kindheitsballade“ · PDF file2 dô erhôrten wir sô vil unsern hirte ruofen unde wuofen: „kinder, hie gêt slangen vil.“ [V] Ez gienc ein kint in

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Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in Zusammenarbeit mit Dr. Martin Schuhmann (Universität Frankfurt/Main) Texte aus mittelhochdeutscher und althochdeutscher Zeit in Original und Übersetzung. Martin Schuhmann freut sich auf Ihr Feedback: [email protected]; http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ADL/mitglieder/schuhmann/Lyrikmail.html

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Lyrikmail Nr. , 14.10.2009

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Der wilde Alexander, sog. „Kindheitsballade“

(Übersetzung in Anschluss an das Original)

[I]

Hie vor dô wir kinder wâren

und diu zît was in den jâren

daz wir liefen ûf die wisen

her von jenen wider ze disen,

dâ wir under stunden

vîol vunden,

dâ siht man nu rinder bisen.

[II]

Ich gedenk wol daz wir sâzen

in den bluomen unde mâzen

welch diu schoenest möhte sîn.

dô schein unser kintlich schîn

mit dem niuwen kranze

zuo dem tanze.

alsus gêt diu zît von hin.

[III]

Seht, dô lief wir ertber suochen

von der tannen zu der buochen

über stoc und über stein

der wîl daz diu sunne schein.

dô rief ein waltwîser

durch diu rîser:

„wol dan, kinder, und gêt hein!“

[IV]

Wir enpfingen alle mâsen

gestern, do wir ertber lâsen;

daz was uns ein kintlich spil.

[I]

Früher, als wir junge Leute waren

und als auch die Zeit noch so jung war,

dass wir auf die Wiesen liefen

(von den einen wieder zurück zu den

anderen) / - da fanden wir manchmal

Veilchen. / Dort sieht man jetzt die Rinder,

von Bremsen geplagt, einherspringen.

[II]

Ich erinnere mich gut daran, dass wir

inmitten der Blumen saßen und verglichen,

welche die Schönste wäre.

Da leuchtete unsere Kindlichkeit

unter einem neuen Kranz

beim Tanz hell hervor.

So geht die Zeit dahin.

[III]

Seht, da liefen wir, um Erdbeeren zu suchen,

von der Tanne zur Buche,

über Stock und über Stein,

solange die Sonne schien.

Da rief einer, der sich im Wald auskannte

durch die Zweige: / „Gut jetzt, ihr jungen

Leute, geht nach Hause!“

[IV]

Wir wurden alle fürs Leben gezeichnet, /

gestern, als wir Erdbeeren sammelten; / das

war für uns [nur] ein kindlicher Zeitvertreib.

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dô erhôrten wir sô vil

unsern hirte ruofen

unde wuofen:

„kinder, hie gêt slangen vil.“

[V]

Ez gienc ein kint in dem krûte,

daz erschrac und rief vil lûte

„kinder, hie lief ein slang in,

der beiz unser gfeterlîn:

daz enheilet nimmer,

ez muoz immer

sûren und unsaelic sîn.“

[VI]

Wol an, gêt hin ûz dem walde!

unde enîlet ir niht balde,

iu geschiht als ich iu sage:

werbet ir niht bî dem tage

daz ir den wald rûmet,

ir versûmet

iuch und wird iur vröude ein klage.

[VII]

Wizzet ir daz vünf juncvrouwen

sich versûmten in den ouwen

und der künic den sal beslôz?

ir klag unde ir schade was grôz;

wande die stockwarten

von in zarten

daz si stuonden kleider blôz.

Dabei hörten wir sehr oft

unseren Hirten rufen

und klagen: /„Ihr jungen Leute, hier gibt es

viele Schlangen!“

[V]

Es ging ein junger Mensch im Gras,

der erschrak und rief ganz laut:

„Ihr jungen Leute, hier eilte eine Schlange

herbei, / die biss unser Cousinchen:

Das wird niemals mehr heilen,

das muss immer / leidend [eig. „sauer“] und

unselig sein.“

[VI]

Auf jetzt, verlasst den Wald!

Und wenn ihr euch nicht schnell beeilt,

wird es euch so ergeben, wie ich es euch

sage: / Wenn ihr euch nicht beizeiten darum

kümmert, / aus dem Wald zu kommen,

dann kommt ihr ganz

zu spät und eure Freude wird zur Klage.

[VII]

Wisst ihr denn nicht, dass fünf Jungfrauen /

sich draußen vergaßen

und der König die Türen verschloss?

Ihre Klagen und ihr Schaden war groß:

Denn die Gefängniswärter

rissen an ihnen herum,

dass sie ohne Kleider dastanden.

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Der Text des Originals folgt der schönen Minnesangausgabe von Max Wehrli: „Deutsche

Lieder des Mittelalters“ (Manesse-Verlag). Das Lied trägt dort die Nummer 139.

Übersetzung: Martin Schuhmann.

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Das Herbstgefühl des Lebens: Klage möchte man führen über den unabwendbaren Verlust

des Sommers, und manchmal auch über die unwiderruflich dahingegangene Kindheit... Ganz

als weltliche Klage scheint auch das obige Lied des wilden Alexanders zu beginnen, der wohl

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im späten 13. Jahrhundert dichtete. Aber unmerklich verschiebt sich der Blickwinkel, mit

dem auf die vergangene Zeit geschaut wird: Immer mehr Bedrohliches taucht auf, und die

Wiesen, die Auen und der Wald sind auf einmal nicht mehr nur erinnerte Landschaften,

sondern scheinen mehr zu bedeuten. Dass hinter dem Buchstabensinn und dem irdischen

Wesen aller Dinge höhere (christliche) Bedeutungen stehen, die man durch Deutung

erkennen kann, ist eine weitverbreitete mittelalterliche Gedankenfigur. Diese Ausdeutung

nennt man Allegorese, und in diesem Sinne ist das Lied des wilden Alexanders ein christlich-

allegorisches Gedicht, das Bibelstellen teilweise direkt anzitiert (die Schlangen erinnern an

den Sündenfall; die letzte Strophe an das Gleichnis von den fünf klugen und fünf törichten

Jungfrauen, Mt. 25). Den besonderen Reiz macht dabei aber aus, dass das Gedicht bis auf die

letzten beiden Strophen niemals nur christlich deutet, sondern immer auch die persönliche

Ebene der Erinnerung zitiert. Dass Sie sich gerne erinnern und dass ihre Freude im Oktober

nicht zur Klage wird, wünschen wir Ihnen.