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15. April 2018 Der Mega-City-Flaneur 8 Vorteil Menopause Die schöne neue Freiheit des mittleren Alters 4 «Meinen Humor hatte ich verloren» Komiker Guy Landolt kämpft sich zurück 16 GETTY IMAGES, ANNE MORGENSTERN

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JedenMonat40000Einwohnermehr–umdiePläneeinerneuenSeidenstrasseumzusetzen,bautChinagigantischeMetropolen imHinterland.EinSpaziergangdurchChongqing, einesdergrösstenStadtgebietederWelt.Von IonKaragounis

GrosserSprung na

Jährlich 660Güterzüge verlassen dieStadt RichtungWesten: Hochhäuser

von Chongqing am Jangtse.

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ImmermehrMenschen,immerweniger Tradition: Touristendrängen sich in dem,was anAltstadt

in Chongqing übrig geblieben ist.

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1115. April 2018 |NZZamSonntag

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12 NZZamSonntag | 15. April 2018

und über Behelfsbrücken aus Holz,dann eine breite Treppe abwärts zumFlussufer. Entlang der Bauzäune reih-ten sich Strassenküchen. Schüsselnmit Fleisch-, Gemüse- und Nudel-gerichten standen auf Metalltresenbereit. An niedrigen Tischen sassenArbeiter und beugten sich über ihreEssschalen. Sie trugen Leuchtwesten,einige auch Helme.

Ohne seine Arbeiter wäre derrasante Aufstieg Chinas nicht möglichgeworden. Zu Millionen ziehen sie –meist arme Bauern vom Land – in dieStädte, wo sie auf Baustellen oder alsLastenträger ein Auskommen finden.Oft leben sie in prekären Verhältnis-sen und illegal in den Städten. Denndas chinesische System sieht keinenWechsel des Wohnortes vor.

Der Umgang mit den Wanderarbei-tern ist widersprüchlich. Einerseitswerden sie gebraucht, andererseitsfürchtet man sich vor einer Überflu-tung der Städte, falls man die freieWohnsitzwahl zuliesse. Im Rahmenlokaler Reformprojekte testet mannun aber Alternativen zur bisherigenPolitik. So erteilte Chongqing 2010drei Millionen zugezogenen Arbeiterneine Niederlassungsbewilligung.Damit erhielten sie Zugang zurGesundheitsversorgung, zu Ausbil-dung und zu Sozialversicherungen.

Vor meiner Ankunft war ich auf einwunderbares Panoramabild vonChongqing gestossen. Im Vorder-grund zeigte es die Flüsse Jangtse undJialing. Im Fluss spiegelten sich dieLichter der Hochhäuser. Rosa Wolkenzierten die Hügel am Horizont. PureWerbung, das war klar. Denn klareLuft und sauberes Wasser gab es inChongqing schon lange nicht mehr.Trotzdem war ich erstaunt, als ichschliesslich den Chaotianmen-Platzan der Landzunge erreicht hatte:Nicht einmal die Gebäude existierten,die auf dem Werbefoto zu sehenwaren. Sie befanden sich erst im Bau,Betonskelette ragten in den Himmel.Dafür sah ich das Bild wieder. Es hingin Plakatform in regelmässigenAbständen an den Bauzäunen.

Das hier war kein Hafenquartier,sondern eine gigantische Baustelle.Die nördliche Uferpassage existiertenicht mehr, die ganze Hügelflanke warunter Gerüsten verschwunden. AchtWolkenkratzer waren am Entstehen.Ihre leicht bogenartige Form warbereits erkennbar, später sollen viervon ihnen mit einem Querbau ver-bunden werden. «Sacht nach vornegebogen, wie ein Segelschiff hart amWind» soll das Ensemble gemäss Pro-motoren aussehen, «inspiriert durchdie historischen Bilder chinesischerSegelschiffe».

Auf über einer Million Quadrat-metern wird es Büros, Hotels, soge-nannte «Serviced Apartments» undShoppingmalls geben- was man haltso hineintut in ein solches Gebäude.Die allgemeine Bauwut schlägt auchals Ganzes zu Buche: 6,6 MilliardenTonnen Beton hat China in den Jahren2011 bis 2013 verbaut. Das ist mehr,

als die USA im ganzen zwanzigstenJahrhundert verbraucht hat.

Ich verliess die Docks und folgteder Uferstrasse. Ladenlokal reihte sichan Ladenlokal. Darin gab es keineAuslagen, lediglich Kartonpakete.Schachteln verstellten auch die Geh-steige. Lieferwagen fuhren vor undspuckten unablässig neue Pakete aus.Träger nahmen sie in Empfang undschafften sie weg. Hier war offensicht-lich ein Hotspot des lokalen Güter-umschlags.

Was hier umgeschlagen wurde, warnur ein verschwindend kleiner Teilder Güterproduktion von Chongqing.Die Region ist zu einem wichtigenProduktionsplatz für China geworden:Automobile, Motorräder, chemischeProdukte und Elektronikartikel wer-den hier hergestellt, Eisen, Stahl undAluminium verarbeitet, ebenso Nah-rungsmittel.

Auch weltweit eine wichtige Rollespielt Chongqing in der Computer-produktion: Rund ein Viertel allerLaptops stammen angeblich von hier.Immer mehr Güter werden dabei mitder Bahn nach Europa transportiert.Seit 2011 fährt wöchentlich ein Zugvon Chongqing nach Duisburg. DieseVerbindung zählte zu den ersten aufder «neuen Seidenstrasse». LetztesJahr verliessen 660 Güterzüge Chong-qing Richtung Westen.

Wer soll das kaufen?Zwischen den Schachteln entdeckteich eine Treppe. Ich ging sie hoch,überquerte eine Strasse und folgte ihrweiter. Die Treppe war jetzt breiterund teilweise überdacht. Jeder Qua-dratmeter wurde als Verkaufsflächegenutzt, die Treppe selbst, die anlie-genden Gebäude und die kleinen Gas-sen, die von ihr abzweigten. Ohren-betäubend schrien Händler ihreWaren aus. Dazwischen drängten sichTräger durch. Sie waren unter ihrenriesigen Lasten kaum zu sehen.

Alles hier war Geschäft. Doch wersoll all das kaufen? Song Gang ausdem Roman «Brüder» kam mir in denSinn. Der Autor Yu Hua erzählt darindie Geschichte zweier Stiefbrüder, diein der Kulturrevolution geboren wor-den waren und die unglaubliche Ent-wicklung Chinas mitmachten. Der

Lange stand die Stadt aufmeiner Wunschliste,endlich klappte es. Ichhatte mir ein Superior-Zimmer im 18. Stockeines Hotels gebucht. Eslag auf einer Anhöhe im

Zentrumsdistrikt Yuzhong. EtwasÜbersicht im Häuserdschungel konntenicht schaden. Doch die Aussichtreichte nur bis zum nächsten Wolken-kratzer. Der hatte dreissig Stock-werke. Und dahinter...

Vielleicht war es der Name, dermich faszinierte: Chongqing – gespro-chen Tschung-tsing, die erste Silbemit leicht steigendem, die zweite mitfallendem Ton. Vielleicht war es ihrMythos, die grösste Stadt der Welt zusein. Sicher aber war es der Reiz, insAuge des Sturms zu reisen, ins Zent-rum des Landes, das wie kein anderesumgepflügt worden ist in den letztenvier Jahrzehnten.

Nicht nur ist kein Stein auf demanderen liegengeblieben, da ist auchdas Selbstverständnis eines Reichesmit seinen 1,3 Milliarden Bewohnernneu gepolt worden: bis in die siebzigerJahre in sich gekehrt und jetzt vomEhrgeiz getrieben, die Führung derWelt zu übernehmen. Das Vorhabender «neuen Seidenstrasse» durch Zen-tralasien bis nach Europa zeigt, wieweit China damit schon ist. Und dieEntwicklung in Städten wie Chong-qing spielt dabei eine zentrale Rolle.

Strassen imNichtsWie ergründet man das Wesen einerMegacity am besten? Genau, zu Fuss!Ich ging hinaus auf die Strasse undliess mich einen Tag lang treiben. DenPlatz mit dem Befreiungsdenkmalquerte ich rasch – hier sah es aus wiein Schanghai oder Peking. Shopping-paläste mit Leuchtreklamen fürArmani und Co. säumten den Platz,junge Chinesen posierten vor demDenkmal und machten Selfies.

Chongqing, am Mittellauf des Jang-tses liegend. Im Rahmen der «grossenWesterschliessung» sollte die wirt-schaftliche Entwicklung im Landes-innern gefördert werden, nicht mehrnur in den grossen Städten an derKüste. Beeindruckend sind dieZahlen, die Chongqing seit diesemEntscheid meldet: mehr als 1300neue Einwohner pro Tag, 137000Quadratmeter neue Geschossflächepro Tag, Wachstum von bis 15 Prozentjährlich.

Es zog mich ans Wasser, zur Land-zunge, wo der Jialing in den Jangtsefliesst. Von dort starten die Kreuz-fahrtschiffe, die jährlich Tausendeeinheimischer Touristen zu den Drei-Schluchten-Stauseen bringen. Es warnicht einfach, dort hinzukommen.Auf der Karte endeten alle StrassenSackgassen gleich. Dahinter nur nocheine graue Fläche. Einmal mehr einedieser unbrauchbaren Smartphone-Karten, dachte ich. Doch sie war sehrgenau, die Strassen endeten imNichts. Denn hier wurde gebaut. DerWeg führte durch vergitterte Galerien

Chongqing

Peking

CHINA

Schanghai

Hongkong

1000 km

Neustadt Chongqing

DieWest-Expansion

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1315. April 2018 |NZZamSonntag

Gondel über den Jangtse. DieWartezeit beträgt auch an einemganz normalen Tag schnell eine Stunde.

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Mag es in Chongqing noch so viele neue Strassen geben, der Street-Food bleibt vorerst derselbe: Geröstete Enten undHühnerfüsse.

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14 NZZamSonntag | 15. April 2018

Seiden-strasse2.0Vor vier Jahren hat derchinesische Präsident Xidie «Belt and Road Initia-tive» (BRI) lanciert. Damitsollen die Handelsroutenentlang der in der Antikeund im Mittelaltergenutzten Seidenstrasseneu belebt werden.Geplant sind riesigeInvestitionen in die Infra-strukturbauten derNachbarländer Chinas(Schiene, Strasse, See-weg, Pipelines), um damitneue Absatzwege fürchinesische Güter zuschaffen und um besserauf die Ressourcen derNachbarländer zugreifenzu können. Die Entwick-lung erfolgt entlang vonsechs ökonomischenKorridoren, darunter dieneue eurasische Land-brücke, der China-Mon-golei-Russland-Korridoroder der China-Pakistan-Korridor.

eine, Glatzkopf Li, nutzte alleGelegenheiten und wurde Milliardär.Song dagegen hielt sich mit Gelegen-heitsjobs über Wasser und eilte vonUnglück zu Unglück. Diese Ecke hierschien voll solcher Pechvögel zu sein.Sie boten an, was sie zu verkaufenhofften: Staubsauger, Schuhe,Socken, Schaufensterpuppen,Strumpfhosen, Kleiderständer oderweisse Pudel mit orange gefärbtenOhren. Nur Song Gang sah ich nicht.Ich gehörte auch nicht zu seiner Klien-tel, denn er hatte sich auf weiblicheKundschaft spezialisiert: Er verkaufteGel zur Brustvergrösserung.

Am Ende der Treppen-Einkaufs-zone lag die Shaanxi-Strasse. EinePasserelle überspannte sie. Ich warder Einzige, der sie benutzte. Alleanderen überquerten die Strassedirekt. Motorräder, Lastenträger,Männer mit Schubkarren und Paket-karren, elegant gekleidete Menschenmit Einkaufstaschen, dann Liefer-wagen und Kehrichtwagen, eineLimousine und immer wieder Lasten-träger. Chaotisch, aber effizient.Selbstorganisation in Reinform.

Selbstorganisation gibt es in Chong-qing nicht nur auf der Strasse, son-dern auch in der Politik. Vor ungefährzehn Jahren lancierte die Stadt eingrosses Reformexperiment, das alsdas Chongqing-Modell bekanntwurde. Ziel der Reformen ist es, dieSpannungen zwischen Stadt undLand abzubauen. Wie sollen Bauernentschädigt werden, die ihr Land fürBauprojekte hergeben mussten? Wiekann man verhindern, dass alle in dieStadt ziehen und niemand mehr Nah-rungsmittel produziert?

Es wurde ein Handel für Land-zertifikate geschaffen. Wer sich bereiterklärt, Brachland landwirtschaftlichwieder nutzbar zu machen, der erhältZertifikate. Im Gegenzug müssenInvestoren, die Land in der Stadtüberbauen wollen, zuerst einmal Zer-tifikate kaufen. Damit profitierenauch jene Bauern finanziell vom Auf-schwung, die Land fernab von Chong-qing besitzen.

Vergitterte FensterNach einer halben Stunde riss ichmich vom Wimmelbild auf derShaanxi-Strasse los. Ich folgte derCanjia-Gasse und bog in die Xinhua-Strasse ein. Dort lag die Station derJangtse-Seilbahn. Ich war nicht derEinzige, der die Seilbahn benutzenwollte. Nach einer Stunde Wartezeitbetrat ich die Gondel. Sie tauchte abin die Häuserschluchten und glitt anvergitterten Fenstern und Balkonenvorbei. Dann erreichte sie den Jang-tse, und der Blick auf die SkylineChongqings war frei.

Häuser und Baukräne standen ineinem unwirklichen Licht. Die Schat-ten waren diffus, der Himmel blass-blau. Es war, als hätte jemand eineWeichzeichner-Folie auf die Scheibeder Gondel geklebt. Doch die Folie,das war der Smog. Der Smog, der eineganze Generation prägt. Es gibt zwan-

zigjährige Chinesen, die nur Smart-phone und Smog kennen. Und mitSicherheit wird es zehn bis zwanzigJahre dauern, bis die Luft wieder sau-berer sein wird, selbst wenn derUmweltschutz heute zu einer derPrioritäten der chinesischen Regie-rung zählt.

Kürzlich las ich, dass sich dieLebenserwartung in China wegen desSmogs um drei, wenn nicht gar umfünf Jahre verringert habe. Ich rech-nete nach: Drei Jahre bei angenomme-nen 75 Jahren Lebenserwartung, dasmachte vier Prozent weniger Lebens-zeit. Umgelegt auf meinen achtstün-digen Spaziergang durch Chongqinghiesse dies nichts anderes, als dassich nun 19 Minuten und 12 Sekundenfrüher würde sterben müssen.

Wieder zurück auf der Xinhua-Strasse, folgte ich einer Zeile mit zwei-geschossigen Bauten. Sie waren nichtmehr bewohnt, Bauabschrankungenversperrten Ladeneingänge, undReklametafeln waren bereits demon-tiert. Der Abbruch schien nur nocheine Frage von Stunden. Doch zwi-schen den Bauwänden eingepferchtlag ein Elektrofachgeschäft. Es warhell erleuchtet und Musik drang bisauf die Strasse. Zwei Frauen schautensich Ventilatoren und Kochtöpfe an.Das Geschäft hatte geöffnet, als obnichts wäre.

Die Szene erinnerte mich an das«Nagelhaus von Chongqing». Vor zehnJahren weigerte sich ein Hausbesitzer,sein Haus zu verlassen und für einNeubauprojekt herzugeben. Der lan-gen Warterei überdrüssig, liess derBauunternehmer die Baugrube rundum das Haus ausheben. Das Bild gingum die Welt: Eine riesige, mehrereMeter tiefe Baugrube, in der Mittethronte das zweistöckige Haus, ohneZugang, abgeschnitten von Wasser-und Stromversorgung. Das Haus lagetwa vierzig Kilometer südwestlichvon hier. Ich machte eine Foto desGeschäftes und ging weiter. Mög-licherweise hatte ich das nächsteNagelhaus fotografiert.

Grün war die Farbe, die das Stadt-bild von Chongqing prägte. Das Grünhatte nichts mit Bäumen zu tun –obwohl, es gab einige –, sondern mitriesigen Netzen, mit denen die Bau-gerüste bespannt waren, und kunst-rasenartige Vliese, mit denen die Bau-zäune verkleidet waren. Wie die Ten-takel eines Kraken hatte die Bauereidie ganze Stadt durchdrungen.Chongqing vibrierte unablässig unterseinen Rüttlern, Stampfern, Rammernund Walzen. Gab es denn hier über-haupt keinen Ort, wo nicht gebautwurde? Pärke und Tempel, vielleichtdort? Dort findet man doch selbst inChina Ruhe.

Ganz in der Nähe befand sich derArhat-Tempel. Er lag eingepferchtzwischen Hochhäusern. Grenz-abstand null Meter. Immerhin, er warnoch da! Ich löste eine Eintrittskarteund ging zur Haupthalle. Dort warenMönche am Beten. Auf dem Platz vorder Halle zündeten Einheimische

bündelweise Räucherstäbchen an undverneigten sich Richtung Halle. Dannsteckten sie die Stäbchen in mit Sandgefüllte Schalen.

Der Platz vor der Halle war sehreng. Rechts stand ein Gerüst, an demgerade ein neues Nachbargebäudehochgezogen wurde. Im Rückenbegrenzte ein Bauzaun den Platz.Überall lagen Zementsäcke und Holz-latten. Ruhe war hier auf jeden Fallnicht zu finden. Baulärm mischte sichmit dem Gesang der Mönche.

Die Halle der 500 Arhat-Buddhaswar fast menschenleer. Nur wenigLicht drang durch die verschmutztenOberlichter. Was macht das mit denMenschen, wenn unablässig alles aufden Kopf gestellt wird, fragte ichmich, als ich zwischen den Buddhashindurchging.

Nudelnmit SpiegeleiDer permanente Wandel konnte nichtspurlos an ihnen vorbeigehen. Daszeigen vermutlich auch die vielenMassenproteste, die es in China in denletzten Jahren gab. Einmal waren es80000, einmal 130000 Demonstra-tionen, jedes Mal mit Tausenden vonBeteiligten. Sie protestieren gegenEnteignungen, gegen ausbleibendeLohnzahlungen oder gegen misslicheUmweltbedingungen, Proteste sindauch in China eine Gefahr für die poli-tische Stabilität. Wenn sich die Regie-rung heute um enteignete Landbesit-zer oder um den Umweltschutz küm-mert, dann vor allem deshalb, um dieMacht der Partei zu erhalten. «ShehuiGuanli», Gesellschaftsmanagement,lautet das chinesische Zauberwortdafür.

Kurze Zeit später verliess ich denTempel wieder, drückte den warten-den Bettlern einige Yuan in die Händeund setzte mich auf einen Plastic-Schemel in einer Strassenküche. Ichbestellte Nudeln mit Spiegelei. ImGeschäft gleich nebenan wurdenKreuzfahrten verkauft. Diplome hin-gen an den Gittern der Klimaanlage.Zwei Männer warteten auf Kund-schaft und starrten auf ihre Smart-phones. Mitten auf der Strasse standein Träger mit nacktem Oberkörper.Er hatte zwei riesige Plasticsäckegeschultert und versuchte, zwischenden Autos hindurch auf die andereSeite zu gelangen.

Mit den Stäbchen mischte ich dieSauce unter die Nudeln und sog sieauf. Das also war Chongqing: hart amWind auf dem Weg in die Zukunft.Daneben ging das normale Lebenweiter, irgendwie.

WasmachtdasmitdenMenschen,wennunablässigallesaufdenKopfgestelltwird?

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1515. April 2018 |NZZamSonntag

Bauprojekt in einemehemaligenHafenquartier: Die Architekturwill sich von Segeln imWind inspiriert haben lassen.

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