ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

5
ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich an ähnlichen Quellen wie den oben genannten vor allem während der Zentenarfeier 1927 erkennen lassen. Deutlich über- nimmt die Beethoven-Ehrung jetzt tagespolitische Rollen, zeigt immer stärkere Tendenzen zur Popularisierung (auch zur Proletarisierung), gerät mit den vorgegebenen Mustern an Inhalt und Ausgestaltung in einen Prozeß der internationalen Verbreitung und wird im fach- wissenschaftlichen Bereich auf der einen Seite durch die sogenannte Beethoven-Polemik dem provozierenden Versuch einer Entmythologisierung ausgesetzt wie zugleich in überkomme- ner Form noch hermetischer nach außen hin abgegrenzt. In der Gegenwart gerinnen die Facetten dieses historisch gewachsenen Beethoven-Bildes sämtlich im Reproduktionsmechanismus der sogenannten Kulturindustrie, die - wie die zahl- losen Belege des Beethoven-Gedenkjahres 1970 beweisen - ein Konglomerat des Überkomme- nen meist ungeprüft übernimmt, simplifiziert, verstärkt und massenhaft verteilt, wodurch der Rezeptionsvorgang insgesamt noch vielschichtiger zu analysieren ist, da die Vermitt- lungsinstanzen durch das Feld der Massenmedien jetzt zu einer nur mit Hilfe der sozialwis- senschaftlichen Methoden aufzubrechenden Komplexität verdichtet worden sind. Anmerkungen 1 H. H. Eggebrecht, Zur Geschichte der Beethovenrezeption. Beethoven 1970, Mainz 1972. 2 Ebd., S. 7. Vgl. die hier nur verkürzt zitierten Paranthesen der von Eggebrecht entwor- fenen Kategorien und ihre Anwendung in den darauffolgenden Abschnitten. 3 Vgl. hierzu allgemein Gesellschaft-Literatur-Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, hrsg. von M. Naumann u. a., Berlin u. Weimar 1973. 4 Zum Vorgang der Vermittlung durch die Kulturindustrie, also zum Prozeß der "Abbau- produktion des Kunstwerks", vgl. B. Brecht, Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologi- sches Experiment, in: Werke, Bd. 18, Frankfurt/M. 1967, S. 202 f. 5 Vgl. P. Chr. Ludz, Soziologie und Sozialgeschichte, und H. -U. Wehler, Soziologie und Geschichte aus der Sicht des Sozialhistorikers, beide in: Kölner Zeitschrift für Sozio- logie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16/1972. 6 Einige Analysen dieser Quellen sind vom Verfasser anhand des vorgegebenen Ansatzes vorgetragen worden, müssen hier jedoch, wie bei den folgenden Aussagen, aus Platz- gründen ausgespart bleiben. Eine ausführliche Quellenübersicht und deren Analyse fin- den sich in der genannten Dissertation. Martin Zenck ASPEKTE DER MAHLER-REZEPTION Bemerkungen zu einer Theorie der musikalischen Rezeption Mahlers Musik ist gegenwärtig Objekt von Schallplatteneinspielungen und akademischen Fflichtübungen, Mahlers Leben Gegenstand ausgezehrter oder heroischer Moderne in der Filmindustrie und Künstlerbiographie. Die Einschätzung dieser Mahler-Rezeption läßt sich als Alternative formulieren: der einen Seite ist Mahlers Werk endlich geschichtliche Ge- rechtigkeit widerfahren 1 , der anderen Seite erscheint die Popularität Mahlers von der Kulturindustrie gesteuert, die das Sentimentale von Mahlers Musik zum Zwecke der Ein- fühlung abgespalten hat. Beide Thesen seien gegeneinander gesetzt und differenziert, da- mit aus der Einschätzung ein Urteil über die Mahler-Rezeption möglich wird. Denn will die grassierende Mahler-Renaissance mehr als ein Ausdruck schlechten Gewissens gegen- über der geschichtlich restringierten Rezeption von Mahlers Musik sein, so ist nach der Rechtmäßigkeit der gegenwärtigen Mahler-Rezeption in der biographisierenden Hermeneu-

Transcript of ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

Page 1: ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich an ähnlichen Quellen wie den oben genannten vor allem während der Zentenarfeier 1927 erkennen lassen. Deutlich über-nimmt die Beethoven-Ehrung jetzt tagespolitische Rollen, zeigt immer stärkere Tendenzen zur Popularisierung (auch zur Proletarisierung), gerät mit den vorgegebenen Mustern an Inhalt und Ausgestaltung in einen Prozeß der internationalen Verbreitung und wird im fach-wissenschaftlichen Bereich auf der einen Seite durch die sogenannte Beethoven-Polemik dem provozierenden Versuch einer Entmythologisierung ausgesetzt wie zugleich in überkomme-ner Form noch hermetischer nach außen hin abgegrenzt.

In der Gegenwart gerinnen die Facetten dieses historisch gewachsenen Beethoven-Bildes sämtlich im Reproduktionsmechanismus der sogenannten Kulturindustrie, die - wie die zahl-losen Belege des Beethoven-Gedenkjahres 1970 beweisen - ein Konglomerat des Überkomme-nen meist ungeprüft übernimmt, simplifiziert, verstärkt und massenhaft verteilt, wodurch der Rezeptionsvorgang insgesamt noch vielschichtiger zu analysieren ist, da die Vermitt-lungsinstanzen durch das Feld der Massenmedien jetzt zu einer nur mit Hilfe der sozialwis-senschaftlichen Methoden aufzubrechenden Komplexität verdichtet worden sind.

Anmerkungen

1 H. H. Eggebrecht, Zur Geschichte der Beethovenrezeption. Beethoven 1970, Mainz 1972. 2 Ebd., S. 7. Vgl. die hier nur verkürzt zitierten Paranthesen der von Eggebrecht entwor-

fenen Kategorien und ihre Anwendung in den darauffolgenden Abschnitten. 3 Vgl. hierzu allgemein Gesellschaft-Literatur-Lesen. Literaturrezeption in theoretischer

Sicht, hrsg. von M. Naumann u. a., Berlin u. Weimar 1973. 4 Zum Vorgang der Vermittlung durch die Kulturindustrie, also zum Prozeß der "Abbau-

produktion des Kunstwerks", vgl. B. Brecht, Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologi-sches Experiment, in: Werke, Bd. 18, Frankfurt/M. 1967, S. 202 f.

5 Vgl. P. Chr. Ludz, Soziologie und Sozialgeschichte, und H. -U. Wehler, Soziologie und Geschichte aus der Sicht des Sozialhistorikers, beide in: Kölner Zeitschrift für Sozio-logie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16/1972.

6 Einige Analysen dieser Quellen sind vom Verfasser anhand des vorgegebenen Ansatzes vorgetragen worden, müssen hier jedoch, wie bei den folgenden Aussagen, aus Platz-gründen ausgespart bleiben. Eine ausführliche Quellenübersicht und deren Analyse fin-den sich in der genannten Dissertation.

Martin Zenck

ASPEKTE DER MAHLER-REZEPTION Bemerkungen zu einer Theorie der musikalischen Rezeption

Mahlers Musik ist gegenwärtig Objekt von Schallplatteneinspielungen und akademischen Fflichtübungen, Mahlers Leben Gegenstand ausgezehrter oder heroischer Moderne in der Filmindustrie und Künstlerbiographie. Die Einschätzung dieser Mahler-Rezeption läßt sich als Alternative formulieren: der einen Seite ist Mahlers Werk endlich geschichtliche Ge-rechtigkeit widerfahren1, der anderen Seite erscheint die Popularität Mahlers von der Kulturindustrie gesteuert, die das Sentimentale von Mahlers Musik zum Zwecke der Ein-fühlung abgespalten hat. Beide Thesen seien gegeneinander gesetzt und differenziert, da-mit aus der Einschätzung ein Urteil über die Mahler-Rezeption möglich wird. Denn will die grassierende Mahler-Renaissance mehr als ein Ausdruck schlechten Gewissens gegen-über der geschichtlich restringierten Rezeption von Mahlers Musik sein, so ist nach der Rechtmäßigkeit der gegenwärtigen Mahler-Rezeption in der biographisierenden Hermeneu-

Page 2: ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

tik, der Filmindustrie und musikalischen Avantgarde zu fragen. Kurt Blaukopfs Mahler-Bio-graphie, Viscontis 'Tod in Venedig' und Berios Mahler-Collage aus seiner 'Sinfonia' könn-ten Ausdruck eines gesellschaftlichen Bewußtseins sein, das die eigene Gegenwart durch "Mahler" zu historisieren und zu legitimieren versucht. Diese Formen der historischen und ästhetischen Aneignung von Mahlers Musik durch die gegenwärtige Mahler-Rezeption sollen an den drei genannten Beispielen interpretiert und dann von den rezeptionsgeschichtlichen Kategorien der Legitimität und der Diskontinuität kritisiert werden.

Nicht zufällig erscheint 1969 Blaukopfs Mahler-Biographie, bezeichnenderweise kommt im Herbst 1969 Berios 'Sinfonia' zur Uraufführung, läuft 1970 in Italien Viscontis 'Tod in Venedig' an. Die intensive Mahler-Rezeption um 1969 steht in einem Verhältnis zur politi-schen Emanzipationsbewegung. Begnügt sich Blaukopf damit, die Mahler-Rezeption mit der stereophonen Realisierung von Mahlers Raumvorstellung zu begründen2, so steht der Mah-lersatz aus Berios 'Sinfonia' durch Einkopierung von ~esprächen der Pariser Mai-Unruhen in die Folie des Scherzos der zweiten Sinfonie Mahlers in einem engagierten Verhältnis zur politischen Bewegung. Viscontis Film hingegen markiert bereits den Umbruch, annon-ciert den Weg der Reprimitivisierung in die zurückgewandte Idylle und melancholische Iden-tifikation, deren "Weltverlust" Ausdruck dafür ist, daß "in Richtung auf Welt nicht mehr ge-handelt werden kann114• Zu fragen ist, welches Mahler-Bild herhalten muß, um die Indif-ferenz, das Engagement und den Eskapismus vor der politischen Szenerie zu legitimieren.

Von einem Buch mit dem Thema Mahler als Zeitgenosse der Zukunft steht zu erwarten, daß es Mahlers Tendenz nach vorn und die gegenwärtige Verschränkung mit dieser Tendenz interpretiert, um daraus die Aktualität und Popularität Mahlers zu begründen. Statt dessen erklärt Blaukopf Mahlers "universelle Geltung" als Summe einer "breiteren Mahler-Ge-meinde" und einer vorurteilslos sich zu Mahler bekennenden Jugend5 und als eine Erfüllung der impliziten Verräumlichung von Mahlers Musik durch die stereophone Reproduktions-form. Daß Mahlers "Fernorchester", das "wie von Ferne" und Stereophonie nur Realisie-rungen der Verräumlichung sind, sieht Blaukopf nicht. Er begründet den geschichtlichen Zusammenhang mit der Erscheinungsform. Die Verräumlichung bei Mahler ist eher als eine Entdynamisierung der finalen Form zu verstehen, die Beziehung zur Gegenwart zeigt sich deutlicher im Vergleich der Raumvorstellung von Mahlers6 Adagio aus der 10. Sinfonie mit Ligetis 'Atmosph~res' und den 'Aventures'. Dieser Zusammenhang zwischen Mahlers und. Ligetis Idee der Verräumlichung der Zeit könnte dann trotz aller Differenz eine sozial-psy-chologische Begründung für die intensive Mahler-Rezeption ermöglichen: der Raum als Zu-fluchtsort des handlungsgehemmten Melancholikers, nach dem seine Reflexion sich nicht mehr in Handlung übersetzen ließ. 7 Blaukopf dagegen verwechselt Bedeutung mit Realisie-rung und erklärt damit Mahlers Weltgeltung. Seine Interpretation der gegenwärtigen Rezep-tionsgeschichte Mahlers zieht die historische Distanz ein und verabsolutiert Kontinuität, indem er Mahlers geschichtliche Tendenz mit der angeblichen Erfüllung8 von heute gleich-zeitig stellt.

Die Diskussion über Viscontis 'Tod in Venedig' ist durch wissenschaftlichen Puritanismus und durch ein vorgeblich authentisches Mahler-Bild verquer. Will die Frage nach der Funk-tion von Mahlers Musik in Viscontis Film beantwortet werden, so ist es müßig, über die statthafte Montage von Novelle und Roman, über die Einblendung der Esmeralda-Episode und den eingeschalteten Diskurs über die "Musik als Zweideutigkeit im System" zu streiten. Daß das Mahler-Bild durch den Bordellbesuch Aschenbachs (Leverkühns) verunziert, Mah-lers Musik als Filmmusik mißbraucht wird, darüber können sich wohl Puritaner erregen. Dagegen interessiert eher, mit welcher Absicht die Musik im Film eingesetzt wird und wel-ches Mahler-Bild dabei transportiert wird. Der Musik als der zweideutigsten aller Künste kommt im Film die Funktion zu, Unmittelbarkeit zu suggerieren, auch wenn sie verloren ist. Damit ist sie einerseits Gegencharakter zur anämischen und ausgekühlten Rationalität Aschenbachs, andererseits verschränkt sie sich in ihrer ausgezehrten Unmittelbarkeit mit Aschenbachs gebrochenem Ästhetizismus. Die andere Ambivalenz von Mahlers Musik aber

Page 3: ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

wird im Film unterschlagen. Nicht nur ihr Als-Ob-Charakter ist wesentlich, sondern Mah-lers Musik bietet Einfühlung an, um sie als falsch zu demaskieren und zu zerstören. Zwi-schen der zerstörten und der verschwindenden Unmittelbarkeit besteht der Unterschied dar-in, daß die Verwendung von Mahlers Musik - das Adagietto in seiner "kulinarischen Senti-mentalität119 und das "trunkne Lied" Zarathustras von der Tiefe der Welt - im Film auf die identifikatorische Besetzung in das Nicht-Mehr von Unmittelbarkeit abzielt, während der destruktive Gegencharakter zur Einfühlung gerade die Identifikation zerstört. Diese chaoti-sche Seite Mahlers ist im Film eliminiert, obwohl der Kontext der fünften Sinfonie die "Sen-timentalität" des Adagietto zerstört. Anstelle der ästhetischen Distanz durch die katastro-phale Zäsur in Mahlers Musik, dient Mahlers Musik im Film durch Abspaltung der Einfüh-lung dazu, daß die ästhetische Distanz eingezogen wird10, und schließlich Aschenbachs Todessehnsucht nach dem unmittelbar Schönen mit Mahlers Ausdruck als der Verfallenheit an das Nicht-Mehr von Unmittelbarkeit konvergiert. Aber direkt kann von der Manipulation des Unmittelbaren durch Mahlers Musik nicht gesprochen werden. Der Manipulation durch eine spezifisch eingesetzte Musik korrespondiert das Bedürfnis nach rückwärtsgewandter Einfühlung, nach ästhetischem Eskapismus als dem Kompiement der Zuflucht in die nicht technisierte Idylle der Natur11•

Auf den ersten Blick will es so scheinen, als ob Berios dritter Satz aus der 'Sinfonia' sich ganz in das Bild einer profitträchtigen Kulturindustrie einpaßt. Die Besetzung des Vo-kalparts mit den auf sentimentalen Glamour abzielenden 'Swingle Singers', die Widmung des Satzes an den Mahler-Dirigenten L. Bernstein, die Verwendung des Mahler-Scherzos aus der zweiten Sinfonie, bzw. der Vorlage des bekannten Wunderhorn-Liedes "Des Anto-nius von Padua Fischpredigt" als graduell präsente Folie für Berios dritten Satz läßt die Frage aufkommen, ob sich Berio nicht auf dem Hintergrund der Mahler-Renaissance durch die "Modernität" Mahlers der Avantgarde versichert. Die Legitimität von Berios komposi-torischen Verfahren entscheidet sich an dem Verhältnis von der Funktion des durchlaufen-den Klangbandes von Mahlers Scherzo und den einkomponierten musikalischen, sprachli-chen und lauthaften Zitatschichten. Dem mit zugrunde liegenden Wunderhornlied Mahlers und der Zitatschicht aus Becketts 'Namenlosen' ist die Absurdität einer aufklärerischen Sprache gemeinsam, die das Immergleiche des naturwüchsigen Ablaufs nicht aufhalten12 und das Schweigen nicht brechen kann. 13 Der in sich kreisenden, perennierenden Sechzehn-tel-Figur des Mahler-Scherzo als Ausdruck der ohnmächtigen Rationalität korrespondiert bei Beckett die zur Handlungslosigkeit desillusionierte Kultur, die die Hunrigen nicht satt machen kann. Gegen das "Ewige Einerlei", gegen die kreisförmige Bewegung als der Fi-gur des Immergleichen sind aber bei Mahler wie bei Berio Zäsuren gesetzt. An ihnen wird deutlich, daß Berio im Gegensatz zu Visconti Mahlers Musik nicht als einfühlsame Klang-folie einsetzt, um auf ihr die Zitate zu montieren, sondern daß er den destruktiven Charak-ter von Mahlers Zäsuren durch eingesprengte Zitate verschärft, um ästhetisch gegen die mythische Gewalt des Immergleichen die chochafte Gewalt der Zäsur zu stellen, die das rhythmische perpetuum Mobile kontrahiert und aufzuhalten versucht. Damit kritisiert Berio implizit eine Mahler-Rezeption, die Mahlers Musik als Zufluchtsort eines ästhetischen Eskapismus versteht oder an Mahlers Märschen Fanale einer plakativen, politisch enga-gierten Musik wahrnimmt. Berio hat in den "Meditationen über ein Zwölftonpferd" vermerkt, daß Musik "nicht in der Lage ist, Kriege zu beenden", wohl aber die in der Kulturindustrie zu Schemata und stilen erstarrte Erfahrung demaskieren könne14. Aufgabe einer Rezep-tionsgeschichte ist es, die Veränderung eines Werkes aus dem geschichtlich sich verändern-den Verstehen seines ästhetischen Gehalts zu interpretieren. Das ist keine Selbstverständ-lichkeit, sondern zugleich hinreichende Begründung für das, was Rezeptionsgeschichte nicht ist. Da das Werk wie das Verstehen veränderbar sind, stellt das Werk weder eine geschicht-liche Invariante dar, noch hat es einen geschichtlichen Ursprung, dem die Legitimität zu-käme, über die Geltung seiner richtigen oder falschen Rezeption zu urteilen. Rezeptionsge-schichte ist also nicht der Nachweis von Bedeutungs- und Rezeptionskonstanten eines Wer-

528

Page 4: ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

kes, auch nicht die Aufarbeitung der historischen Differenz zwischen der Genese des Wer-kes und der sich durch die Rezeption veränderten Geltung des Werkes, damit das Werk in seiner ursprünglich vermeinten Gestalt vorliegt, sondern die Reflexion auf die Veränder-barkeit eines Werkes durch ein "legitimes" Verstehen, die Interpretation der "Spuren, wel-che die ungezählten Augen der Betrachter auf manchen Bildern hinterließen1115 und welche das Werk verändert haben. Damit steht die Rezeptionsgeschichte im erklärten Widerspruch zum A-Historismus, zur Ursprungsmythologie und zu der historitischen These, daß Mahlers Werk jetzt endlich geschichtliche Gerechtigkeit widerfahre. Diese These geht von der aus-gleichenden Gerechtigkeit in der geschichtlichen Rezeption der Werke aus und vergißt die Frage nach der Legitimität einer bestimmten Rezeption zu stellen. Die Rechtmäßigkeit eines Verstehens16 läßt sich nach Maßgabe der Interpretation des ästhetischen Gehalts eines Wer-kes bt>iahen. Wenn Übereinstimmung darin besteht, daß die Erfahrung von Mahlers Musik durch die Spannung von sentimentalischer Projektion und einem destruktiven Charakter be-stimmt wird, so muß der kulturindustriellen Rezeption von Mahlers Musik die Legitimität des Vollzugs geschichtlicher Gerechtigkeit bestritten werden, wenn sie ihre Produkte auf Identüikation einstellt und die bei Mahler gerade zerstörte Einfühlung abblendet.

Die interpretierten Beispiele sind mit der Einschränkung von Berios Mahler-Collage Figuren des Historismus, der durch effektive Gleichzeitigkeit Mahlers mit der Gegenwart und durch ein einfühlendes Verfahren, welches durch Einziehung der ästhetischen Distanz17 anämische Dekadenz mit der Nostalgie identüiziert, an der Idee des Kontinuums in der Ge-schichte festhält. Walter Benjamin hat in den geschichtsphilosophischen Thesen solche Fi-guren der geschichtlichen Kontinuität kritisiert: nach Maßgabe des Historismus werde das Einzelne und Unterdrückte ununterschieden auf der vorwärts fließenden Folie der Geschichte eingetragen. Benjamins Alternative aber, das aus dem Kontinuum herausgesprengte Fak-tum18 und die einzigartige Erfahrung davon19, gerät in der Idee von radikaler Diskontinui-tät in eine bedrohliche Nähe zum kritisierten historischen Kontinuum, :weil die Absolutset-zung des Diskreten wie seine Nivellierung einen möglichen geschichtlichen Zusammenhang überhaupt preisgeben. Hermann Schweppenhäuser hat in der bedeutenden Studie über "Dis-kontinuität als scheinkritische und als kritische gesellschaftstheoretische Kategorie1120 die Extreme von Kontinuität und Diskontinuität als Formen der Geschichtslosigkeit interpretiert, deren "verabsolutierte Gestalt die wechselseitige Konstitutivität der Pole für einander ver-leugnet. 1121 Ihm ist Diskontinuität scheinkritisch, wenn sie sich gegenüber dem geschicht-lichen Kontinuum isoliert, weil erst das historisch Unverbundene der Herrschaft und der Verfügung verfallen kann. Diskontinuität und Kontinuität sind also keine Alternative für eine Rezeptionsgeschichte. :ffl ihr dürfen weder die "Diskreta neutralisiert" noch die "Kontinua" unterschlagen werden. 2 Von da her sind Blaukopfs Mahlerbuch und Viscontis "Tod in Vene-dig" zu kritisieren, weil sie das Diskontinuierliche in Gestalt des Destruktiven durch eine geschichtliche Tendenz oder durch Einfühlung überspielen. Berios Mahler-Collage hingegen könnte ein Modell einer Rezeptionsgeschichte darstellen, für die das Kontinuum durchlöchert ist von geschichtlich Versprengtem, so daß die Kontinuität einerseits zerrissen ist, ande-rerseits die Diskreta ihre Eigenständigkeit erst durch das Kontinuum erhalten.

Anmerkungen

1 Vgl. Hellmut Kühn, Skandalöse Popularität? Blicke auf Mahler im Schönberg-Jahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.8.1974.

2 Vgl. K. Blaukopf, Gustav Mahler oder der Zeitgenosse der Zukunft, München 1973, s. 269ff.

3 Vgl. Schallplattentext der 'Sinfonia' auf CBS, S34-61079. 4 W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. , S. 214. 5 Vgl. Blaukopf, a. a. O., S. 267.

529

Page 5: ders nach dem ersten Weltkrieg neue Dimensionen, die sich ...

6 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Ausdruck und Konstruktion im Adagio der 10. Sinfonie Mah-lers, in: Musikalische Hermeneutik, hrsg. von C. Dahlhaus, Regensburg 1976, S, 205 ff.

7 Vgl. dazu Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, a. a. O., S. 158 ff. 8 Vgl. Blaukopf, a. a. 0., S. 274. 9 Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomie, S. 74.

10 Vgl. den Begriff der Einziehung der ästhetischen Distanz bei Adorno, Standort des Er-zählers im zeitgenössischen Roman, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt a. M. 1965, s. 69ff.

11 Vgl. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, a. a. O., S. 158. 12 Vgl. das genannte Wunderhornlied, T. 186 ff., das Scherzo T. 5 70 ff. , und Berio, Sinfo-

nia, Partitur S. 90. 13 Vgl. S. Beckett, Der Namenlose, Frankfurt a. M. 1969, S. 388 und S. 401. 14 Berio, Meditationen über ein Zwölftonpferd, in: Melos H. 7 /8, S. 293. 15 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 288. 16 Vgl. zur quaestio juris und quaestio facti in Max Webers Legitimationsbegriff: J. Ha-

bermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 133. 17 Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, a. a. 0., S. 69 ff. 18 Benjamin, Geschichtsphilosophische These XIV. 19 These XVI. 20 H. Schweppenhäuser, Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Ge-

sellschaft, Frankfurt a. M. 1972. 21 A. a. 0. , S. 70. 22 A. a. O. , s. 73.

Wolfgang Burde

GESTUS, ASPEKTE EINES MUSIKSOZIOLOGISCHEN BEGRIFFS

Den von Bertolt Brecht interpretierten Begriff des Gestus1 als musiksoziologischen Be-griff zu bezeichnen, das bedeutet zugleich auch an einem bestimmten Begriff von Musik und Musiksoziologie festzuhalten. Musik ist in solchem Denken kein Exterritorium, kein Spezial-gebiet der Psyche, sondern ein Medium, das über besondere Weisen der Darstellung gedank-licher zusammenhänge verfügt. Eines mit besonderem Vokabular und spezifischen Methoden der Darstellung, keines aber, das etwa geheime Möglichkeiten besäße, menschliche Befind-lichkeiten und Erkenntnisse zu formulieren. Auch die spezifisch musikalische Intelligenz ist an ein allgemeines Intelligenz-Potential angeschlossen.

Musiksoziologie ist in solcher Perspektive die Wissenschaft, die Auskunft darüber zu er-teilen hat, auf welche Weise, auf welchem Formniveau und mit welcher gesellschaftlichen Gesamthaltung musikalischer Sinn formuliert wird. Denn die Unverschämtheit oder der Nar-zißmus, die falsche Brillanz oder die kokettierend zur Schau getragene Hoffnungslosigkeit gehen in die Musik ebenso ein, wie in die Feuilletons oder die wissenschaftliche Darstellung. Und wenn man den Gedanken an eine bessere Gesellschaft nicht aufzugeben vermag, dann kann es einem auch nicht gleichgültig sein, ob heute tendenziell faschistoide oder bornierte oder aber Denkklischees aufbrechende, weitgespannten Reflexionsprozessen sich verdankende Musik entsteht und das gesellschaftliche Bewußtsein beeinflußt. Ob wir bei der Analyse von Musik in diesem Ausmaß heute immer wieder ins bloße Behaupten geraten, ist zunächst ein-mal unwesentlich. Als Aufgabe von Musiksoziologie ist solche, stets die Totalität des musi-kalischen Bewußtseinsraums meinende, analysierende Arbeit unabweisbar.

In Brechts "Schriften zum Theater r• findet sich auch eine mehrgliedrige Sequenz über den Terminus 'Gestische Musik' 2, die für die Diskussion des sozialen Gehalts von Musik durch-aus fruchtbar zu machen ist. "Unter Gestus", sagt Brecht, "soll nicht Gestikulieren ver-

q30