des Forums zum Abschluss des Swiss Cultural Programme in … · 2018-09-09 · ich mit dreizehn...

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1 art of change DOKUMENTATION des Forums zum Abschluss des Swiss Cultural Programme in South Eastern Europe (SCP) Freitag, 6. Dezember 2013 Kornhausforum Bern Bild: Videostill aus Dokumentarfilm „Liceulice“

Transcript of des Forums zum Abschluss des Swiss Cultural Programme in … · 2018-09-09 · ich mit dreizehn...

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DOKUMENTATIONdes Forums zum Abschluss des

Swiss Cultural Programme in South Eastern Europe (SCP)Freitag, 6. Dezember 2013

Kornhausforum Bern

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Kunst und Kultur sind Grundbausteine der menschlichen Existenz. Sie tragen wesentlich zur gesellschaftlichen Entwicklung bei; in Konfliktsituationen und für den demokratischen Wiederaufbau können Kunst und kulturelle Projekte eine wichtige Rolle spielen. Davon überzeugt, hat die Schweiz 1999 in Süd-osteuropa und in der Ukraine ein Kulturförderprogramm lanciert und es von 2008 bis 2013 auf die Länder des Westbalkans und auf grenzübergreifende Projekte fokussiert. Dieses Swiss Cultural Programme in South Eastern Eu-rope (SCP) ist im Sommer 2013 abgeschlossen worden. Inwiefern haben die unterstützten Projekte den sozialen Wandel begünstigt? Wie beeinflussen Förderprogramme die Kulturproduktion vor Ort und den Kulturaustausch dieser Länder mit der Schweiz? Was kann aus den Erfahrungen in Südosteu-ropa für die Kulturkooperation mit andern Ländern und Regionen dieser Welt gelernt werden?ExpertInnen, KünstlerInnen und KulturvermittlerInnen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Serbien und der Schweiz sowie die Programmverantwortlichen der Direktion für Entwicklung und Zusammen-arbeit und der Pro Helvetia stellten ihre Absichten, Erfahrungen, Erfolge und Grenzen öffentlich zur Diskussion. Kurzfilme, Musik-, Tanz- und Kunstvideo-clips sowie eine Ausstellung ergänzten die Gesprächsrunden.

Unter dem Titel Arts and social change stand am Morgen die Diskussion mit Programmverantwortlichen und ExpertInnen im Zentrum des Programms. Am Nachmittag ging es um Cultural encounters: KünstlerInnen und Veran-stalterInnen erzählten von ihren Projekten und diskutierten mit Kulturschaf-fenden aus der Schweiz über Chancen und Schwierigkeiten von Förderpro-grammen und interkulturellem Austausch.

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Eine Veranstaltung von artlink Büro für Kulturkooperation realisiert in Zusammenarbeit mit CULTURESCAPES und mit Unterstützung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA.

Redaktion Texte und Übersetzungen: Chudi Bürgi, Mauro Abbühl Fotografien: Adela Picón

artlink, Büro für Kulturkooperation - Postfach 109 - 3000 Bern 7 - 031 311 62 60 - [email protected] - www.artlink.ch

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InhaltS. 6 _________ Hätten wir Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht Einstiegsworte von Dragica Rajčić, Schriftstellerin

S. 9 _________ Grussbotschaft von Martin Dahinden, Direktor DEZA

S. 11 ________ Arts and social change Kultur in der Entwicklungszusammenarbeit: Ein einzigartiger Weg zur Unterstützung des Wandels? Round Table mit Videoclips zu den Erfahrungen des Swiss Cultural Programme in South Eastern Europe SCP. Mit Predrag Cvetičanin (Centre for Empirical Cultural Studies of South-East Europe) Nis; Bojana Matić-Ostojić (art∡ngle) Sarajevo; Andrew Holland (Pro Helvetia) Zürich; Brigit Hagmann (DEZA) Bern. Moderation: André Marty (DEZA)

S. 21 _______ KünstlerInnen und Kulturprojekte aus Südosteuropa und der Schweiz: Porträts, Videos und Kurzpräsentationen

S. 28 _______ Ausstellung „Culture of Rememberance“ (Kuratorin: Lejla Hodžić)

S. 32 _______ Cultural encounters Kulturelle Zusammenarbeit: Was tun? Was besser nicht?

Themen und Voten aus den Gesprächsrunden mit Nikoleta Kosovac (Liceulice) Belgrad; Melinda Nadj Abonji, Zürich; Dritan Shutina (Co-Plan) Tirana; Elina Duni, Bern; Marijana Cvetković Marković (Nomad Dance Academy) Belgrad; Jurriaan Cooiman (CULTURES-CAPES) Basel; Bujar Luma (LOJA) Tetovo; Adela Jušić, Sarajevo; Valerian Maly (Bone) Bern; Damir Imamović, Sarajevo; Goran Potkonjak (Balkankaravan) Zürich; Boris Previšić (Pre-Art) Zürich

Fotos rechte SeiteOben: Round Table. Mitte: Ausstellungsansicht. Unten: Präsentation der Kulturprojekte

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Normalerweise sind Leitschienen aus dem Stahl. Am Anfang aber waren die österreichischen Leitplanken aus Aluminium hergestellt worden. In Österreich war gerade eine Aluminiumfabrik da, welche die günstigere Variante lieferte, so nahm der Besteller der Leitplanken auf sich, dass es bei preisgünstigeren Konditionen durch-aus mehr Unfälle geben könnte, wenn der Staat weniger zahlt und Produktion von Aluminium angekurbelt wird. Kollateralschaden, welcher Wirtschaftlichkeit genannt wird. Menschliche Opfer inbegriffen.Die DicherInnen haben nur eine Kalkulation: Mit ihren schreiben die geistigen Leitschienen anzulegen - die einzige Kalkulation, die die Dichtung immer hat: Die Dichotomie zwischen Logos und Mythos, zwischen Denken und Füh-len aufzuheben. Seit ich meine erste Gedichte in der Schweiz ver-öffentlichte (1985), dreht sich alles, was mit mir und meinem schreiben zu tun hat, um suchen nach dem weg zur Auflösung der Dichotomie.

Am Ende von ersten Gedichtbands „Halbge-dichte einer Gastfrau“ steht: noch ist mein Name getrennt auf ich und er, einige Warheiten aber wehren sich verkauft zu werden.Was für Wahrheiten? Zumutbare oder unzumut-bare? Eine davon ist, dass mein Ich dichtet aus Imagination ein Gedicht, das auf die eine oder andere Weise die Gegenwart spiegelt, aber sie zugleich überhöht, entfremdet, umformt, eine neue Welt schafft. Nicht Migration schreibt, es schreibt das einzelne ich, unverwechselbar. Bewegung ohne Subjekt kann gaar Nichts. Wenn wir Migration mit Wanderschaft übersetzen, dann ist Peter Handke erzeuger der Wanderlite-ratur (nicht zur sprechen von Homer, von Vergil, von Cervantes ...).

Am Anfang von meinen schreiben stand der Grund der Eigensprachlosigkeit des Ich. Wohlge-merkt, damals hate mein Ich noch eine einzige Muttersprache, welche aus abgetrettenen Worten bestand, nicht anderes als hier in der Kindheit meiner Leitschiene.

Ingeborg Bachmann, welche in einem Interview sagt: Dass man ein Wort anders ansieht; schon ein einzelnes Wort – je näher man hinsieht, von umso weiter her schaut es zurück – ist doch schon mit sehr vielen Rätseln beladen; da kann ein Schrift-steller sich nicht der vorgefundenen Sprache, also der Phrasen, bedienen, sondern er muss sie zer-schreiben. Und die Sprache, die wir sprechen und fast alle sprechen, ist eine Sprache aus Phrasen. Und da erscheint so vielen etwas, was sie lesen, also was für mich wirklich geschrieben ist, als schwer verständlich oder rätselhaft. So rätselhaft ist das gar nicht; mir kommt es oft sehr viel rätsel-hafter vor, was zusammengeredet wird aus diesen vorfabrizierten Sätzen. Erst wenn die Phrasen einer Zeit verschwinden, finden wir die Sprache für eine Zeit und wird Darstellung möglich. Auch von den heutigen Phrasen werden uns nur die kräftigsten bewusst.

„Hätten wir Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“ (Ingeborg Bachmann)

Einstiegsworte der Schriftstellerin Dragica Rajčić

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1991 begann Krieg in Kroatien und ich lebte dort mit meinen drei Kindern. Ich werde nie die Nacht vergessen, in welchen ich in meiner Ohnmacht die Bücher zerreisen wollte. Bücher, welche mich erschaffen haben, meine Be-wusststheit, mein Bewusstsein, mein einziger Besitztum. Die Bücher haben ihre berechtigung verloren,ihre absolute unnutzlichkeit in der Nacht, als von Himmel oben auf mich und meine Kinder ohne mitverschulden einfach so von menschens Hand Bomben warfen, welche uns umbringen könnten.

Jetzt fehlt mir ein, dass auch in solchen schweren Zeiten in den zweiten Weltkrieg, als Grossvater likvidiert wurde, meine Grossmutter den Gott aus ihren Kopf exilierte. Ich könnte doch nicht Bücher zerreisen, um mich von ihnen trennen, wie Grosmutter sich nicht wirklich von Gott trennen könnte, weil der Gott schon seit ihre Kindheit da war, nur für sie unnutzlich. Als ich mit dreizehn Nietzsche lass, bekunde ich zur Grosmutter nicht ohne Stolz – Gott ist tot, also du muss dich nicht rächen, Grosmutter bekreuzigte sich plötzlich, denn es schien ihr, ich habe den Verstand verloren. Dabei wollte ich ihre Verletztheit und den Unfrieden mit dem Gott nur beenden. Ich habe damals unsere Dorf Bibliothek ausgelesen, sie roch nach Ratten-gift, weil unter ihr die Poljoprivredna zadruga (Gemischtwaren Laden) war, welche alles für Landwirtschaft verkaufte. Die Bücher waren für mich Opium, lesen einziger Grund weswegen ist schön auf der Welt zu sein. Mit dem Büchern könnte ich der sprachlosigkeit, dem ersten und den zweiten Weltkrieg entkommen, die Kriege wohnten dicht an uns durch Geschichten der Grosmutter, des Vaters, der Mutter, ich konn-te die Realität vergessen, der dorflichen Welt entkommen mit der hilfe der Bücher, welche in Anno 1991 mich nicht von Tot durch andere Menschen, oder soll ich genauer sagen: durch die Männer, Krieger, schutzen könnten.

Im Sommer 1991 flüchtete ich aus dem Kriegs-bedrohten Land und nahm nur zwei Bücher mit – den Kleinen Prinz und Meša Selimović Bücher: Die Festung und Der Derwisch und der Tod. André Breton nahm ich nicht mit – er schrieb: Die einfachste surrealistische Tat besteht darin,

mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen. Auch die Schönheitspro-klamationen des Futuristen Marinetti wie: Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert – könnte ich nicht mehr sehen, hören, wollen.In die Schweiz zum zweiten mal angekommen musste ich weiterschreiben. Wie weiterschrei-ben, während Dubrovnik bombardiert wurde und Fernsehen und Radio mit angenehme Stim-me Bilder der Verwandeten kommentierten?Ich wollte mich nur in äussersten Fall äussern – die Dichtung an meiner Haut haften, überprüf-bar werden. Ich wollte die Literatur ins eigene Leben zuruck übersetzen, nicht nur selbstgeschriebene, sondern die (und vor allem die) gelesehene, ich verlangte von mir, dass ich mich an die eigene Worte halte, das ich die Worte nur schreibe, wel-che mir unter der Haut wie Fegefeuer brennen .

Drei Minuten, drei Minuten für Nachrichten (aus Lebendigkeit Ihre züruck)Ein Dorf, es war ein Dorf ...Ich könnte mir die Zunge abhacken.

Erst durch den Krieg habe ich gelernt anderes zu lesen – verstand, was heisst bis ins ausserste von Wirklichkeit vertrieben zu sein. An Aufgeben dachte ich ständig.

Schreib kein GedichtSchreib kein GedichtGeheSchreib TelegrammKein Fuss gefasstzu viele Stopfalsche SchrittegelerntStopSchreib nichtZurückStop(aus Buch von Glück)

Seit diesen Gedicht an der letzte Seite von Buch von Glück, seit fast zehn Jahren, habe ich keine Gedicht mehr in einem Gedichtband veröffent-licht.

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1958 sagte Paul Celan in seiner Bremer Rede: Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies Eine: die Sprache. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furcht-bares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah. Aber sie ging durch dieses Geschehen.

So erscheint das Gedicht ist einzige verbleiben Heimat, auf die hin das Ich unterwegs ist: zur Sprache gehen ... Ich habe zwei sprachen hinter beiden ohren das ist immer hin besser als eine sprache hinter vier ohren zug ist schon abgefahren so kann ich zwei mal sagen zug ist abgefahren so haltet der zug in mir länger ....(aus Lebendigkeit Ihre züruck) Giuseppe Ungaretti schreibt nach den ersten Weltkrieg, dass der Dichter einen geschärften Sinn für die furchtbarsten Wendungen der Ge-schichte habe, da er die Wahrheit des Todes aus nächster Nähe erfahren hat. Der Dichter habe gelernt, was ein Augenblick bedeutet, in dem nur der Instinkt zählt. Er sei so sehr mit dem Tod ver-traut, dass ihm sein Leben endlos als Schiffbruch erscheint.

Freude der Schiffbrüche

Und plötzlich nimmst du die Fahrt wieder aufwie nach dem Schiffbruchein überlebender Seebär

Ungaretti sieht eine einzige Aufgabe des Dich-ters: als Mensch Vollkommenheit zu erreichen und so die Form, der Styl der Gedichte der Weg zu dieser Värenderung aufzeichne. Ungaretti in Gegenteil zu Celan will das Ich nicht in der Sprache verlassen, sondern fördert das sein schreiben Ich in Wirklichkeit erschafft.

In Unschuld Zunge gewaschen auf dem Papier Reitet mich das WortDarüber Hinaus.(aus Post bellum)

Ingeborg Bachmann wird in Frankfurter Vorle-sungen 1959/60, wenn sie über die Probleme der zeitgenössische Dichtung spricht, die Gesell-schaft bedauern, welche Gedichte nicht wie Brot braucht; von Gedichten verlangt sie, das sie Bitter von Erkenntnis sind. Die Gedichte von Celan, sagt sie, haben eine schmerzliche und ausserst harte überprüfung der bezuge von Wort und Welt durchgemacht und haben neue Defini-tion der Möglichkeit etwas wieder zu sagen, sehr direkt, unverschlüsselt gefunden: In den Gedicht Engführung aus den Gedichtband Sprachgitter

... Ein Stern hat wohl noch Licht.Nichts,nichts ist verloren. Sie haben es schon lange erraten, das sind die Leitschienen, welche ich hier erwähne, sie sind und bleiben meine Leitplanken und Leidplanken, zwischen welchen sich meine Dichtung bewegt.

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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste aus dem Balkan und aus der Schweiz.

Ich freue mich sehr, heute hier bei Ihnen zu sein.Art of Change: Der Titel des heutigen Forums schlägt vor, Wandel als eine Kunst zu betrach-ten. Der Doppelsinn weist aber auch darauf-hin, dass Kunst ein Mittel zum Wandel ist. Wo beginnt nun Wandel, wenn nicht in unserem Verstand und Herzen? Was setzt Geist und Herz zusammen in Bewegung, wenn nicht eine Kom-bination von Emotion und Verstand, so wie das in der Kunst zum Ausdruck kommt. Der künst-lerische Ausdruck hat in der Tat die Fähigkeit, uns dazu zu bringen, Leute und Dinge anders zu sehen und uns neue Möglichkeiten vorzustellen.

Für die Direktion für Entwicklung und Zusam-menarbeit ist die Förderung des Wandels nicht nur eine Kunst; es ist eine Verantwortung. Unse-re Welt befindet sich in rasantem Umbruch, und wir stehen Herausforderungen gegenüber, die sich an keine nationalen Grenzen halten. Der Kli-

mawandel, der Druck auf natürliche Ressourcen und die internationale Migration, um nur einige wenige zu nennen, können ohne internationale Zusammenarbeit nicht wirkungsvoll angegan-gen werden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass wir, als Folge der rasanten Entwicklung der Globalisierung, Menschen zurücklassen. Die Schweiz trägt ihren Teil der Verantwortung, indem sie sich dieser Herausforderungen stellt und indem sie sich für gerechtere, friedliche und stabile Gesellschaften einsetzt.

Künstler und Kulturschaffende gehören zu den dynamischsten, innovativsten Akteuren in allen Zivilgesellschaften und können in der Entwick-lung und im Übergangsprozess eine äusserst wichtige Rolle spielen. Dies trifft insbesondere in Nachkriegs-Situationen zu. Wenn es darum geht, zwischen Individuen und Gemeinschaften Brücken zu bauen, neue gemeinsame Perspekti-ven zu entwickeln, spielen Künstler und Kultur-schaffende eine wichtige Rolle. Die schweizeri-sche Entwicklungszusammenarbeit hat deshalb eine lange Tradition in der Unterstützung des künstlerischen und kulturellen Ausdrucks in ihren Partnerländern. Und wir verpflichten uns, dies weiterhin zu tun, im Balkan und anderswo.

Die Unterstützung des künstlerischen und kulturellen Sektors wirft für eine Agentur wie die unsere, die öffentliche Gelder verwaltet, zahlrei-che Fragen auf. Das Swiss Cultural Programme in Southeast Europa SDC, durchgeführt von der Pro Helvetia, ist das längste und umfassendste Programm, das die DEZA je im Bereich der Kunst und Kultur unterstützt hat. Aus dieser Erfahrung ziehe ich folgende Schlüsse:

● Es gibt stichhaltige Gründe für ein Kultur-programm. Zu den Zielen gehören die För-derung der Meinungsvielfalt und der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen. Dies sind wichtige gesellschaftlichen Werte. Der Versuch, mittels künstlerischem Schaffen soziale Ziele zu erreichen, ist verlockend, beinhaltet jedoch die Gefahr, Kultur zu instrumentalisieren. Dies

Grussbotschaft

Martin Dahinden, Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA

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wäre letztlich weniger wirksam, wenn nicht gar kontraproduktiv für die Schaffung einer offenen und pluralistischen Gesellschaft.

● Zweitens: Die „Veränderung“ durch künstleri-sche und kulturelle Aktivitäten ist kaum mess-bar. Es gibt Auswirkungen die nicht in reinen Zahlen wiedergegeben werden können; die sich in den persönlichen und kollektiven Geschichten der Beteiligten finden. Wir sollten uns Zeit neh-men um zuzuhören und zuzusehen – wir hatten eben gerade ein wunderbares Beispiel dafür: Ich war fasziniert von all den Bezügen von Dragica Rajčić, die in ihren einleitenden Worten auf viele Autoren Bezug nahm, die in meinem Leben und meinem Denken eine Rolle gespielt haben.

● Und als Letztes: Dauer und Umfang einer Un-terstützung aus dem Ausland ist per Definition beschränkt. Sie kann nie die Rolle einer Gesell-schaft einnehmen, um den unabhängigen Kul-tursektor als grundlegender Teil der Demokratie gedeihen zu lassen. Das Swiss Cultural Program hat eine ganze Generation von Künstlern und und Kulturschaffende über ethnische, religiöse und politische Grenzen hinweg unterstützt, in einer Zeit, die von grossen Umwälzungen und auch Spannungen geprägt war. Dieses Enga-

gement hat den Übergangsprozess im Balkan unterstützt. Aber das langfristige Bestehen der aufgebauten Netzwerke und unabhängigen Kul-turszenen liegt ausserhalb ihrer Möglichkeiten.

Dieses Programm wird heute abgeschlossen und hinterlässt ein reiches Erbe was Kapazitä-ten, Netzwerke und Institutionen anbelangt. Trotzdem zeigt sich auch, dass viele Probleme ungelöst sind, auf Seiten der Kulturschaffenden genauso wie auf Seiten der Institutionen, welche die internationale Kulturkooperation fördern.

Ich möchte insbesondere artlink, Büro für Kulturkooperation, danken. In Zusammenarbeit mit dem Culturescapes Festival, das dem Balkan gewidmet ist, hat es diese Tagung organisiert und bietet uns die Möglichkeit, die gemachten Erfahrungen zu sammeln und diskutieren. Es ist ein wertvoller Auftakt für die heutigen Debatten über internationale Kooperation im Kulturbe-reich. Als Schweizer Entwicklungsagentur sind wir sehr interessiert, ihre Perspektiven zu hören und an der Diskussion darüber teilzunehmen.

Ich wünsche Ihnen somit einen produktiven Austausch und produktive Begegnungen.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Arts and social change

Kultur in der Entwicklungszusammenarbeit: Ein einzigartiger Weg zur Unterstützung des Wandels?

Round Table mit Predrag Cvetičanin PC (Centre for Empirical Cultural Studies of South-East Europe) Niš; Bojana Matić-Ostojić BM (art∡ngle) Sarajevo; Andrew Holland AH (Pro Helvetia) Zürich; Brigit Hagmann BH (DEZA) Bern. Moderation: André Marty AM (DEZA)

Slideshow zum SCP (siehe www.artlink.ch/scp)

AM Durch das SCP wurden dreitausend Projekte unterstützt, das ist beeindruckend. Brigit Hag-mann, ich würde gerne etwas besser verstehen, welches die grundlegende Idee der DEZA ist, dass sie sich in der Unterstützung kultureller Entwick-lung engagiert.

BH Die Idee war „change“, Wandel – art of change. Zu Beginn ging es darum, Brücken zu bauen, Brücken zwischen unterschiedlichen Menschen, verschiedenen Ethnien, verschiede-nen Ländern, zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen. Für die DEZA stehen im Westbalkan die Förderung der Demokratie, Dezentralisierung und natürlich ökonomische Entwicklung im Vordergrund, und dabei arbeiten wir vor allem mit Regierungen und der Privat-wirtschaft zusammen. Doch was ist mit der Zivilgesellschaft? Die wichtigsten Veränderun-gen erfolgen durch Leute, die Brücken bauen, die die Zukunft bauen, in der Zivilgesellschaft, den Gemeinschaften, junge Leute, alte Leute. Wir wollten also ein Programm speziell für diese Leute. Wichtig daran war: Dieses Programm war immer Zukunft gerichtet. Natürlich müssen die Leute nach den schrecklichen Jahren, die sie erlebt haben, mit der Vergangenheit leben, aber sie müssen in die Zukunft schauen. Das war das Ziel des Programms: den Leuten eine Chance geben, eine neue Zukunft zu bauen.

AM Bei der DEZA arbeiten hochqualifizierte Entwicklungsexperten der verschiedensten Ausrichtungen, aber kaum oder überhaupt keine Kulturmanager. Wie genau entstand die Idee, kam sie von einer Person, von der Institution, die sagte, gehen wir einen Parallelweg neben den klassi-schen traditionellen Entwicklungsinstrumenten – der ökonomischen Entwicklung, der Unterstüt-zung lokaler Regierungen – und unterstützen auch kulturelle Ideen?

BH Als wir vor zwanzig Jahren begannen, war es auch ein Experiment für uns. Wir wussten nicht, wohin das Programm gehen würde und wie es umgesetzt werden sollte. Die DEZA verfügte nicht über die einschlägigen Erfahrungen, aber schon bald arbeiteten wir mit Pro Helvetia zusammen, den Experten im Entwickeln von kulturellen Aktivitäten. Und natürlich arbeiteten wir auch eng zusammen mit unseren Koopera-tionsbüros in diesen Ländern. Das Programm begann mit kleinen Aktionen: Die Kooperati-onsbüros begannen, Aktivitäten von Leuten in Bosnien, Albanien, Serbien etc. zu unterstützen, Leute, die Ideen hatten, aber nicht die nötigen Mittel um sie umzusetzen. Mit wachsender Er-fahrung wurde es möglich, ein grösseres Projekt zu entwickeln. Die wichtigste Veränderung gab es vor etwa fünf Jahren, als wir das SCP-Büro in Sarajevo eröffneten. Wir wollten das Programm nicht von der Schweiz aus steuern, sondern aus der Region heraus. Wir wollten die Leute der Region untereinander in Verbindung setzen. Der Grund, weshalb das Programm so erfolg-reich und nachhaltig war, liegt darin, dass das SCP-Team sehr engagiert war und weil es in der Region lebte und ein exzellentes Wissen darüber hatte, was Südosteuropa passiert.

AM Bojana, du hast das SCP vor Ort gemanagt. Auf Grund welcher Kriterien wurden Zuschüsse bewilligt?

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BM Es gab eine Vielfalt von Instrumenten, die sich über die Zeit auch veränderten. Die Unter-stützung für kleine Projekte betrug 200 bis 2‘000 Franken; 2004 kamen nationale Projekte hinzu, dann regionale Kooperationsprojekte und zum Schluss kulturelle Netzwerke. Für diese unter-schiedlichen Projektarten gab es unterschiedli-che Kriterien, aber sie richteten sich klar an jene Szene, die auch als alternativer Kultursektor bezeichnet wird. Andere Akteure waren jedoch nicht ausgeschlossen, es gab auch einige öffent-liche Institutionen, mit denen SCP zusammenar-beitete und die Unterstützung bekamen.Ich will nicht auf die technischen Details der Vergabekriterien eingehen. Wichtig ist zu sagen, dass diese gemeinsam mit Leuten der Region, die im Kulturbereich tätig sind, nach und nach entwickelt wurden. Das SCP gab nur den Rah-men vor. Die Leute vor Ort entwickelten auch die Kriterien für die nationalen und die regio-nalen Projekte. So unterschiedlich die Projekte waren, ein Schlüsselkriterium galt für alle: Sie sollten in ihrem Bereich innovativ sein und zum sozialen Wandel beitragen.

Video über Liceulice (siehe www.artlink.ch/scp)

AM Andrew Holland, im Film über „Liceulice“ wird an einer Stelle gesagt: Es geht darum, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Wie würden Sie Schweizer Parlamentariern erklären, weshalb die Pro Helvetia sich in solchen Aktivitäten engagiert?

AH Ich denke nicht, dass ich das erklären muss; die DEZA müsste erklären, weshalb sie die Pro Helvetia damit beauftragte. Ich würde natürlich zuerst vom Mandat der DEZA sprechen, und dann würde ich eine Art Werberede halten, warum Welten zusammenzubringen wichtig ist. Ich persönlich war sehr glücklich über diese

einmalige Herausforderung, zwei so grundsätz-liche verschiedene Welten zusammenzubringen. Auf der einen Seite das Entwickeln von loka-len Strukturen, auf der anderen Seite unsere grundlegende Aufgabe, die heisst: Austausch und Export von Schweizer Kultur ins Ausland. Voneinander lernen ist entscheidend. Und ich sage lernen, weil ich das bei meiner ersten Erfahrung in der Region verstanden habe: Ich kam mit einer ausgeprägten Kunst-Perspektive und musste dann erst herausfinden, worum es geht. Ich persönlich wusste gar nichts über die Region und hatte keine Ahnung, wie lokale Strukturen entwickelt werden könnten. Meine Aufgabe war es zu fragen: Wo sind Strukturen und wie funktionieren sie? Es war meine grosse Chance, dass ich in der Region mit Projekten arbeiten und ihren Kontext kennenlernen konnte. Ich lernte, dass du zuerst Strukturen schaffen musst, erst dann kann der Austausch beginnen – ein harter, wertvoller und wichtiger Prozess darüber, wie Dinge zusammenkommen. Demokratisierung, die Entwicklung der Zivilge-sellschaft und all diese grossen Begriffe sind sehr wichtig, aber am Ende des Tages geht es um Menschen mit Menschen. Ich denke, darum ging es in dem Programm: Leute tauschen sich aus und lernen voneinander, Leute aus der Region. Wir alle wissen, in der Region gab es Konflikte, aber ich sah, dass Leute aus neun verschiedenen Ländern zusammen arbeiteten, junge Leute mit hundert Prozent Grosszügigkeit im Herzen, sie vergessen die Vergangenheit, aber nicht ihre Herkunft, sie arbeiten zusammen ohne irgendwelche Grenzziehungen. Für mich, der aus einem Land kommt, das sich für seine Diversität rühmt, multikulturell und demokratisch, war es sehr interessant zu sehen, wie sich diese Region entwickelt.

AM Predrag, ungefähr die gleiche Frage an Sie: Wie haben Politiker und Regierungen, internati-onale und lokale Politiker, auf die Idee reagiert, über die wir hier sprechen, einen Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft zu leisten?

PC Es gibt verschiedene Ebenen der Interaktion. In den 1990ern und dann in den 2000ern gab es zwei Hauptsponsoring-Organisationen. In den 1990ern war es das „Open Society Institute“, das

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die unabhängige Szene unterstützte, und in den 2000ern dann das „Swiss Cultural Programme“ als wichtigster Sponsor, als zentrale Institution. Die Situation ist komplex, denn die unabhängige Kulturszene ist Teil der Zivilgesellschaft. In den Neunzigern gab es eine riesige Kampagne ge-gen den zivilen Sektor, man behandelte uns als diejenigen, die Geld aus dem Ausland kriegten und nichtstaatlich oder gar regierungsfeindlich eingestellt waren. Es machten in den Medien auch Geschichten über immense Geldsummen die Runde, die komplett falsch waren. Besonders in den 1990ern gab es also viele negative Reak-tionen von Seiten der Politiker. In den 2000ern erhielten auch sie grosszügige Unterstützung für ihre eigenen Aktionen, aber an ihrem Verhalten änderte das nicht wirklich etwas. Sie erwarteten, dass die Schweizer sie endlos unterstützen.Für mich ist es jetzt Zeit für Eigenunterstützung der unabhängigen Kulturszene und der Kultur allgemein, mit Steuergeldern der Staaten dort.

AM Wie haben diese ganzen Programme den Wandel unterstützt?

PC Wandel findet auf verschiedenen Ebenen statt. Ich bin Soziologe, für mich ist es schwierig, das in einfachen Begriffen zu sagen. Wandel

kann auf der Ebene der Kultur und der kulturel-len Institutionen passieren, und die Unterstüt-zung durch das SCP war entscheidend für die Bemühungen der Kulturszene in der Region. Wandel kann auf der lokalen Ebene passieren, und hier hatte das Programm immense Auswir-kungen, besonders ausserhalb der Grossstädte; das Thema der Dezentralisierung wurde ja angesprochen. Auf der staatlichen und nationa-len Ebene ist Wandel schwierig, weil dort viele Faktoren zusammenspielen. Es gibt Leute mit Billionen von Dollar, es gibt Staatsagenturen, internationale Unternehmen. Veränderung passiert, aber kennen Sie Ralf Dahrendorf, den deutschen Soziologen, der sein ganzes Leben in England arbeitete? Als der Umbruch in Osteuro-pa begann, sagte er, wir brauchen sechs Monate um politische Systeme zu ersetzen, sechs Jahre um ökonomische Systeme zu verändern, und sechzig Jahre um die Gesellschaft zu verändern. Und so ist es. Ich erinnere mich an die Proteste 1996, als ich dies unter Studenten zitierte. Und einer meiner besten Studenten sagte: vielleicht sollte ich die Einladung nach Italien akzeptieren; ich habe nicht sechzig Jahre Zeit. Und das ist das Hauptproblem. Die Gesellschaft verändert sich sehr langsam und nicht im gleichen Schritt wie unser Leben. Für mich als Soziologen ist es akzeptabel, dass die Gesellschaft sich in sechzig Jahren verändert – solange ich die Veränderung sehe. Für mich als Person ist das aber zu lange.

AM Eine Staatsagentur wie die DEZA muss Fakten, muss Resultate vorweisen. Welches ist der konkrete Beitrag, den das SCP zum Wandel beigetragen hat?

BH Ich denke, es ist wichtig, was wir im Video über „Liceulice“ an Resultaten gesehen haben. Das SCP war nicht nur ein isoliertes Programm. Es arbeitete für Dezentralisierung und für die Förderung der Demokratie. Das bedeutet Verantwortlichkeit, Meinungsfreiheit, Zivil-gesellschaft. Dieses Programm war eine Art Methodologie. Es war in denselben Gemeinden und Gemeinschaften aktiv, wo es auch andere Programme zur ökonomischen Entwicklung gab. Es gibt zum Beispiel viele junge Arbeitslose im Westbalkan, und es ist eines der Ziele, mit Programmen private Investitionen zu verbes-

Predrag Cvetičanin, Bojana Matić-Ostojić, Brigit Hagmann

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sern, Arbeitsplätze zu schaffen und junge Leute darauf vorzubereiten. Diese Programme waren also eine Art Methodologie, die genutzt werden konnte. Es gibt nicht einfach Resultate des SCP, es hat zu den Resultaten unserer Programme überhaupt beigetragen, die wir Schweizer Parla-mentariern zeigen können.

Video des Contemporary Art Center Skopje (siehe www.artlink.ch/scp)

AM Das Video über das „Contemporary Arts Center Skopje“ vermittelt uns eine Idee, was wir meinen, wenn wir von Dezentralisierung spre-chen, von Kulturvermittlung auf lokaler Ebene. Zu Beginn hat uns Dragica Rajcić eine ziemlich beein-druckende Einführung gegeben, was es für eine einzelne Künstlerin bedeutet, mit der sogenannten Vergangenheit umzugehen. Ich möchte Bojana fragen, wie Künstler zu Beginn der Programme reagierten, wenn sie eingeladen wurden, ihren eigenen Umgang mit der Vergangenheit auszu-drücken. Gab es Künstler, die eher zurückhaltend reagierten oder waren sie froh, ihren persönlichen Erfahrungen Ausdruck geben zu können?

BM Ich würde das SCP nicht als ein Programm zur Unterstützung von Künstlern sehen, die sich nur mit Themen der Vergangenheit beschäftig-ten. Sicher, wir haben Projekte und Organisa-tionen unterstützt, die sich mit diesem Thema auseinandersetzten, aber das Programm selber war offen für alle Themen. Das war eines der Charakteristika des Programms: Nicht wir schrieben den Künstlern bei den kleinen Aktio-nen Themen vor, wir waren nur dazu da, ihnen die Möglichkeit zu schaffen, sich auszudrücken. Beim SCP ging es nicht nur um künstlerische Freiheit, sondern um alle möglichen Formen von

Freiheit. Es ging auch um Bewegungsfreiheit und um das Recht, überhaupt Kultur zu haben. Das Video vorhin zeigt einen wichtigen Punkt der Tätigkeit des „Contemporary Arts Cen-ters“: Die Arbeit mit der Landbevölkerung, die nach den Veränderungen der Neunziger Jahre praktisch ohne kulturelle Angebote blieb. In über hundert ländlichen Gemeinden wurden vom „Contemporary Arts Center“, zusammen mit ihren Partnern aus anderen Ländern, kulturelle Inhalte angeboten und den Leuten wurde die Möglichkeit gegeben, ihre eigenen Kulturiniti-ativen zu planen und umzusetzen. Es ging also nicht um den Umgang mit der Vergangenheit, sondern um zukunftsorientierte Projekte, mit einem Bewusstsein für die Vergangenheit.

AH Ich denke immer noch über die Frage nach, wie ich das Programm vor Schweizer Parlamen-tariern verteidigen würde. Was bisher gesagt wurde, macht es klar: Hier kamen inhaltliche künstlerische Qualität und das Knowhow, um Projekte zu managen, zusammen. Andere Länder, z.B. das „Goethe-Institut“, der „Bri-tish Council“ und die „Alliance Française“, exportieren ihre eigenen Leute, die vor Ort arbeiten. Beim SCP war es anders, hier sind es Leute aus der Region und lokale Bedürfnisse, denen ermöglicht wird, die beiden Aspekte im Kulturbereich zusammenzubringen. Als ich dort war, habe ich immer wieder gehört, die Schweiz sei das einzige Land mit dieser Art von Zugang. Und das würde ich gegenüber Parlamentari-ern betonen: Es ist gut für die Schweiz, für das Image der Schweiz, eine gute Investition, wir schaffen Synergien und eine Win-Win-Situation für alle; das ist das, was wichtig ist. Es gibt eine immense Liste von Projekten, von denen viele wirklich von unten kommen, Leute der Region arbeiten zusammen und entwickeln, was ihren Bedürfnissen entspricht. Wir exportierten nicht einfach etwas, sondern unterstützt wurden Leu-te mit ihren Bedürfnissen, in ihrem Umfeld und auf dem Weg, den sie aufgrund ihrer lokalen und regionalen Sitution als wichtig erachteten.

AM Wurde das nicht als westliche Einflussnahme wahrgenommen? Sah man einfach nette Kerle aus der Schweiz, ohne politische Agenda?

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PC Die Wahrnehmung war nicht, dass der Schweizer Staat hier besondere Interessen ver-folgt. In Serbien (das kenne ich neben Mazedoni-en und Montenegro am Besten, weil ich da von 2009 bis 2010 Forschung betrieben habe) gibt es etwa 130 bis 150 Organisationen der unab-hängigen Kulturszene, und ich würde sagen, 60 Prozent brauchen Kunst als Vehikel für soziale Intervention und 40 Prozent sind künstlerisch innovativ. Und beide wurden unterstützt. Nie-mand wurde also gezwungen, sein Programm zu ändern. Sie wurden unterstützt, wenn sie die Kriterien erfüllten. Das war wirklich eine der Stärken des Programms.

AM Bojana, wir haben jetzt eine unabhängige Szene in der Region, die mehr oder weniger exklu-siv von ausländischen Gebern unterstützt wird. Wird das als positives Ergebnis wahrgenommen?

BM Ich habe mein ganzes Leben im Balkan verbracht und habe mich sowohl beruflich wie persönlich dafür eingesetzt, etwas im Balkan zu machen. Ich kam am Ende des Krieges von Serbien nach Bosnien, und irgendwie war 1996 die Energie in Bosnien positiver als heute. Da-mals teilte ich wohl die Erwartungen der Leute, dass das Schlimmste vorbei sei, und es fehle einfach der Fortschritt. Wir begannen, auch mit Regierungen zusammenzuarbeiten und hatten Erwartungen an sie. Es waren nicht nur die Schweizer Regierung und Schweizer Steuergeld, oder irgendwelche anderen Regierungen der Welt in der Verantwortung, es ging in erster Linie darum, unsere eigenen Regierungen in die Verantwortung zu nehmen. Es gab Anzeichen, dass da auch etwas passierte, aber zum einen ist Kultur leider für keine Regierung und kein Wirtschaftsministerium prioritär, und auch unsere Regierungen müssen überzeugt werden, dass Kultur wichtig ist. Hinzu kommt der öko-nomische Stillstand oder gar Verschlechterung, unter der wir leiden; wir sind zwar nicht hier um Ökonomie zu diskutieren, aber Fakt ist, dass die Ökonomie in diversen Ländern nicht genug gewachsen ist, und eines beeinflusst das andere. Es war wohl zu optimistisch zu erwarten, dass unsere Regierungen mit ihren knappen Budgets mehr in Kultur investieren, und erst noch in den unabhängigen Kultursektor. Ich hatte erwartet,

dass dies in einer gewissen Zeitperiode passie-ren würde, und jetzt, nach Abschluss des SCP, stelle ich fest, dass ich den Zeithorizont, den ich meiner Regierung gebe, um etwas Substantiel-les zu tun, ständig ausgeweitet habe. Wie auch immer, ich bin sicher, dass dank der lebendigen, beweglichen Kulturszene etwas erreicht werden kann, aber es braucht Zeit.

PC Ich möchte deutlich machen, dass wir heute eine ziemlich starke unabhängige Kulturszene in der Region haben, die von niemandem finanziert ist. Wir sind am Beginn einer neuen Phase. Es gibt negative Entwicklungen, eine davon ist die Tatsache, dass die letzten übrig gebliebenen Geldgeber 2013 die Region verlassen haben. Aber auf eine Art bin ich auch glücklich darüber, weil es bedeutet, dass diese Region jetzt reif genug sein sollte, um selber die Finanzierung da-für zu sichern. Und ich bin nicht so glücklich, weil ich selber in diesem unabhängigen Kultursektor arbeite. Es gibt noch etwas Positives: Das SCP-Programm verlief nach Vorgaben, auf die man sich verlassen konnte, ohne Überraschungen, wir wussten um die einzelnen Schritte, dass z.B. nationale und Netzwerk-Projekte unterstützt würden und es 2013 enden würde. In Kroatien gibt es schon seit 2002, in Slowenien

Andrew Holland

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vielleicht etwas später, und in der ganzen Region seit 2009 eine starke Vernetzung. Wir haben nationale Netzwerke geschaffen; in Serbien sind etwa 92 Organisationen, also rund drei Viertel aller Organisationen, Mitglied der „Association Independent Cultural Scene of Serbia“. Und wir etablierten auch „Kooperativa“, die regionale Plattform für Kultur, sie umfasst Organisatio-nen von Slowenien bis Albanien. Gemeinsam möchten wir auch erreichen, dass ein „South East European Fund“ geschaffen wird, in dem Staaten die Hauptgeldgeber sein sollen. Für diese sind z.B. 200‘000 Euro pro Jahr nicht viel Geld, aber 1,5 Millionen in diesem Fonds können die Aktivitäten der unabhängigen Kulturszene der Region sehr gut unterstützen. Das Geld soll nicht direkt aus den Budgets fliessen, wir wollen einen regionalen Fond schaffen, bei dem wir uns mit Projekten bewerben können. Das ist auch etwas, bei dem SCP und andere Geldgeber uns helfen können, indem sie unseren Regierungen klarmachen: Wir haben euch eine wunderschön entwickelte Kulturszene überlassen. Jetzt seid ihr dran, etwas daraus zu machen.

AM Es gibt positive, wenn auch nicht allzu vielver-sprechende Entwicklungen. Wie ist Pro Helvetia gerüstet, um die Veränderungen und Auswirkun-gen zu beobachten?

AH In der Region? Nicht wirklich. Ich komme auf das zurück, was Predrag sagte. Es gibt eine starke dynamische Kulturszene. Eines der Ziele war es, in jedem Land eine lokale unabhängige Kulturpolitik zu entwickeln. Wir sind nicht so weit gekommen, wie wir sollten, nicht wegen des Programms, sondern wegen dem, was in der Gesellschaft dort passiert. Die Szene ist zwar stark, aber es gibt auch eine Fragilität, die mich beunruhigt. Es muss ein Anschlussprogramm geben, die Szene kann nicht sich selbst überlas-sen werden, sonst ist die ganze Arbeit, die getan wurde, vergebens, und vermutlich würde vieles verschwinden.Was wir tun können? Anders als das SCP kann Pro Helvetia keine lokalen Kulturstrukturen unterstützen. Wir brauchen eine Art Verbindung zur Schweizer Kulturszene, um unterstützen zu können. Unsere Aufgabe ist es, Netzwerke für Schweizer KünstlerInnen aufzubauen, Kultur-

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austausch, Austauschprojekte zu unterstützen, Kooperationen, Koproduktionen, Tourneen in der Region. Es gibt eine enorme Zahl von Partnern, deren Netzwerke wir nutzen können. Die grosse Arbeit des SCP gehört jedoch nicht zu unseren täglichen Aufgaben, und wir sind sehr an Partnern interessiert, die für die Zukunft das stützen, was aufgebaut wurde.

AM Wenn ich dich richtig verstanden habe: Kultur verändert die Gesellschaft oder unterstützt zumin-dest den Wandel der Gesellschaft, auch wenn dies nicht messbar ist in Zahlen und Fakten. Bojana, bist du damit einverstanden?

BM Es stimmt für mich; jegliche kulturelle Einmischung hat eine Bedeutung. Beim SCP begann es mit den kleinen Unterstützungs-beiträgen an Reisen, die uns ein paar hundert Franken kosteten und sehr wertvoll waren für die Leute, um sich mit Europäern zu vernetzen, sei es in der Region oder in der Schweiz. Ein Teil des Programms beschäftigte sich spezi-ell mit dem Schweizer Kulturaustausch; dies wurde direkt von der Pro Helvetia unterstützt. Die SCP- Unterstützung ging bis zu Projekten mit Entwicklungscharakter, wo ganze Dörfer aktiviert wurden. Wir haben immer versucht, den Erfolg eines Projekts so gut wie möglich zu messen, manchmal waren es eher Schätzungen, manchmal hatten wir feste Messzahlen. Ich war zum Beispiel beeindruckt, als ich von den Part-nern, die ein Projekt in ländlichen Gemeinden in Bosnien-Herzegowina durchführten, erfuhr, dass von der lokalen Bevölkerung 3‘000 Freiwilligen-stunden für eine Kulturveranstaltung geleistet wurden, die sie im Dorf planten. Da geht es um die Teilhabe an der Gemeinschaft. Das Projekt brachte die Leute dieser Region zusammen, was in den letzten Jahrzehnten stark verloren gegangen war und jetzt wieder vermehrt wichtig wird. Für mich ist es ein Zeichen dafür, wie Leute mobilisiert werden können um zusammenzuar-beiten. Leute aus mehreren Nachbardörfern, die sich nicht oft sehen, kommen zusammen haben nur einen Grund sich zu treffen, wenn ein kultu-relles Projekt, ein Markt oder so etwas in einem der Dörfer stattfindet. Ein Indikator war, dass bei Filmvorführungen eines mobilen Kinos 6‘000 Leute kamen; es wurden Filme aus Exjugoslawi-

en gezeigt. 60 Prozent der Leute, die in dieser Region leben, haben daran teilgenommen. Das ist enorm.

AM Brigit Hagmann, die Schwierigkeiten für die unabhängige Kulturszene sind noch nicht vorbei. Wie Martin Dahinden in seiner Begrüssung gesagt hat, engagiert sich die DEZA weiterhin für Kunst und Kultur in der Region. Was wird anders sein in der zukünftigen Unterstützung der DEZA?

BH Die DEZA ist in allen Ländern im Süden und Osten auch in der Kultur sehr aktiv, mit dem Kulturprozent, das in kulturelle Programme investiert wird. Für die fünf Westbalkan-Länder sind das etwa eine halbe Million Franken im Jahr, und jetzt diskutieren wir mit „artangle“, wie dieses Budget investiert werden könnte. Es ist natürlich nicht mehr dasselbe Programm. SCP war ein sehr langes Programm, zwanzig Jahre mit etwa 50 Millionen Franken, und wir sehen Veränderungen und Resultate. Jetzt, wie Predrag sagte, müssen die Künstler, die Leute im Westbalkan alleine weitergehen. Die DEZA wird weitermachen, indem sie den Fonds von „artangle“ unterstützt, der den Leuten Zugang zu Finanzen gibt, das ist sehr wichtig für uns. Noch eine Bemerkung zum „Change“ - Wandel. Natürlich verändert sich viel im Westbalkan, man kann es sehen und fühlen, aber man muss vorsichtig sein und diesen Wandel nicht im direktem Zusammenhang mit den Programmen zu Dezentralisierung, Demokratisierung oder dem Kulturprogramm sehen. Ein Beispiel, vor etwa drei Wochen in Albanien: Die Leute waren mit der Regierung nicht einverstanden, dass die chemischen Waffen aus Syrien in Albanien zerstört werden sollen. Also gingen sie auf die Strasse um zu demonstrieren, was vor zwanzig, ja noch vor fünf Jahren unmöglich gewesen wäre. Aber sie taten es. Das ist Wandel, aber der hat mit unserem Programm nichts zu tun. Das Wichtigste ist, dass sich etwas verändert, und die DEZA unterstützt das auch weiterhin.

PC Es ist sehr wichtig, die Struktur der unab-hängigen Kulturszene zu verstehen. Viele dieser Organisationen sind wirklich sehr klein. Wie er-wähnt wurde, stand die Unterstützung von klei-nen Aktionen durch das SCP am Anfang, danach

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kamen nationale Projekte und dann regionale Kulturprojekte. Diese kleinen Kulturaktionen sind für uns bedeutend. Monopolisierungprozes-se sind für die Zivilgesellschaft destruktiv. Im Ge-gensatz zum Beispiel zum politischen Bereich: in Serbien gibt es immer noch 287 politische Parteien, was völlig lächerlich ist und vom vor-herigen Regime unterstützt wurde, sie wollten aus der politischen Arena einen Zirkus machen. In der politischen Arena ist die Monopolisierung und die Bildung von wenigen grossen Parteien heute eine gute Sache, aber für den zivilen Sek-tor ist es ein wirkliches Desaster. In jedem dieser Staaten und Gesellschaften gibt es etwa fünf bis zehn Organisationen, die sowieso überleben werden. Sie sind gut ausgerüstet, sie können Kulturprojekte organisieren, sie verstehen Projektvorschläge zu schreiben, und sie werden langsam zu neuen Kulturinstitutionen werden.Aber alles andere, das sehr wertvoll ist, wird vermutlich verschwinden. Und das war eines der Ziele für die Netzwerke in Serbien und in der Region, wir wollten eine Art Schirm für die Kleinsten schaffen, die wirklich Basisorganisati-onen sind. Und da sehe ich eines der Probleme von „artangle“: sie haben etwa 100‘000 Euro zur Verfügung, und sie unterstützen damit grosse Projekte, und können von 100 guten Gesuchen nur drei unterstützen. Das ist entmutigend. Wichtig wird sein, diese regionalen Kooperati-onsprojekte nicht zu beschneiden, jedoch mit zusätzlichen Mitteln weitere Projekte zu unter-stützen, was den Leuten, die sich mit Kulturfra-gen befassen, Hoffnung gäbe.

AM Klein gegen Gross. Gibt es da ein Rezept?

BM Es gibt kein System für alle im Kulturbe-reich. Wir aus der Region haben uns in all den Jahren im SCP sehr für die Unterstützung kleiner Aktionen eingesetzt, aber leider mussten wir umdenken und die Tatsache akzeptieren, dass es nun verschiedene Arbeitsinstrumente gab. Die kleinen Aktionen sind die flexibelsten, wertvolls-ten und praktischsten Instrumente. „artangle“ hatte für 2013 ein kleines Budget, da es erst im Sommer begonnen hat, also mit Geld für ein halbes Jahr. Wir betreuen jetzt den „Balkans Arts and Culture Fund“ in Partnerschaft mit der „European Cultural Foundation“. Wir hoffen,

dass wir wachsen können, nicht nur im Umfang des Budgets, aber auch in der Idee der Diversifi-zierung der Instrumente und auch in den Quellen und Fonds, die wir nach Südosteuropa lenken. Dass wir fünf Jahre, nachdem das SCP aufgehört hat, Kleinprojekte zu unterstützen, immer noch Anfragen von Leuten aus der ganzen Region bekommen, zeigt, wie wichtig diese waren. Ich bin zum SCP gekommen, als bereits die DEZA verantwortlich war; davor waren es die Pro Helvetia Aussenstellen. Die Verantwortlichen der DEZA werden mich hoffentlich nicht falsch verstehen, aber wenn ich jetzt mit Leuten in Serbien oder Albanien über das SCP spreche, stellen sie sofort den Link zur Pro Helvetia her, nicht weil Pro Helvetia die grössere Sichtbarkeit als die DEZA hatte, im Gegenteil, aber mit den kleinen Aktionen konnten damals viel mehr Leu-te Gesuche stellen. Die grossen Projekte haben individuelle Künstler und kleine Organisationen ausgeschlossen, ausser wenn sie mit grösseren Organisationen zusammen arbeiteten, welche Kapazitäten hatten, um grössere Zuschüsse zu bekommen.

Vermutlich wird es für „artangle“ sehr schwierig sein, aber wir werden versuchen, den „Balkans Arts and Culture Fund“ zu stärken, und wir

André Marty

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werden uns auf jeden Fall für die Möglichkeit einsetzen, auch kleine Projekte zu unterstützen, wie auch solche aus dem strategischen und dem Forschungsbereich. Sehen Sie, das SCP konnte nicht alles abdecken, ebenso wenig wie die OSF (Open Society Foundations) oder der COE (Europarat) , als sie Kultur in der Region unter-stützte. Wir sind dort um die unterschiedlichen Bedürfnisse in Südosteuropa zu erfassen und die verschiedenen Akteure zu unterstützen.

AM Die kleinen Aktionen als ein möglicher Weg. Gibt es andere Lektionen, die gelernt werden sollten, vielleicht von einem eher akademischen Blickpunkt?

PC Ich denke, regionale Netzwerke sind wirklich wichtig. Und vielleicht kann ich noch auf eine weitere Gefahr hinweisen: Wenn wir mit Büro-kraten auf lokaler oder nationaler Ebene über Kultur sprechen wollen, erhalten wir sogleich die Antwort, es gäbe nichts für Kultur. Das heisst: Wir wollen nicht mit euch sprechen. Dabei sind wir gar nicht hingegangen, um Geld zu verlan-gen, es gibt viele andere Themen, die durch Kultur entwickelt werden können. Wenn du zum Beispiel in Serbien ein Büro betrittst, das über Geld entscheidet und du sagst: Guten Morgen,

antworten sie: Kein Geld. Wenn du mit EU-Ap-paratschiks über Kultur sprichst, sagen sie: keine Kultur im „Acquis communautaire“. Nicht weil Kultur unwichtig ist, sondern weil sie fragil ist, nicht systematisch zu regeln. Unsere grundle-gende Absicht mit der Vernetzung ist, Regie-rungen zu überzeugen, einen regionalen Fonds zu etablieren, dem andere Geldgeber beitreten könnten, aber Hauptgeldgeber sollten Staaten sein. Und wir möchten den Fonds selber ver-walten. Wir möchten Schirm sein und nicht Teil eines Programm von anderen. SCP war ziemlich einmalig, weil die Verantwortlichen nicht sagten, wir haben ein Programm und ihr könnt euch beteiligen, sondern: Wenn wir euer Programm wertvoll finden, möchten wir es unterstützen und uns dafür einsetzen. Wir möchten für den Fonds Selbstverwaltung, möglicherweise mit einer Mitsprache der Geldgeber, das wird die echte Zukunft sein. Und wir versuchen auch, die Finanzierung auf nationaler Ebene zu erhöhen, aber das Hauptproblem ist nicht die Höhe der Mittel für Kultur, sondern wie dieses Geld aus-gegeben wird. In Serbien wurde letztes Jahr ein lächerlicher Prozentsatz für Kultur eingesetzt, 0.62 Prozent, was jedoch immer noch etwa 70 Millionen Euro sind. Aber 80% davon wurden für nationale Institutionen ausgegeben, für ihre Löhne und Betriebskosten. Für Programme bleibt nicht viel übrig. Wenn sie mit den gleichen Prinzipien funktionieren würden wie wir, dann würde praktisch kein Geld für Löhne und Infra-struktur ausgegeben, sondern alles für Aktivitä-ten. Wir brauchen also ein flexibleres System für Institutionen, das heutige System ist seit 1945 kaum verändert worden: Kulturinstitutionen werden unterstützt, damit sie existieren, und nicht damit Kultur entsteht.

AM Kleine Aktionen, regionale Vernetzung, Erhö-hung der staatlichen Mittel, Wechsel im Kultur-system: Ist das ein Traum oder realistisch? Bojana, an deiner Stelle wäre ich leicht nervös, weil die Grossen nicht wirklich an Kultur interessiert sind und diejenigen, die sich dafür interessieren nur zu einem kleinen Teil in der Lage sind, unterstützend zu wirken. Sie sagen, es sei jetzt eure Sache, und sie brauchen wie im Fall von Pro Helvetia noch einen Schweizer Link um euch zu unterstützen. Steht ihr also alleine da?

Predrag Cvetičanin

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BM Für die nächste Zukunft würde ich mich nicht als nervös bezeichnen, sondern ich denke eher an einige Gefahren, die Predrag erwähnte. Diese betreffen auch „artangle“ als Organisati-on. Uns gibt es, und was uns genügend Vertrau-en geben muss, ist unser Wissen und unsere Erfahrung . Wir müssen geschickt genug sein, um dieses Wissen und diese Erfahrung zu nut-zen. Die vielen Partner, auch die, welche hier im Raum sind, geben uns eine gewisse Zuversicht, wir stehen zum Glück nicht alleine da.

AM Wenn wir das Bild etwas öffnen: Der Blick geht heute eher in andere Regionen, die arabische Welt. Was denkt ihr aufgrund eurer Erfahrungen, haben kulturelle Ausdrucksformen einen konkre-ten Einfluss in Übergangsgesellschaften?

AH Um es noch einmal deutlich zu machen: Wir stellen unserer Arbeit in der Region nicht ein, nur das SCP-Mandat ist beendet. Wir machen weiter. Wir setzen uns unter anderem für den Austausch von Kunstkritikern, Journalisten, Schriftstellern und Kulturschaffenden ein, der Austausch ist wichtig und von Programmen wie dem SCP lernen wir viel über Zusammenhänge. Ich bin sehr überzeugt, dass Kultur wichtig ist. Aber Kunst soll nicht überladen werden. Kunst ist Kunst, ich bin gegen jegliche Art von Instru-mentalisierung. Aber Kunst kann zur sozialen Entwicklung beitragen.

PC Ich glaube, es ist eine sehr gefährliche Idee zu denken, dass nur unruhige Regionen Kunst und Kultur brauchen. Wir leben in einer Zeit, in der die Welt äusserst ungleich ist. Wir leben in einer Zeit, in der mehr Leute Hunger haben und wo 2012 die zehn Reichsten dieser Welt noch reicher wurden. Wir leben in einer Zeit, in der Rassis-mus und Kolonialismus zunehmen. Ich denke, dass all der Respekt gegenüber den Menschen, der durch die Grausamkeiten des 2. Weltkriegs gelernt wurde, verloren gegangen ist. Den Leu-ten ist nicht bewusst, wie wichtig jede einzelne Person und ihre eigene Würde ist. Unsere Welt braucht Kunst und Kultur vom Besten wirklich dringend, und ich glaube, dass ihre Instrumenta-lisierung, zum Beispiel durch die Kulturindustrie, zu Ende geht. Damit verdienst du Geld, aber verlierst dein grösstes Potential, nämlich zu erforschen, zu analysieren und zu kritisieren. Deshalb finde ich, Kunst und Kultur sind wichtig und werden mehr denn je gebraucht.

BM Ich möchte ihnen ein Beispiel aus persönli-cher Perspektive erzählen. Als wir letztes Jahr das „Liceulice-Platform of Activism“-Video er-halten haben, hat meine zwölfjährige Tochter es sich fasziniert angeschaut und sagte am Schluss: „Mama, ich bin sehr stolz auf deine Arbeit, stolz, dass ihr solche Sachen unterstützt.“ Sogar ein junges Mädchen versteht den Wert kultureller Arbeit.

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KünstlerInnen und Kulturprojekte aus Südosteuropa und der Schweiz

Übersicht über die mit Videos und Kurzpräsentationen vorgestellten Kulturprojekte und KünstlerInnen

Die Vorstellungsrunde moderiert von Petra Bischof, art∡ngle Belgrad, und Mauro Abbühl, artlink Bern

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Wir sind fest davon überzeugt, dass Aktivis-mus maßgeblichen dazu beiträgt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, positive Strategien zu entwickeln und sich Herausforde-rungen zu stellen. Mit dem Projekt „Liceulice – Plattform für Aktivismus“ setzen wir uns deshalb für eine regionale Koalition von Organisatio-nen und Gruppen, öffentlichen Institutionen, Geschäftsleuten und Forschern ein, die sich für den sozialen Wandel engagieren. Das Projekt kreiert und fördert Formen von Kunstaktivismus als nachhaltige, partizipative Mechanismen für einen sozialen Wandel im Westbalkan.Im zweijährigen Prozess zur Schaffung der Regionalen Plattform für Aktivismus war eine enorme Zahl von Leuten miteinbezogen; ihnen wurde ermöglicht, an Kulturaktivitäten teilzu-nehmen, deren Werte und Methoden, Potentiale und Erfolge zu verstehen. Alle Aktivitäten des Projekts in Kosovo, Serbien, Bosnien & Herzego-wina und Mazedonien schufen und befähigten

Netzwerke, bildeten und warben Mitglieder, sensibilisierten, ermutigten und stärkten in ihrem Kern bereits bestehende oder potentielle zukünftig kulturelle und alle andere Formen von Aktivismus. Dies wurde durch verschiedene methodologische Ansätze erreicht (interaktive Webpräsenz, unerwartete Guerillaaktionen, Re-gionalisierung der sozial engagierten Zeitschrift „Liceulice“, die direkt marginalisierte Individuen und Gruppen anspricht, durch extensives „Map-ping“ und Forschungsarbeit, durch Workshops, Motivierungsanlässe und vieles mehr).

Liceulice – platform of activismBelgrade ___________________ www.liceulice.wordpress.com

Mit dem Balkan hat CULTURESCAPES 2013 zum ersten Mal nicht nur ein Land sondern gleich eine ganze Kulturregion in den Fokus des Festi-vals gestellt. Die Länder Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien standen im Zentrum des Programms. Mehr als 50 Institutio-nen bildeten das schweizweite Partnernetzwerk von CULTURESCAPES. Das ‹Austauschprogramm› SWISS CULTURES-CAPES wurde von Pro Helvetia unterstützt und zeigte aktuelles Schweizer Kunstschaffen in den acht Ländern des West-Balkans. Unter anderem die Theaterkoproduktion ‹Love.State.Koso-vo› von und mit Beatrice Fleischlin und Antje Schupp, die Knabenkantorei Basel, der Musiker Nik Bärtsch mit seinem Projekt ‹Ronin› oder auch ‹Imitation of life› von Boris Nikitin. Christoh Marthalers ‹King Size› wurde mit grosser Begeis-terung im International Theatre Festival, Saraje-

vo (MESS) sowie beim World Theatre Festival in Zagreb aufgenommen.Verbunden durch ein kulturelles Erbe, und eine komplexe und oft konfliktreiche Geschichte bildet der Balkan heute einen Schmelztiegel ver-schiedenster Nationen, Ethnien, Religionen und Gruppierungen. Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung und der Gegenwart war ein immer wiederkehrendes Thema. Das breit gefächerte Programm öffnete den Dialog über den Balkan und forderte dazu auf bestehende ‹Balkan-Bil-der› zu überprüfen und zu hinterfragen.

CULTURESCAPESBasel, Bern, Chur, Luzern, Zürich und weitere Städte in der Schweiz _____________ www.culturescapes.ch

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Nomad Dance Academy ist eine Plattform für die Zusammenarbeit im zeitgenössischem Tanz, ein sich selbst erneuerndes Organisationsmo-dell, ein Werkzeug um zeitgenössischen Tanz zu fördern, ein intensives Programm für Ausbildung und Kreation. Es begann als Basisinitiative von Künstlern aus dem Balkan, die ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre Netzwerke zusammen-fügten, um einen gemeinsamen Raum für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes zu schaffen. Für das Netzwerk ist Solidarität ein Wert, der sich für die Unterstützung aller Künst-ler als sehr wichtig erwies.Die hauptsächlichen Aktivitäten von Nomad betreffen die Sicherstellung von Ausbildungs-möglichkeiten für junge Künstler im Balkan und deren professionelle Entwicklung in ihrem eigenen sozialen und kulturellen Kontext (als Gegenbewegung zum wachsenden Brain-, resp. Body-Drain Prozess). Nomad setzt sich mittels verschiedener Formate (Festivals, Konferenzen,

Residenzen, Publikationen usw.) und durch Zusammenarbeit mit entsprechenden interna-tionalen Institutionen auch für Bedingungen ein, die Recherchen, neue Produktionen, ihre Aufführung und Promotion ermöglichen.Wir glauben, dass Tanz ein sozial relevantes und integratives künstlerisches Feld ist, und wir entwickeln verschiedene Formen, um ein neues Publikum zu erreichen.

Nomad Dance AcademyMade in the Balkans _ www.nomaddanceacademy.org

„Ich habe mich selbst gefilmt, während ich mei-ner Grossmutter die Haare färbte. Nach ihrem Tod schrieb ich all die Geschichten auf, die sie mir erzählte, und machte daraus den narrativen Teil des Videos. Ich erzähle die kurzen Ereignis-se aus ihrem Leben über unsere Familie. Auch wenn es bloss jemandes persönliche und intime Lebensgeschichte ist, so kann man sich leicht die Atmosphäre einer soziokulturellen Realität zu der Zeit vorstellen, die ihr Leben umgab. Sie wuchs während des 2. Weltkriegs in einer armen Familie auf, ging nur drei Jahre in die Schule und arbeitete bereits mit 16 in der Tabakfabrik. Sie lebte in einer sehr patriarchalen Gesell-schaft, mit vier Kindern, und sie erlebte den Tod vieler Familienangehörigen im letzten Krieg in Bosnien. Es ist die alltägliche Geschichte vieler Frauen im Balkan. Sie zeigt ihren Existenzkampf und ihre Fähigkeit, das harte Leben zu ertragen und dennoch stark zu bleiben. Die Geschichte und die Geschichten werden von Männern und

über „bedeutende“ Männer geschrieben; mit meiner Arbeit möchte ich zur Geschichte und zur Anerkennung der Lebensgeschichten von „ein-fachen“ Frauen beitragen. Ich wollte auch auf die verschiedenen Arten hinweisen, wie Frauen, Mütter und Grossmütter ihren Nachkommen die Erinnerungen und Geschichten weitergeben; erzählte Geschichte als wichtiger Aspekt in der Bildung der Identität, die wir heute haben.“

Adela JušićSarajevo ________________ www.adelajusic.wordpress.com

When I die you can do what you wantEin-Kanal-Video . Jahr: 2011

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Geboren 1981 als Tochter einer Schriftstellerin und eines Regisseurs in der albanischen Haupt-stadt Tirana, stand Elina Duni mit fünf Jahren erstmals auf einer Bühne. Sie lernte Geige spielen, nahm an Kinderfestivals teil und sang in Radio und TV. Nach dem Ende des kommu-nistischen Systems zog sie 1991 in die Schweiz, studierte in Genf klassisches Klavier, entdeckte dort aber auch den Jazz für sich.Nach Film-, Theater- und Jazzprojekten in Alba-nien und der Schweiz studierte sie in Bern Jazz-gesang und Komposition, gründete ihr Quartett mit Colin Vallon am Piano, Patrice Moret am Bass und Norbert Pfammatter am Schlagzeug und begann sich mit Volksliedern ihrer Heimat und anderen Ländern Südosteuropas auseinan-derzusetzen. Heute singt sie diese in eigenen Arrangements, aber in den Originalsprachen und bringt ganz ungewohnte Farben in den Jazz.Nach zwei CDs („Baresha“, 2008; „Lume, Lume“, 2010) auf dem deutschen Label Meta Records

ist im September 2012 erschienen auf ECM/Uni-versal das dritte Album des Quartetts „Matanë Malit“ (Hinter dem Berg), das eine musikalische Hommage an Albanien ist. 2014 hat Sie Ihre erste Solo Projekt als Singer-Songwriter „Muza e zezë“ (Die Schwarze Muse) veröffentlicht.

Elina DuniBern_____________________________________ www.elinaduni.ch

Nur unterschiedliche Dinge, Menschen, Kultu-ren, Erscheinungen, Begriffe können ähnlich sein, und die Ähnlichkeit liegt im exklusiven Be-reich und in der Kompetenz der Vorstellungkraft, so schreibt Sreten Ugriĉić, von dem der viel-deutige Titel „Das Leben ist Ausland“ stammt. Wir sind alle suchend, besorgt, ängstlich, voller Energie, wir schwitzen alle mehr oder weniger, und wir sind alle nicht wirklich zu Hause. Wir glauben nicht an den Schweizer, an den Jugo, sondern an offene Ohren. Wir glauben nicht an Information, sondern ans Zuhören, ans Erzählen. Und der Kopf, er kann selber denken. Und das Herz, es kann mitfühlen.

Drei Mal im Jahr laden wir einen Künstler, eine Künstlerin vom Balkan ein und zwar aus den Be-reichen Literatur, Film, bildende Kunst, Musik. Der Schwerpunkt liegt im Bereich Literatur. Die Gäste treffen hier jeweils auf eine Künstlerin, einen Künstler, der den Auftrag erhalten hat,

sich mit der Arbeit des Eingeladenen zu beschäf-tigen. Da es zwischen Ost und West immer noch erhebliche Berührungsängste und Bildungslü-cken gibt, pflegen wir einen Austausch, bauen Brücken zwischen einzelnen Menschen - statt auf ein Wunder zu warten. Lesen, performen, erzählen, zuhören, diskutieren. Das ist alles.

Für diese Reihe verantwortlich sind Melinda Nadj Abonji, Goran Potkonjak und Jurczok 1001 und Gäste.

Das Leben ist Ausland Zürich ___________________________ www.daslebenistausland.ch

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Der öffentliche Raum in albanischen Städten ist in den letzten 20 Jahren zu Parkplätzen, Bars, Cafés und Haufen von nicht eingesammeltem Abfalls geworden. Oft wurde er in Anbauten von bestehenden Gebäuden verwandelt, oder in mehrstöckige Gebäude. Der öffentliche Raum, der nicht beansprucht wird oder der unmöglich zu beanspruchen ist, wird als Niemandsland angesehen. Diese Haltung hat zu ungepflegten, zerstörten Überbleibseln öffentlichen Raums ge-führt, es gibt kaum Gemeinschaftstreffpunkte, Aktivitäten oder Begegnungsmöglichkeiten. In Momenten der Krise, wenn besonders die jüngste Generation Frustration angesichts der Unmöglichkeit empfindet, die Stadt direkt zu beeinflussen, benutzen Co-Plan und die Polus University Provokationen und urbanen Aktivis-mus als Mittel, nicht nur um Botschaften zu ver-mitteln, sondern auch um zu zeigen, dass Kunst

für Veränderung genutzt werden kann.Einige Projekte, die in den letzten drei Jahren in unterschiedlichen städtischen Umgebungen stattfanden: The Lightway – eine Lichterkette, die zwei Seiten des künstlichen See von Tirana verband; Urban Aktivism – wie kann Street Art Teil der öffentlichen städtischen Kunst werden; The Gamescape – Verwandeln eines vernach-lässigten Raums mitten in einem Häuserblock in einen Ort für Begegnungen; I am a chewing gum – eine künstlerische Performance als Mittel für Botschaften gegen Verunreinigung durch Kaugummis.

Co-PLAN Institute for Habitat Development Tirana __________________________________ www.co-plan.orgwww.tiranaarchitectureweek.com, www.tiranadesignweek.com

Jährlich versammeln sich in der Berner Altstadt in der ersten Dezemberwoche Performance-LiebhaberInnen zum BONE, dem Festival für Aktionskunst. Seit 1998 widmet sich das Festival aktuellem Schaffen und lädt hochkarätige KünstlerInnen ins Schlachthaustheater ein. Das Festival wurde von Ralf Samens gegründet und von Norbert Klassen geprägt. Seit 2011 leitet Valerian Maly mit Gastkuratoren das Festival. Die Spielstätten wurden seit da – dem Wesen der Performance Art entsprechend – um den öffentlichen Raum und Kunsträumen wie die Staddtgalerie im PROGR erweitert.Im Jahr 2013 stand die Performance- und Akti-onskunst aus den ex-jugoslawischen Staaten im Vordergrund. Mehr als in anderen Regionen Europas liefert dort das tägliche Leben, die so-zialen, ökonomischen und politischen Gegeben-heiten, Stoff für künstlerische Tätigkeiten, die sich in der Realzeit entfalten und auf der Arbeit mit dem Körper beruhen. Dargestellt und un-

tersucht wurde dies anhand der Bruchlinie, die sich im spezifischen Fall Jugoslawiens mit seiner jüngeren Geschichte als ein Einbruch des Realen beschreiben lässt, der die Natur und Erschei-nungsweise der Performance verändert. Mit Archivalien aus dem legendären „Studenski Centar Belgrad“, mit 5 Installationen, 7 Live-Blöcken, einem ganztägigen Symposium und der täglichen Vermittlungsveranstaltung waren an die 40 Künstler aus Südosteuropa und der Schweiz beteiligt.

Bone Performance Art FestivalBern _______________________ www.bone-performance.com

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Der gemeinnützige Verein pre-art wurde 2001 von Boris Previšić und Matthias Arter gegründet, um zeitgenössisches und qualitativ hochstehen-des Musikschaffen in marginalisierten Regionen im östlichen Europa, insbesondere auf dem Balkan und im südlichen Kaukasus, zu fördern. Dazu gehören Tourneen und Meisterkurse mit MusikerInnen vor Ort und in der Schweiz, z.B. Histoire du soldat in ganz Ex-Jugoslawien 2001/2002, Digressions 2004, Spatial Intersec-tions 2005, Terrains vagues 2007, JeunEst 2008 und Convergence 2010. Ebenso wichtig sind der Ensembleaufbau – mit Sonemus in Sarajevo seit 2001 und Convergence in Tbilisi seit 2009 – und der jährlich stattfindende Kompositionswett-bewerb für Komponierende bis 30 Jahre aus der gesamten Region, die pre-art Competition. Dadurch sollen nicht nur gezielt die politisch geschaffenen kulturellen Gräben in den postso-zialistischen Staaten überbrückt, sondern auch der immer noch anhaltende Brain Drain bewusst

reduziert werden. So verpflichten sich z. B. die MusikerInnen der Region, welche dank der Unterstützung durch pre-art in der Schweiz ihre Kompetenzen spezialisieren konnten, in Zukunft wieder in ihrem Herkunftsland tätig zu sein. Dank Spendengeldern ist der Verein imstande, im Rahmen von pre-art Aid Noten- und Instru-mentenhilfe für Musikakademien und begabten InstrumentalistInnen auf dem Balkan und im Kaukasus zu leisten. Gegenwärtig baut der Ver-ein das Label pre-art Music auf, um vielverspre-chende Kompositionen aus den marginalisierten Regionen nachhaltig zu dokumentieren.

Pre-ArtZürich ___________________________________ www.pre-art.ch

BALKANKARAVAN ist eine Kulturplattform mit Konzerten, Lesungen und Parties, die von Goran Potkonjak im Jahr 2008 in Zürich gegründet wurde. Die Hauptaufgabe der Plattform ist die kulturelle Vielfalt aus Ost- und Südosteuropa einem breiten Publikum näher zu bringen, Schwerpunkt ist Musik. Erste Veranstaltun-gen und Konzerte haben schon im Jahr 2002 stattgefunden und wurden seither immer mehr ausgeweitet und einem immer grösseren Pub-likum vorgestellt. Mit den monatlichen Veran-staltungen in verschiedenen Kulturhäusern der Schweiz hat Balkankaravan seit dem Jahr 2008 in rund 100 Veranstaltungen 40 000 Besucher erreicht. Ein Teil der Besucher stammen aus Ost- und Südosteuropa, etwa 60 bis 70 Prozent sind Schweizer. Ein wichtiger Standort für BALKANKARAVAN ist Zürich, da die meisten Veranstaltungen hier stattfinden. 31% der Bevölkerung in Zürich sind ausländischer Abstammung aus 169 verschie-

denen Nationen. Mit dem ständig wechselnden Programm ist BALKANKARAVAN in Zusam-menarbeit mit dem Jazzclub Moods zu einem der wichtigsten Veranstalter im Bereich der Bal-kanmusik in Europa und weltweit geworden. Es findet nirgendwo anderes in einer Stadt der Welt ein so dichtes Programm wie in Zürich statt. So etwas zu erreichen braucht viel Zeit und soziales Engagement. Dies ist der Verdienst der vielen Mitarbeitenden, den mitwirkenden Künstlern und auch dem vielseitig interessierten Publikum. Für die weitere Entwicklung und Erhaltung von BALKANKARAVAN ist ein hochqualitatives Programm von essenzieller Bedeutung.

BALKANKARAVANZürich ___________________________ www.balkankaravan.ch

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Damir Imamović studierte an der philosophi-schen Fakultät der Universität Sarajevo. Er arbeitet seit 2007 als unabhängiger Musiker und Freelance-Künstler und produzierte mit dem Da-mir Imamović Trio und mit seinem Soloproject drei CDs. Er war Koproduzent der Recherchen für den Dokumentarfilm „Sevdah“ von Marina Andree-Skop (2009 Publikumspreis des Sarajevo Film Festival). Damir Imamović ist einer der wichtigsten bos-nischen Musiker seiner Generation. Dass er der traditionellen bosnischen Musik, die als Sevdah bekannt ist, wieder zu Achtung als Kunstform verhalf, brachte ihm lokale wie internationale Aufmerksamkeit, was für einen traditionellen Musiker ungewöhnlich ist. Damir Imamović ist der Enkel des legendären Sevdah-Sängers und Autoren Zaim Imamović. Er war an musi-kalischen Projekten mit Musikern wie Vlatko Stefanovski, Bojan Zulfikarpašić, Eric Vloeimans, Bachar Khalife, Tamara Obrovać und Jadranka

Stojaković beteiligt. Mit seiner Erforschung der Sevdah Musik, ihrer Tradition und Darbietungsformen zeichnet sich Imamović als eine wichtige Figur unter den Experten der bosnischen Tradition aus. Auf dem Erbe aufbauend schuf Imamović einen ausge-prägt persönlichen Stil sowohl im Gesang wie im Gitarrenspiel. Sein Wissen gibt er regelmässig in Workshops und Vorträgen im Rahmen seines eigenen mobilen Labors für Sevdah Musik, dem Sevdah-Lab-Programm, weiter.

Damir ImamovićSarajevo _____________________ www.damirimamovic.com

Ziyah Gafić

Die Nichtregierungsorganisationen LOJA wurde im Jahr 2000 gegründet. Interkulturelles Lernen steht seitdem im Fokus ihres Programms. Ziel ist vor allem eine Annäherung der verschiedenen ethnischen Gruppierungen: Es soll gezeigt wer-den, dass es möglich ist, voneinander zu lernen – trotz oder aufgrund der unterschiedlichen Kulturen. Ein weiteres Ziel ist eine Dezentralisie-rung des kulturellen Lebens Mazedoniens durch Aktivitäten in Tetovo selbst. Video-, Foto- und Kunst-Workshops für Kinder und Jugendliche mit Bezug zu sozialen Themen prägten die Anfangszeit der Institution. Von einer reinen „Grassroots-Organisation“ entwickelte sich LOJA in den vergangenen Jahren zu einer Orga-nisation, die auf der einen Seite diesen Struktu-ren verbunden bleibt, auf der anderen Seite aber auch versucht, Politik und Bürgergesellschaft direkt zu beeinflussen und weiter zu entwickeln. Eine grosse Rolle spielt dabei auch das Finden und Erfinden neuer Kommunikationswege, um

die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft einzubinden, an gesellschaftliches Engagement heran zu führen und mit kulturellen Projekten den interethnischen Dialog zu fördern. (Quelle: Robert Bosch Stiftung)

LOJATetovo ___________________________________________ www...

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Culture of Remembrance

Ausstellung von 46 von der Decke hängenden Kartontafeln mit Fotografien und Texten.

Die Ausstellung „Culture of Remembrance“ (Kul-tur der Erinnerung) entstand zum Abschluss des Projektes „Partizipatives Netzwerk der Kultur der Erinnerung“, welches vom Swiss Cultural Programme SCP im Westbalkan unterstützt worden war. Ziel des Projektes war es, mit Kunst und Kultur den Entwicklungsprozess zu unter-stützen und Toleranz und Demokratisierung der Gesellschaft im Westbalkan zu fördern.

Die Beteiligten am Projekt stammten aus Bos-nien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Deutschland, Kosovo und Serbien. Sie waren aufgefordert, eine Fotografie zu schicken und dazu eine kleine Geschichte zu schreiben. Zu-dem konnten sie ihre Freunde zum mitmachen einladen, falls sie das wünschten.

Die in der Ausstellung gezeigten Fotografien sind höchst unterschiedlich. Einige stammen

aus privaten Fotoalben, andere wurden erst kurz vor der Ausstellung gemacht. Es gibt Bilder von Amateuren und von professionellen Fotogra-fen, alle in verschiedensten Formaten. Es sind lächelnde Kindergesichter an einer Geburts-tagsparty oder beim Spielen zu sehen, aber auch persönliche Gegenstände von Kindern, die während des Krieges auf tragische Weise ums Leben gekommen sind. Einige Bilder sind Erin-nerungen an glückliche Zeiten, andere wurden während des Krieges gemacht und zeigen die Konsequenzen des Krieges und der Konflikte in Ex-Jugoslawien.

Jedes der Bilder entspricht einer Erinnerung aus der Vergangenheit, welche als kurze persönliche Geschichte erzählt wird. Sie muss aber nicht das Bild beschreiben, welches wir sehen, oft ein intimes Erinnerungsstück des beschriebenen Ereignisses.

Pink Cadillac

April 15th 1994. My birthday. I opened my eyes. It’s murky morning. There is a giant white box with a huge red box on the floor of my little room. I jumped out of the bed in disbelief, hysterically peeling the white paper. In a giant box titled Barbie, there were a pink cabriolet, a pink horse trailer and a horse. This box brought me endless hours of fun for me and my friends from the street. My mom brought me the box by a military airplane, when she exited Sarajevo. She was hiding the box in her WHO office until my birthday. My mother got discus hernia from dragging the giant white box, and I got the most beautiful and my dearest gift in the whole world, and a pathological desire to have a pink Cadillac. This photo is an auto portrait taken on April 15th 2008.

Gasha Miladinović was born in Sarajevo, studied fashion styling in London at Istituto Marangoni. In London, she assisted different stylists and designers, and worked for various magazines. Since moving back to Sarajevo in 2007, Gasha has brought her London spirit across several mediums: fashion and culture journalist for Radio Sarajevo portal; her own segment (The Fashion Alphabet) on national television; conducted a style hunt across the country; and has styled countless editorials, music videos, commercials and TV shows. Since 2011 Gasha has partnered up with her childhood friend to open up an interior design studio and showroom. Gasha is an active member of MODIKO association as stylist and project coordinator and consultant, and is also the official costume designer for Magacin Kabare - alternative cabaret theater in Sarajevo.

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It was the second or the third day after the war started. We ( I ) were still not sure what does it mean exactly. I just came back from Florence - my very first travel abroad - and there were some news on TV. I really didn‘t want to know or to listen to immediately. Anyway, it all seemed like it was happening somewhe-re else - farther away, though in the same country. I was seventeen and the day was sunny and beautiful. Split was looking very calm and serene in this light.I was biking. Back then, in my rebel adolescence, my yellow bike was giving me the feeling of freedom which I needed so much.I remember I was biking along the coast and gazing at the sea. But in one mo-ment something seemed really strange. On the usually busy road, connecting small harbor with the old town, there were no cars, no people. „How nice and beautiful,“ I thought. My eyes wondered and I looked up to the building on the opposite side of the road. It was a huge modernist, white and enclosed adminis-trative building with a few monumental pillars in front; at that time, however, with blinds all closed. And there it was; a small roundish black thing pointing at me, under the closed blinds, as if following my movements. I was at gunpoint. When I bike, I listen to the beautiful music, and I bike pretty fast while my braids curl on the wind.I took the U turn, passed the building, left it behind, and still nobody on the road. A green park opened in front me, still with no people, nor children in it. „How beautiful and special - perfect,“ I thought and laid down in the grass, with my bike next to me. When I woke up the sun was already gone.Nine years later, when I laid down in the grass somewhere in France, I suddenly remembered it. My knees buckled and huge fear overwhelmed me.

Born 25.04.1974 in Split, Renata Poljak grew up and graduated from theSchool of Fine Arts in Split and later spent a year in post-graduation(international post diplome) at the Ecole Régionale des Beaux-Arts inNantes, France. Renata lived in Nice, Vienna, Berlin and Paris, now inbetween Split, Bol and Zagreb.

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Themen und Voten aus den Arbeitsgruppen

Am Nachmittag diskutierten die TeilnehmerInnen des Forums in 5 Arbeitsgruppen zu den Themen Kunst und sozialer Wandel, die Rolle der Förderstellen, Mobilität und Markzugang sowie über die Rolle von Artist-in-Residence-Projekten. Über die Gruppen hinweg kristallisierten sich mehrere Themen heraus, welche im Folgenden kurz zusammengefasst sind.

Kunst und sozialer Wandel„Wir leben in einem unkreativen Raum.“ Valerian Maly vom Performancefestival Bone in Bern, sieht viele Möglichkeiten, im öffentlichen Raum künstlerisch zu arbeiten – und doch sei dies beinahe unmöglich. Alles ist reguliert, es braucht unzählige kostspielige Bewilligungen… In Bern gebe etwa 500 kulturelle Veranstaltungen pro Woche, viele nicht wirklich gut und auch nicht wirklich schlecht. In den drei Projekten, an denen er im Balkan beteiligt war, erlebte er ihre Notwendigkeit und ihre Bedeutung viel deut-licher, als was er hier in der Schweiz empfinde. Gibt es in Südosteuropa – und in ärmeren Län-dern überhaupt – also eine grössere Notwendig-keit von Kunst?

Der öffentliche Raum, so Bujar Luma vom Kulturzentrum Loja in Tetovo, hat in Mazedo-nien eine andere Bedeutung als in der Schweiz. Es gibt weniger öffentliche Diskussionen, vieles läuft informell, von Mensch zu Mensch. Wenn vierzig Jahre lang dieselben Geschichten erzählt worden sind, ist es schwierig, diese in Frage zu stellen. Aber mit künstlerischen Mitteln, mit Video, Foto, Theater, Dokumentarfilm, Erzäh-lungen, können heikle Themen angesprochen werden. Über Kunst ist es möglich, Menschen für gemeinsame Ziele zusammen zu bringen. Zwei der Projekte von Loja, eines von der Pro Helvetia und das andere vom SCP unterstützt, haben zur Diskussion im ganzen Land beigetra-gen. Die Relevanz eines künstlerischen Werkes für den sozialen Wandel zeige sich oft erst im Nachhinein. Mit Loja, so Bujar Luma, engagier-ten sie sich sowohl für Kunst, die sozialen Wan-del direkt fördert, aber auch für junge Künstler, die experimentieren wollen. In Mazedonien gibt es eine ganze Generation, die das Konsumie-ren von Kultur nicht kennt. Die Kinos wurden Anfang der 1990er Jahre geschlossen. In Tetovo, der zweitgrössten Stadt, gibt es kein Theater.

Über Multiplikatoren in den Quartieren würden nun basisnahe Projekte, z.B. Filmprogramme in kleinen Lokalen, initiiert. In Tetovo gibt es etwa 5 bis 6 Events pro Woche, er würde gerne soweit kommen wie Bern – um danach aber auch wieder zurückzugehen auf ein kleines und gehaltvolles Programm.

Kulturschaffende und FörderstellenDas Verhältnis von Kulturschaffenden und Kul-turorganisatoren zu den vorwiegend ausländi-schen Geldgebern bietet viel Diskussionsstoff. Einigkeit herrscht darüber, dass die Freiheit der Kunst unabdingbar ist. Künstler dürfen nicht instrumentalisiert werden. Kuns und künstleri-scher Ausdruck sollen nicht mit der Bedingung belastet werden, gesellschaftlichen Wandel fördern zu müssen.

Hinterfragt werden auch allzu starre geogra-fische Kriterien: Projekte mit Kroatien oder Slowenien sind von der Förderung mit Schwei-zer Entwicklungsgeldern ausgeschlossen; im regionalen Kontext bestimmt jedoch Nähe und nicht die EU-Zugehörigkeit die Beziehun-gen. Umgekehrt haben Schweizer Musiker bei Unterstützung durch Pro Helvetia die Vorgabe, im Ausland Schweizer Musik zu spielen und nicht zum Beispiel Musik der Region – was dem Aus-tausch und Dialog nicht unbedingt förderlich ist.Langfristige Unterstützung ist wichtig – auch bei ungewissem Ausgang. Es ist in der Kultur schwierig, im Voraus zu wissen, was es genau braucht und welche Resultate man erreichen wird. Man muss Vertrauen haben und den Künstlern erlauben, mit dem sich verändernden Kontext umzugehen, weil dieser Prozess Teil des Projekts ist. Abschlussberichte sind jedoch für die Geldgeber unabdingbar; es ist eine grosse Herausforderung, nach dem Event zu beschrei-ben, warum es wert war, diesen zu realisieren.Neben langfristiger Unterstützung ist auch

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die Förderung von Kleinprojekten wichtig, sie erlaubt zum Beispiel jungen Künstlern den Einstieg.

Brain Drain: Die AbwanderungDie mangelnde nationale und lokale Kultur-förderung führt zu wachsendem Brain Drain, der in verschiedenen Ländern Südosteuropas zu beobachten ist. Etwa sechzig Prozent der aktiven serbischen Bühnenkünstler sind laut Marina Cvetković (Nomad) weg gegangen. Die Zurückgebliebenen könnten den Kontakt zu ih-nen kaum aufrecht erhalten. Eine Plattform soll nun versuchen, die einen Leute zu halten und die anderen dazu zu bringen, mit der Szene im Herkunftsland zu kommunizieren. Sie sollen mit ihrer Arbeit weiterhin präsent sein, zum Beispiel durch Gastdozenturen an den Universitäten. Pre-Art, die auf Talentförderung in der Musik setzt, hat für ihren Wettbewerb eine Charta entworfen: Diejenigen, die dank dem Preis in der Schweiz oder in Deutschland studieren können, verpflichten sich, zurückzukehren und ihr Wissen im Herkunftsland weiterzugeben. Ein im Westen

gut ausgebildeter Musiker könne vor Ort bessere Möglichkeiten haben, als wenn er sich der gros-sen Konkurrenz im Westen stellen muss. Dank dem Studium im Ausland bringt man auch den erweiterten Horizont mit zurück, den es an den Kunstakademien mit oft verkrusteten Struktu-ren heute unbedingt braucht.

Politik und die Freiheit der KunstDie Arbeit des SCP im Westbalkan wird von vie-len gewürdigt: Die Schweiz, so Bujar Luma, habe in Südosteuropa keine politischen Ziele verfolgt, aber eine sehr politische Arbeit gemacht, indem sie Künstler über nationale Grenzen hinweg in Verbindung brachte, zum Beispiel wenn serbi-sche und kosovo-albanische Leute über Kunst miteinander kommunizieren. Auch der Wechsel von nationalen zu regionalen Projekten war eine sehr politische Angelegenheit, was die Kommu-nikation in der Region betrifft.

Das SCP, so Marina Cvetković, war wegen seiner Struktur so erfolgreich. Es gab in jedem Land Teams mit Einheimischen, die in der Lage

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waren, mit den Künstlern vor Ort in Dialog zu treten, das Programm war in den Händen von Menschen, die den Kontext verstanden und diesen den Geldgebern vermitteln konnten. Im SCP waren die künstlerische Freiheit und die freie Meinungsäusserung gewährleistet. Die innerhalb des Programms entstandenen Arbeiten waren in diesem Sinne authentisch, das Programm hatte eine unterstützende Funktion.

Musik aus Südosteuropa im WestenSowohl die aus Albanien stammende Jazz-Sängerin Elina Duni als auch der bosnische Sevdah-Musiker Damir Imamović werden immer wieder mit bestimmten Erwartungen des westlichen Publikums gegenüber der Musik aus Südosteuropa konfrontiert. ‚Balkanmusik‘ ist Roma-Musik, Blasmusik. Jazz oder ‚Neue Musik’ haben es schwer, sich Gehör zu verschaffen. Elina Duni präzisiert: Die Musik der Roma stellt einen wichtigen, aber kleinen Teil der Musik aus Südosteuropa dar. Und die Musik der Roma, die hierzulande bekannt ist, stammt meistens aus Serbien oder Mazedonien. Die Roma aus Albani-en etwa spielen eine andere Musik, verwenden andere Instrumente. „People like to buy what they know“, so Damir Imamovićs nüchterne Ergänzung. Statt den Begriff ‚Balkan Music’ zu verwenden, ist es sinnvoller, von ‚Music of the Balkans’ zu sprechen, was die verschiedenen Musiken einer Region meint und nicht einen Stil. Das „Labelling“ – die Etikettierung oder Schub-ladisierung – wird als grosses Problem in Bezug auf den Marktzugang thematisiert: In Strea-ming- und Download-Diensten sind die soge-nannten Labels fest vorgegeben. Die ersten zwei Schubladen sind mit der anglophon geprägten Musik und gewissen europäischen Genres gefüllt. Den Rest stecke man in die Schublade „World Music“. Und: „Once you’re in a box, it’s hard to get out“. Doch das Internet hat auch Vorzüge: Es hat die Intermediäre ersetzt, welche in der Vergangen-heit die Macht hatten zu entscheiden, wer gross rauskommt und wer nicht. Sich zu informieren und zu recherchieren ist heute ausreichend möglich – gleichzeitig ist es jedoch immer an-spruchsvoller, sich innerhalb des Datendschun-gels zurechtzufinden.

Die Gäste erzählen von der Schwierigkeit, in Südosteuropa Gelder für nicht-kommerzielle Musik zu erhalten. Auch in der Diaspora liegt das Interesse der Mehrheit bei Anlässen mit popu-lären (Turbofolk-) Stars. Ein Newcomer auf dem Markt benötigt ein grosses Netzwerk und muss innovativ sein, um Geldgeber auf sich aufmerk-sam zu machen. MusikerInnen, die traditionelle oder mehrheitsfähige Grenzen durchbrechen, müssen sich das Publikum selbst aufbauen (an-docken an Subkulturen, Szenen und interessier-te Minderheiten).Bei internationalen Institutionen hätten Mino-ritäten gute Chancen, unterstützt zu werden. Ihr künstlerischer Weg wäre von Albanien aus nicht realisierbar gewesen, meint Elina Duni. In der Schweiz hätte sie die nötige finanzielle Hilfe bekommen und werde nun in Albanien gefei-ert, wenn sie als albanische Sängerin aus dem Ausland auch alte albanische Liedern präsen-tiert, die zusammen mit Schweizer Musikern neu arrangiert wurden.

Den Kulturschaffenden Zeit bezahlenGeldgeber, Gastgeber und Künstler sind sich einig: In Residenzen andere Orte und Länder entdecken und neue Erfahrungen machen, ist wichtig. Kunstschaffende brauchen eine Unterkunft und ein minimales Einkommen, um sich mit Zeit und Ruhe mit neuen Erfahrungen auseinandersetzen zu können und, wie Adela Jušić sagt, kreative Energie zu sammeln. Die Geldgeber bezahlen den Kulturschaffenden also vor allem Zeit.Man geht nicht unbedingt in Residenzen um zu produzieren – oder produziert während des Aufenthalts wider Erwarten nur wenig. Viele erhoffen sich in erster Linie Networking, und da gibt es auch die meisten Enttäuschungen. Man fühlt sich schnell alleine und hat Schwie-rigkeiten, Kontakte aufzubauen. Kunstschaf-fende wünschten sich Zugang zu Museen und Ausstellungen, Kontakte zu Kuratoren, Instituti-onen und anderen Künstlern. Die Organisatoren sollten hier vermehrt aktiv sein, eventuell einen Coach bereitstellen – wie es die Pro Helvetia neuerdings anbietet – und genau klären, welche Bedürfnisse ein Künstler hat. ‚Artist Talk‘, also öffentliche Gespräche, seien ein gutes Instru-ment, meint die Künstlerin Adela Jušić. Dort

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könne man seine Arbeit zeigen, Leute kennen lernen, am besten eingebettet in einen anderen Event oder zusammen mit anderen Künstlern, damit auch genügend Menschen kommen. Residenzen mit inhaltlichen Vorgaben und Erwartungen werden kontrovers diskutiert. Es wird davor gewarnt, Künstlern zu sagen, was sie tun sollen und sie zur Produktion zu verpflichten. Künstler seien in der Regel nicht auf ortsbezo-genes Arbeiten und auf schnelles Reagieren auf Menschen und Orte ausgerichtet. Manchmal entstehen erst viel später Werke aus den Erfah-rungen während eines Aufenthalts. Wenn zu viel vorgegeben wird, ist die Gefahr gross, dass qualitativ nicht überzeugende Werke entstehen. Auch Residenzen an abgelegenen Orten werden skeptisch beurteilt. So bietet die Pro Helvetia heute, nach der Auswertung langjähriger Erfah-rungen, vorwiegend Residenzen im urbanen Raum an.

Die Isolation überwindenLeila Hodžić weist auf die Isolation der Künstler in Bosnien und Herzegowina hin. Nach dem

Krieg war die Situation besser als jetzt, damals kamen viele Leute aus dem Westen, die Kunst-schaffenden standen im Fokus. Der Kontakt war jedoch einseitig, viele kamen und nur wenige von dort konnten raus. Gerade für junge Künstler sei es äusserst wichtig, dass sie aus der ultrakonservativen, isolierten Umgebung hinaus kommen. Die Künstler aus Südosteuropa suchen vor allem Kontakte, manchmal entstehen wun-derbare Arbeiten aus einer Zusammenarbeit.

Melinda Nadj Abonji begrüsst das Engagement des Schweizer Autorenverbandes ADS, der Schriftstellern in Residenzen mit Informationen beisteht und Vernetzung anbietet. Sie weist besonders auf das „Writers in Exile“-Programm hin: Der PEN Deutschschweiz setzt sich dafür ein, dass auch in der Schweiz verfolgten Autoren längerfristige Aufenthaltsmöglichkeiten ange-boten und ihnen erlaubt wird, ein neues Leben aufzubauen.

Workshop 3 u.a. mit Alice Thomann (DEZA),Marijana Cvetković und Boris Previšić

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Gäste und ReferentInnen:

Adela Jušić __________________________ Visuelle Künstlerin, Sarajevo. adelajusic.wordpress.com

Andrew Holland ____________________ Direktor Pro Helvetia, Zürich. www.prohelvetia.ch

Bojana Matić-Ostojić ______________ 2008-2013 SCP Regionale Programmleiterin. Aktuell art∡ngle – Balkans | Culture | Development, Belgrad. www.artanglebalkans.net

Boris Previšić ________________________ Musiker, Verein Pre-Art, Zürich. www.pre-art.ch

Brigit Hagmann ____________________ Leiterin Abteilung Westbalkan, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, Bern. www.deza.admin.ch

Bujar Luma __________________________ Direktor LOJA Center for Balkan Cooperation Macedonia, Tetovo

Damir Imamović ___________________ Musiker, Sarajevo. www.damirimamovic.com

Dragica Rajčić ______________________ Schriftstellerin, Zürich. www.dragicarajcic.ch

Dritan Shutina ______________________ Direktor Co-Plan Institute for Habitat Development, Tirana. www.co-plan.org

Elina Duni ___________________________ Sängerin, Bern. www.elinaduni.com

Goran Potkonjak ___________________ Veranstalter und DJ, Zürich. www.balkankaravan.ch

Jurriaan Cooiman __________________ Direktor CULTURESCAPES, Basel. www.culturescapes.ch

Lejla Hodžić _________________________ Freischaffende Kuratorin, Sarajevo. Kuratorin der Fotoausstellung „Culture of Rememberance“

Marijana Cvetković Marković _____ Cultural Worker, Koordinatorin Station – Service for Contemporary Dance, Mitbegründerin der Nomad Dance Academy, Belgrad. www.dancestation.org; www.nomaddanceacademy.org

Martin Dahinden ___________________ Direktor Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, Bern. www.deza.admin.ch

Melinda Nadj Abonji _______________ Schriftstellerin, Musikerin, Performerin, Zürich. www.daslebenistausland.net

Nikoleta Kosovac __________________ Koordinatorin bei Liceulice, Belgrad. liceulice.wordpress.com

Predrag Cvetičanin ________________ Soziologe und Kulturaktivist, Centre for Empirical Cultural Studies of South-East Europe, Nis. www.eenc.info/expert/predrag-cveticanin

Valerian Maly _______________________ Leiter Bone Performance Art Festival, Bern. www.bone-performance.com

Moderation:

André Marty __________________________ Teamleader Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, bis 2012 Redaktor und Moderator bei der Tagesschau SRF.

Petra Bischof _________________________ 1999-2013 Pro Helvetia / SCP. Aktuell art∡ngle – Balkans | Culture | Deve-lopment, Belgrad. www.artanglebalkans.net

Mauro Abbühl ________________________ Co-Leiter artlink, Büro für Kulturkooperation, Bern. www.artlink.ch

Chudi Bürgi ___________________________ Co-Leiterin artlink, Büro für Kulturkooperation, Bern. www.artlink.ch