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Aus dem Inhalt Dr. Alexandra Bäcker Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien Martin Gross, M.A. Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Parteiensysteme in Bund und Ländern zwischen 1946 und 2009 Dr. Stephan Klecha Minderheitsregierungen und Wahlerfolge Nikolas R. Dörr, M.A. François Mitterrand und der PCF – Die Folgen der rééquilibrage de la gauche für den Parti Communiste Français Thomas Volkmann, M.A. Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung Andrea Bahr, Dipl.-Pol./ Sabine Pannen, M.A. Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED Jasmin Siri, Dipl.-Soz. Kritik der Gewohnheit. Der Krisendiskurs der Parteien und seine Funktion für die moderne Demokratie Dr. Heiko Biehl/ Prof. Dr. Uwe Kranenpohl Große Politik in einer kleinen Partei. Strukturen und Determinanten inner- parteilicher Partizipation in der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp) Sören Lehmann Politische Betätigung im Steuerrecht Prof. Dr. Roland Höhne Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Tradition und Anpassung 17. Jahrgang 2011 ISSN 1612-8117 Herausgegeben vom Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung

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Aus dem Inhalt

Dr. Alexandra Bäcker

Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien

Martin Gross, M.A.

Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Parteiensysteme in Bund und Ländern zwischen 1946 und 2009

Dr. Stephan Klecha

Minderheitsregierungen und Wahlerfolge

Nikolas R. Dörr, M.A.

François Mitterrand und der PCF – Die Folgen der rééquilibrage de la gauche für den Parti Communiste Français

Thomas Volkmann, M.A.

Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung

Andrea Bahr, Dipl.-Pol./ Sabine Pannen, M.A.

Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED

Jasmin Siri, Dipl.-Soz.

Kritik der Gewohnheit. Der Krisendiskurs der Parteien und seine Funktion für die moderne Demokratie

Dr. Heiko Biehl/ Prof. Dr. Uwe Kranenpohl

Große Politik in einer kleinen Partei. Strukturen und Determinanten inner-parteilicher Partizipation in der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp)

Sören Lehmann

Politische Betätigung im Steuerrecht

Prof. Dr. Roland Höhne

Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Tradition und Anpassung

17. Jahrgang 2011 ISSN 1612-8117 Herausgegeben vom Institut für Deutschesund Internationales Parteienrecht und Parteienforschung

des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung

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Herausgeber

Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF)

Prof. Dr. Martin Morlok Prof. Dr. Thomas Poguntke

Das Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung ist eine zentrale interdisziplinäre wissenschaftliche Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gem. § 29 Abs. 1 S. 1 HG NW.

Zitierweise: MIP 2011, S.

Erscheint jährlich. Der Bezug ist kostenfrei. Sie können das PRuF als Herausgeber des MIP mit einer Spende unterstützen: Konto: 161 0211 bei der WestLB AG, BLZ: 300 500 00, Empfänger: Heinrich-Heine-Universität, Verwendungszweck: Spende 01740001.

Redaktion Dr. Alexandra Bäcker/ Philipp Erbentraut

Layout Dr. Alexandra Bäcker/ Felix Terlinden

Postanschrift Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung Universitätsstraße 1 Geb. 24.91 Raum U1.24 D – 40225 Düsseldorf Tel.: 0211/81-15722 Fax: 0211/81-15723 E-Mail: [email protected] Internet: www.pruf.de

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MIP 2011 17. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Editorial..............................................................................................................4

Prof. Dr. Martin Morlok/ Prof. Dr. Thomas Poguntke

Aufsätze

Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien.............................................................................................5

Dr. Alexandra Bäcker

Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Parteiensysteme in Bund und Ländern zwischen 1946 und 2009...............................................................17

Martin Gross, M.A.

Minderheitsregierungen und Wahlerfolge........................................................29

Dr. Stephan Klecha

François Mitterrand und der PCF – Die Folgen der rééquilibrage de la gauche für den Parti Communiste Français......................................................43

Nikolas R. Dörr, M.A.

Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung........53

Thomas Volkmann, M.A.

Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED........................68

Andrea Bahr, Dipl.-Pol./ Sabine Pannen, M.A.

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Inhaltsverzeichnis MIP 2011 17. Jhrg.

Kritik der Gewohnheit. Der Krisendiskurs der Parteien und seine Funktion für die moderne Demokratie.............................................................................80

Jasmin Siri, Dipl.-Soz.

Große Politik in einer kleinen Partei. Strukturen und Determinanten inner-parteilicher Partizipation in der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp)......93

Dr. Heiko Biehl/ Prof. Dr. Uwe Kranenpohl

Politische Betätigung im Steuerrecht..............................................................110

Sören Lehmann

Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Traditionund Anpassung................................................................................................129

Prof. Dr. Roland Höhne

„Aufgespießt“

Automatischer Verlust der Parteimitgliedschaft für verurteilte Kriminelle – Sinn und Unsinn einer solchen Regelung......................................................153

Jan Oelbermann

Manche postsowjetischen Besonderheiten der Parteimitgliedschaft...............156

Rati Bregadze, LL.M.

Überraschende Wirkungen des Wahlrechts....................................................160

Dr. Sebastian Roßner, M.A.

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MIP 2011 17. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Rechtsprechung und Literatur

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung.................................................163

1. Grundlagen zum Parteienrecht..........................................................................................163

2. Chancengleichheit.............................................................................................................166

3. Parteienfinanzierung..........................................................................................................174

4. Parteien und Parlamentsrecht............................................................................................179

5. Wahlrecht...........................................................................................................................182

Rezensionen.....................................................................................................189

Rechtsprechungsübersicht..............................................................................209

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung...........................214

PRuF intern

Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter...................................................221

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter...................................................224

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Editorial MIP 2011 17. Jhrg.

Editorial

Prof. Dr. Martin Morlok/Prof. Dr. Thomas Poguntke

2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreicheArbeit fortzusetzen und um neue Perspektivenzu erweitern, wird das PRuF seit dem 1. Januar2011 unter dem neuen Namen Institut für Deut-sches und Internationales Parteienrecht undParteienforschung als zentrale wissenschaftlicheEinrichtung der Heinrich-Heine-Universität fort-geführt. Der neue Name und die veränderte orga-nisatorische Stellung sind kein bloßer äußerli-cher Wandel, sondern vielmehr ein wohl über-legter Schritt in unserer langfristigen Instituts-entwicklung. Das PRuF will seine exzellente na-tionale und internationale Reputation im Bereichder Parteienwissenschaften nachhaltig festigenund weiter ausbauen, wozu auch eine Intensivie-rung der Interdisziplinarität und der Internationa-lisierung gehören.

Auch in der Institutsleitung hat es eine Verände-rung gegeben, die zugleich die mit der inhaltli-chen Neuausrichtung des PRuF angestrebte Ba-lance zwischen Kontinuität der bisherigen undWeiterentwicklung der künftigen Arbeit reprä-sentiert. Seit dem Sommersemester 2010 iststellvertretender Direktor des PRuF der interna-tional renommierte Parteienforscher Prof. Dr.Thomas Poguntke, Inhaber des hiesigen Lehr-stuhls für den Vergleich politischer Systeme undPolitikfeldanalyse.

Die herausragende Rolle, die das PRuF in Bezugauf die Parteienforschung in Deutschland undEuropa heute bereits einnimmt, wäre ohne dasFachwissen, die Ideen, den Einsatz und die Mo-tivation der Menschen, die gemeinsam daran ge-arbeitet haben, nicht denkbar. Unser besondererDank gilt daher dem ehemaligen stellvertreten-den Direktor Prof. Dr. Ulrich von Alemann, derin den acht Jahren erfolgreicher Amtszeit stetsmit großem Engagement und Idealismus die An-liegen des PRuF verfolgt hat und ein wesentli-

ches Kapitel seiner Erfolgsgeschichte mitge-schrieben hat. Wir betrachten es als großen Ge-winn, dass er auch künftig trotz seiner vielfälti-gen Verpflichtungen als amtierender Prorektorder HHU dem PRuF beratend und unterstützendzur Seite stehen wird.

Abschied nehmen mussten wir im vergangenenJahr von Prof. Dr. Dr. h.c. Dimitris Th. Tsatsos,dem Wegbereiter und Gründer des PRuF, dernach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 76Jahren am 24. April 2010 verstarb. Am 06. und07. Mai 2011 richten das Institut für EuropäischeVerfassungswissenschaften der FernUniversitätHagen, das Centre for European ConstitutionalLaw in Athen und das PRuF gemeinsam einSymposion zum Gedenken an Dimitris Th. Tsat-sos, einem begeisterten und begeisternden euro-päischen Verfassungsjuristen und Verfassungs-politiker, an der FernUniversität in Hagen aus.

Ein weiterer Höhepunkt der Veranstaltungen desPRuF verspricht das ParteienwissenschaftlicheSymposion 2011 zu werden, das sich am 08. und09. April dem Thema "Politik an den Parteienvorbei – Freie Wähler und kommunale Wähler-vereinigungen als Alternative" widmet.

Darüber hinaus wird das PRuF 2011 zwei weite-re Tagungen veranstalten: Am 4. und 5. März istdas PRuF Veranstaltungsort der internationalenund interdisziplinären „Third Annual EuropeanGraduate Conference on Political Parties“. Fürden Herbst 2011 ist ein vom DAAD im Rahmendes Programms „Unterstützung der Demokratiein der Ukraine“ gefördertes einwöchiges Semi-nar für Studierende, Graduierte und Wissen-schaftler aus der Ukraine und aus Deutschlandgeplant, die sich für den Aufbau einer demokra-tischen Gesellschaft in der Ukraine engagierenund interessieren.

Wir hoffen, auch mit dem vorliegenden, ein brei-tes Themenspektrum umfassenden MIP die par-teienwissenschaftliche Diskussion, national undinternational, weiter anzuregen und zu vertiefen.Dank dafür gilt dem unermüdlichen Fleiß unse-rer zahlreichen Autoren.

Düsseldorf, im Februar 2011

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MIP 2011 17. Jhrg. Alexandra Bäcker – Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien Aufsätze

Das Problem der „Listenorientie-rung“ des Finanzierungsanspruchspolitischer Parteien

– Die Auswirkungen des Landtagswahlge-setzes Baden-Württemberg auf die An-wendung des § 18 Abs. 3 und 4 PartG –

Dr. Alexandra Bäcker*

I. Einleitung

Nachgegangen wird im Folgenden dem „Pro-blem der Listenorientierung“ des § 18 PartG.Dass es ein solches „Problem“ überhaupt gibt,mag verwundern. Immerhin macht § 18 Abs. 4PartG schon seit der erstmaligen Verkündung ei-nes Parteiengesetzes im Jahre 1967 das Entste-hen eines Anspruchs auf Teilhabe an der staatli-chen Parteienfinanzierung im Grundsatz davonabhängig, dass ein Mindestquorum von Stimmenerreicht wird, die auf die Listen der zur Wahl an-tretenden Parteien abgegeben wurden. Lediglichsofern Listen nicht zugelassen waren, lässt auchein – allerdings deutlich (!) höheres – Mindest-quorum von „in einem Wahl- oder Stimmkreisabgegebenen Stimmen“ einen Anspruch entste-hen. Noch länger, nämlich seit Inkrafttreten derLandesverfassung Baden-Württembergs im Jah-re 1953, ist in deren Art. 28 Abs. 1 – bis heuteunverändert – festgelegt, dass die Abgeordnetennach einem Verfahren gewählt werden, das diePersönlichkeitswahl mit den Grundsätzen derVerhältniswahl verbindet, mit der Folge, dassdie seither geltenden Landtagswahlgesetze desLandes Baden-Württemberg eben kein Listen-wahlrecht vorsehen. In den vergangenen 43 Jah-ren, in denen beide Regelungen gleichzeitig Gel-tung beanspruchten und zur Anwendung gelang-ten, scheint es offenbar ein „Problem der Listen-orientierung“ des Finanzierungsanspruchs nicht

* Die Verfasserin ist Rechtsanwältin der AnwaltskanzleiSteffen & Bäcker in Hattingen und wissenschaftlicheMitarbeiterin am Institut für Deutsches und Internatio-nales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF).

gegeben zu haben. Dass hier der Schein trügt,wird bei näherer Betrachtung deutlich.

II. Grundzüge der Parteienfinanzierung nach§ 18 PartG

In § 18 PartG findet die einfachgesetzlicheGrundentscheidung für eine staatliche Parteienfi-nanzierung Ausdruck1.

Als Schlüsselvorschrift für die Zuweisung derstaatlichen Parteienfinanzierung an die begüns-tigten Parteien legt § 18 Abs. 1 PartG sowohl dieFunktion der Parteienfinanzierung (§ 18 Abs. 1S. 1 PartG) als auch die Bemessungsgrundlagefür die Verteilung der Mittel fest (§ 18 Abs. 1S. 2 PartG).

Nach § 18 Abs. 1 S. 1 PartG erhalten die Partei-en staatliche Mittel als Teilfinanzierung der all-gemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegen-den (zu ergänzen ist: und im Parteiengesetz kon-kretisierten) Aufgaben. Die damit in Bezug ge-nommene Aufgabe der Mitwirkung bei der poli-tischen Willensbildung des Volkes (Art. 21Abs. 1 S. 1 GG) wird in § 1 Abs. 2 PartG in ein-zelnen Dimensionen näher beschrieben. Danachist den Parteien – zusammengefasst – eine zen-trale Vermittlerrolle zwischen Staat und Gesell-schaft zugewiesen. Der Kern der Parteifunktio-nen liegt in der Vorformung und Bündelung desWillens und der Interessen der Bürger sowieletztlich dessen Vermittlung in die staatlicheSphäre.

Dabei ist die Entscheidung für eine Teilfinanzie-rung als Gewährleistung einer „ordnungsgemä-ßen“ Aufgabenerfüllung der Parteien – an derNahtstelle zwischen Gesellschaft und Staat – zuverstehen. Dies gebietet einerseits, sie – auchund vor allem finanziell – nicht in eine zu großeAbhängigkeit vom Staat zu bringen, und ande-rerseits, ihre Rückkopplung an die Anliegen undInteressen der Gesellschaft sicherzustellen. Demdient zum einen die sog. relative Obergrenze(§ 18 Abs. 5 PartG), derzufolge der Anteil einerjeden einzelnen Partei an den staatlichen Mitteln

1 M. Morlok/ J. Krüper/ S. Roßner, Parteienfinanzierungim demokratischen Rechtsstaat, Gutachten im Auftragder Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2009, S. 54.

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Aufsätze Alexandra Bäcker – Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien MIP 2011 17. Jhrg.

die Summe ihrer selbst erwirtschafteten Einnah-men nicht übersteigen darf, also sicherstellt, dasssich eine politische Partei zumindest hälftigstaatsfrei finanziert; zum anderen auch die sog.absolute Obergrenze (§ 18 Abs. 2 PartG), nachder die den Parteien insgesamt zur Verfügungstehenden staatlichen Mittel der Höhe nach auf133 Millionen Euro begrenzt sind.

Der Maßstab für die Verteilung dieser Mittel istdie Verwurzelung der Parteien in der Gesell-schaft. Diese Verwurzelung wird zum einen amErfolg gemessen, den eine Partei bei der jeweilsletzten Europa- und Bundestagswahl und den je-weils letzten Landtagswahlen erzielt hat (sog.Wählerstimmenanteil, § 18 Abs. 1 und Abs. 3Nr. 1 und 2 PartG), zum anderen am Umfang dererlangten Spenden, Mitglieds- und Mandatsträ-gerbeiträge (sog. Zuwendungsanteil, § 18 Abs. 1und Abs. 3 Nr. 3 PartG).

Allerdings werden bei der Verteilung der Mittelnach diesen Kriterien nicht alle politischen Par-teien berücksichtigt. § 18 Abs. 4 PartG rückteine wesentliche Funktion der Parteien in denMittelpunkt, wenngleich sich die Aufgaben derParteien nicht hierauf beschränken: Die Teilnah-me an Wahlen.

Ebenso wie der Parteibegriff (§ 2 PartG), der erstden Anwendungsbereich des Parteiengesetzes– und damit auch der Finanzierungsvorschrif-ten – erschließt, stellt § 18 PartG maßgeblich aufdie Wahlteilnahme ab2. Jedoch genügt es nach§ 2 Abs. 2 PartG, wenn sich eine Partei inner-halb eines Zeitraums von 6 Jahren mit eigenenWahlvorschlägen an einer Bundes- oder Land-tagswahl beteiligt, sofern sie zudem nach demGesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, ins-besondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Or-ganisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder undnach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeiteine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeitihrer Zielsetzung bietet, dauernd oder für längere

2 Anders als der Parteibegriff bezieht § 18 Abs. 1 S. 2PartG auch Europawahlen als anspruchsbegründendmit ein. Dies ist angesichts Art. 23 GG und Art. 10Abs. 4 Vertrag von Lissabon jedoch auch verfassungs-rechtlich geboten. Deshalb sind auch Wahlen zum Eu-ropäischen Parlament als statuserhaltend i.S.d. § 2 zuwerten, so schon M. Morlok, in: DVBl. 1989, 393 ff.

Zeit auf die politische Willensbildung Einflussnehmen und an der Vertretung des Volkes imBundestag oder einem Landtag mitwirken zuwollen. Wahlerfolg wird nicht vorausgesetzt.

Anders § 18 Abs. 4 PartG: Nur die erfolgreicheTeilnahme an Wahlen berechtigt zur Teilhabe ander staatlichen Parteienfinanzierung und nur so-weit die in § 18 Abs. 4 PartG festgelegten Min-destquoren erreicht sind.

Gleichwohl wird nach § 18 PartG nicht dieWahlteilnahme finanziert, sondern die Parteienerhalten Mittel zur Finanzierung der ihnen allge-mein obliegenden Aufgaben, von denen die Be-teiligung an Wahlen eben nur eine unter anderenist.

III. Anspruchsvoraussetzungen und -umfangnach § 18 Abs. 3 und Abs. 4 PartG

Dass der Gesetzgeber seine finanzielle Unter-stützung politischer Parteien von einem Min-destwahlerfolg als Anspruchsvoraussetzung ab-hängig macht, ist – nach der Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts – verfassungsrecht-lich nicht zu beanstanden3. Dies gilt auch für dieHöhe der festgelegten Mindeststimmenanteile.

Zwar ist das Recht der Parteien auf Chancen-gleichheit im politischen Wettbewerb (Art. 21Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) streng formalund erlaubt Durchbrechungen des grundsätzli-chen Differenzierungsverbots nur durch einenbesonders zwingenden Grund4.

3 So ausdrücklich – auch für das zwischenzeitlich umge-stellte System der Parteienfinanzierung – BVerfGE111, 382 (412), mit Hinweis auf E 20, 56 (117 f.); 24,300 (340, 342); 41, 399 (422); 85, 264 (292 ff.).

4 So BVerfG in std. Rspr., zuletzt BVerfGE 111, 382(398): „Das Recht der Parteien auf Chancengleichheitim politischen Wettbewerb folgt aus Art. 21 Abs. 1 inVerbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG […]. Es steht in en-gem Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allge-meinheit und Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz1 GG), die ihre Prägung durch das Demokratieprinziperfahren. Aus diesem Grund ist es – ebenso wie diedurch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheitder Wahl verbürgte gleiche Behandlung der Wähler –streng formal […] und führt zu einem grundsätzlichenDifferenzierungsverbot, dessen Durchbrechung nurdurch einen besonders zwingenden Grund zu rechtfer-tigen ist.“

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MIP 2011 17. Jhrg. Alexandra Bäcker – Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien Aufsätze

Jedoch dürfen an die Ernsthaftigkeit des Bemü-hens um einen Wahlerfolg und damit um dieVerwirklichung eines politischen Programms fürden Bereich der Parteienfinanzierung strengereAnforderungen gestellt werden, um zu verhin-dern, dass sich kleine Splittergruppen nur des-halb am Wahlkampf beteiligten, weil dieser vomStaate finanziert wird. Indem der Gesetzgeberdiese Gefahr bekämpft, wirkt er bei der Parteien-finanzierung zugleich der Gefahr einer übermä-ßigen Aufsplitterung der Stimmen und der Par-teien entgegen5.

Bei der konkreten Ausgestaltung des Finanzie-rungsanspruchs muss allerdings die grundsätzli-che Offenheit des politischen Wettbewerbs fürKonkurrenz und politische Alternativen gewahrtbleiben. Das Recht muss auch die Chancen neuentstehender und kleinerer Parteien gewährleis-ten, in den politischen Wettbewerb einzutretenund sich dort zu behaupten und darf nicht dieWettbewerbssituation zugunsten der etabliertenParteien – quasi im Sinne einer Bestandsgaran-tie – verfestigen.

Vor diesem Hintergrund sind die in § 18 Abs. 4PartG festgelegten Mindeststimmenanteile – je-denfalls der Höhe nach – nicht zu beanstanden6.Als „Prüfsteine“ der Ernsthaftigkeit der Wahler-folgsbemühungen einer politischen Partei bauendie dort genannten Mindeststimmenanteile, diejeweils den Zugang zur staatlichen Parteienfi-nanzierung ermöglichen, keine allzu hohen Hür-den auf. Zugleich vermögen sie hinreichend von

5 BVerfGE 20, 56 (117); 24, 300 (341 ff.); 73, 40 (95).6 S. Bericht der Kommission unabhängiger Sachverstän-

diger zu Fragen der Parteienfinanzierung - Empfehlun-gen für Änderungen im Recht der Parteienfinanzie-rung, Berlin 2001, S. 69 f. Nach std. Rspr. des BVerfGmüssen die Mindeststimmenanteile deutlich unter derwahlrechtlichen 5%-Sperrklausel verbleiben, s. nurBVerfGE 85, 264 (293 f.) m.w.N. In concreto beschei-nigte das BVerfG bereits einem Mindeststimmenanteilvon 2,5% einen nicht zu rechtfertigenden Verstoß ge-gen den Chancengleichheitsgrundsatz und hielt unterBerücksichtigung der konkreten Verhältnisse bei denBundestagswahlen (1965) rechnerisch einen Mindest-stimmenanteil von 0,5% für zulässig, s. BVerfGE 24,300 (339 ff.). Zur Verfassungswidrigkeit des „Drei-Länder-Quorums“ s. BVerfGE 111, 382 (397 ff.); dazuauch M. Morlok, Das BVerfG als Hüter des Parteien-wettbewerbs, in: NVwZ 2005, 157 ff.

etwaigen missbräuchlichen Parteigründungenund Wahlteilnahmen, die nur um des erhofftenGeldes wegen erfolgen, abzuschrecken.

Dies gilt sowohl für den Mindeststimmenteil von0,5% bei einer Europa- oder Bundestagswahl alsauch von 1% bei einer Landtagswahl, insbeson-dere aber auch für die deutlich höhere Hürde von10% in einem Wahlkreis. Das Bundesverfas-sungsgericht hat in seinem Urteil zum sog.„Drei-Länder-Quorum“ diese zuvor geltendenMindeststimmenanteile indirekt gebilligt. Esverwies ausdrücklich auf die bisherige Recht-sprechung zur Wahlkampfkostenerstattung undbetonte, dass die dort genannten Gründe füreinen Mindeststimmenanteil als Anspruchsvor-aussetzung auch für das zwischenzeitlich umge-stellte System der Parteienfinanzierung ihre Gül-tigkeit behalten7.

Die Mindeststimmenanteile standen bereits un-mittelbar nach Erlass des Parteiengesetzes 1967auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsge-richts8. In diesem Verfahren geriet auch – erst-und einmalig – die Wahlkreisregelung (heute§ 18 Abs. 4 S. 2 PartG) ins Blickfeld des Bun-desverfassungsgerichts. Jedoch fand allein dieHöhe des festgelegten Mindeststimmenteils Be-achtung: Zum einen ist die Zulassung von Kreis-wahlvorschlägen an leichter zu erfüllende Vor-aussetzungen geknüpft als die Zulassung vonLandeslisten und zum anderen steht hinter einerPartei, die keine Landesliste einreicht, in der Re-gel nur eine kleinere politische Gruppe als hintereiner Partei mit Landesliste; deshalb bietet dieenge räumliche Begrenzung eines einzelnenWahlkreises lokalen Splittergruppen, die sichnur deshalb am Wahlkampf beteiligen, weil ervom Staat finanziert wird, eine größere Chanceals das Wahlgebiet im Ganzen. Um dieser Miss-brauchsgefahr entgegenzutreten, billigte es dasBundesverfassungsgericht, „wenn als Nachweisder Ernsthaftigkeit von Wahlkampfbemühungenin einem Wahlkreis 10 v.H. der abgegebenen

7 S. BVerfGE 111, 382 (412), mit Hinweis auf E 20, 56(117 f.); 24, 300 (340, 342); 41, 399 (422); 85, 264(292 ff.).

8 BVerfGE 24, 300 (328 ff.).

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Aufsätze Alexandra Bäcker – Das Problem der „Listenorientierung“ des Finanzierungsanspruchs politischer Parteien MIP 2011 17. Jhrg.

gültigen Erststimmen dieses Wahlkreises ver-langt werden“9.

Unabhängig von der rechnerischen Größe einesMindeststimmenanteils statuiert § 18 Abs. 4PartG jedoch weitere Voraussetzungen eines Fi-nanzierungsanspruchs, die gleichzeitig auch denFinanzierungsumfang nach Abs. 3 mitbestim-men. Bei genauerem Hinsehen regelt § 18 Abs. 4PartG nämlich zwei verschiedene Ansprüche aufFinanzierung, die exklusiv gelten. Ein normati-ves Detail, das bislang in der rechtswissenschaft-lichen Literatur allenfalls beiläufig zur Kenntnisgenommen wird und auch in der bundesverfas-sungsgerichtlichen Rechtsprechung noch keineRolle spielte.

Politische Parteien können nach § 18 Abs. 4PartG auf zwei Wegen in den Genuss der staatli-chen Parteienfinanzierung kommen. Sie müssensich grundsätzlich jedoch bereits im Vorfeld derWahlen für einen der beiden Wege entscheiden:Die Weichenstellung für den maßgeblichen Par-teienfinanzierungsanspruch erfolgt durch dasAntreten mit eigenen Listen zur Wahl.

1. Die Listen-Regelung

Der Finanzierungsanspruch politischer Parteienist seinem Umfang nach wesentlich von diesergrundsätzlichen „Listenorientierung“ des § 18PartG geprägt. Nach dem Wortlaut des § 18Abs. 4 S. 1 PartG sind für die Berechnung deszur Teilhabe an der staatlichen Parteienfinanzie-rung berechtigenden Mindeststimmenanteils die„für die Listen abgegebenen gültigen Stimmen“maßgeblich. Ein Finanzierungsanspruch nach§ 18 Abs. 4 S. 1 PartG setzt danach schon tatbe-standlich voraus, dass eine Partei (1.) mit einerListe zur Wahl angetreten ist und (2.) den festge-legten Mindeststimmenanteil erreicht. Bei Errei-chen der Mindeststimmenanteile erhalten dieseParteien dann sowohl den Wählerstimmenanteilnach § 18 Abs. 3 Nr. 1 PartG als auch den Zu-wendungsanteil nach § 18 Abs. 3 Nr. 3 PartG.Erreichen Parteien, die mit eigenen Listen zurWahl angetreten sind, den erforderlichen Min-deststimmenanteil nicht, gehen sie leer aus.

9 BVerfGE 24, 300 (343 f.).

2. Die Wahlkreis-Regelung

Demgegenüber setzt ein Finanzierungsanspruchnach § 18 Abs. 4 S. 2 PartG tatbestandlich vor-aus, dass eine Partei (1.) nicht mit eigener Listezur Wahl angetreten ist. Dies ergibt sich aus demin Bezug genommenen § 18 Abs. 3 Nr. 2 PartG,dessen Anwendungsbereich seinem Wortlautnach auf die Fälle beschränkt ist, dass „eine Lis-te für diese Partei nicht zugelassen war“. Zudemmuss die Partei (2.) den festgelegten Mindest-stimmenanteil von 10% der abgegebenen gülti-gen Stimmen in einem Wahlkreis erreicht haben.Dann erhält sie nach § 18 Abs. 4 S. 2 PartG denWählerstimmenanteil nach § 18 Abs. 3 Nr. 2PartG – und nur diesen! Der Finanzierungsan-spruch entsteht dann für alle in dem betreffendenWahlkreis abgegebenen Stimmen; andere Wahl-kreise, in denen das Quorum von 10% nicht er-reicht wurde, bleiben jedoch unberücksichtigt10.

Mit anderen Worten: Solche politischen Partei-en, die sich an einer Wahl ohne eigene Listen,aber mit einem oder mehreren Wahlkreisbewer-bern beteiligen, bleibt der Zuwendungsanteilvorenthalten und der – angesichts des erreichtenMindeststimmenteils von 10% nicht unbedeuten-de, allerdings regional begrenzte – Wahlerfolgwird durch den Wählerstimmenanteil ausschließ-lich für den erfolgreichen Direktkandidaten ho-noriert.

Auf den ersten Blick entsteht hier der Eindruck,dass im Grunde genommen politische Parteien,ebenso wie die parteiunabhängigen Wahlkreisbe-werber nach den einschlägigen wahlrechtlichenRegelungen11, auf eine reine Wahlkampfkosten-erstattung verwiesen sind und nicht an dergrundsätzlich nach § 18 Abs. 1 PartG vorgesehe-nen Allgemeinfinanzierung ihrer Tätigkeit ent-

10 Th. Koch, in: Ipsen (Hrsg.), PartG, § 18 Rn. 25. ZurNormgeschichte s. im Folgenden.

11 Auch Bewerber eines nach Maßgabe der §§ 18 und 20BWahlG von Wahlberechtigten eingereichten Wahl-vorschlages, die mindestens 10 vom Hundert der in ei-nem Wahlkreis abgegebenen gültigen Erststimmen er-reicht haben, erhalten je gültige Stimme 2,80 Euro.Diese Regelung findet sich systematisch richtig imBWahlG, hier in § 49b. Diese Bewerber unterliegenkeinerlei Offenlegungspflichten bzgl. der Herkunft ih-rer Mittel, insb. der Spenden für den Wahlkampf.

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sprechend ihrer Verwurzelung in der Gesell-schaft teilhaben. Die Normgeschichte erhärtetdiesen Eindruck überraschenderweise auch aufden zweiten Blick.

a) Normgeschichte

Wie eingangs bereits erwähnt, unterscheidetschon das Parteiengesetz in seiner ersten Fas-sung aus dem Jahre 1967 zwischen der Listen-und der Wahlkreisregelung. Zum damaligenZeitpunkt war das Parteienfinanzierungssystem,entsprechend den Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts aus dem ersten Parteienfinanzie-rungsurteil12, als reine Wahlkampfkostenerstat-tung ausgestaltet. Bei der Formulierung derNorm orientierte sich der Parteiengesetzgeber ander – damals noch recht jungen – Wahlrechtsän-derung aus dem Jahre 1953, mit der für die zwei-te Bundestagswahl das Wahlverfahren auf unserheutiges Bundestagswahlsystem der personali-sierten Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstim-me umgestellt wurde. Unmittelbar im damaligen§ 18 Abs. 3 PartG (1967) geregelt war aus-schließlich die Wahlkampfkostenerstattung fürdiejenigen Parteien, die sich an Bundestagswah-len mit eigenen Wahlvorschlägen beteiligen13.

Den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht entneh-men, von welchen Motiven sich der Parteienge-setzgeber bei der Einführung der Wahlkreisrege-lung tatsächlich leiten ließ. Lediglich in einemBericht des Innenausschusses findet sich folgen-de Begründung: „Eine Sonderregelung erschienfür Parteien erforderlich, die zwar einen Bewer-ber in einem oder mehreren Wahlkreisen aufge-stellt hatten, für die jedoch keine Landesliste zu-gelassen war.“14 Es steht zu vermuten, dass derGesetzgeber wie selbstverständlich davon aus-ging, dass die Parteien nach Einführung der Lis-tenwahl grundsätzlich auch von ihrem Recht zur

12 BVerfGE 20, 56 (96 ff.).13 § 21 PartG (1967) stellte es in das Ermessen der jewei-

ligen Landesgesetzgeber, ob auch die Beteiligung anLandtagswahlen nach Maßgabe der parteiengesetzli-chen Regelung finanziert werden soll. Dazu W. Henke,in: Dolzer u.a. (Hrsg.), BK-GG, Art. 21 Rn. 330 (S.291) und Rn. 393.

14 Schriftlicher Bericht des Innenausschusses, BT-Drs.V/1918, S. 5 (zu § 18 a.E.).

Listenaufstellung Gebrauch machen. Weshalbaber Parteien, die mit eigenen Listen zur Wahlangetreten sind und das Mindeststimmenquorumverfehlt haben, von der Möglichkeit zur Finan-zierung nach der Wahlkreisregelung ausge-schlossen wurden, bleibt gänzlich im Dunklen.Es kann spekuliert werden, dass bei der Ein-schätzung der tatsächlich regelungsbedürftigenSachverhalte an derartige Fälle schlicht nicht ge-dacht wurde.

An die Parteien, die sich lediglich mit einzelnenWahlkreisbewerbern an Wahlen beteiligen, wur-de wiederum schon bei der nächsten bedeuten-den Gesetzesänderung offenbar nicht mehr ge-dacht. Die Wahlkampfkostenerstattung wurde imJahre 1983 ergänzt um einen äußerst komplizier-ten sog. „Chancenausgleich“, der die ungleichenWirkungen der Steuerbegünstigung von Spendenan politische Parteien bereinigen sollte15. Ohnedass Gründe dafür ersichtlich sind, gewährte derGesetzgeber ausschließlich den mit eigenen Lis-ten zur Wahl angetretenen Parteien bei Erreichendes Mindestquorums auch einen Anspruch aufebendiesen Chancenausgleich.

Schlicht übergangen wurden die „listenlosen“Parteien auch bei der nächsten großen Gesetzes-änderung: der Umstellung auf die Allgemeinfi-nanzierung der Tätigkeit politischer Parteien imJahre 1994, die hinsichtlich Anspruchsberechti-gung und -umfang (mit Ausnahme der festgeleg-ten Erstattungsbeträge) der bis heute geltendenRegelung entspricht. Wie die Wahlkreisregelungden Weg in den Gesetzestext genommen hat,bleibt rätselhaft. Den Gesetzesmaterialien lässtsich kein Hinweis entnehmen.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht in sei-nem zweiten Parteienfinanzierungsurteil16 imJahre 1992 die bisherigen Regelungen zur Wahl-kampfkostenerstattung für verfassungswidrigund eine Allgemeinfinanzierung nunmehr für zu-lässig erklärt hatte, wurde eine Kommission un-abhängiger Sachverständiger einberufen, dieEmpfehlungen für eine künftige Neuregelungdes Parteienfinanzierungsrechts erarbeiten sollte.

15 Im Einzelnen dazu W. Henke, in: Dolzer u.a. (Hrsg.),BK-GG, Art. 21 Rn. 335 ff.

16 BVerfGE 85, 264 (283 ff.).

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Selbst in dem Bericht der Kommission findetsich keine Aussage zur Wahlkreisregelung. DerAbschnitt zu den Mindestquoren befasst sichausschließlich mit der bisherigen Listenregelungund empfiehlt, es für alle anspruchsauslösendenWahlen – also von nun an sowohl die Bundes-tags- als auch die Landtagswahlen – bei dem bis-her geltenden Mindeststimmenanteil von 0,5%zu belassen17.

Die Normgeschichte erweckt den Eindruck, alssei die 1967 getroffene Wahlkreisregelung beiallen folgenden Gesetzesänderungen lediglich„mitgeschleppt“ worden, ohne sie in den jeweilsneuen Regelungszusammenhang – verfassungs-konform – zu integrieren.

b) Generelle verfassungsrechtliche Bedenken

Vor diesem Hintergrund ergeben sich in zweier-lei Hinsicht generelle verfassungsrechtliche Be-denken. Zum einen steht in Frage, ob die Wahl-kreisregelung in Einklang steht mit der an derVerwurzelung der Parteien in der Gesellschaftorientierten Allgemeinfinanzierung. Zum ande-ren ist auch die – schon in der ersten Fassungdes Parteiengesetzes vorgesehene – Exklusivitätder Ansprüche, also der Listenregelung (§18Abs. 4 S. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 PartG)einerseits und der Wahlkreisregelung (§18Abs. 4 S. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 PartG) anderer-seits, kritisch zu hinterfragen.

aa) Das Vorenthalten des Zuwendungsanteilsund die Beschränkung auf den Wahlkreis alsBerechnungsgrundlage

Der Parteibegriff (§ 2 PartG), der den Anwen-dungsbereich des Parteiengesetzes erschließt, ver-langt, dass sich politische Parteien (innerhalb ei-nes 6-Jahres-Zeitraumes) mit eigenen Wahlvor-schlägen an einer Wahl beteiligen. Er setzt nichtvoraus, dass sie dies mit eigenen Listen tun.

Der Grundsatz der Chancengleichheit beinhaltetdas Gebot des Staates zur formalen Gleichbe-handlung aller Parteien, zunächst einmal unab-

17 S. Bundespräsidialamt (Hrsg.), Empfehlungen derKommission unabhängiger Sachverständiger zur Par-teienfinanzierung, Baden-Baden 1994, S. 59 f.

hängig davon, ob sie nun mit Wahlkreisbewer-bern oder mit eigenen Listen zur Wahl antreten.

Grundsätzlich berücksichtigt § 18 Abs. 4 PartGdies, indem er sowohl für Parteien mit eigenenListen als auch für Parteien, die „nur“ mit Wahl-kreisbewerbern zur Wahl antreten, einen Finan-zierungsanspruch vorsieht.

Als problematisch erweist sich indes sowohl diegenerelle Nichtgewährung des Zuwendungsan-teils für Parteien, die sich ohne Listen an Wahlenbeteiligen (§ 18 Abs. 4 S. 2 und Abs. 3 PartG),als auch die Beschränkung auf den Wahlkreis alsBerechnungsgrundlage des Wählerstimmenan-teils. Beide Regelungen vernachlässigen überGebühr die sich aus dem Gebot der Staatsfreiheitder Parteien ergebenden Grundsätze der Mittel-verteilung, welche sich eben am Grad der Ver-wurzelung der Parteien in der Bevölkerung zuorientieren hat.

Indem nur Parteien mit eigenen Listen an demZuwendungsanteil partizipieren, führt die Wahl-kreisregelung zu einer ungleichen Zuteilung derstaatlichen Mittel.

Dass ein Zuwendungsanteil überhaupt gewährtwird, entspricht den in § 18 Abs. 1 S. 2 PartGfestgelegten Maßstäben der Mittelverteilung, diewiederum dem Gebot der Staatsfreiheit politi-scher Parteien Rechnung tragen. Danach darf dasstaatliche Finanzierungssystem die Parteien nichtaus der Notwendigkeit entlassen, sich um Zu-stimmung und aktive – auch finanzielle – Unter-stützung in der Bevölkerung zu bemühen. Nachden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts istdiesem Gebot – nämlich die gesellschaftlicheVerwurzelung der Parteien auch durch die Artihrer Finanzierung zu festigen – dadurch Rech-nung zu tragen, dass der Verteilungsmaßstab so-wohl den Erfolg berücksichtigt, den eine Parteibeim Wähler hat, als auch den Erfolg, den sie beider Summe der Mitgliedsbeiträge sowie bei demUmfang der von ihr eingeworbenen Spenden er-zielt – und zwar zu einem jeweils ins Gewichtfallenden Anteil18.

Danach widerspricht es bereits den sich aus derVerfassung ergebenden Kriterien der staatlichenParteienfinanzierung, den Zuwendungsanteil bei18 S. BVerfGE 85, 264 (292).

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der Zuteilung der Mittel gänzlich unberücksich-tigt zu lassen.

Selbst wenn der Gesetzgeber lediglich hinsicht-lich der Gewichtung der Anteile Unterschiedemachen wollte, bedürfte er für eine Differenzie-rung zwischen den grundsätzlich anspruchsbe-rechtigten Parteien eines zwingenden, rechtferti-genden Grundes.

Dabei werden die befürchteten Mitnahmeeffekteund nur auf staatliche Mittel zielende Parteigrün-dungen bzw. Wahlteilnahmen bereits durch dieals „Test“ der Ernsthaftigkeit von Wahlerfolgs-bemühungen vorgesehenen Mindeststimmenan-teile verhindert.

Ein zwingender sachlicher Grund ergibt sichauch nicht unter Berücksichtigung der die Diffe-renzierung bei den Mindeststimmenanteilen tra-genden Erwägungen: Danach war das deutlichhöhere Quorum von 10% der Wählerstimmendeshalb gerechtfertigt, weil die enge räumlicheBegrenzung eines einzelnen Wahlkreises lokalenSplittergruppen größere Missbrauchschancen er-öffnet als das Wahlgebiet im Ganzen.

Bezogen auf die Teilhabe am Zuwendungsanteilkönnten größere Missbrauchsgefahren im Ver-gleich zu den Parteien, die sich mit Listen anWahlen beteiligen, allenfalls in zwei Punktenauszumachen sein: Zum einen könnten die Par-teien versucht sein, auf eine Spendenkonzentrati-on in dem betreffenden Wahlkreis hinzuwirken,um so letztlich den auf sie entfallenden Zuwen-dungsanteil zu erhöhen. Für den Fall, dass diesim Wege einer Falschdeklaration eingenomme-ner Spenden oder Beiträge erfolgen sollte, wir-ken dem jedoch bereits die sanktionsbewehrtenRechenschaftspflichten entgegen. Im Übrigensteht zu vermuten, dass in dem Wahlkreis desaußergewöhnlich erfolgreichen Direktkandidatendie politische Partei – im Vergleich zu ihremsonstigen Wirkungsbereich – ohnehin deutlichgrößere Unterstützung aus der Bevölkerung er-fährt. Dies ist dann auch lediglich Ausdruck ih-rer – erwünschten und gebotenen – Wahlerfolgs-bemühungen und spiegelt zutreffend ihre gesell-schaftliche Verwurzelung im jeweiligen Wahl-kreis. Zwar besteht deshalb zum anderen gene-rell die Gefahr einer überproportionalen Berück-

sichtigung der ausschließlich in einem Wahlkreiseingeworbenen Zuwendungen im Verhältnis zuden Gesamteinnahmen der Partei. Dieses Pro-blem entsteht allerdings erst dann, wenn für dieBerechnung des Finanzierungsanspruchs – wiebislang auch für den Wählerstimmenanteil vor-gesehen – ausschließlich der Rückhalt in den be-treffenden Wahlkreisen maßgeblich ist. Auchdiese Einschränkung ist jedoch – für den Wäh-lerstimmenanteil ebenso wie für den Zuwen-dungsanteil – verfassungsrechtlich nicht unpro-blematisch.

Sind die Mindeststimmenanteile als Test auf dieErnsthaftigkeit der Wahlerfolgsbemühungen ei-ner politischen Partei zu verstehen, ist dieserTest mit Erreichen der 10% in einem Wahlkreisbestanden. Die politische Partei hat dann einenRückhalt in der Bevölkerung belegt, der sie alsernstzunehmende politische Strömung ausweist,und zwar für den gesamten Wirkungsbereich,auf den die Wahlteilnahme zielt – nämlich dieVertretung in einem Landtag, im Bundestag oderim Europaparlament. Anderes hieße, nicht dieErnsthaftigkeit der Wahlerfolgsbemühungen derpolitischen Partei, sondern des jeweiligen Di-rektkandidaten zum Maßstab der Mittelvertei-lung zu machen. Hierfür sind jedoch sachlicheGründe nicht erkennbar.

Letztlich würden dann politische Parteien mit er-folgreichen Wahlkreiskandidaten nicht nurschlechter gestellt als die politischen Parteien,die mit Listen zur Wahl antreten. Selbst gegen-über parteilosen Einzelbewerbern in Wahlkrei-sen wären diese politischen Parteien deutlich be-nachteiligt.

Bezogen auf Bundestagswahlen erhalten partei-lose Einzelbewerber nach § 49b BWahlG 2,80Euro je Stimme. Mit Blick auf entsprechendeRegelungen für parteilose Einzelbewerber in denLandeswahlgesetzen verhält es sich mitunter ge-nauso19, mitunter fällt der Erstattungsbetrag jeStimme aber auch niedriger aus20. Demgegen-

19 S. etwa § 42 LWahlG NW, der bei einer 5-jährigen Le-gislaturperiode einen Erstattungsbetrag in Höhe von3,50 € je Stimme vorsieht.

20 S. etwa § 53 Abs. 1 LWahlG BaWü, der bei einer 5-jährigen Legislaturperiode lediglich einen Erstattungs-betrag in Höhe von 2,05 € je Stimme vorsieht.

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über erhalten politische Parteien nach § 18Abs. 3 Nr. 2 PartG 0,85 € für die ersten 4 Mio.Wählerstimmen und 0,70 € für jede Stimme dar-über hinaus. Allerdings werden diese Mittel andie politischen Parteien jährlich ausgezahlt, sum-mieren sich also im Laufe der Legislaturperiode,während die Einzelbewerber „nur“ eine Einmal-zahlung erhalten.

Selbst sofern politische Parteien hinsichtlich derHöhe des Erstattungsbetrages je Stimme dem-nach zunächst „bevorteilt“ erscheinen, schwindetdieser Vorteil angesichts der weiteren Bestim-mungen des Parteiengesetzes schnell dahin:Denn zum einen unterliegen parteilose Einzelbe-werber nicht der relativen Obergrenze, die si-cherstellt, dass die staatlichen Zuwendungen aufdie Höhe der selbst erwirtschafteten Einnahmenbeschränkt bleiben (§ 18 Abs. 5 S. 1 PartG). An-ders als die politischen Parteien muss sich derparteilose Einzelbewerber daher nicht immermindestens hälftig selbst finanzieren. Zum ande-ren führt bei politischen Parteien das regelmäßi-ge Überschreiten der absoluten Obergrenze zueiner anteiligen Anspruchskürzung nach § 19aAbs. 5 PartG. Letztlich – und dies dürfte in derPraxis der folgenreichste Nachteil sein – sind anden Parteienfinanzierungsanspruch äußerst um-fangreiche Rechenschaftspflichten geknüpft, dieden parteilosen Einzelbewerber nicht treffen.

Für eine Schlechterstellung der Parteien, die sichmit Wahlkreisbewerbern an Wahlen beteiligen,sowohl gegenüber Parteien mit eigenen Listenals auch gegenüber den parteilosen Einzelbewer-bern sind rechtfertigende Gründe nicht ersicht-lich.

Sowohl die Nichtgewährung des Zuwendungsan-teils als auch die alleinige Bezugnahme auf denWahlkreis als Zuteilungsmaßstab für die staatli-chen Mittel stoßen daher auf erhebliche verfas-sungsrechtliche Bedenken.

bb) Die Exklusivitätsregelung

Weitere verfassungsrechtliche Bedenken ergebensich daraus, dass nach § 18 Abs. 4 PartG politi-sche Parteien entweder nach dessen S. 1 odernach dessen S. 2 staatliche Mittel erhalten, undzwar exklusiv. Sofern politische Parteien mit

Listen zur Wahl antreten, sind sie auf einen Fi-nanzierungsanspruch nach § 18 Abs. 4 S. 1 fest-gelegt. Wenn für eine Partei eine Liste nicht zu-gelassen war (§ 18 Abs. 3 Nr. 2 PartG), habensie Anspruch auf staatliche Mittel ausschließlichnach § 18 Abs. 4 S. 2 PartG. Der Wortlaut isthinsichtlich der Exklusivität der Ansprüche ein-deutig.

Dieser Exklusivität haften auch durchaus gleich-heitswidrige Folgen an: Bleibt eine Partei mit ei-gener Liste unter der 1%-Marke, kann ihr auchder singuläre Wahlerfolg in einem Wahlkreis mitüber 10% der Stimmen nicht zu einem Anspruchauf staatliche Mittel verhelfen. Zum anderen ent-steht aber auch für die Parteien, für die eine Listenicht zugelassen war, bei Nichterreichen desStimmenanteils von 10% in mindestens einemWahlkreis kein Finanzierungsanspruch selbst indem Fall, dass sie durchschnittlich 9,9% derStimmen erhalten.

Die politischen Parteien – vor allem die klei-nen – sind demnach zu einer Wahlerfolgspro-gnose genötigt, wollen sie an der staatlichen Par-teienfinanzierung teilhaben. Eine Fehleinschät-zung der regionalen Verteilung des eigenenRückhaltes in der Bevölkerung geht ausschließ-lich zu Lasten der kleinen politischen Parteien.

Darin liegt eine Beeinträchtigung der grundsätz-lichen Offenheit des politischen Wettbewerbs fürKonkurrenz und politische Alternativen. Die Ex-klusivitätsregelung verfestigt die Wettbewerbssi-tuation zugunsten der etablierten Parteien, diesich mit der Notwendigkeit einer solchen Wahl-erfolgsprognose erst gar nicht konfrontiert sehen,geschweige denn jemals die Folgen einer Fehl-einschätzung zu tragen hätten.

Der in der Verfassung angelegte politische Wett-bewerb, der auf politische Parteien und effekti-ven Wettbewerb zwischen ihnen setzt, brauchtdie Mitwirkung neuer Konkurrenten, aber auchder bestehenden kleinen Parteien. „Der Wettbe-werb zwischen den Parteien kann auf Dauer nurwirken, wenn er nicht auf die Konkurrenz zwi-schen den bereits existierenden und erfolgrei-chen beschränkt bleibt, sondern durch das Hin-zutreten neuer Wettbewerber und die anhaltendeHerausforderung durch die kleinen Parteien er-

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weitert, intensiviert und gefördert wird.“21 DieExklusivitätsregelung erschwert jedoch das Ent-stehen neuer Parteien und deren Zutritt zum poli-tischen Wettbewerb, ohne dass rechtfertigendeGründe dafür ersichtlich sind. Die Regelungbirgt die Gefahr eines Verlusts der politischenVielfalt und damit einer Einschränkung des Par-teienwettbewerbs.

IV. Anwendung der Norm im Falle von Land-tagswahlen in Baden-Württemberg

Nach Art. 21 Abs. 3 GG ist ausschließlich derBundesgesetzgeber dazu berufen, das die politi-schen Parteien betreffende Recht zu setzen. FürFinanzierungsfragen hat der Bundesgesetzgeberin §§ 18 ff. PartG eine abschließende Regelunggeschaffen. Bei Erlass dieser Regelung hat sichder Bundesgesetzgeber an den für Bundestags-wahlen geltenden Bestimmungen, die ähnlich inden meisten Bundesländern gelten, leiten lassen.Dabei sind offenbar die Besonderheiten desLandtagswahlgesetzes Baden-Württemberg nichthinreichend berücksichtigt worden. Schwierig-keiten bei der Anwendung des § 18 Abs. 3 undAbs. 4 PartG resultieren nämlich daraus, dassnach dem Landtagswahlgesetz Baden-Württem-berg (LWahlG BaWü) eine Listenwahl nichtvorgesehen ist.

Es treten bei den Landtagswahlen in Ba-den-Württemberg ausschließlich Einzelbewerberin insgesamt 70 Wahlkreisen an, die von denParteien oder von Wahlberechtigten nominiertwurden. Bei der Wahl hat jeder Wahlberechtigtenur eine Stimme. Da der Landtag aus mindestens120 Abgeordneten besteht, werden zunächstnach den Grundsätzen der relativen Mehrheits-wahl die Direktmandate in den 70 Wahlkreisenvergeben (§ 2 Abs. 3 S. 1 LWahlG BaWü).

Die restlichen Sitze (sog. „Zweitmandate“) wer-den getrennt nach Parteien an deren unterlegeneWahlkreiskandidaten vergeben – und zwar in derReihenfolge ihrer prozentualen Stimmenanteile

21 BVerfGE 111, 382 (404). Grundsätzlich zum Parteien-wettbewerb s. M. Morlok, Parteienrecht als Wettbe-werbsrecht, in: Häberle/Morlok/Skouris (Hrsg.), Fest-schrift für D. Th. Tsatsos zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2003, S. 408 ff.

an den Stimmenzahlen aller Bewerber im Wahl-kreis. Bei der Verteilung der Zweitmandate wer-den nur jene Parteien berücksichtigt, deren Be-werber insgesamt mindestens 5% der gültigenStimmen erhalten haben (§ 2 Abs. 1 S. 2 LWahlGBaWü). Die Berechnung der einer Partei zuste-henden Sitzzahl erfolgt dabei in einem kompli-zierten mehrstufigen Verfahren, das auch zu ei-ner Zuteilung von Überhang- und Ausgleichs-mandaten führen kann (§ 2 Abs. 4 und 5 LWahlGBaWü).

1. Anwendung des § 18 Abs. 3 und Abs. 4PartG nach dem Wortlaut

Nun stellt sich die Frage, ob und in welchemUmfang eine politische Partei, die sich an dieser„personalisierten Verhältniswahl ohne Listen“ inBaden-Württemberg beteiligt, bei der Verteilungder staatlichen Mittel nach § 18 Abs. 4 und 3PartG zu berücksichtigen ist.

a) Bei unbefangener erster Betrachtung scheinteine Berücksichtigung nach der Listenregelung(§ 18 Abs. 4 S. 1 PartG) ausgeschlossen, da diePartei keine für ihre jeweilige Liste abgegebenegültige Stimme vorweisen kann – eben mangelssolcher Listen.

b) Deshalb richtet sich der Blick auf die Wahl-kreisregelung (§ 18 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Abs. 3Nr. 2 PartG), die gerade die Finanzierung desWählerstimmenanteils bei Fehlen entsprechen-der Listen regelt. Von der Teilhabe an der staat-lichen Parteienfinanzierung von vornherein aus-geschlossen sind damit aber alle Parteien, dienicht in mindestens einem Wahlkreis 10% derStimmen erreicht haben. Durchaus bedeutendepolitische Strömungen, sogar Parteien, die etwaim Landesdurchschnitt 9,9% der Stimmen erhal-ten, werden so gegenüber den etablierten„großen“ politischen Parteien in nicht zu recht-fertigender Weise benachteiligt.

Hinzu kommt, dass Berechnungsgrundlage fürdie Wählerstimmenanteile ausschließlich dieWahlkreise sind, in denen der Mindeststimmen-anteil von 10% erreicht wurde. Bleiben aber alleanderen Wahlkreise bei der Verteilung der Mit-tel unberücksichtigt, findet damit selbst bei denim Landesdurchschnitt „größeren“ Parteien eine

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Finanzierung entsprechend der tatsächlichenVerwurzelung in der Gesellschaft nicht mehrstatt, es sei denn, sie erhalten in jedem Wahl-kreis mindestens 10% der Stimmen.

Darüber hinaus ist es mit den Grundsätzen derstaatlichen Teilfinanzierung politischer Parteienschlechthin unvereinbar, dass allen politischenParteien bei der Teilnahme an Wahlen in einemBundesland (nämlich Baden-Württemberg) ge-nerell der Zuwendungsanteil nach § 18 Abs. 3Nr. 3 PartG schlichtweg vorenthalten bleibt.

Eine (ausschließliche) Anwendung der Wahl-kreisregelung (§ 18 Abs. 4 S. 2 PartG) verstößtdamit eklatant gegen den Chancengleichheits-grundsatz. Nach der Lehre von der verfassungs-konformen Auslegung kommt diese Interpretati-on also nicht in Betracht und es ist nach eineranderen Auslegungsmöglichkeit zu suchen.

2. Versuch einer verfassungskonformen Aus-legung der Norm

a) 1% der Stimmen als Listenäquivalent

So geschärft ist der Blick erneut auf die Listenre-gelung (§ 18 Abs. 4 S. 1 PartG) zu richten. Nachdem Wortlaut sind zwar Listenkandidaturen vor-ausgesetzt, eine Finanzierung aber deshalb aus-schließlich nach der Wahlkreisregelung (§ 18Abs. 4 S. 2 PartG) zuzulassen, wäre verfassungs-widrig. In Betracht kommt daher, das im Ver-gleich mit den sonstigen wahlrechtlichen Be-stimmungen als Ausnahmeregelung zu bezeich-nende Landtagswahlgesetz Baden-Württembergals sog. „Listenäquivalent“ in die Norm hinein-zulesen, mit der Folge dass alle Parteien, diemindestens 1% der gültigen Stimmen errungenhaben, auch bei der staatlichen Finanzierung be-rücksichtigt werden. Dieses Vorgehen entsprichtder bisherigen Praxis und trägt dem Chancen-gleichheitsgrundsatz insoweit Rechnung, alsdass eine Partei bei einem landesweiten, aus denErgebnissen in allen Wahlkreisen zu errechnen-den Durchschnittswahlergebnis von wenigstens1% parteienfinanzierungsrechtlich nicht schlech-ter gestellt wird, als hätte sie ein entsprechendesErgebnis über eine Liste erzielt.

b) Weniger als 1% der Stimmen, aber 10% inmindestens einem Wahlkreis

Diese Auslegung als Listenäquivalent würde in-des bedeuten, die politischen Parteien in Baden-Württemberg zu benachteiligen, die zwar landes-weit die 1%-Hürde verfehlen, aber 10% in einemWahlkreis erlangen.

Sofern die Stimmabgabe in Baden-Württembergals Listenäquivalent betrachtet wird, hätten näm-lich im Grunde genommen alle an der Wahl teil-nehmenden Parteien eine Liste eingereicht, sodass die Variante „sofern keine Liste zugelassenwar“ nicht mehr greift.

Auch diese Parteien sind nach der gesetzgeberi-schen Wertung aufgrund ihres, wenn auch regio-nal begrenzten, politischen Rückhalts in der Be-völkerung nach der Wahlkreisregelung (§ 18Abs. 4 S. 2 PartG) jedoch grundsätzlich zur Teil-habe an der staatlichen Finanzierung berechtigt(zumindest hinsichtlich des Wählerstimmenan-teils).

Folglich wird für die Finanzierung politischerParteien bei der Teilnahme an Landtagswahlenin Baden-Württemberg weder eine ausschließli-che Anwendung der Listenregelung (§ 18 Abs. 4S. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 PartG) nocheine ausschließliche Anwendung der Wahlkreis-regelung (§ 18 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2PartG) der gesetzlichen Wertung gerecht, in wel-chen Fällen politische Parteien grundsätzlichstaatlich finanziert werden können und sollen.

aa) Alternative Anwendbarkeit in Baden-Württemberg

Eine dem verfassungsrechtlichen Chancen-gleichheitsgrundsatz gerecht werdende Anwen-dung des § 18 Abs. 3 und 4 PartG muss es viel-mehr allen „bedeutenden“ politischen Parteienermöglichen, in den Genuss der grundsätzlichvorgesehenen staatlichen Mittel zu kommen, so-fern sie die Ernsthaftigkeit ihrer Wahlerfolgsbe-mühungen durch Erreichen der festgelegtenMindeststimmenanteile unter Beweis gestellt ha-ben.

Danach haben alternativ sowohl die politischenParteien mit landesweit durchschnittlich 1% der

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Wählerstimmen als auch die politischen Parteienmit mindestens 10% der Wählerstimmen in ei-nem Wahlkreis Anspruch auf Teilhabe an derstaatlichen Parteienfinanzierung im genanntenUmfang.

bb) Alternative Anwendbarkeit bundesweit

Problematisch ist dann aber, dass die politischenParteien in Baden-Württemberg jedenfalls fürdie Teilnahme an den Landtagswahlen besser ge-stellt sind, als dies nach der Regelung des § 18Abs. 3 und 4 PartG für alle anderen Wahlen vor-gesehen ist: weil die Parteien dort – anders als inden Bundesländern mit Listenwahl – zwei Mög-lichkeiten haben, Staatsgeld zu erlangen.

Im Übrigen wird den politischen Parteien näm-lich eine Wahlerfolgsprognose abgenötigt, wol-len sie an der staatlichen Parteienfinanzierungteilhaben. Eine Fehleinschätzung der regionalenVerteilung des eigenen Rückhaltes in der Bevöl-kerung geht ausschließlich zu Lasten der kleinenpolitischen Parteien, die sich bereits im Vorhin-ein entscheiden müssen, ob sie mit eigener Listezur Wahl antreten wollen und dann mindestens1% der Wählerstimmen erreichen müssen, oderaber ohne eigene Liste auf einen regional starkenRückhalt setzen. Die Entscheidung für oder ge-gen eine eigene Liste stellt nach dem Gesetzes-wortlaut die Weiche für die anzuwendende Re-gelung des § 18 Abs. 4 und Abs. 3 PartG.

Es sprechen allerdings keine verfassungsrechtli-chen Gründe dafür, den politischen Parteien dasnach § 18 Abs. 4 und Abs. 3 PartG vorgeseheneHasardspiel der Entscheidung für oder gegeneine eigene Liste überhaupt abzuverlangen. Diesist auch im bundesweiten Vergleich als gleich-heitswidriger Wettbewerbsvorteil zu sehen, undzwar insoweit, als dass die Entstehung politi-scher Parteien in Baden-Württemberg mit finan-ziellen Vorteilen verbunden ist, die ein schnelle-res „Etablieren“ und damit eine schnellere Er-weiterung des Aktionsradius ermöglichen. Im In-teresse eines zu gewährleistenden chancenglei-chen Wettbewerbs der politischen Parteien istdie Regelung des § 18 Abs. 3 und 4 PartG des-halb bundesweit so anzuwenden, dass bei derTeilnahme an jeglichen Wahlen Voraussetzung

eines Finanzierungsanspruchs alternativ das Er-reichen von durchschnittlich 1% der Wähler-stimmen oder von 10% der Wählerstimmen ineinem Wahlkreis ist.

Danach findet der zweite Halbsatz von § 18Abs. 3 Nr. 2 PartG „wenn in einem Land eineListe für diese Partei nicht zugelassen war“ ge-nerell keine Anwendung, mit der Folge, dassauch die Parteien, die Listen nach § 18 Abs. 4S. 1 PartG eingereicht und nicht durchschnittlich1% der Wählerstimmen erhalten haben, dennochnach § 18 Abs. 3 Nr. 2 PartG an der staatlichenFinanzierung teilhaben, wenn sie mindestens10% der Wählerstimmen in einem Wahlkreis er-rungen haben.

c) Das (Rest-)Problem der Listenorientierung

Diese Lesart des § 18 PartG birgt jedoch weiter-hin das Problem, dass die Parteien (außer beiLandtagswahlen in Baden-Württemberg), wollensie wahlweise nach § 18 Abs. 4 S. 1 oder S. 2PartG staatliche Mittel erhalten, jedenfalls eineListe einreichen müssen, da nur die auf die Lis-ten der Parteien abgegebenen Stimmen den Fi-nanzierungsanspruch nach § 18 Abs. 4 S. 1i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 PartG auslösen.

Dieses Problem wäre allenfalls durch eine Neu-fassung des § 18 Abs. 3 und Abs. 4 PartG zu lö-sen. Der Finanzierungsanspruch wäre von derEinreichung von Listen gänzlich abzukoppelnund generell allen politischen Parteien zuzuge-stehen, die Wählerstimmen in Höhe der genann-ten Schwellenwerte (also entweder 1% imDurchschnitt oder 10% in einem Wahlkreis) er-ringen.

V. Erforderlichkeit einer Neuregelung

Eine Neufassung insbesondere des § 18 Abs. 4S. 2 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 PartG scheint auch an-gesichts der weiteren verfassungsrechtlichen Be-denken, denen die Wahlkreisregelung begegnet,geboten. Sowohl die generelle Nichtgewährungdes Zuwendungsanteils als auch die Beschrän-kung auf den Wahlkreis als Berechnungsgrund-lage des Wählerstimmen- und gegebenenfallsdann auch Zuwendungsanteils vernachlässigt

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über Gebühr die sich aus dem Gebot der Staats-freiheit der Parteien ergebenden Grundsätze derMittelverteilung, die sich eben am Grad der Ver-wurzelung der Parteien in der Bevölkerung zuorientieren hat. Der Gesetzgeber ist aus verfas-sungsrechtlicher Sicht nicht gezwungen, an einerFinanzierung lediglich regional in einzelnenWahlkreisen erfolgreicher Parteien festzuhalten.Die einfachgesetzliche Ausgestaltung eines sol-chen Finanzierungsanspruchs ist aber jedenfallsam Maßstab der Verfassung zu messen.

Die vorgeschlagene berichtigende Auslegungdes § 18 Abs. 4 und Abs. 3 PartG in seiner der-zeit geltenden Fassung wird zumindest für dieBerechnung des Wählerstimmenanteils beiLandtagswahlen in Baden-Württemberg den ver-fassungsrechtlichen Anforderungen am ehestengerecht. Alle anderen Auslegungsvarianten be-gegnen größeren verfassungsrechtlichen Beden-ken.

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MIP 2011 17. Jhrg. Martin Gross – Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Parteiensysteme in Bund und Ländern [...] Aufsätze

Auswirkungen Großer Koalitionenauf die Parteiensysteme in Bundund Ländern zwischen 1946 und2009

Martin Gross, M.A.*

I. Einleitung

1966 erhitzte die Bildung der ersten Großen Ko-alition aus CDU/CSU und SPD auf Bundesebenedie Gemüter der interessierten Öffentlichkeit. Eswurde befürchtet, dass eine Abwanderung derWähler an die politischen Ränder (oder ins „La-ger“ der Nichtwähler) unweigerlich eine Desta-bilisierung des Parteiensystems zur Folge hätteund die gesamte parlamentarische Demokratieschwer beschädigt werden würde. 2005, bei derNeuauflage des schwarz-roten Regierungsbünd-nisses, fiel die Kritik an dieser Regierungskon-stellation zwar im Ton deutlich gemäßigter aus;dennoch wurde erneut vor einer Stärkung der po-litischen Ränder und einer damit einhergehendenzunehmenden Fragmentierung, Segmentierungund Polarisierung des Parteiensystems gewarnt.1

Trotz zahlreicher Großer Koalitionen in denBundesländern wurden die Auswirkungenschwarz-roter Koalitionen auf die einzelnen Län-derparteiensysteme kaum untersucht. EinzigHaas (2007) nimmt dies, teilweise aufbauend aufBarthel (1971), für den Zeitraum ab 1990 in denBlick und konstatiert, dass die Auswirkungenschwarz-roter Regierungsbündnisse auf die je-weiligen Länderparteiensysteme „nur in den we-nigsten Fällen als schwerwiegend bezeichne[t]“(Haas 2007: 26) werden könnten.* Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dok-

torand am Institut für Politikwissenschaft der Fried-rich-Schiller-Universität Jena. Der Aufsatz fasst dieErgebnisse einer Studie zu diesem Thema zusammen,die der Autor im September 2010 als Masterarbeit amInstitut für Politikwissenschaft an der Universität Jenaeingereicht hat.

1 Zu den Argumenten, die im Laufe der Jahre für und ge-gen die Bildung Großer Koalitionen vorgebracht wur-den, vgl. u.a. Decker (2007), Kaltefleiter (1967), Knorr(1974, 1975), März (2007), Rummel (1969), Schneider(1968, 1969).

Im vorliegenden Beitrag wird der Untersu-chungszeitraum erweitert und umfasst die Jahre1946-2009. Dies ermöglicht die Einbeziehungder schwarz-roten Landesregierungen vor 1990.Darüber hinaus kann auf diese Weise ein Ver-gleich zwischen den CDU/CSU-SPD-Regierun-gen auf Bundesebene gezogen werden.

Neben der Bestimmung der Fallzahl werden inAbschnitt II einzelne Indikatoren operationali-siert, die über die (möglichen) AuswirkungenGroßer Koalitionen auf Parteiensysteme Auf-schluss geben sollen. Abschnitt III beschreibt dieVeränderungen der einzelnen Indikatoren im di-rekten Anschluss an schwarz-rote Regierungs-bündnisse auf Basis der vom Statistischen Bun-desamt und den Statistischen Landesämtern ver-öffentlichten aggregierten Wahlergebnisse. Diein Abschnitt IV präsentierten Ergebnisse zeigen,dass die Auswirkungen Großer Koalitionen aufBundes- und Landesebene auf die Parteiensys-temeigenschaften vor allem die Entwicklungs-trends der Parteiensysteme widerspiegeln. Aller-dings lässt sich nachweisen, dass die Gleichzei-tigkeit von schwarz-roten Regierungsbündnissenauf Bundes- und Landesebene die AuswirkungenGroßer Koalitionen auf einzelne dieser Parteien-systemeigenschaften verstärkt. Eine abschließen-de Betrachtung der Ergebnisse erfolgt in Ab-schnitt V.

II. Operationalisierung

1. Anzahl der Großen Koalitionen

Der Beginn einer Großen Koalition wird auf denWahltag festgesetzt, auch wenn sich die Regie-rungsbildung noch einige Wochen hinziehenkann. Bei einer Koalitionsbildung während derLegislaturperiode wird für die Berechnung derIndikatoren diejenige Wahl betrachtet, die zuBeginn der Legislaturperiode stattfand. DasEnde der Großen Koalition ist entweder durchNeuwahlen oder durch reguläre Bundes- bzw.Landtagswahlen bestimmt. Die schwarz-rote Ko-alition kann jedoch anschließend wieder gebildetwerden und wird dann erneut gezählt. Es ist un-erheblich, ob während der Legislaturperiode einneuer Regierungschef gewählt wurde, da sich die

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Parteienzusammensetzung der Regierung da-durch nicht ändert.

Die Analyse umfasst 22 Große Koalitionen aufLandesebene (vgl. Tab. 1) und die beiden CDU/CSU-SPD-Bundesregierungen.

Tab. 1: Anzahl abgeschlossener Großer Koalitionenauf Landesebene seit 1946

Bundesland Zeitraum Partei des Re-gierungschefs

Baden-Württemberg

1966-1968

1968-1972

1992-1996

CDU

Bayern 1950-1954 CSU

(West-)Berlin

1954-1958

1958-1963SPD

1990-1995

1995-1999

1999-2001

CDU

Brandenburg1999-2004

2004-2009SPD

Bremen

1995-1999

1999-2003

2003-2007

SPD

Hessen 1946-1950 SPDMecklenburg-Vorpommern

1994-1998 CDU

Niedersachsen1965-1967

1967-1970SPD

Rheinland-Pfalz 1948-1951 CDUSachsen 2004-2009 CDUSchleswig-Holstein

2005-2009 CDU

Thüringen 1994-1999 CDU

Quelle: Eigene Darstellung.

Baden-Württemberg wird ab 1952 (nach dem Zu-sammenschluss zur heutigen Gestalt), die neuenBundesländer werden ab 1990 in die Analyse in-tegriert. Die saarländische Große Koalition (1959-1961) wurde aus der Analyse ausgeschlossen, dader für die Untersuchung relevante Wahlgang1955 noch nicht auf dem Gebiet der BRD statt-fand. Die Große Koalition in Berlin (1999-2001)verbleibt trotz eines rot-grünen Übergangssenatsin den letzten Monaten vor den Neuwahlen inder Analyse, da die Auswirkungen der Über-gangsregierung auf die Parteiensystemeigen-schaften als vernachlässigbar angesehen werden.

Die schwarz-rote Koalition in Schleswig-Hol-stein (1946-1947) wurde von der britischen Mili-tärkommandantur eingesetzt, ohne dass vorherLandtagswahlen stattfanden und wird daherebenso aus der Analyse ausgeschlossen wie dieCSU-SPD-Regierung in Bayern (1947), die wäh-rend der Legislaturperiode gebildet wurde undnoch vor deren Ende wieder auseinanderbrach.2

2. Parteiensystemeigenschaften und weitereIndikatoren

Neben den von Niedermayer (1996: 20-31) iden-tifizierten Parteiensystemeigenschaften Format,Fragmentierung, Asymmetrie, Volatilität, Polari-sierung und Segmentierung werden zusätzlichdie Veränderungen der Wahlbeteiligung und dieGewinne bzw. Verluste der Regierungs-, Oppo-sitions- und außerparlamentarischen Parteien imAnschluss an Große Koalitionen untersucht. Aufdas Merkmal der Legitimität wird in dieser Stu-die verzichtet (ebenso Niedermayer 2007;Schniewind 2008). Zwar lässt sich dieser Indika-tor grundsätzlich als „das Ausmaß der Unterstüt-zung durch die Bevölkerung in Form einer Be-wertung der Gesamtheit der existierenden Partei-en“ (Niedermayer 1996: 29) anhand von Befra-gungen messen, allerdings liegen für länger zu-rückliegende Landtagswahlen keine Daten vor.Ein systematischer Vergleich zwischen allenGroßen Koalitionen auf Landesebene kann dahernicht geleistet werden.

a) Format

Das Format eines Parteiensystems bestimmt sichdurch die Anzahl seiner Parteien. Eine Eingren-zung der Parteienanzahl nach „Relevanz“ derParteien (Sartori 1976) oder durch eine willkürli-che Festlegung auf einen Schwellenwert (Ro-berts 1990; Ware 1996) ist nicht hilfreich. Allean den Wahlen teilnehmenden Parteien solltenbetrachtet werden (Niedermayer 1996: 22). Fürdie Analyse wird der Schwellenwert von 1 %verwendet, da die Parteien bei Landtagswahlen

2 Im Gegensatz zu Schüttemeyer (1990: 470) wird dieLandesregierung in Nordrhein-Westfalen (1946-1950)nach dem Ausscheiden der KPD-Minister nicht alsGroße Koalition eingestuft, da ein Zentrums-Politikerweiterhin dem Kabinett angehörte.

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ab diesem Zweitstimmenanteil einen Anspruchauf staatliche Mittel haben (§ 18 Abs. 4 PartG)und ihnen durch diese Regelung „vom Gesetzge-ber politische Relevanz zugesprochen [wird]“(Schniewind 2008: 67). CDU und CSU werdenauf Bundesebene als eine einzige Partei betrach-tet, da sie bei Bundestagswahlen nicht gegenein-ander antreten und im Bundestag eine gemeinsa-me Fraktion bilden. Der Stimmenrest der kleins-ten Parteien wird von den Statistischen Ämternhäufig unter „Sonstige“ zusammengefasst undwird als eine Partei behandelt.

Zusätzlich wird das parlamentarische Formatüber die Anzahl der im Parlament vertretenenParteien berechnet, um zu vergleichen, ob dieAuswirkungen Großer Koalitionen eher Einflussauf das gesamte Parteiensystem oder eher auf dieAnzahl der Parlamentsparteien haben.

b) Fragmentierung

Zur Bestimmung des Fragmentierungsgrades desParteiensystems wird der Index der effektivenParteienzahl (EPZ) verwendet (Laakso/Taagepe-ra 1979):

EPZ= 1si2

Die Zweitstimmenanteile der Parteien (si) wer-den quadriert und anschließend aufsummiert.Die Parteien werden somit nach ihrem Wahler-folg gewichtet, um die verschiedenen Größen-verhältnisse zwischen den Parteien zu verdeutli-chen. Der Wertebereich der EPZ beginnt bei 1,wenn es sich um ein Einparteiensystem handelt.Der theoretisch höchste Wert ist 100, wenn ein-hundert Parteien jeweils exakt 1 % der Zweit-stimmen erringen würden. Der Wählerstimmen-anteil der „Sonstigen“ wurde nicht von den Sta-tistischen Ämtern übernommen, sondern neu be-rechnet: Die Zweitstimmenanteile aller Parteien,die mindestens 1 % der Wählerstimmen gewin-nen konnten, wurden zunächst addiert. Anschlie-ßend wurde dieser Wert von 100 subtrahiert.

c) Asymmetrie

Die Asymmetrie eines Parteiensystems berück-sichtigt generell die Relation zwischen den bei-den stärksten Parteien. Bei Untersuchungen des

deutschen Parteiensystems wird die Asymmetriezwischen CDU bzw. CSU und SPD berechnet,da es sich (meistens) um die beiden stärkstenParteien handelt, die sich in Regierung und Op-position gegenüber stehen.3 Im Falle einerGroßen Koalition sind jedoch beide Parteien inder Regierung vertreten. Die Asymmetrie desParteiensystems misst folglich eher die Asym-metrie zwischen den Regierungsparteien. Da bei-de Indikatoren miteinander zusammenhängen,wird auf die Ausgabe der Asymmetrie des Par-teiensystems verzichtet, denn die Berechnungder Asymmetrie der Regierungsparteien gibt zu-sätzlich darüber Aufschluss, welche der beidenParteien am ehesten von einer Großen Koalitionprofitiert: die Partei, die den Regierungschefstellt, oder der „Juniorpartner“. Die Asymmetrieder Regierungsparteien (ASYRP) wird wie folgtberechnet:

ASYRP = % SRP1- % SRP2

Der prozentuale Zweitstimmenanteil der kleine-ren Regierungspartei (RP2) wird vom prozentua-len Zweitstimmenanteil der Partei des Regie-rungschefs (RP1) subtrahiert.

d) Volatilität

Während die ersten drei Indikatoren den Zustandeines Parteiensystems zu einem bestimmtenZeitpunkt messen, erfasst die Volatilität (VOL)die Veränderung der Größenrelationen zwischenden Parteien von Wahl zu Wahl und wird mithil-fe des Pedersen-Index (1979) berechnet:

VOL= /% Sit- % Sit-1/2

Für jede einzelne Partei werden die prozentualenWahlergebnisse von zwei aufeinanderfolgendenWahlen miteinander verglichen. Vom Zweit-stimmenanteil zum Zeitpunkt t wird der Zweit-stimmenanteil bei der vorherigen Wahl zumZeitpunkt t-1 subtrahiert. Von diesem Ergebniswird der Betrag genommen und über alle Partei-en hinweg aufsummiert. „Sonstige“ werden wie-3 Auch wenn DIE LINKE in einigen ostdeutschen Bun-

desländern inzwischen zweitstärkste Kraft ist, wird dieAsymmetrie ausschließlich zwischen CDU und SPDberechnet, um die Vergleichbarkeit zwischen den Bun-desländern zu gewährleisten (Völkl 2009: 102).

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derum als eine Partei behandelt. Der ermittelteWert wird halbiert, da Stimmengewinne einerPartei nicht gleichzeitig auch als Stimmenverlus-te einer anderen Partei gezählt werden dürfen(Niedermayer 1996: 25).

e) Stärkung der politischen Ränder (Polari-sierung)

Der Polarisierungsgrad eines Parteiensystemsidentifiziert die ideologische Distanz zwischenden Parteien. Da allerdings der deutsche Partei-enwettbewerb sowohl von einer gesellschafts-als auch von einer wirtschaftspolitischen Dimen-sion maßgeblich strukturiert wird (Debus 2008),kann eine Einordnung aller für die Untersuchungrelevanter Parteien nicht mittels einer eindimen-sionalen sozio-ökonomischen Links-Rechts-Ska-la erfolgen. Allerdings liegen bei einer ganzenReihe kleinerer Parteien für beide Politikdimen-sionen keine Daten für den gesamten Untersu-chungszeitraum vor.4

Der Polarisierung wird sich deshalb dadurch an-genähert, dass der „Stimmenanteil der linkenund rechten Polparteien“ (Niedermayer 2000b:217) gemessen wird. Den äußeren politischenRand bilden links- und rechtsextremistische Par-teien. Unter extremistischen Parteien werdensolche Gruppierungen verstanden, die als sys-temoppositionelle Parteien bezeichnet werdenkönnen. Diese lehnen die freiheitliche demokra-tische Grundordnung ab und streben danach,„elementare Verfassungsgrundsätze zu beseiti-gen oder außer Geltung zu bringen“ (Nieder-mayer 2000a: 109).

Für die Analyse bilden die Deutsche Reichspar-tei (DRP), DVU, NPD und die Republikaner(REP) den rechten äußeren Rand des Parteien-systems5, während sich auf der linken Seite DIELINKE, KPD und SED wiederfinden.6 An dieserStelle soll keine breite Diskussion darüber ge-führt werden, ob DIE LINKE generell, teilweiseoder überhaupt nicht als extremistisch bzw. sys-4 Dies gilt auch für die Möglichkeit, die Polarisierung

über die Selbsteinstufung der Parteianhänger zu be-stimmen.

5 Die Schill-Partei wird in dieser Studie, im Unterschiedzu Haas (2007), als rechtspopulistische und nicht alsrechtsextremistische Partei angesehen (Decker 2002).

temoppositionell einzustufen ist. Deshalb wirddie Polarisierung zweimal berechnet: einmal mitder Linkspartei als systemoppositionelle Partei(POL 1) und einmal ohne die Linkspartei (POL2).

f) Segmentierung

Die Segmentierung (SEG) eines Parteiensystemswird über die Koalitionsfähigkeit zwischen denParteien operationalisiert, d.h. ob diese prinzipi-ell miteinander koalitionsfähig sind oder ob be-stimmte Koalitionen von vorneherein ausge-schlossen werden:

SEG=1- KpKt

Der Segmentierungsgrad ist „der von 1 subtra-hierte Anteil der politisch möglichen an dentheoretisch möglichen Koalitionen in einem Par-teiensystem“ (Niedermayer 1996: 28). Je höherder Segmentierungsgrad ist, desto mehr grenzensich die einzelnen Parteien voneinander ab. Beieinem Wert von 0 kann jede Partei mit jeder an-deren Partei koalieren. Für die Analyse wurdenzur Bestimmung der theoretisch möglichen Ko-alitionen nur diejenigen Regierungskonstellatio-nen betrachtet, die auch rechnerisch möglichwaren, d.h. über eine parlamentarische Mehrheitverfügten. Der Indikator misst damit zum einendie Auswirkungen von Großen Koalitionen aufdie parlamentarische Segmentierung und nichtdie Folgen für die Segmentierung des gesamtenParteiensystems. Zum anderen werden tolerierteMinderheitsregierungen nicht als theoretischmögliche Koalitionsoptionen angesehen. Verfügteine einzelne Partei über die absolute Mehrheitder Parlamentsmandate, so wird dies nicht alsrechnerisch mögliche „Koalition“ gewertet undder Fall aus der Analyse ausgeschlossen.

Da ex post keine Einschätzung darüber erfolgenkann, wer mit wem hätte koalieren können, wirdsich der Segmentierung dadurch angenähert,dass bei den rechnerisch möglichen Koalitionenall diejenigen Regierungskonstellationen ausge-

6 Weitere extremistische Parteien des äußersten linkenRandes, beispielsweise DKP und MLPD, erreichten beiden untersuchten Wahlen weniger als 1 % der Zweitstim-men und werden deshalb nicht gesondert betrachtet.

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schlossen werden, die nicht-koalitionsfähige Par-teien enthalten. Nicht-koalitionsfähige Parteiensind Gruppierungen, bei denen alle anderen imParlament vertretenen Parteien ein Regierungs-bündnis mit ihnen ausschließen.

Für die beiden Fälle auf Bundesebene gilt: 1966-1969 waren CDU/CSU, SPD und FDP miteinan-der koalitionsfähig; 2005-2009 wurde DIE LIN-KE als nicht-koalitionsfähige Partei angesehen(Jun 2007: 507). Auf Landesebene werden mitAusnahme der Linkspartei alle systemoppositio-nellen Parteien grundsätzlich als nicht koaliti-onsfähig codiert.

Bündnis 90/Die Grünen und die PDS bzw. DIELINKE werden ab ihren ersten Regierungsbetei-ligungen in Hessen 1985 (Grüne) und Mecklen-burg-Vorpommern 1998 (Linkspartei) als koali-tionsfähig eingestuft.7 Da DIE LINKE bisherausschließlich in den ostdeutschen Bundeslän-dern als Koalitionspartner in Erwägung gezogenwurde und in den alten Bundesländern von allenanderen Parteien als nicht koalitionsfähig ange-sehen wird, erfolgt eine zweifache Codierung:DIE LINKE wird in den neuen Bundesländernab 1998 als koalitionsfähige Partei, in den altenBundesländern für den gesamten Untersuchungs-zeitraum als nicht-koalitionsfähige Partei einge-stuft.

g) Wahlbeteiligung

Die Veränderung der Wahlbeteiligung (dWB)des Wahlgangs zum Zeitpunkt t-1 zur Wahl zumZeitpunkt t wird folgendermaßen berechnet:

dWB=% Wbt- % WBt-1

7 Im Sinne der hier gewählten Definition von Nicht-Ko-alitionsfähigkeit, dass alle anderen Parteien eine Koali-tion mit einer Gruppierung ausschließen müssen, ist esnicht schlüssig, Grüne und Linkspartei erst ab ihrerzweiten Regierungsbeteiligung als koalitionsfähig ein-zustufen (Spier 2010: 311). Deshalb wird auch dieSchill-Partei ab ihrer Regierungsbeteiligung in Ham-burg 2001 als koalitionsfähig codiert.

h) Gewinne/Verluste der Regierungs-, Oppo-sitions- und außerparlamentarischen Partei-en

Zum einen wird berechnet, ob die beiden Regie-rungsparteien (RP) bei den Wahlen im An-schluss an Große Koalitionen an Stimmen hinzu-gewinnen können oder ob sie Verluste hinneh-men müssen (dSRP). Zum anderen werden dieweiteren Parteien bei den Bundes- und Landtags-wahlen nach der Bildung einer Großen Koalitionden Kategorien „Oppositionspartei“ (OP) und„außerparlamentarische Partei“ (AP) zugeordnet,wobei der Zweitstimmenanteil der „Sonstigen“den außerparlamentarischen Parteien zugerech-net wird.8 Durch diese Zuweisung kann aufge-schlüsselt werden, ob bei den Wahlen eher dierestlichen Parlamentsparteien von Großen Koali-tionen profitieren bzw. an Stimmen verlieren(dSOP), oder eher die Parteien, die nicht im Parla-ment vertreten sind (dSAP):

dSRP=(% Sit- % Sit-1)

dSOP=(% Sit- % Sit-1)

dSAP=(% Sit- % Sit-1)

Vom Zweitstimmenanteil zum Zeitpunkt t wirdder Zweitstimmenanteil bei der vorherigen Wahlzum Zeitpunkt t-1 subtrahiert. Das jeweilige Er-gebnis wird über alle Parteien hinweg aufsum-miert.

Bei der Berechnung sind zwei wichtige Punktezu beachten: Erstens können einzelne Parteieninnerhalb eines Bundeslandes von Wahl zu Wahlzwischen den beiden Kategorien „wandern“.Beispielsweise ist die NPD bei der baden-würt-tembergischen Landtagswahl 1968 eine außer-parlamentarische Partei. Ihr Zweitstimmenanteilwird mit dem Zweitstimmenanteil aus dem Jahr1964 verglichen und zur Kalkulation von dSAP

verwendet. Durch ihren Einzug in den Landtag1968 gelten die Rechtsextremen jedoch bei derLandtagswahl 1972 als Oppositionspartei. Der

8 Eine Unterscheidung in Klein- und Kleinstparteien(Haas 2007: 24, FN 14) ist für den Untersuchungszeit-raum 1946-2009 nicht sinnvoll, da in der Anfangspha-se der BRD einzelne Parteien von Wahl zu Wahl zwi-schen den Kategorien „wandern“ würden.

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Zweitstimmenanteil von 1968 wird diesmal zurBerechnung von dSOP herangezogen.9 Zweitenswerden zur Einordnung der Parteien immer dieWahlen nach der Bildung einer Großen Koaliti-on herangezogen (Zeitpunkt t). Um dSOP berech-nen zu können, müssen jedoch auch die Stim-menanteile der „Oppositionsparteien“ bei denWahlen berechnet werden, die zur Bildung desschwarz-roten Regierungsbündnisses führten(Zeitpunkt t-1). Zum Zeitpunkt t-1 gelten dem-nach nicht die tatsächlichen Oppositionsparteienals „Oppositionsparteien“, sondern die Oppositi-onsparteien des Zeitpunkts t.10 Beispielsweisewird in Baden-Württemberg der Zweitstimmen-anteil der FDP, damalige Regierungspartei in ei-ner schwarz-gelben Koalition, bei der Landtags-wahl 1964 zur Berechnung von dSOP herangezo-gen, da die Liberalen nach der Bildung derGroßen Koalition 1966 bei den Landtagswahlen1968 als Oppositionspartei gelten.

III. Hypothesen

Aufgrund der Vielzahl an möglichen intervenie-renden Variablen können keine kausalen Zusam-menhänge zwischen Großen Koalitionen undden einzelnen Indikatoren postuliert werden.11

Allerdings ist es möglich, im Anschluss anschwarz-rote Regierungsbündnisse etwaige Mus-ter bei den Indikatorenveränderungen zu identifi-zieren.

Wegen des ungewohnten Kompromisszwangs ineiner gemeinsamen Regierung bewegen sichCDU und SPD eher Richtung politische Mitte(Haas 2007: 20), wodurch insbesondere die

9 Parteien „wandern“ zwischen den Kategorien nur inden Bundesländern, in denen Große Koalitionen mehr-mals hintereinander gebildet wurden.

10 Bei den Wahlen, die zur Bildung der Großen Koalitionführten (Zeitpunkt t-1), befindet sich immer eine derbeiden großen Parteien in der Opposition. Der Zweit-stimmenanteil von CDU/CSU und SPD wird jedochbereits bei der Berechnung von dSRP verwendet.

11 Auch eine Analyse darüber, ob bei einzelnen Landtags-wahlen eher Bundes- oder Landesthemen eine Rollespielten, erfolgt nicht. Diejenigen Wahlgänge, dienachweislich einem besonders starken Bundeseinflussunterlagen (z.B. gleicher Wahltag von Landtags- undBundestagswahl) wurden gegebenenfalls von der Ana-lyse ausgeschlossen.

christ- und sozialdemokratischen Sympathisan-ten in der Wählerschaft, die links und rechts derpolitischen Mitte stehen, sich nicht mehr ausrei-chend von ihren Parteien vertreten fühlen undsich bei der folgenden Wahl von Union und SPDabwenden könnten; dies gilt generell für alle mitder Regierung unzufriedenen Wählern. Diesekönnten einerseits ihre Stimme vermehrt denOppositions- (H1), aber auch den außerparla-mentarischen Parteien (H2) geben, andererseitskönnten sie ihrer Unzufriedenheit dadurch Aus-druck verleihen, dass sie der Wahl fernbleiben(H3). All dies würde wiederum dazu führen,dass die beiden Regierungsparteien an Stimmenverlieren (H4). Da allerdings beide großen Par-teien bei den Wahlen nach der gemeinsamen Re-gierungsbildung nicht aus derselben Position inden Wahlkampf ziehen, ist zu vermuten, dassdiejenige Partei, die den Regierungschef stellt,aufgrund des Amtsbonus bei den Wahlen besserabschneiden könnte als der „Juniorpartner“ (H5).

Auf die gestiegene Nachfrage der Wähler nacheiner größeren Auswahl an Wahlalternativenkönnten kleinere Parteien reagieren und ver-mehrt zu den Wahlen antreten (H6). Entscheidensich die unzufriedenen Wähler in größeremMaße als zuvor für außerparlamentarische Par-teien, so erhöht dies die Chancen dieser Grup-pierungen auf den Parlamentseinzug und dasparlamentarische Format würde ansteigen (H7).Durch Stimmengewinne der Oppositions- undaußerparlamentarischen Parteien würde sich dasParteiensystem fragmentierter (H8) und, nach ei-ner Hinwendung der Wähler zu Parteien an denpolitischen Rändern, polarisierter darstellen(H9). All dies würde die Volatilität des Parteien-systems erhöhen (H10).

Große Koalitionen werden häufig gebildet, weilandere politische „Wunschkoalitionen“ nach derWahl rechnerisch nicht möglich waren und/oderweitere Koalitionsoptionen bereits vor der Wahlexplizit ausgeschlossen wurden. Deshalb könnteeinerseits die Segmentierung im Anschluss aneine Große Koalition sinken, da sich die Parteienaufgeschlossener gegenüber anderen Koalitions-alternativen zeigen würden, um eine Neuauflageeiner schwarz-roten Regierung zu verhindern(H11a). Sollten die Wähler allerdings vermehrt

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systemoppositionelle Parteien in die Parlamentewählen, so würden sich andererseits die mögli-chen Koalitionsalternativen zwischen den Partei-en reduzieren und die Segmentierung würde an-steigen (H11b).

IV. Ergebnisse

1. Landesebene

Die Richtung der Veränderungen von (parlamen-tarischem) Format und Fragmentierung ist nichteindeutig (vgl. Tab. 2). Erst der Blick auf diedurchschnittlichen Indikatorenveränderungen(vgl. Tab. 3) liefert ein differenziertes Bild:Während sich beim parlamentarischen Format(weitestgehend) einheitliche Ergebnisse zeigen,steigen das Format und die Fragmentierung seit1990 an, da nicht nur DIE LINKE, sondern auchweitere kleine Parteien (Freie Wähler, Familien-,Piratenpartei) nennenswert an Zweitstimmen zu-legen konnten. Damit gelten H6 und H8 für denZeitraum seit 1990 als bestätigt, während überH7 keine eindeutige Aussage getroffen werdenkann.

Tab. 2: Veränderungen der einzelnen Indikatorennach Großen Koalitionen (GK) auf Landesebene zwi-schen 1946 und 2009 (22 Fälle)

+ 0 -Format 8 6 8parl. Format 7 9 6EPZ 11 - 11ASYRP 14 - 8VOLa 8 - 11POL 1 12 - 10POL 2 8 - 14SEGb 8 4 4dWBc 9 - 9dSRP 9 - 13dSOP 13 - 9dSAP 13 - 9

Quelle: Eigene Berechnungen. Zur Bedeutung der Akro-nyme siehe Abschnitt II.2.a 19 Fälle. Die beiden GK in Hessen (1946-1950) undRheinland-Pfalz (1948-1951) wurden aus der Analyse ent-fernt, da die Wahlgänge 1946 (Hessen) und 1947 (Rhein-land-Pfalz) die jeweils ersten Landtagswahlen nachKriegsende waren. Eine Berechnung der Volatilität ist fürdiese Wahlen nicht möglich, da keine vorherige Wahl alsVergleich zur Verfügung steht. Die bayerische GK (1950-1954) wurde aus der Analyse entfernt, da der starke Rück-gang der Volatilität um 23,30 Prozentpunkte durch den ho-

hen Ausgangswert der Landtagswahl 1950 und nicht durchdie GK bedingt war.b 16 Fälle. Die GK in Baden-Württemberg (1968-1972),Hessen (1946-1950), Niedersachsen (1967-1970), Thürin-gen (1994-1999) und (West-)Berlin (1954-1958; 1958-1963) wurden aus der Analyse entfernt, da eine der beidengroßen Parteien bei einer der beiden Wahlgänge die abso-lute Mehrheit erringen konnte.c 18 Fälle. Alle Fälle, bei denen einer der Wahlgänge amTag der Bundestagswahl stattfand, wurden aus der Analyseentfernt (Berlin 1990-1995; Brandenburg 2004-2009;Schleswig-Holstein 2005-2009; Thüringen 1994-1999).Mecklenburg-Vorpommern (1994-1998) verblieb in derAnalyse, da beide Wahlgänge zeitgleich mit den Bundes-tagswahlen abgehalten wurden.

Tab. 3: Durchschnittliche Veränderungen der einzel-nen Indikatoren nach Großen Koalitionen (GK) aufLandesebene (22 Fälle)

gesamtvor1990

seit1990

GKB/La

Format 0,05 -0,44 0,38parl. Format 0,05 1,00EPZb 0,05 -0,29 0,17 0,27ASYRP 3,02 3,92 1,59VOLc -0,57POL 1 0,65 -1,10 1,86 2,80POL 2 -0,79 1,48SEGd 0,09 0,24dWBe -0,66 0,03 -1,34 -2,13dSRP -1,83 -6,44dSOP 1,14 -1,33 2,85 2,95dSAP 0,69 -1,34 2,10 3,48

Quelle: Eigene Berechnungen. In den Spalten 3-5 sind nurdiejenigen Werte aufgeführt, die sich deutlich von derdurchschnittlichen Veränderung der einzelnen Indikatorenim gesamten Untersuchungszeitraum unterscheiden. DieVeränderungen von (parlamentarischem) Format, EPZ undSEG werden in Einheiten angegeben, die Veränderungenbei den weiteren Indikatoren in Prozentpunkten. Zur Be-deutung der Akronyme siehe Abschnitt II.2.a Gleichzeitigkeit von Großen Koalitionen auf Bundes-und Landesebene.b 21 Fälle. Die schleswig-holsteinische Landtagswahl 2009stellt einen statistischen Ausreißer dar (Anstieg der EPZum 1,69 Einheiten) und wurde aus der Analyse entfernt.c Vgl. Tabelle 2, Anmerkung a.d Vgl. Tabelle 2, Anmerkung b.e Vgl. Tabelle 2, Anmerkung c.

Eine sinkende Wahlbeteiligung nach GroßenKoalitionen auf Landesebene (H3) kann nichteindeutig konstatiert werden. In der Hälfte derFälle steigt die Wahlbeteiligung sogar an.

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Die Volatilität sinkt in der Mehrzahl der Fälle(H10 falsifiziert). Ein Grund hierfür ist, dass dieVolatilität bereits bei den Wahlen, die zur Bil-dung einer Großen Koalition führten, ein hohesNiveau erreicht hatte. Dies ist plausibel, da häu-fig gerade diese großen StimmenverschiebungenCDU und SPD dazu zwangen, eine gemeinsameRegierung zu bilden, insbesondere vor dem Hin-tergrund, dass wegen der hohen Volatilität oft-mals Parteien der Einzug ins Parlament gelungenwar, die als nicht koalitionsfähig angesehen wur-den.

Zwar sinkt der aggregierte Zweitstimmenanteilvon CDU und SPD bei 13 von 22 Landtagswah-len und durchschnittlich um 1,83 Prozentpunkte;allerdings verlieren nur in 7 von 22 Fällen beideRegierungsparteien an Stimmen (H4 falsifiziert).In der Mehrzahl der Fälle gewinnt eine der bei-den Regierungsparteien an Stimmen hinzu, kannjedoch nicht die Stimmenverluste des Regie-rungspartners kompensieren (vgl. auch Haas2007: 23).

Die Asymmetrie zwischen den Regierungspartei-en steigt auf Landesebene in 14 von 22 Fällenan. Diejenige Partei, die den Regierungschefstellt, profitiert in höherem Maße von einerGroßen Koalition als der „Juniorpartner“ (H5bestätigt). Ein Effekt, der eher den Sozial- alsden Christdemokraten zugutezukommen scheint:Stellt die SPD den Regierungschef, so gewinntsie im Mittel 1,57 Prozentpunkte an Zweitstim-men gegenüber den vorherigen Landtagswahlenhinzu (CDU bzw. CSU: 0,25 Prozentpunkte12).

Seit 1990 können sowohl die Oppositions- alsauch die außerparlamentarischen Parteien ihreZweitstimmenanteile im Anschluss an GroßeKoalitionen steigern (H1 und H2 bestätigt). Dasdurch die Stimmenverluste der beiden Regie-rungsparteien freigewordene Wählerpotenzialwird jedoch eher von den Oppositions- als vonden außerparlamentarischen Parteien aufgenom-men (vgl. Tab. 4).

12 Ohne die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2001,bei der die CDU 17 Prozentpunkte an Zweitstimmenverlor.

Tab. 4: Produktmomentkorrelationen zwischen denVeränderungen einzelner Indikatoren nach GroßenKoalitionen auf Landesebenea

EPZ POL 1 POL 2 SEG dSRP

EPZ -0,92POL 1 0,86 0,62POL 2 0,86 0,70SEG 0,62 0,70dSRP -0,92dSOP 0,80 -0,88dSAP 0,75 -0,79

Quelle: Eigene Berechnungen. Zur Bedeutung der Akro-nyme siehe Abschnitt II.2.a Der Pearson’sche Produktmomentkorrelationskoeffizientist ein Zusammenhangsmaß für intervallskalierte und nor-malverteilte Variablen. Es werden ausschließlich Korrela-tionen betrachtet, bei denen Pearson’s r größer als (+/-)0,6 ist, da bei Aggregatdatenanalysen erst ab dieser Grö-ßenordnung aussagekräftige Korrelationskoeffizienten er-reicht werden (Lauth et al. 2009: 101). Auf die Ausgabeder Signifikanzniveaus wird verzichtet, da es sich bei derAnzahl der Großen Koalitionen um eine Vollerhebunghandelt.

Die Analyse zeigt allerdings auch, dass nicht alleOppositionsparteien an Zweitstimmen zulegenkonnten, wenn mehrere von ihnen im Parlamentvertreten waren: In der Mehrzahl der Fälle profi-tierte nur eine der Oppositionsparteien von derGroßen Koalition. Für den Zweitstimmenanstiegder außerparlamentarischen Parteien sind weni-ger die Stimmengewinne rechtsextremistischerParteien ursächlich, sondern vor allem die größe-ren Stimmenzuwächse weiterer kleinerer Partei-en.

Die Polarisierung nimmt ab, wenn DIE LINKEnicht als extremistische bzw. systemoppositio-nelle Partei angesehen wird (POL 2).13 Im Um-kehrschluss bedeutet dies, dass die rechtextre-mistischen Parteien trotz der vereinzelten Erfol-ge von DVU, NPD und REP über den gesamtenUntersuchungszeitraum hinweg betrachtet anStimmen verlieren. Dies konnte von Haas (2007:23f.) aufgrund des kürzeren Untersuchungszeit-raumes nicht gezeigt werden. Im gesamten Un-tersuchungszeitraum wird vor allem der linkeRand des Parteiensystems gestärkt (H9 für POL1 bestätigt). Für die Zeit nach der Wiedervereini-

13 Der linke Rand des politischen Spektrums blieb beidieser Berechnung seit 1963 leer.

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gung hängt dies vor allem mit den zunehmendenStimmenzuwächsen der Linkspartei zusammen.

Segmentierungsgrad und Polarisierung korrelie-ren stark miteinander, denn „Segmentierungser-scheinungen“ zeigen sich „am häufigsten gegen-über Parteien an den beiden Polen des ideologi-schen Spektrums“ (Niedermayer 2000b: 224).Infolge Großer Koalitionen können als nicht-ko-alitionsfähig erachtete Parteien in die Landespar-lamente einziehen bzw. ihren Zweitstimmenan-teil steigern, wenn sie bereits im Parlament ver-treten waren. Beides schränkt den Handlungs-spielraum der anderen parlamentarischen Partei-en bei der Koalitionsbildung deutlich ein, wo-durch die Segmentierung ansteigt (H11b bestä-tigt). Die Existenz Großer Koalitionen trägt folg-lich nicht dazu bei, die prinzipielle Koalitionsfä-higkeit zwischen den einzelnen Parteien zu erhö-hen (H11a falsifiziert).

2. Bundesebene

Die Erkenntnisse für die Auswirkungen der bei-den Großen Koalitionen auf gesamtstaatlicherEbene auf das Bundesparteiensystem lassen sichin die jeweiligen Trends auf Landesebene einbet-ten. Die erste Große Koalition (1966-1969) hatteein sinkendes Format und eine geringere Frag-mentierung des Parteiensystems zur Folge. Dar-über hinaus sanken Asymmetrie und Volatilitätleicht ab, die Wahlbeteiligung ging marginal zu-rück (vgl. Tab. 5).

Tab. 5: Veränderungen der einzelnen Indikatorennach Großen Koalitionen (GK) auf Bundesebene

1. GK 2. GKFormat -1 1parl. Format 0 0EPZ -0,06 0,87ASYRP -4,90 9,80VOL -0,80 4,00POL 1 2,30 3,10POL 2 2,30 -0,10SEG 0 0dWB -0,10 -6,90dSRP 1,90 -12,60dSOP -3,70 10,60dSAP 1,80 2

Quelle: Eigene Berechnungen. Die Veränderungen von(parlamentarischem) Format, EPZ und SEG werden inEinheiten angegeben, die Veränderungen bei den weiteren

Indikatoren in Prozentpunkten. Zur Bedeutung der Akro-nyme siehe Abschnitt II.2.

Der aggregierte Zweitstimmenanteil der beidenRegierungsparteien stieg an, während die einzigeOppositionspartei, die FDP, Stimmenverlustehinnehmen musste. Wie bei der zweiten GroßenKoalition (2005-2009) zogen keine weiteren Par-teien in den Bundestag ein, obwohl die außerpar-lamentarischen Parteien an Stimmen zulegenkonnten. Die Segmentierung blieb nach beidenschwarz-roten Bundesregierungen unverändert.Im Unterschied zu 1969 ging 2009 der gemein-same Zweitstimmenanteil von CDU/CSU undSPD deutlich zurück, da die Sozialdemokratenstark an Stimmen einbüßten. Dadurch stieg auchdie Asymmetrie zwischen den beiden Regie-rungsparteien beachtlich an. Insbesondere dieOppositions-, aber auch die außerparlamentari-schen Parteien, profitierten 2009 von der Schwä-che der beiden großen Parteien. Konsequenter-weise erhöhten sich auch Fragmentierung undVolatilität, während die Wahlbeteiligung deut-lich zurückging. 1969 war das Parteiensystemnach der Bundestagswahl polarisierter, da dieNPD Stimmenzuwächse verzeichnen konnte.Die Einschätzung des Polarisierungsgrades desParteiensystems nach der Bundestagswahl 2009hängt von der Betrachtungsweise der Linksparteiab: Würde sie als systemoppositionell angesehenwerden, so wäre das Bundesparteiensystem deut-lich polarisierter als nach der Bundestagswahl2005. Die Rechtsextremen verloren hingegenvon einem niedrigen Ausgangsniveau noch wei-ter an Zweitstimmen.

3. Gleichzeitigkeit von Großen Koalitionenauf Bundes- und Landesebene

Haas (2007: 26) schlussfolgert bei ihrer Untersu-chung für den Zeitraum 1990-2007, dass GroßeKoalitionen auf Bundesebene größere Auswir-kungen auf das Bundesparteiensystem und dieLänderparteiensysteme haben als schwarz-roteRegierungsbündnisse in den Ländern auf das je-weilige Landesparteiensystem. Deshalb wurdenin der Analyse die einzelnen Fälle auf Landes-ebene dahingehend untersucht, ob eine gleichzei-tig amtierende Große Koalition auf Bundesebeneeinen verstärkenden Einfluss auf die Auswirkun-

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gen schwarz-roter Regierungsbündnisse für dieeinzelnen Parteiensystemeigenschaften auf Län-derebene hat.

Dieser Einfluss lässt sich bei beinahe allen Indi-katoren zeigen (vgl. Tab. 3). Das parlamentari-sche Format erhöht sich durchschnittlich umeine ganze Partei und einem größeren Anteilnicht-koalitionsfähiger Parteien gelingt der Ein-zug in die Parlamente, sodass sich die Parteien-systeme in beträchtlichem Maße polarisieren undknapp ein Viertel an theoretischen Koalitions-möglichkeiten mit extremistischen Parteien hin-zukommt, welche die restlichen Parteien poli-tisch aber nicht realisieren möchten.

Generell gilt, dass die Regierungsparteien aufBundesebene bei den folgenden Landtagswahlenfast immer an Stimmen verlieren, während dieOpposition zulegen kann (Burkhart 2007: 196).Dies ist auch bei der Gleichzeitigkeit vonGroßen Koalitionen in Bund und Land der Fall.Die beiden Regierungsparteien müssen deutlichgrößere Verluste hinnehmen als bei Landtags-wahlen, bei denen eine andere Bundesregierungamtiert. Die Oppositions- und außerparlamenta-rischen Parteien gewinnen bei Landtagswahlenim Anschluss an Große Koalitionen in höheremMaße an Zweitstimmen hinzu, wenn gleichzeitigim Bund eine CDU/CSU-SPD-Koalition regiert.Dies gilt insbesondere für DIE LINKE, da auchPOL 1 bei einer Gleichzeitigkeit von GroßenKoalitionen in Bund und Land in höherem Maßeansteigt. Allerdings ist der Aufschwung derLinkspartei eher mit der Unzufriedenheit vielerehemaliger SPD-Wähler zu erklären und weni-ger mit den Auswirkungen Großer Koalitionen.

Die Wahlbeteiligung sinkt scheinbar vermehrtbei einer Gleichzeitigkeit von Großen Koalitio-nen in Bund und Land. Dieser Befund lässt sichjedoch nicht aufrechterhalten, wenn die anderenLandtagswahlen analysiert werden, die währendder beiden Legislaturperioden Großer Koalitio-nen im Bund abgehalten wurden: Die Wahlbetei-ligung sinkt bei diesen 14 Landtagswahlendurchschnittlich um 2,74 Prozentpunkte.14 Eine14 Der Fall Mecklenburg-Vorpommern (2002-2006) wur-

de aus der Analyse entfernt, um möglichen Verzerrun-gen vorzubeugen, da die Landtagswahl 2002 gleichzei-tig mit der Bundestagswahl stattfand.

eindeutige Aussage, ob die gleichzeitige Exis-tenz Großer Koalitionen im Bund und im jewei-ligen Bundesland die Landtagswähler vermehrtvom Wahlgang abhält, kann deshalb nicht ge-troffen werden.

V. Schlussbetrachtung

Eine drastische Veränderung oder gar Destabili-sierung des Parteiensystems, gleich ob auf Bun-des- oder auf Landesebene, ist von Großen Ko-alitionen nicht zu erwarten. Ob sich ihre Auswir-kungen auf die Parteiensysteme in Bund undLändern signifikant von den Auswirkungen an-derer Regierungen auf die jeweiligen Parteien-systemeigenschaften unterscheidet, bedarf einerAnalyse aller bisherigen Bundes- und Landesre-gierungen.

Der vorliegende Beitrag zeigt jedoch, dass dieAuswirkungen Großer Koalitionen auf Bundes-und Landesebene zwischen 1946 und 2009 aufeinzelne Parteiensystemeigenschaften vor allemdie allgemeinen Entwicklungstrends der Partei-ensysteme widerspiegeln. Die Ansicht von See-mann und Bukow (2010: 34, 36) für die Bundes-ebene gilt auch für die Landesebene: Eher zwin-gen Veränderungen in den Parteiensystemen diepolitischen Akteure zur Bildung Großer Koali-tionen als dass schwarz-rote Regierungsbündnis-se die Parteiensysteme nachhaltig verändern.

Dennoch konnte gezeigt werden, dass sich dieAuswirkungen schwarz-roter Landesregierungenauf einzelne Parteiensystemeigenschaften ver-stärken, wenn gleichzeitig im Bund eine GroßeKoalition regiert. Eine Untersuchung aller Land-tagswahlen, die während kongruenter Bundes-und Landesregierungen abgehalten wurden,könnte Aufschluss darüber geben, ob diese Er-gebnisse nur im (außergewöhnlichen) Falle einerGleichzeitigkeit von Großen Koalitionen inBund und Land gelten oder ob sich dahinter be-stimmte Muster verbergen, nach denen die Land-tagswähler ihre Wahlentscheidung treffen.

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MIP 2011 17. Jhrg. Martin Gross – Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Parteiensysteme in Bund und Ländern [...] Aufsätze

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MIP 2011 17. Jhrg. Stephan Klecha – Minderheitsregierungen und Wahlerfolge Aufsätze

Minderheitsregierungen und Wahlerfolge

Dr. Stephan Klecha*

Minderheitsregierungen gelten als Wagnisse imbundesdeutschen Regierungssystem. In dessenmehrheitsfixierter parlamentarischer Demokratiesind sie bislang jedenfalls selten anzutreffen.Ganze 23 Minderheitsregierungen hat es aufBundes- oder Landesebene gegeben, damit sindweniger als ein Zehntel aller Regierungen inDeutschland diesem Format zuzurechnen.

Sieben Minderheitsregierungen existierten zu-dem nur als amtierende geschäftsführende Re-gierungen, die bloß im Amt verblieben, weil sichnach regulären Landtagswahlen keine neue par-lamentarische Mehrheit für eine Nachfolgeregie-rung ergeben hatte. Maximal zwei Jahre konntesich eine solche Minderheitsregierung im Amthalten. Acht Minderheitsregierungen entstanden,nachdem eine vorherige Mehrheitsregierung ihreparlamentarische Unterstützung im Verlauf derLegislaturperiode verloren hatte. Bis zu meistensvorgezogenen Neuwahlen verging dann nichtmehr als ein Jahr. Gerade einmal acht Minder-heitsregierungen sind schließlich originär auchals solche ins Amt gelangt. Originär meint, dassbereits bei der Investitur die sie tragenden Frak-tionen über keine parlamentarische Mehrheitverfügten. Vier dieser Regierungen (sowie nocheine geschäftsführende) konnten im Verlauf derweiteren Wahlperiode in den Status einer Mehr-heitsregierung wechseln, nachdem Minister einerweiteren Partei in das Kabinett eingetreten wa-ren. Einmal war das Ziel der Minderheitsregie-rung dabei von vornherein Neuwahlen zu erwir-ken, und drei Minderheitsregierungen haben diegesamte Legislaturperiode durchgestanden be-ziehungsweise sind noch im Amt. Alles in allemsind Minderheitsregierungen also bislang rechtselten und durchaus kurzlebig gewesen.

* Der Autor ist als Sozialwissenschaftler im LehrbereichInnenpolitik der Bundesrepublik Deutschland an derHumboldt-Universität zu Berlin tätig.

Tabelle 1: Minderheitsregierungen in Deutschland

Geschäftsführen-de Minderheitsre-gierungen1

Minderheitsregie-rungen nach Koali-tionsbrüchen oderMehrheitsverlusten

Originäre Min-derheitsregie-rungen

Schleswig-Hol-stein 1962

Saarland 1975-1977

Hamburg 1982

Hessen 1982-1984

Hamburg 1986-1987

Schleswig-Hol-stein 1987-1988

Hessen 2008-2009

Bund 1972

Hessen 1987

Niedersachsen1989-1990

Berlin 1990-1991

Brandenburg 1994

Hamburg 2003-2004

Schleswig-Hol-stein 2009

Hamburg 2010-2011

Schleswig-Hol-stein 1951

Niedersachsen1976-1977

Berlin 1981-1983

Hessen 1984-1985

Sachsen-Anhalt1994-1998

Sachsen-Anhalt1998-2002

Berlin 2001-2002

Nordrhein-Westfalen seit2010

Die gescheiterten Versuche in Schleswig-Hol-stein 2005 und Hessen 2008 sowie die jüngsteRegierungsbildung in Nordrhein-Westfalen 2010zeigen aber, dass Minderheitsregierungen mögli-cherweise künftig für die Regierungsbildung anBedeutung gewinnen könnten. Der folgende Bei-trag wird sich der Frage widmen, warum Partei-en die Bildung solcher Regierungen überhauptanstreben sollten. Dazu wird im ersten Teil her-ausgearbeitet, inwiefern Minderheitsregierungenim deutschen Regierungssystem systemwidrigerscheinen. Im zweiten Teil werden die Wand-lungen des Parteiensystems betrachtet, welchemöglicherweise verstärkt Minderheitsregierun-gen hervorrufen könnten. Im dritten und letztenTeil wird dann der Frage nachgegangen, mitwelchen Konsequenzen Parteien dafür beimWähler rechnen müssen.

Minderheitsregierungen als Regierungsform

In einer parlamentarischen Demokratie geht dieRegierung aus einem vom Volk gewählten Parla-

1 Unter Einbezug „immerwährender“ Regierungen, dienach Neuwahlen über keine parlamentarische Mehrheitmehr verfügten.

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Aufsätze Stephan Klecha – Minderheitsregierungen und Wahlerfolge MIP 2011 17. Jhrg.

ment hervor, dem sie hernach gegenüber verant-wortlich bleibt (Hennis 1999: 246). Diese Bin-dung an das parlamentarische Vertrauen wirddurch Abstimmung festgestellt. Die damit häufigverbundene Wahl der Regierung und vor allemihre mögliche Abwahl durch selbiges gelten des-wegen als die wichtigsten Rechte des Parla-ments.

Daraus folgt fast notwendigerweise das Erfor-dernis für Regierungen, eine mehrheitliche Un-terstützung im Parlament zu erlangen. Sie müs-sen sich in irgendeiner Form auf eine entspre-chende Mehrheit stützen (positiver Parlamenta-rismus) oder wenigstens verhindern, dass sicheine Mehrheit gegen sie bildet (negativer Parla-mentarismus). Beides ist in jedem Falle gegeben,wenn die Regierung eine absolute Mandatsmehr-heit im Parlament hinter sich weiß. Vor allem impositiven Parlamentarismus, wie er den Verfas-sungen des Bundes und der Länder in Deutsch-land zugrunde liegt, ist die einfache oder teilwei-se auch die absolute Mehrheitsfähigkeit bei derInvestitur einer Regierung sogar zwingende Vor-aussetzung.

Das parlamentarische Regierungssystem ist inso-weit grundlegend auf die Mehrheitsfähigkeit ei-ner Regierung angelegt. Allerdings bringt es dasVerhältniswahlrecht regelmäßig mit sich, dassdas Parteiensystem fragmentiert ist. Dieses führtdann dazu, dass eine einzelne Partei nur seltenüber eine Mehrheit im Parlament verfügt, wasKoalitionen zur Mehrheitsbildung unausweich-lich macht. Die Parteien, die ansonsten um Wäh-lerstimmen, Einflüsse und Machtressourcenwetteifern, müssen dafür ihre Konkurrenz zuein-ander „transformieren“ (Decker 2009a: 74f).Wenn sie dazu nicht bereit sind oder ihnen die-ses misslingt, sind parlamentarische Mehrheitenaber kurzzeitig oder dauerhaft nicht herstellbar.Für diese Situation bedarf es einiger Vorkehrun-gen, um zu verhindern, dass ein regierungsloserZustand eintritt. Das moderne Staatswesen kanngenerell nicht ohne eine Regierung auskommen.Um dem gerecht zu werden, müssen parlamenta-rische Regierungssysteme sich dann im Grundegenommen systemwidrig verhalten und auf dasihnen inhärente Mehrheitserfordernis verzichten.

Zwei Wege können dazu grundsätzlich beschrit-ten werden. Erstens kann einer amtierenden Re-gierung die Pflicht auferlegt werden, vorerst imAmt zu bleiben. Sie stützt ihre Legitimationdann auf eine frühere Investitur, die sie unter denaktuellen Bedingungen nicht (mehr) erreichenwürde. Sie kann dennoch weiter amtieren, solan-ge das Parlament nicht in der Lage ist, eine ande-re mehrheitsfähige Regierung ins Amt zu wäh-len. Das Parlament suspendiert die Mehrheitsre-gel auf Zeit beziehungsweise es muss auf einendestruktiven Sturz einer Regierung verzichten.Wie lange dieser Zustand währen soll, kann un-terschiedlich ausgestaltet sein. Einer unbegrenz-ten Dauer stehen in einigen Verfassungen stren-ge zeitliche Fristen gegenüber, deren Überschrei-ten entweder Neuwahlen des Parlaments nachsich zieht oder ein vereinfachtes Verfahren derRegierungsbildung zulässt (Reutter 2008: 208ff).

Solche vereinfachten Verfahren stellen die zwei-te Option dar, das Mehrheitsprinzip zu relativie-ren. Dazu kann das Parlament eine Regierungins Amt wählen, die zwar nicht von einer abso-luten Mehrheit unterstützt wird, die aber einehinreichend große Minderheit hinter sich ver-sammelt und dadurch eine einfache oder relativeMehrheit aufbringen kann. Das Parlament wahrtsodann seine Kompetenz, die Regierung zu wäh-len, suspendiert oder modifiziert gleichzeitigaber seine Mehrheitsregeln bis es in der Lage ist,wieder eine Mehrheitsregierung zu wählen.

Minderheitsregierungen sind also als zulässigeAusnahme im mehrheitsfixierten parlamentari-schen System konzipiert. Sie werden aber nichtzuletzt wegen der fortbestehenden und nur tem-porär suspendierten Mehrheitsfixierung als„Übergangskonstellationen“ eingestuft (Korte/Florack/Grunden 2006: 104). Es gibt freilich ei-nige parlamentarische Regierungssysteme, in de-nen sie häufig anzutreffen sind. In Europa ver-fügt immerhin jedes dritte Regierungskabinettüber keine parlamentarische Mehrheit (Kropp/Schüttemeyer/Sturm 2002; v. Beyme 1999: 476f;Müller/Ström 2000: 561). Manche Regierungensind freilich nur der äußeren Form nach Minder-heitsregierungen, weil einzelne Parteien zwarnicht in der Regierung über Posten vertretensind, wohl aber das Regierungsprogramm über-

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wiegend billigen und gemeinsam mit den Regie-rungsfraktionen die zentralen Gesetzgebungsvor-haben im Parlament mit durchsetzen (Steffani1991: 25; Decker 2009b: 449). Stützt sich eineMinderheitsregierung dann dauerhaft auf einenverlässlichen Partner, kann sie fast so gut aufparlamentarische Mehrheiten zählen wie eineMehrheitskoalition („Quasi-Koalitions-Modell“,Strohmeier 2009: 275). Sodann wird eine exeku-tive Minderheits- durch eine legislative Mehr-heitskoalition im Parlament getragen.

Demgegenüber gibt es aber auch Regierungssys-teme, in denen Mehrheiten alternierend im Parla-ment gesucht werden oder es jenseits parlamen-tarischer Mehrheiten Möglichkeiten für die Re-gierungen gibt, die eigene Agenda umzusetzen.Als erklärende Variable für die Abweichungender Regierungssysteme in Bezug auf die Wahlvon Koalitions- und Regierungsformaten werdenverfassungsrechtliche Vorgaben, das Wahlrechtund das Parteiensystem genannt (v. Beyme 1970;Ström 1990; Decker 2007; Korte 2009a).

Strategische Erwägungen zum Abschluss vonMinderheitsregierungen

Politikwissenschaftler (Hennis 1999: 248; De-cker 2007: 26) wie Staatsrechtler (Liesegang1983: 842; Herzog 2000: 43) sehen den Schlüs-sel für die Stabilität des deutschen Regierungs-systems nebst seiner Präferenz für Mehrheitsre-gierungen vor allem in der bisherigen Strukturdes Parteiensystems. Seit den 1960er Jahren wa-ren kleine (Mehrheits-)Koalitionen von zweiParteien typisch. Im „Zweieinhalbparteiensys-tem“ (Niedermayer 2001: 107) besaß die FDPdabei eine Schlüsselrolle bei der Regierungsbil-dung (Rudzio 2003: 152). Wenn die beidengroßen Parteien die absolute Mehrheit verfehl-ten, war eine parlamentarische Mehrheit stetsdurch eine Koalition mit der FDP zu erreichen.Die Erweiterung des Parteiensystems um dieGrünen beraubte die FDP dann ihrer Scharnier-rolle. Stattdessen formierten sich zwei relativfestgefügte Lager, die grundsätzlich zwei realis-tische Optionen auf eine Mehrheitsregierungzuließen, ein Bündnis von Union und FDP odereine rot-grüne Regierungsmehrheit. Das Partei-

ensystem war so zu einem gemäßigt bipolarenSystem geworden („Zwei-Parteigruppensystem“,Rudzio 2003: 153; „Zwei-Plus-Zwei-Parteien-system“, Haas/Jun/Niedermayer 2008: 24) undtrotz einiger durchaus relevanter Abweichungenwaren lagerimmanente Zweiparteienkoalitionenfortan weit überwiegend etabliert. Sie wurdenvon den Parteien auch verstanden als „Allianzder verschiedenen Lebenswelten lediglich einesLagers (...) als eine Art von Binnenintegration,nicht als die strategische Möglichkeit, komple-mentäre soziale und kulturelle Kräfte neu zubündeln“ (Klatt/Walter 2009: 309). Im Grundegalt: Ein politisches Lager erlangte eine Mehr-heit bei den Wahlen und war hernach in derLage, eine verlässliche parlamentarische Mehr-heit zu organisieren.

Das westdeutsche Parteiensystem war gerade vordiesem Hintergrund überaus berechenbar. Etwasanders entwickelte sich das ostdeutsche Parteien-system nach 1990. In den neugewählten Landta-gen waren stets CDU, SPD und PDS vertreten.Hinzu kamen in der ersten Wahlperiode die FDPund in vier der fünf Länderparlamente (also ohneBerlin) die Grünen beziehungsweise deren ost-deutsche Partner von Bündnis 90. Anfangs konn-te trotz der postkommunistischen PDS in vierder fünf Länder noch eine zum westdeutschenMuster konforme Regierungsbildung erfolgen.Nachdem FDP und Grüne mit einer Ausnahmein den beiden folgenden Wahlperioden durch-gängig an der Sperrklausel scheiterten, war we-gen der anhaltenden mittleren Stärke der PDS indrei der fünf Länder eine Situation eingetreten,wie sie in Berlin schon seit 1990 bestand: SPDund CDU waren gleichermaßen nicht in derLage, eine Regierung nach einem üblichen Mus-ter zu bilden. Beiden Parteien stand nur die Opti-on der Großen Koalition zur Verfügung, solangesie nicht mit der PDS kooperierten. Dazu rangsich die SPD schließlich zögerlich und unter In-kaufnahme etlicher Konflikte durch.

Dieses führte zur Bildung einer rot-grünen Min-derheitsregierung in Sachsen-Anhalt 1994, der1998 eine reine SPD-Minderheitsregierung nach-folgte. Beide Regierungen stützten sich dabei imLandtag im Wesentlichen auf die Stimmen derPDS. Ebenso der rot-grüne Übergangssenat in

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Berlin 2001. Aufbauend auf diese Kooperations-erfahrungen gelangten in Mecklenburg-Vorpom-mern, Berlin und Brandenburg schließlich rot-ro-te Mehrheitskoalitionen ins Amt. Insgesamt warin Ostdeutschland eine recht überschaubare, abervon Westdeutschland abweichende Konstellati-on entstanden.

Seit 2001/2002 wandeln sich die beiden soweitgetrennten Parteiensysteme in Ost- und West-deutschland und nähern sich darüber einanderan, was nicht ohne Folgen für die Koalitions-möglichkeiten bleibt. Entgegen einer früherenAnnahme (Haas/Jun/Niedermayer 2008: 24) hates trotz regionaler Differenzen damit in kürzes-ter Zeit eine Angleichung der Parteiensysteme inden Ländern gegeben, die sich auf der Bundes-ebene widerspiegelt und Folgen für die Koaliti-onspolitik hat.

Im nunmehr gesamtdeutschen „fluiden Fünfpar-teiensystem“ (Niedermayer 2001; s.a. Nieder-mayer 2010) ist es keineswegs gesichert, dass ei-nes der beiden bisherigen Lager eine Mehrheitder Mandate erhält. 2005 reichte es auf Bundes-ebene erstmals seit 1949 nicht mehr für einekleine Koalition von SPD beziehungsweiseCDU/CSU mit einem einzigen Koalitionspart-ner. Der Abschluss einer Großen Koalition warvor dem Hintergrund wechselseitiger Koalitions-ausschlusserklärungen die logische Folge (Decker2011: 111).

Obwohl 2009 die Union dann wieder mit derFDP eine typische Mehrheitskoalition eines alt-bundesdeutschen Lagers bilden konnte, dürftedie Regierungsbildung auf Bundes- wie auf Län-derebene für die kommenden Jahre vielfachkompliziert bleiben. Mehrheiten von einer oderzwei Parteien aus einem Lager sind jedenfallsnicht mehr garantiert. Die Bundesrepublik ist da-her auf der Suche nach neuen Koalitionsforma-ten (Korte 2009b: 68; Eith 2010: 121).

Den formalisierten Ansätzen zur Koalitionsbil-dung zufolge (Gamson 1961; Riker 1962, Lei-serson 1968; De Swaan 1973; Axelrod 1970;Bräuninger/Debus 2008) müsste es eigentlichauch in einem Fünfparteiensystem relativ ein-fach sein, mehrheitsfähige Koalitionen zu bilden.Schließlich streben Parteien möglichst viele Re-

gierungsämter an (office-seeking) und wollenihre eigenen Politikziele umzusetzen (policy-seeking), wofür parlamentarische Mehrheitenunumgänglich sind. Doch die Parteien zögern,sich im Fünfparteiensystem innovativ zu verhal-ten.

Eine gewisse Akzeptanz genießen bei schwieri-gen Mehrheitsverhältnissen Große Koalitionenaus SPD und Union (Decker 2011: 303). Seit1990 sind immerhin neun Bundesländer und derBund wenigstens zwischenzeitlich so regiertworden, darunter sämtliche ostdeutschen Bun-desländer. Die vier Jahre der Großen Koalitionim Bund waren zugleich die Hochzeit selbiger inden Ländern. Zwischenzeitlich waren siebenLänder gleichzeitig von einer Großen Koalitionregiert worden.

Gegen die These einer drohenden Perpetuierung(siehe Decker 2009a: 81; Oberndörfer/Mielke/Eith 2009: 269) kann bislang noch eingewandtwerden, dass es nur in Berlin, Brandenburg undBremen zu einer Fortsetzung der Zusammenar-beit nach dem Ende einer Legislaturperiode kam.Unabhängig davon erfreut sich die Große Koali-tion nur einer sehr begrenzten Popularität. Schonder bloße Abschluss einer solchen Verbindungreizt einen Teil der Wissenschaft beträchtlich.Als „demokratischer Sündenfall“ (Kielmansegg2002) gilt es, wenn sich die beiden Hauptkon-kurrenten des politischen Systems miteinanderverbinden. Es wird gar ein „Widerspruch zumparlamentarischen System“ ausgemacht (Renzsch/Schieren 1997: 403), weil die Regierung nichtmehr vollständig abgewählt werden kann. Alleinzur Auflösung institutioneller Verflechtungenauf Bundesebene erscheint die Große Koalitiontemporär erstrebenswert (Walter 2004: 84ff).Diese mangelnde Popularität in der Wissenschaftwird von den betreffenden Parteien geteilt. DieSpitzen wie die Anhänger von Union und SPDverspüren eine grundsätzliche Abneigung dage-gen. Die bisherigen Bündnisse gelangten deswe-gen oftmals nur ins Amt nach vorherigen zähenund konfliktreichen innerparteilichen Debatten,denen sich vor allem die SPD-Führung ausge-setzt sah (Eith 2010: 121).

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Im Wählerverhalten lassen sich aus Sicht der be-teiligten Parteien ebenfalls gute Gründe finden,um Große Koalitionen zu vermeiden. Nur beizwei Wahlen seit 1990 (Bürgerschaftswahl inBremen 1999 und Landtagswahl in Brandenburg2009) gingen SPD und CDU aus einer GroßenKoalition heraus gleichermaßen gestärkt hervor.Ansonsten hat immer mindestens eine der beidenParteien an Stimmenanteilen verloren. Zudemgibt es Hinweise darauf, dass eine Große Koali-tion auf Bundesebene die Wahlergebnisse beiderParteien auf Landesebene negativ beeinflusst(Hunsicker/Schroth 2010: 344).

Weil die Parteien ihren potentiellen Erfolg beiden folgenden Wahlen in die Suche nach einergeeigneten Regierungskonstellation einbeziehen(siehe Budge/Keman 1990: 121ff; Kropp/Schüt-temeyer/Sturm 2002: 13; Decker 2009b: 442f),sind die negativen Folgen einer Großen Koaliti-on also ein durchschlagendes Argument, solcheBündnisse zu vermeiden. Nun sind aber auch an-dere Bündnisse abseits der gewohnten nichtohne Risiko. Die beiden vorzeitig zerbrochenenAmpelkoalitionen in Bremen und Brandenburgund die ebenfalls vorzeitig gelöste CDU/Schill/FDP-Koalition in Hamburg dienen kaum als po-sitive Referenzbeispiele für Dreierkoalitionen.Freilich konnte die Partei des Ministerpräsiden-ten danach ihre Position als stärkste Partei be-haupten und teilweise sogar ausbauen. Der Er-folg ging jedoch eindeutig auf Kosten der kleine-ren Parteien, die hinterher keine Regierungsver-antwortung mehr tragen konnten und überdiesmit einer Ausnahme durchweg aus den jeweili-gen Landtagen ausscheiden mussten. Lagerüber-greifende Bündnisse schließlich dürften nachdem Ende der schwarz-grünen Koalition inHamburg gegenwärtig ebenfalls eher außerhalbdes koalitionspolitischen Präferenzrahmens lie-gen.

Alle Parteien haben sich zudem damit auseinan-derzusetzen, dass die Wähler sehr skeptisch bisablehnend reagieren, wenn die Parteien ihre ge-wohnten Lager durchbrechen und sich machtbe-wusst neuen Koalitionen öffnen (Schöppner2009: 261; Oberndörfer/Mielke/Eith 2009: 265).Wenn Parteien sich zudem viele Koalitionsop-tionen offenhalten, weichen einige ihrer vorheri-

gen Wähler eher auf eine vorhandene Zweitprä-ferenz aus, die ihnen in dieser Frage eine klareOrientierung verspricht (Meffert/Geschwend2009; Linhart/Huber 2009). Insofern ist es nach-vollziehbar, dass die Parteien allesamt bislangwenig Bereitschaft verspüren, sich koalitionspo-litisch besonders innovativ zu verhalten.

Damit schrumpft aber der Möglichkeitsraum, re-gierungsfähige Bündnisse abzuschließen, be-trächtlich. Im Prinzip verbleiben dann vielfachkeine mehrheitsfähigen Bündniskonstellationen.Nur eine Minderheitsregierung kann dann nocheine mit den bisherigen Erfahrungswerten halb-wegs konforme Regierungsbildung ermöglichen.Immerhin sind dann gegebenenfalls lagerimma-nente Regierungskoalitionen auf exekutiver Ebe-ne möglich. Außerdem kann die punktuelle Ko-operation mit Parteien des anderen Lagers odermit der bislang eher koalitionsunwilligen Linkenangetestet werden. Mögliche neue Mehrheitsop-tionen lassen sich so eventuell behutsam er-schließen. Unter dem Gesichtspunkt Ämterbeset-zung und Durchsetzung politischer Inhalte mö-gen Minderheitsregierungen dabei für die exeku-tiv beteiligten Parteien durchaus Vorteile mitsich bringen. Sie brauchen nämlich keine weitereKraft mit Ämtern auszustatten und können inAnbetracht der exekutiven Vorteile die Mehr-heitsbildung im Parlament zu ihren Gunsten be-einflussen. Weil legislativ stützende oder tolerie-rende Kräfte vielfach ein rationales Interesse amFortbestand einer Minderheitsregierung entwi-ckeln, besitzen Minderheitsregierungen zudemoftmals eine beträchtliche Handlungsfähigkeit.

Nutzen von Minderheitsregierungen für die be-teiligten Parteien

Fraglich ist, wie Minderheitsregierungen sichaber auf die Wähler auswirken. Zunächst einmalwäre es zu erwarten, dass die Öffentlichkeit dieArbeit einer Minderheitsregierung interessierterund ausführlicher begleitet als die einer Mehr-heitsregierung. Dieses mag einerseits an der Sel-tenheit des Modells liegen. Dieses könnte aberandererseits auch gelten, weil die Arbeit einerMinderheitsregierung aus strukturellen Gründenerhöhte Aufmerksamkeit auf sich zieht. In der

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Debatte um Minderheitsregierungen wird zumin-dest wiederholt von den Akteuren wie von Beob-achtern die These aufgestellt, dass Minderheits-regierungen den Parlamentarismus wieder leben-diger werden ließen (Renzsch/Schieren 1997:406; Christiansen/Togeby 2006; Höppner 2003:114ff).

Einigkeit besteht darüber, dass sich die „gestalte-rische Mitwirkung des Parlaments“ verstärkt(Kropp 2001: 218; s.a. o.V. 1996; Grunden2009: 168). Die Formen der Einwirkung sindfreilich – und damit nicht anders als in Mehr-heitsregierungen – informeller Natur (Kropp2001: 223; Fikentscher 1999: 240; Wollkopf-Dittmann 2002: 36; Dobner 2004: 440; s.a.Grunden 2009: 168). Deswegen ist nicht auto-matisch ein Zuwachs an Öffentlichkeit zu erwar-ten.

Doch die Form der Mehrheitsfindung verlangteiner Minderheitsregierung einige zusätzlicheRessourcen hinsichtlich Koordination und Kom-munikation ab. Die Willensbildung vollziehtsich nämlich nicht mehr abschließend horizontalzwischen den beteiligten Parteien, sondern musseher stufenleiterförmig strukturiert werden. Ei-ner Willensbildung im Kabinett und in Abstim-mung mit den Regierungsfraktionen folgt dannein Interessensausgleich mit Teilen der Oppositi-on, der seinerseits mit den Regierungsfraktionenund der Regierung rückgekoppelt wird. Mögli-cherweise sorgt diese Zerlegung des Mehrheits-bildungsprozesses für mehr Transparenz in Be-zug auf die politischen Inhalte.

Dadurch wird der politische Prozess und Diskursmöglicherweise offener, erkennbar sachorientier-ter und damit für die Wähler auch attraktiver.Vor diesem Hintergrund gibt es aus der verglei-chenden Perspektive Hinweise auf steigendeoder hohe Wahlbeteiligungen bei Minderheitsre-gierungen (Christiansen/Togeby 2006). Dieseskann im deutschen Parlamentarismus so nunnicht unbedingt belegt werden. NachstehendeTabelle zeigt, dass bei den 15 Wahlen, denensich eine Minderheitsregierung bislang stellenmusste, in sieben Fällen die Wahlbeteiligung an-stieg, wohingegen sie acht Mal zurückging.

Tabelle 2: Wahlbeteiligung vor und nach Minderheits-regierungen

Bundesland vor Zustande-kommen Minder-heitsregierung

nach Ende derWahlperiode

Bund 86,7% (1969) 91,1% (1972)

Hamburg 85,9% (1982 I) 89,9% (1982 II)

Hessen 86,4% (1982) 83,5% (1983)

Hessen 83,5% (1983) 80,3% (1987)

Hamburg 83,6% (1986) 85,5% (1987)

Schleswig-Holstein 76,6% (1987) 77,4% (1988)

Niedersachsen 77,4% (1986) 74,6% (1990)

Berlin 79,6% (1989) 80,8% (1990)

Brandenburg 67,1% (1990) 56,3% (1994)

Sachsen-Anhalt 54,8% (1994) 71,7% (1998)

Berlin 65,6% (1999) 68,1% (2001)

Sachsen-Anhalt 71,7% (1998) 56,5% (2002)

Hamburg 71,0% (2001) 68,7% (2004)

Hessen 64,3% (2008) 61,0% (2009)

Schleswig-Holstein 66,6% (2005) 73,6% (2009)

Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schles-wig-Holstein o.J.; Reutter 2004; Holtmann 2003; Höppner2003: 94; Koß/Spier 2008: 294; v. Blumenthal 2004: 200;Wolfrum 2007: 591; Hessisches Statistisches Landesamto.J., Stöß 2008: 179; Reichert-Dreyer 2008: 149. EigeneDarstellung.

Insgesamt weichen die Werte selten sonderlichstark von den Wahlbeteiligungen des unmittelbarvorangehenden Urnengangs ab. Lediglich vierWahlen fallen stark auf. Negativ und entgegender These verhalten sich dabei Brandenburg1994 und Sachsen-Anhalt 2002. In einem Falle(Schleswig-Holstein 2009) erklärt sich der deut-liche Anstieg damit, dass zeitgleich eine Bundes-tagswahl abgehalten wurde. Nur in einem Fall(Sachsen-Anhalt 1998) liegt eine steigendeWahlbeteiligung vor, die sich unter Umständenpositiv auf das Format der Minderheitsregierungzurückführen ließe. Allerdings geht die erhöhtePartizipation mit Stimmengewinnen für die zu-vor außerparlamentarische rechtsextreme DVUeinher.

Deswegen könnte man dazu verleitet werden,aus dem Wahlerfolg der DVU den Schluss zuziehen, dass Minderheitsregierungen eine Politi-

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sierung ganz anderer Form nach sich ziehen,nämlich einen Zuwachs der politischen Extreme.Verweise auf die Weimarer Republik mit ihrenzahlreichen Minderheitsregierungen stützen die-ses Argument ebenso vordergründig wie die Tat-sache, dass in der Bundesrepublik nach Minder-heitsregierungen immerhin sieben Mal, also un-gefähr jedes zweite Mal, eine Partei in das jewei-lige Parlament einzog, die zuvor nicht darin ver-treten war. Außer für Sachsen-Anhalt 1998 las-sen sich jedoch keine Hinweise für eine beson-dere Protesthaltung der Wähler finden. Der Er-folg der Linken 2009 in Schleswig-Holstein gehteinher mit deren erfolgreicher Ausdehnung inWestdeutschland und wäre auch ohne vorherigeMinderheitsregierung zu erwarten gewesen. Inden übrigen fünf Fällen handelte es sich durch-gängig um die FDP, die im Anschluss an eineMinderheitsregierung ein zwischenzeitliches au-ßerparlamentarisches Dasein beendete (Hessen1983, Hamburg 1987, Berlin 1990, Berlin 2001und Sachsen-Anhalt 2002). Die FDP genießt an-scheinend wegen ihrer tradierten Scharnierfunk-tion im Parteiensystem nach Minderheitsregie-rungen eine besondere Aufmerksamkeit derWähler. Ein Grund könnte sein, dass man derFDP möglicherweise am ehesten zutraut, an ei-ner Mehrheitsbildung wieder mitzuwirken. Er-füllt die FDP diese Funktion nicht, so droht ihrnämlich auch leicht der Absturz aus der parlamen-tarischen Sphäre. Immerhin drei Mal (Schleswig-Holstein 1988, Brandenburg 1994 und Hamburg2004) flog die FDP nämlich aus einem Parla-ment, als eine Minderheitsregierung zur Wahlstand. Durch ein anderes Koalitionsverhaltenhätte die Partei eine neue Mehrheitsregierungherbeiführen können. Dieses deutet daraufhin,dass die Zuweisung der Funktion als Scharnier-partei durchaus das Wählervotum mit beein-flusst.

Ansonsten lässt sich also weder eine erhöhte Po-litisierung beobachten noch eine besondere Pro-testneigung der Wähler als Folge einer Minder-heitsregierung ausmachen. Vielmehr kann einebesondere Stabilität des Parteiensystems sogarnachgewiesen werden, wenn man zunächst denPedersenindex (Pedersen 1979) als Maß für dieaggregierte Volatilität heranzieht. Er wird be-

rechnet aus der durch zwei geteilten Summe derBeträge aller Stimmengewinne und -verluste. Inder nachfolgenden Tabelle wird der durch-schnittliche Pedersenindex denjenigen Wertengegenübergestellt, die bei Wahlen im Anschlussan Minderheitsregierungen ermittelbar sind.

Land DurchschnittlicherPedersenindex

Pedersenindex nachMinderheitsregierun-gen

Sachsen-Anhalt

20,4 16,9 (1998)32,4 (2002)

Hamburg2 11,9 9,2 (1982 II)5,1 (1987)

30,6 (2004)

Berlin 13,0 15,1 (1990)21,4 (2001)

Hessen 10,1 8,0 (1983)6,4 (1987)

14,8 (2009)

Niedersachsen 10,5 4,4 (1990)

Brandenburg 17,2 23,1 (1994)

Schleswig-Holstein

11,0 11,3 (1988)26,5 (2009)

Bund 8,5 5,7 (1972)

Eigene Berechnung

Die Empirie zeigt erneut, dass es keinen so ein-deutigen Befund gibt. Immerhin sieben Mal la-gen die Werte bei Wahlen, denen sich eine Min-derheitsregierung stellen musste, unterhalb desjeweiligen Durchschnitts und acht Mal darüber.Insofern wäre auch hier die Stabilität des Wäh-lerverhaltens gegeben beziehungsweise eine an-scheinend normale Abweichung vom Durch-schnitt festzustellen. Minderheitsregierungenziehen auf den ersten Blick also keine erhöhteVolatilität nach sich.

Doch dieser Befund ist etwas zu oberflächlich.Bemerkenswert ist nämlich bereits die Streuung.So wurden in Sachsen-Anhalt (2002), in Ham-burg (2004), in Brandenburg jeweils absoluteMaximalwerte erzielt. In Berlin (2001) undSchleswig-Holstein (2009) lässt sich zudem derzweithöchste Wert überhaupt messen. Dem stehtgegenüber, dass in Hamburg (1987) und in Nie-

2 Der Hamburgblock ist dabei so einbezogen worden,dass als Referenz die Summe der beteiligten Quellpar-teien berücksichtigt wurde.

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dersachsen jeweils der zweitgeringste Wert zumessen war. Auffällig ist also, dass Minderheits-regierungen obere wie untere Extremwerte derVolatilität nach sich ziehen.

Ferner überdeckt der Pedersenindex die indivi-duelle Volatilität (Ladner 2004: 105ff). Wegender spezifischen Rolle von SPD und Union imdeutschen Parteiensystem bietet es sich an, dieAuswirkungen von Minderheitsregierungen aufdiese beiden Parteien zu fokussieren und danachzu differenzieren, ob es sich dabei um die Parteides Ministerpräsidenten oder um die Partei desOppositionsführers handelte.

Tabelle 3: Veränderung Stimmenanteile

Wahl VeränderungStimmenanteileMinisterpräsi-dentenpartei

VeränderungStimmenanteilegrößte Oppositi-onspartei

Bund 1969-1972 +3,1% (SPD) -1,2% (CDU)

Hamburg 1982 I-II +8,6% (SPD) -4,6% (CDU)

Hessen 1982-1983 +3,4% (SPD) -6,2 % (CDU)

Hessen 1983-1987 -6,0% (SPD) +2,7% (CDU)

Hamburg 1986-1987 +3,3% (SPD) -1,4% (CDU)

Schleswig-Holstein1987-1988

-9,3% (CDU) +9,6% (SPD)

Berlin 1989-1990 -6,9% (SPD)Nur West-Teil:

-8,2%

+2,7% (CDU)Nur West-Teil:

+11,3%

Niedersachsen 1986-1990

-2,3% (CDU) +2,1% (SPD)

Brandenburg 1990-1994

+15,8% (SPD) -10,7% (CDU)

Sachsen-Anhalt1994-1998

+1,9% (SPD) -12,4% (CDU)

Berlin 1999-2001 +7,3% (SPD) -17,1% (CDU)

Sachsen-Anhalt1998-2002

-15,9% (SPD) +15,3% (CDU)

Hamburg 2001-2004 +21,0% (CDU) -6,0% (SPD)

Hessen 2008-2009 +0,4% (CDU) -13,0% (SPD)

Schleswig-Holstein2005-2009

-8,7% (CDU) -13,3% (SPD)

Quelle: v. Blumenthal 2004: 200; Horst 2008: 222; Hessi-sches Statistisches Landesamt o.J.; Statistisches Amt fürHamburg und Schleswig-Holstein o.J.; Koß/Spier 2008:294; Holtmann 2008: 422, Reichert-Dreyer 2008: 149,157. Eigene Darstellung.

Die Wähler begünstigen auf den ersten Blick an-scheinend die Partei des Regierungschefs. Beineun Wahlen konnte sie zulegen und ihre Füh-rungsrolle jeweils behaupten. Die Stimmenzu-wächse erreichten dabei immerhin vier Malmehr als fünf Prozentpunkte und waren drei Maldie höchsten beziehungsweise zweithöchstenStimmenzuwächse, die die jeweilige Landespar-tei jemals realisieren konnte.

Allerdings verlor die Partei des amtierenden Mi-nisterpräsidenten auch sechs Mal Stimmenantei-le, in fünf Fällen mit mehr als sechs Prozent-punkten sogar auffallend deutlich. Vier Malmusste die betreffende Partei dabei die höchstenbeziehungsweise zweithöchsten Verluste allerZeiten hinnehmen. Die Verluste gingen zudemvier Mal damit einher, dass die Partei in die Op-position wechseln musste und sich ein Mal (Ber-lin 1990) als Juniorpartner in eine Große Koaliti-on rettete.

Zu berücksichtigen ist freilich, dass die vollstän-dige Abwahl einer Regierung in Deutschland oh-nehin eher selten ist. Zwischen 1949 und 2010wurden 192 Landtage in den Bundesländern3 und17 Bundestage gewählt. Lediglich nach 19 Land-tagswahlen und einer Bundestagswahl4 konntedie Regierung vollständig durch vorherige Op-positionsparteien abgelöst werden. Kommt esalso in ungefähr einem Zehntel der Fälle bislangzu vollständigen Regierungswechseln, fällt dieQuote bei den zur Wiederwahl anstehendenMinderheitsregierungen anscheinend schlechteraus. Allerdings gilt es auch hier zu differenzie-ren.

Insbesondere deutet vieles darauf hin, dass derAmtsbonus des Regierungschefs einer führendenRegierungspartei meistens nützt (März 2006:168f; Korte/Florack/Grunden 2006: 77, 113).Berücksichtigt man dieses, sind zwei Fälle beiden aufgelisteten Minderheitsregierungen außen

3 Einschließlich der Wahlen im Saarland vor dem Bei-tritt zur Bundesrepublik.

4 Schleswig-Holstein (1951, 1988), Hamburg (1953,1957, 2001), Niedersachsen (1990, 2003), Hessen(1987, 1991, 1999), Nordrhein-Westfalen (1958, 2005,2010), Saarland (1985, 1999), Berlin (1981, 1989),Sachsen-Anhalt (1994, 2002) sowie bei der Bundes-tagswahl 1998.

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vor zu lassen, nämlich Hessen 1987 und Schles-wig-Holstein 1988, weil der Ministerpräsidentnicht wieder kandidierte. Bezieht man dieses ein,weichen Minderheitsregierungen hinsichtlich derWiederwahlchancen der führenden Regierungs-partei nicht wirklich vom Normalfall ab.

Erklärungsbedürftig wäre indes, warum etwaigeStimmenverluste nach Minderheitsregierungenteilweise auffallend hoch ausfallen. Hierfür gibtes eine überaus rationale Erklärung. Die Wählerkönnen eine Minderheitsregierung einfach an-ders nicht abwählen. Gerade weil eine Minder-heitsregierung ihre Legitimation ja nicht aus ei-ner Mehrheit ableitet, kann sie im Endeffekt nurgestürzt werden, wenn die vorhandene Unter-stützung für die vorherige Regierung besondersentschieden entzogen und eine andere regie-rungswillige Mehrheit ermöglicht wird. Zwei-felnde und latent unzufriedene Wähler könnendie vormalige Unterstützung einer Minderheits-regierung unter diesen Umständen kaum auf-rechterhalten. Ein Denkzettel durch differenzier-tes Wahlverhalten (etwa bewusste Stärkung desKoalitionspartners) scheidet bei Minderheitsre-gierungen aus. Wenn eine Minderheitsregierungabgewählt werden soll, muss also die Abwahlbesonders deutlich erfolgen.

Auffälliger und schwieriger zu erklären ist dem-gegenüber die Entwicklung für die Partei desOppositionsführers. Während es in Schles-wig-Holstein 1988, in West-Berlin 1990 undSachsen-Anhalt 2002 erhebliche Zugewinne gab,die mit der gleichzeitigen deutlichen Abwahl dervorherigen Minderheitsregierung einhergingen,brachten sieben Wahlen massive Verluste vonmehr als fünf Prozentpunkten. Für die betreffen-de Partei handelte sich um die fünf stärkstenStimmenverluste aller Zeiten in den jeweiligenLändern.

Neuwahlen, egal ob reguläre oder vorgezogene,schaden anscheinend auch der Opposition in be-sonderem Maße. Dieses gilt besonders bei ge-schäftsführenden Regierungen. Hier wirkt einzusätzlicher Effekt. Der Opposition ist es in derRegel zuvor bei den regulären Wahlen gelungen,die Mehrheit der Regierung zu brechen. DasWahlergebnis verlangt also förmlich die Bildung

einer neuen Regierung. Die Erwartung dazu wirdin erster Linie bei der gefühlten Hauptwahlsiege-rin, der Partei des bisherigen Oppositionsführers,abgeladen. Wenn es dieser Partei dann aber nichtgelingt, legislative Mehrheiten für eine neue Re-gierung zu erlangen, straft der Wähler die jewei-lige Partei bei den dann vorgezogenen Neuwah-len entsprechend deutlich ab. Demgegenüberkann die jeweilige Partei des amtierenden Minis-terpräsidenten wieder Stimmen zulegen, zumTeil in beträchtlichem Umfang, weil sie im Ge-gensatz zur Opposition Gewähr dafür bietet, eineRegierung auch führen zu wollen und zu kön-nen. Aus dem Rahmen dieser Erklärung fällt nurdie Neuwahl in Schleswig-Holstein 1988, diesewurde freilich durch die Barschelaffäre überla-gert.

Für Regierungen, die in Wahlen ihre Mehrheitenverloren haben, aber eben nicht abgelöst werdenkönnen, hat es also durchaus Charme, zunächsteine geschäftsführende Regierung zu führen unddarüber Neuwahlen anzustreben. Für die Oppo-sition hat es hingegen verheerende Folgen, wennsie es nicht schafft, eine neue Regierung zu bil-den und es zu vorzeitigen Neuwahlen kommt.

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es ausSicht der SPD überaus klug gewesen zu sein,1994 in Sachsen-Anhalt, 2008 in Hessen und2010 in Nordrhein-Westfalen über die Bildungeiner eigenen Minderheitsregierung vorgezogeneNeuwahlen zu vermeiden.

Sehr viel differenzierter fällt das Urteil für Min-derheitsregierungen aus, die erst im Verlauf ei-ner Wahlperiode zustande kommen. Der Verlusteiner vorherigen parlamentarischen Mehrheitdurch Koalitionsbruch oder durch den Austritteinzelner Abgeordneter ohne gleichzeitige Re-gierungsalternative wird von den Wählern ehernicht honoriert. Ein überdies als populär emp-fundener Amtsinhaber soll aus Sicht der Wählerdann ein deutliches Wählervotum zu seinenGunsten erzielen. Die Bundestagswahl 1972, dieWahlen in Brandenburg 1994 und in Hamburg2004 ließen sich durchaus in diese Richtung deu-ten. Die These wird ebenfalls gestützt durch dieWahlen in Berlin 2001. Die SPD hatte seinerzeitdie Koalition mit der CDU nicht nur verlassen,

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sondern zugleich vor den Neuwahlen eine kon-struktive Abwahl des Regierenden Bürgermeis-ters über eine Minderheitsregierung organisiert.

Der These stehen auch nicht wirklich die Wahl-ergebnisse in Hessen 1987 und in Niedersachsen1990 entgegen. In Hessen trat, wie schon er-wähnt, der amtierende Ministerpräsident nichterneut an und auch in Niedersachsen hatte deramtierende Ministerpräsident bereits seinen Ab-tritt für den Verlauf der folgenden Legislaturpe-riode avisiert und war bemüht, im Wahlkampfseine potentielle Nachfolgerin aufzubauen. An-ders sind in diesem Zusammenhang dann schondie Wahlen in Berlin 1990 und in Schles-wig-Holstein 2009 zu beurteilen, die beide MaleVerluste für die Partei des Ministerpräsidentenbrachten, aber deren Regierungsverbleib gewähr-leisteten. In Berlin freilich war bereits zum Zeit-punkt des Koalitionsbruchs der reguläre Wahl-kampf im Gange, mithin brachte das Ende derKoalition keinen Solidarisierungseffekt mit sich.In Schleswig-Holstein wiederum ging der Bruchder Koalition von der Partei des Ministerpräsi-denten aus, so dass hier ein Solidarisierungsef-fekt nicht eintreten konnte, weil der Ministerprä-sident selbst für den Verlust seiner Mehrheit ver-antwortlich war. Hinzu kommt, dass beideWahlen mit den Bundestagswahlen zusammen-fielen und es hierüber mittelbare Effekte gab.

Es zeigt sich, dass es auf der individuellen Ebenebeachtliche Volatilitäten im Anschluss an Min-derheitsregierungen gibt. Während die Regie-rung im Falle einer Abwahl mit immensen Stim-menverlusten rechnen muss, muss die Partei desOppositionsführers nicht minder den folgendenUrnengang fürchten. Ihr Unvermögen, selbsteine Regierung zu bilden oder die Minderheitder Regierung konstruktiv zu nutzen, wird vomWähler nämlich weitaus eher und überaus hartabgestraft. Minderheitsregierungen sind hinsicht-lich künftiger Wahlergebnisse somit aus Sichtder Regierungspartei attraktiver als aus Sicht derOpposition. Auffallend ist dabei, dass der Wäh-ler anscheinend sein Wählervotum in der Regelso einsetzt, dass die Minderheitsregierung voneiner Mehrheitsregierung abgelöst werden kann.Dementsprechend profitiert je nach Bewertungder Leistung der Regierung entweder die Regie-

rungspartei oder die Partei des Oppositionsfüh-rers. Anders ausgedrückt, der Wähler billigtgrundsätzlich die Bildung einer Minderheitsre-gierungen. Zugleich aber will er im Anschlussdaran wieder klare Mehrheitsverhältnisse habenund richtet sein Wahlverhalten darauf aus.

Fazit

Das deutsche Regierungssystem hat aus derStruktur des Parteiensystems heraus bislang einevorwiegend lagergebundene Mehrheitsbildungvon zwei Parteien zugelassen. Die Aversion ge-gen Minderheitsregierungen oder Regierungsfor-men jenseits der Kleinen Koalition von zweiParteien speist sich nicht zuletzt aus dieser bere-chenbaren Stabilität des Parteiensystems. Mitdem Hinzutreten der Partei Die Linke hat sichdas Parteiensystems jedoch so verändert, dassAlternativen dazu notwendig werden. Große Ko-alitionen oder Dreierbündnisse ermöglichen eineFortführung der vorherigen mehrheitsfixiertenRegierungspraxis. Während Große Koalitionenals notfalls akzeptabel, aber doch tendenziell un-erwünscht gelten, haben sich Dreierbündnissebislang als hochgradig instabil erwiesen. DenParteien bleibt als Notausweich deswegen ge-genwärtig noch die Bildung von Minderheitsre-gierungen übrig.

Eine Minderheitsregierung ist in der gegenwärti-gen Phase der Neusortierung des Parteiensys-tems und wegen der beschränkten Koalitionsfä-higkeit der Parteien zueinander auf jeden Falleine zusätzliche Option, derer sich die Parteienkünftig verstärkt bedienen könnten. Diese Regie-rungsform scheint in Deutschland in ihrer Fähig-keit, gesellschaftlichen und politischen Diskursanders zu organisieren, zwar nicht das politischeInteresse zu steigern, wohl allerdings stabilisiertsie das bestehende Parteiensystem insgesamt. Sieermöglicht zugleich aber auch eine beschränkteNeuorientierung der Wähler. Dabei kristallisie-ren sich einige Regelmäßigkeiten heraus:

a) Verliert eine Regierung ihre vorherige Mehr-heit ohne Bildung einer alternativen Mehr-heit, kann der amtierende Regierungschef beiNeuwahlen regelmäßig auf einen Solidarisie-rungseffekt hoffen.

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b) Entzieht der Wähler einer Minderheitsregie-rung hingegen das Vertrauen bei denWahlen, so vollzieht sich dieses besondersenergisch. Beträchtliche Stimmenverluste fürdie Partei des Ministerpräsidenten sind dannzu erwarten.

c) Billigt der Wähler aber die Arbeit einer Min-derheitsregierung, so entzieht er der Parteides Oppositionsführers massiv die Unterstüt-zung.

d) Insgesamt ist das Wahlverhalten im An-schluss an Minderheitsregierungen darauf an-gelegt, stabile Verhältnisse herbeizuführen.Entsprechend gering ist dann die NeigungProtestparteien zu wählen. Dafür werden Par-teien begünstigt, denen zugetraut wird, eineMehrheit bilden zu können.

Die Regierung bleibt also für ihr Regierungshan-deln gegenüber dem Wähler voll verantwortlich,wenngleich auch die Opposition in besondererWeise unter Beweis stellen muss, dass sie ihrenWählerauftrag im Parlament konstruktiv wahr-nimmt oder im Falle von Neuwahlen eine realeMachtperspektive besitzt.

Anscheinend bieten gerade Minderheitsregierun-gen den Wählern eine Möglichkeit ihre politi-schen Präferenzen zu überdenken. Die massivenFolgen bei Regierungs- und Oppositionsparteiensind jedenfalls auffällig. Eine Minderheitsregie-rung verleitet die Wähler folglich eher dazu, dieWählerpräferenzen zu verändern, wobei sich dieStimmabgabe im Wesentlichen innerhalb desbisherigen Parteienspektrums bewegt.

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MIP 2011 17. Jhrg. Nikolas R. Dörr – François Mitterrand und der PCF [...] Aufsätze

François Mitterrand und der PCF– Die Folgen der rééquilibrage de lagauche für den Parti CommunisteFrançais

Nikolas R. Dörr, M.A.1

I. Einleitung

Im ersten Durchgang der französischen Parla-mentswahlen am 10. Juni 2007 erreichte der Par-ti Communiste Français (PCF), die ehemalsstärkste Partei Frankreichs, nur noch 4,29% derabgegebenen Wählerstimmen.2 Lediglich 15kommunistische Abgeordnete konnten in die As-semblée Nationale entsandt werden.3 Noch desa-ströser war für die Kommunisten die Präsident-schaftswahl kurz zuvor ausgefallen. Die PCF-Kandidatin Marie-George Buffet musste sich imersten Wahldurchgang nicht nur hinter demRechtsextremen Jean-Marie Le Pen, sondernauch nach dem trotzkistischen Kandidaten Olivi-er Besancenot einordnen. Mit ihrem Wählerstim-menanteil von 1,93% bewegte sich Buffet in derKategorie solch exotischer Kandidaten wie demglobalisierungskritischen Landwirt José Bové(1,32%) und dem Kandidaten der Jäger-und Fi-scher-Partei „Chasse, pêche, nature, traditions“Frédéric Nihous (1,15%). Mit diesen Ergebnis-sen hatte sich für die Kommunisten des PCF einTrend fortgesetzt, der bereits zu Beginn der1 Der Verfasser, Magister Artium, Diplom-Politologe,

ist Lehrbeauftragter der Universität Postdam, Stipendi-at der Friedrich-Ebert-Stiftung und promoviert über diesicherheitspolitische Bedeutung des Eurokommunis-mus für die Bundesrepublik Deutschland und die Ver-einigten Staaten von Amerika am Zentrum für Zeithis-torische Forschung in Potsdam (ZZF).

2 Die Zahlen beziehen sich auf den Prozentsatz der fürdie Partei abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang,da bei den Wahlen zur französischen Nationalver-sammlung in der V. Republik, mit Ausnahme der ein-maligen Verwendung des Verhältniswahlrechts 1986,das absolute Mehrheitswahlrecht gilt.

3 Das französische Parlament der V. Republik ist bika-meral und asynchron in seiner Kompetenzverteilung.Die Nationalversammlung (Assemblée Nationale) ver-fügt über stärkere Kompetenzen als der Senat (Sénat).

1970er-Jahre begonnen hatte. Maßgeblichen An-teil am Niedergang des Parti Communiste hatteFrançois Mitterrands Strategie der rééquilibragede la gauche und die damit einhergehende Neu-konstituierung der Sozialistischen Partei Frank-reichs.

II. Der Parti Communiste als dominante Parteider französischen Linken nach dem Krieg

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte derPCF ein strukturelles Übergewicht auf der fran-zösischen Linken besessen. Die SozialistischePartei erhielt als eigenständig antretende Parteiletztmalig bei dem Sieg der Volksfront 1936 ineiner Parlamentswahl mehr Stimmen als dieKommunisten.4 Mehr als 40 Jahre herrschte an-schließend eine strukturelle Mehrheit zugunstender Kommunistischen Partei vor. Erst bei denWahlen zur Assemblée Nationale im März 1978erhielten die Sozialisten wieder mehr Wähler-stimmen als der PCF. Vor allem in Folge der Re-putation, die sich die französischen Kommunis-ten in der Résistance erworben hatten, wurde derPCF bei den ersten Nachkriegswahlen am 21.November 1945 mit 159 Mandaten und 26,2%der Wählerstimmen sogar zur stärksten Partei inder Nationalversammlung der IV. Republik.Ebenso wurde der PCF in die ersten französi-schen Nachkriegsregierungen aufgenommen. ImZuge des beginnenden Kalten Krieges wurde diePartei jedoch Anfang Mai 1947 aus der Regie-rung des sozialistischen Premierministers PaulRamadier ausgeschlossen. Obwohl man den PCFunter seinem langjährigen Generalsekretär Mau-rice Thorez5 in seiner engen Anbindung an dasKominform und die Sowjetunion in dieser Phaseals „die Linientreusten der Treuen“6 bezeichnen

4 Bei den Parlamentswahlen im März 1967 traten dieSozialisten nicht als eigenständige Partei, sondern ineiner Wahlverbindung als Fédération de la gauche dé-mocrate et socialiste mit Linksliberalen und weiterenKleinparteien der linken Mitte an und erhielten somehr Wählerstimmen als der PCF.

5 Zu Thorez siehe: Stéphane Sirot, Maurice Thorez, Pa-ris 2000.

6 Joseph Rovan, Die Kommunistische Partei Frank-reichs, in: Alfons Dalma et al. (Hrsg.), Euro-Kommu-nismus. Italien, Frankreich, Jugoslawien, Spanien, Por-tugal, Zürich 1977, S. 31.

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Aufsätze Nikolas R. Dörr – François Mitterrand und der PCF [...] MIP 2011 17. Jhrg.

muss, gehörte der Parti Communiste bei allenParlamentswahlen der IV. Republik mit Wahler-gebnissen um 25% der Stimmen zu den erfolg-reichsten Parteien Frankreichs. Auch die Wahlender V. Republik zeigten ab 1958 vorerst kontinu-ierlich hohe Wahlergebnisse für den PCF, ob-wohl die Partei seit ihrem Ausschluss aus derRegierung 1947 und insbesondere seit den Ereig-nissen des Jahres 1956 (Geheimrede NikitaChruschtschows über die Verbrechen Stalins aufdem XX. Parteitag der KPdSU, Niederschlagungder Aufstände in Ungarn und Polen) in der Be-völkerungsmehrheit als nicht mehr regierungsfä-hig galt. Auf die vereinzelten innerparteilichenRufe nach Entstalinisierung ab 1956 reagierteder PCF in der Folge mit zahlreichen Parteiaus-schlüssen. Eine bedeutende Zahl von Intellektu-ellen verließ die Partei darüber hinaus vor derdrohenden Exklusion, so beispielsweise mit Em-manuel Le Roy Ladurie und François Furet zweider bedeutendsten Historiker Frankreichs. Ähn-lich verliefen die Reaktionen des PCF-Politbürosnach vereinzelter Kritik an der Niederschlagungdes Prager Frühlings 1968.7

III. Die Strategie der rééquilibrage de la gauche

Am 10. Mai 1981 wurde François Mitterrand(1916-1996) zum ersten sozialistischen Präsi-denten der V. französischen Republik gewählt.Nach der Ernennung des Sozialisten Pierre Mau-roy zum Premierminister ließ Mitterrand die Na-tionalversammlung auflösen und gemäß der Ver-fassung Neuwahlen ausschreiben. Dem Parti So-cialiste (PS) gelang ein Erdrutschsieg. Mit nun-mehr 266 Parlamentariern hatten die Sozialistenihre Fraktion im Vergleich zu den 113 Mandatenin Folge der Parlamentswahlen vom März 1978mehr als verdoppelt. Zusammen mit den assozi-ierten Linksliberalen des Mouvement des Radi-caux de Gauche (MRG), welcher 14 Abgeordne-te entsenden konnte, hatte der Parti Socialiste

7 Zu den Reaktionen in Folge der Niederschlagung desPrager Frühlings im PCF vgl.: Maud Bracke, Whichsocialism, whose détente. West European Communismand the Czechoslovak crisis 1968, Budapest, NewYork, 2007; Ulrich Pfeil: Sozialismus in den FarbenFrankreichs. SED, PCF und „Prager Frühling“, in:Deutschland Archiv, Band 34, Nr. 2/2001, S. 235-245.

nunmehr eine absolute Mehrheit von beinahe60% der Parlamentsmandate. Während die So-zialisten in bislang ungekanntem Maße reüssier-ten, stellten die Wahlen zur Assemblée Nationa-le am 14. und 21. Juni 1981 eine massive Nie-derlage des PCF dar. Hatten die französischenKommunisten bei den Parlamentswahlen 1978noch 86 Mandate erzielen können, kam es dreiJahre später beinahe zu einer Halbierung derFraktion auf nur noch 44 Abgeordnete. Damitsetzte sich ein Trend fort, der bereits seit denParlamentswahlen am 12. bzw. 19. März 1973zu beobachten gewesen war: Der neugegründeteParti Socialiste unter seinem charismatischenErsten Sekretär François Mitterrand schicktesich an, die jahrzehntelange Vorherrschaft derKommunisten auf der französischen Linken zubrechen. Die „Wiedereroberung des Terrainsdurch den Sozialismus“8 war seit der Neuorgani-sation der Sozialistischen Partei 1971 ein zentra-les Ziel der politischen Strategie Mitterrands ge-wesen.

Ähnliche Entwicklungen wie bei den Parla-mentswahlen hatten sich zuvor bereits bei denPräsidentschaftswahlen gezeigt. Noch vor derNeuorganisation der Sozialisten hatte JacquesDuclos als Kandidat des PCF 21,27% der abge-gebenen Wählerstimmen im ersten Wahlgangder Präsidentschaftswahl am 1. Juni 1969 erzieltund seinen sozialistischen Kontrahenten GastonDefferre, der lediglich 5,01% erhielt, damit deut-lich distanziert. 1974 hatte der PCF im Rahmender Union de la gauche die Kandidatur FrançoisMitterrands im ersten und zweiten Wahlgang un-terstützt und daher keinen eigenen Kandidatenaufgestellt. Nachdem Mitterrand im erstenWahlgang am 5. Mai 1974 mit 43,25% der Wäh-lerstimmen die meisten Stimmen erhielt, verlorer den zweiten Wahlgang am 19. Mai mit demhauchdünnen Rückstand von 1,62 Prozentpunk-ten gegenüber dem bürgerlichen KandidatenValéry Giscard d'Estaing.9 Bei der folgendenPräsidentschaftswahl erreichte PCF-Generalse-

8 François Mitterrand, Der Sieg der Rose. Meine Aufga-ben und Ziele, Düsseldorf, Wien 1981, S. 67.

9 Zu den französischen Präsidentschaftswahlen 1974 sie-he: Sylvie Colliard, La Campagne présidentielle deFrançois Mitterrand en 1974, Paris 1979.

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kretär Georges Marchais (1920-1997) am 26.April 1981 nur noch 15,35% im ersten Wahl-durchgang im Vergleich zu den 25,86% derWählerstimmen, die François Mitterrand alsKandidat des Parti Socialiste und späterer Wahl-sieger erzielte. Das gleiche Bild ergab sich beiden Wahlen unterer administrativer Gliederun-gen. Während der Parti Socialiste beispielsweisevon 14,8% im Jahre 1970 über 21,9% 1973 sei-nen Wählerstimmenanteil auf 26,6% im erstenWahlgang der Kantonalwahlen im März 1976beinahe verdoppelte, konnte der PCF mit Ergeb-nissen von 23,8% (1970), 22,7% (1973) und22,8% (1976) keine größeren Gewinne einfah-ren.10 Darüber hinaus waren die Sozialisten vomWählerstimmenanteil her erstmals wieder stärks-te Linkspartei Frankreichs geworden, wenn auchvorerst nur in den weniger wichtigen Kantonal-wahlen.

Nach der Wahl Mitterrands zum Staatspräsiden-ten und der deutlichen absoluten Parlaments-mehrheit nach den Wahlen zur Assemblée natio-nale im Jahre 1981 gab es keinen offensichtli-chen Grund, eine weitere Partei mit in die nun zubildende Regierung aufzunehmen. Trotzdemkam es zur ersten sozialistisch-kommunistischenRegierung Frankreichs der V. Republik. Im Ge-gensatz zur Volksfront, in welcher der PCF von1936 bis 1939 die sozialistisch geführten Regie-rungen unter Premierminister Léon Blum undseinem Nachfolger Camille Chautemps lediglichparlamentarisch unterstützt hatte, wurden dieKommunisten dieses Mal offizieller Teil der Re-gierungskoalition. Allerdings wurden dem PCFnur vier von insgesamt 36 Ministerposten zuge-standen.11 Der Grund für die Einbindung derKommunisten in die Regierung lag in der lang-fristigen Strategie Mitterrands im Umgang mit10 Helmut-Schmidt-Archiv im Archiv der sozialen Demo-

kratie Bonn (AdsD), 1/HSAA006587, Vermerk vonHerrn Massion an Bundeskanzler Schmidt über das Er-gebnis der Kantonalwahlen in Frankreich 1976,16.03.1976, Bonn.

11 Charles Fiterman wurde als Minister für das Transport-wesen, Anicet Le Pors als Minister für den öffentlichenDienst, Jack Ralite als Gesundheitsminister und MarcelRigout als Minister für Berufsausbildung und Weiter-bildung Bestandteil der neuen Regierung. Nach einerKabinettsreform im März 1983 wurden die kommunis-tisch besetzten Ministerien auf drei reduziert.

dem PCF begründet: Die massive Wahlniederla-ge des sozialistischen Kandidaten Defferre beiden Präsidentschaftswahlen im Juni 1969 hatteden letzten Beleg dafür geliefert, dass die franzö-sische Sozialdemokratie neu organsiert werdenmusste. Im Juli 1969 wurde der Parti Socialistein Issy-les-Moulineaux aus der alten sozialisti-schen Partei, der Section française de l'Interna-tionale ouvrière (SFIO), sowie weiteren Klein-parteien und Bewegungen neu gegründet. Abererst die Übernahme der Führungsrolle in derneuen Sozialistischen Partei durch François Mit-terrand auf dem Parteitag von Épinay im Juni1971 inklusive der Fusion mit weiteren Klein-parteien und Bewegungen der linken Mitte führ-ten zu einer neuen Ausrichtung.12 Mitterrand for-mulierte nach der Wahl zum Ersten Sekretär desParti Socialiste die Strategie der rééquilibragede la gauche, der Wiederherstellung des Gleich-gewichts in der französischen Linken. Mit Mit-terrand, der die Vorteile einer Unterstützung desPCF während seiner Präsidentschaftskandidatur1965 kennengelernt hatte, überwanden die So-zialisten somit erst zu Beginn der 1970er Jahreden massiven Antikommunismus der alten so-zialistischen Partei SFIO. Mitterrands Strategiebasierte zu Beginn der 1970er Jahre auf der tref-fenden Analyse, dass der Parti Socialiste auf dieWähler- und Mitgliederbasis des Parti Commu-niste angewiesen sein würde, wenn er Präsident-schaftswahlen gewinnen und Parlamentsmehr-heiten erobern wolle.13 Andererseits erkannteMitterrand, dass der PCF auf die Sozialisten an-gewiesen war, um die Teilhabe an der Macht zuerlangen. Eine Wahl des orthodoxen Kommunis-ten Georges Marchais zum französischen Staats-präsidenten war undenkbar, die Wahl des popu-lären Mitterrand hingegen schon. Zu diesemZweck strebte François Mitterrand für den, sei-

12 Zur Entwicklung Mitterrands hin zur neuen Führungs-figur der Sozialisten vgl: Michel Winock: La gaucheen France, Paris 2006, S. 270-286.

13 Der PCF verfügte 1975 mit ca. 500.000 Mitgliedernüber knapp vier Mal so viele Mitglieder wie der PartiSocialiste und war deutlich besser organisiert (vgl.:Wolfgang Jäger, Die sozialistische und kommunisti-sche Partei Frankreichs, in: Dieter Oberndörfer(Hrsg.), Sozialistische und kommunistische Parteien inWesteuropa, Band 1: Südländer, Opladen 1978, S. 35-132 [hier: 49].

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nerzeit im Vergleich zum Parti Communistenoch deutlich schwächeren, Parti Socialiste, eineenge Zusammenarbeit an, die am 26. Juni 1972im Programme commun zwischen beiden Partei-en mündete.14 Am 27. November 1973 wurdedas Programme commun zusätzlich von RobertFabre, dem Protagonisten der kleinen linkslibe-ralen Partei MRG, ratifiziert.

Seine wahre Strategie im Umgang mit den Kom-munisten offenbarte Mitterrand bereits zweiTage nach der Unterzeichnung des Programmecommun am 28. Juni 1972 einem geschlossenenKreis sozialdemokratischer Spitzenpolitiker umWilly Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palmewährend einer Sitzung der Sozialistischen Inter-nationale in Wien, wo er zu Protokoll gab, dasssein fundamentales Ziel sei, zu demonstrieren,dass von fünf Millionen Wählern der Kommu-nistischen Partei in Zukunft drei Millionen fürdie Sozialisten stimmen werden.15

Dennoch wurde Mitterrand für seine Strategiekritisiert. Die Erfahrungen mit kommunistischenParteien ließen zahlreiche Führungsfiguren dereuropäischen Sozialdemokratie am vermeintli-chen Erfolg Mitterrands zweifeln. Mehrmalskam es zu offenen Auseinandersetzungen überdie Frage der Zusammenarbeit mit Kommunis-ten. Besonders kritisch zeigte sich der deutscheBundeskanzler Helmut Schmidt dem französi-schen Sozialistenführer gegenüber. „KeinerleiZusammenarbeit mit Kommunisten“ warfSchmidt Mitterrand entgegen, als dieser bei demTreffen europäischer Sozialistenführer im däni-schen Helsingör im Januar 1976 die von ihm in-itiierte Zusammenarbeit mit Kommunisten fürdie europäischen Schwesternparteien weiteremp-fahl.16 Trotz der Kritik hielt Mitterrand dennochan seiner Strategie fest. Unterstützung erhielt er

14 Das „Programme commun du gouvernement du PartiCommuniste Français et du Parti Socialiste“ ist in deut-scher Übersetzung abgedruckt in: Georges Marchais(Hrsg.), Gemeinsames Regierungsprogramm der Fran-zösischen Kommunistische Partei und der Sozialisti-schen Partei vom 27. Juni 1972, Frankfurt am Main1972.

15 Vgl. Kevin Devlin, Eurocommunism. Between Eastand West, in: Derek Leebaert (Hrsg.), European Secur-ity. Prospects for the 1980s, Lexington (Massachu-setts), Toronto 1979, S. 247.

vom PCF-Generalsekretär George Marchais.Auch dieser war sich der Notwendigkeit einertaktischen Zusammenarbeit mit den Sozialistenbewusst, um landesweite Wahlen zu gewinnen.Nach Informationen des linksgaullistischen ehe-maligen Staatsministers und Regierungsspre-chers Léo Hamon hatte Georges Marchais zuden Kritikern des Progamme commun im Polit-büro des PCF gesagt: „Je mehr die Kommunis-ten in diesen Ländern [den westlichen Industrie-nationen, d. Verf.] den Klassenkampf predigten,desto geringer werde ihre Anhängerschaft in derArbeiterschaft.“17 Ebenso erhoffte sich Marchais,den PS durch das gemeinsame Programm vonseinem „reformistischen Kurs“18 abzubringen.Nichtsdestotrotz stand hinter Marchais Äußerun-gen keine inhaltliche Neuausrichtung der Kom-munisten, sondern lediglich taktisches Kalkül.

IV. Die Parlamentswahlen im März 1978

Sechs Monate vor den Parlamentswahlen imMärz 1978 – in einer Phase als Wahlprognoseneinen Sieg der sozialistisch-kommunistischenUnion de la gauche für möglich hielten – been-deten die Kommunisten im September 1977überraschend die Zusammenarbeit mit den So-zialisten während der Überarbeitung des Pro-gramme commun. In Folge des Berichts desPCF-Politbüromitglieds Jean Kanapa hatte dieKommunistische Partei ihre verteidigungspoliti-sche Haltung radikal geändert und sprach sichnun, entgegen den Abmachungen im Program-me commun, für die Beibehaltung der Force defrappe, der französischen Atomstreitmacht,aus.19 Zwar hatten beide Parteien von dem ge-meinsamen Programm profitiert, die Sozialistenjedoch deutlich stärker als der PCF. Der Abstand16 Helmut Schmidt zitiert in: Der Spiegel, Nr. 6/1976, S.

82.17 AdsD, Nachlass Günter Markscheffel, Nr. 22, Brief

von Günter Markscheffel an Willy Brandt mit der Auf-zeichnung von in Paris geführten Gesprächen Marks-cheffels am 11. und 12. Okt. 1976, 13.10.1976, S. 6.

18 Ebenda.19 Zum Kanapa-Bericht und dessen Folgen siehe: Fried-

helm B. Meyer zu Natrup, Roter Gaullismus? Die si-cherheitspolitischen Vorstellungen der Kommunisti-schen Partei Frankreichs. 1958-1981, Paderborn 1983,S. 235-259.

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in den Wahlen zwischen den seit Jahrzehntenmehr Wählerstimmen erhaltenden Kommunistenund den nunmehr immer stärker aufschließendenSozialisten hatte sich aus Sicht der PCF-Führungdramatisch reduziert. Die eigenen Zugewinneverliefen nicht proportional zu denen der Sozia-listischen Partei Mitterrands, was die Führungs-spitze des Parti Communiste um Georges Mar-chais zu einem kurzfristigen und radikalen Kurs-wechsel gegen den Parti Socialiste trieb.20 Dar-über hinaus hatte der PS seit der Initiierung derunion de la gauche mehr neue Mitglieder als derPCF aufgenommen. Dementsprechend erfolgteder Bruch vor den Parlamentswahlen 1978 nurvordergründig aufgrund von inhaltlichen Mei-nungsverschiedenheiten. Wichtiger war derPCF-Führung, den gemeinsamen Wahlsieg derLinksunion zu vermeiden, wenn der Parti Socia-liste, wie Ende 1977 abzusehen war, als deutlichstärkere Partei aus den Wahlen herausgehenwürde.21 In Folge des Bruchs der union de lagauche kam es vom PCF aus erneut zu einer inihrer Rhetorik beispiellosen Diffamierung derfranzösischen und europäischen Sozialdemokra-tie, wobei auch von kommunistischer Seite anantideutsche Ressentiments in der französischenBevölkerung appelliert wurde.22 Laut Informatio-nen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel steck-te die PCF-Führung nach dem Bruch der Linksu-nion fünf Millionen DM in eine antisozialisti-sche Kampagne gegen den PS.23

Nicht zuletzt aufgrund des Bruchs der union dela gauche wurde bei den folgenden Parlaments-wahlen am 12. bzw. 19. März 1978 eine linke

20 Vgl. Peter Scholl-Latour, Die politische ZukunftFrankreichs, in: Götz Hohenstein (Hrsg.), Der Umwegzur Macht. Euro-Kommunismus, München 1979, S.209-213.

21 Vgl. Ronald Tiersky, French Communism, Eurocom-munism and Soviet Power, in: Rudolf L. Tökés(Hrsg.), Eurocommunism and Détente, Oxford 1979,S. 196ff.

22 Vgl. Institut für Friedensforschung und Sicherheitspo-litik (Hrsg.), Eurokommunismus und westeuropäischeSicherheitspolitik, Hamburg 1978, S. 51f.; Klaus Kell-mann, Pluralistischer Kommunismus? Wandlungsten-denzen eurokommunistischer Parteien in Westeuropaund ihre Reaktion auf die Erneuerung in Polen, Stutt-gart 1984, S. 229.

23 Der Spiegel, Nr. 51/1977, S. 128.

Mehrheit in der Nationalversammlung verfehlt.Allerdings erreichte Mitterrand sein Ziel der réé-quilibrage de la gauche. Mit 22,58% zu 20,55%der Wählerstimmen erhielten die Sozialistenerstmals seit Jahrzehnten wieder mehr Wähler-stimmen als der Parti Communiste. Der von Mit-terrand angestrebte Gleichstand in der französi-schen Linken war somit in Bezug auf Wähler-stimmen und Mandate erreicht und übertroffenworden. In einem nächsten Schritt sollte der Par-ti Socialiste ein strukturelles Übergewicht aufder Linken erhalten. Hierfür war eine deutlicheSchwächung der französischen KommunistenVoraussetzung.

V. Die sozialistisch-kommunistische Regierung1981 als Teil von Mitterrands Strategie

Die endgültige Schwächung der Kommunistensollte in Folge des deutlichen Wahlsiegs des PS inder Parlamentswahl 1981 durch die Aufnahme derKommunisten in die Regierung Mauroy, trotz ab-soluter Mehrheit der sozialistischen Parlaments-fraktion, evoziert werden. Mitterrand ging davonaus, dass die in Folge des Eurokommunismus auf-getretenen innerparteilichen Streitigkeiten bei denfranzösischen Kommunisten durch die Einbin-dung in die gouvernementale Verantwortung wei-ter angeheizt werden würden.24 Die Befürwortereiner an der Sowjetunion orientierten Politik umPCF-Generalsekretär Georges Marchais, die inder Regierungsbeteiligung nur einen taktischenSchritt zur eigenen Wählermaximierung sehenwürden, sollten früher oder später in Konfliktmit den Anhängern einer eurokommunistischen,von der Sowjetunion unabhängigen Reformpoli-tik geraten. Durch die Einbindung in die Realpo-litik wurden insbesondere die kommunistischenMinister der Regierung Mauroy langfristig zuProtagonisten des eurokommunistischen Flügelsim PCF, während sich der Großteil des Politbü-ros um Generalsekretär Marchais weiterhin in

24 Zum Umgang mit dem Eurokommunismus im PCF sie-he: Nikolas Dörr, Wandel des Kommunismus in West-europa. Eine Analyse der innerparteilichen Entwick-lungen in den Kommunistischen Parteien Frankreichs,Finnlands und Italiens im Zuge des Eurokommunis-mus, Berlin 2006, S. 21-42 (im Folgenden: Eurokom-munismus).

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deutlicher Oppositionsrhetorik übte.25 Transport-minister Charles Fiterman, einst als potentiellerNachfolger Marchais gehandelt, avancierte mitseinem späteren Übertritt zum Parti Socialistegar zum „highest ranking dissident since the1920s“26.

Mit der Schwächung der französischen Kommu-nisten würde sich, so Mitterrands Annahme, diefür das französische Parteiensystem der V. Re-publik charakteristische Quadrille Bipolaire auf-lösen.27

Der Begriff der Quadrille Bipolaire wurde vonMaurice Duverger in die französische Politik-wissenschaft eingeführt.28 Er bezeichnet das fürdas französische Parteiensystem bis zum Nieder-gang des PCF typische Ergebnis eines Bipolaris-mus von je zwei in etwa gleichstarken Parteiender politischen Linken und Rechten: auf der Lin-ken die Kommunisten und die Sozialisten, aufder Rechten die Neogaullisten des Rassemble-ment pour la République (RPR) und die Zentris-ten der Union pour la Démocratie Française(UDF). Aufgrund des französischen Wahlsys-tems für Parlamentswahlen in der V. Republik –die Sonderstellung der später noch zu bespre-chenden Parlamentswahlen 1986 ausgenommen– hätte eine Reduktion des kommunistischenWahlergebnisses zu einem strukturellen Überge-wicht des Parti Socialiste führen sollen. Die ver-bleibenden Parteien der Rechten in der Quadril-le Bipolaire, RPR und UDF, sollten sich, da sieeine ähnliche Wählerklientel ansprachen, beiWahlen weiterhin gegenseitig Stimmen abneh-men, während es auf der linken keinen direktenKonkurrenten für die Sozialisten mehr gebenwürde, so Mitterrands Annahme. Auf diese Wei-se sollten zahlreiche Wahlkreise bereits im ers-

25 Vgl. Charles Fiterman, Profession de foi. Pour l’hon-neur de la politique, Paris 2005; Anicet Le Pors, Pen-dant la mue, le serpent est aveugle. Chronique d’unedifférence, Paris 1993.

26 David Scott Bell / Byron Criddle, The french commun-ist party in the fifth republic, Oxford, 1994, S. 234.

27 Zur Quadrille Bipolaire siehe: Andrew Knapp: Partiesand the Party System in France. A Disconnected De-mocracy?, Basingstoke u.a. 2004, S. 42f.

28 Vgl. Maurice Duverger, La système politique français,Paris 1996, S. 468ff.

ten Wahldurchgang mit absoluter Mehrheit vomParti Socialiste gewonnen werden.

Bereits das erste Regierungsprogramm von 1981wurde zu einem „Gang nach Canossa“ für dieKommunistische Partei.29 Insbesondere die fran-zösische Zustimmung zum NATO-Doppelbe-schluss sowie die Anerkennung des Selbstbe-stimmungsrechts des polnischen und afghani-schen Volkes in der gemeinsamen Regierungser-klärung waren, zu einem Zeitpunkt der kommu-nistischen Unterdrückung der freien Gewerk-schaft Solidarność in Polen und weniger als zweiJahre nach dem Beginn der sowjetischen Okku-pation Afghanistans, ein Affront gegenüber demweitestgehend moskautreuen PCF.30

Die massiven und vor allem kontinuierlichenWahlniederlagen des Parti Communiste Françaisseit der Regierungsbeteiligung 1981 führten vor-erst zu Mitterrands gewünschtem Ergebnis.31 In-nerhalb der Kommunistischen Partei kam es zuintensiven Auseinandersetzungen zwischen Be-fürwortern einer eurokommunistischen Reformim Stil des italienischen Partito Comunista Ita-liano (PCI)32 und den moskautreuen Kommunis-ten um Generalsekretär Marchais. Die Rufe nacheiner grundlegenden Reform des PCF wurdenweitestgehend mit – in ihrer Wirkung auf diefranzösische Öffentlichkeit verheerenden – Par-teiausschlüssen durch die orthodox-kommunisti-sche Führung beantwortet. Lediglich vier Mona-te nach dem Eintritt in die Regierung Mauroyschloss die Kommunistische Partei im Oktober1981 mit Henri Fiszbin den ehemaligen ErstenSekretär der Pariser PCF-Sektion und Parlaments-abgeordneten wegen dessen reformorientierter

29 Vgl. Klaus Kellmann, Die kommunistischen Parteienin Westeuropa. Entwicklung zur Sozialdemokratieoder Sekte?, Stuttgart 1988, S. 145f.

30 Die gemeinsame Erklärung vom 25. Juni 1981 über dieZusammenarbeit in der Regierung des Parti Socialisteund des Parti Communiste Français ist abgedruckt in:Lawrence L. Whetten, New International Communism.The Foreign and Defence Policies of the LatinEuropean Communist Parties, Lexington (Massachu-setts), Toronto 1982, S. 235-237.

31 Vgl. Stéphane Courtois / Marc Lazar, Histoire du Particommuniste français, Paris 1995, S. 398-407.

32 Zum Eurokommunismus im PCI vgl.: Dörr: Eurokom-munismus, S. 60-80.

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Einstellung aus der Partei aus. Mit ihm wurdenweitere kommunistische Kritiker ausgeschlos-sen, die sich um die von Fiszbin gegründete, re-formorientierte Zeitschrift Rencontres commu-nistes versammelt hatten. Fiszbin konstatiertekurze Zeit später: „In den letzten zehn Jahrenhatte die KP begonnen, sich zu demokratisieren.Leider ist das wieder aufgegeben worden. DieFolge ist die derzeitige tiefe Krise der Partei.Zwar behauptet die Parteiführung unermüdlich,daß frei diskutiert werde, in Wirklichkeit aberunterdrückt man den freien Meinungsaustauschund hat Angst vor der öffentlichen Diskussion[...] Die Krise kann sich jetzt nur noch verschär-fen.“33

Die Krise innerhalb des PCF hatte sich insbeson-dere nach dem Tournant de la rigueur, dem radi-kalen Wechsel in der Wirtschafts- und Finanzpo-litik der französischen Regierung im März 1983,noch einmal verschlimmert. Statt einer auf denTheorien John Maynard Keynes beruhenden Po-litik des deficit spending kam es nun zu einer fürden PCF langfristig untragbaren Austeritätspoli-tik, die ab Juli 1984 mit dem neuen sozialisti-schen Premierminister Laurent Fabius nochdeutlich verschärft werden sollte. Die wirt-schafts- und finanzpolitischen Misserfolge derersten Jahre der sozialistisch-kommunistischenRegierung wurden in der Öffentlichkeit zugroßen Teilen den Kommunisten angelastet, ob-wohl diese, wie bereits erwähnt, de facto nurüber einen geringen Einfluss in der Regierungverfügten. Nichtsdestotrotz wurden die zahlrei-chen Verstaatlichungen von Großunternehmen,Steuererhöhungen und die ausgabenfreudige Po-litik eher der kommunistischen Ideologie alsdem Parti Socialiste zugeschrieben. Ebenso alar-mierten die Wahlniederlage bei den Kommunal-wahlen am 6. bzw. 13. März 1983 und die deut-liche Niederlage bei den Wahlen zum Europäi-schen Parlament am 17. Juni 1984 die Führungdes PCF um Generalsekretär Marchais.34 Im Juli1984 entschied sich die PCF-Führung daher,

33 Henri Fiszbin in: Der Spiegel, Nr. 43/1981, S. 160.34 Vgl. Yves Santamaria, Histoire du Parti communiste

français, Paris 1999, S. 90f.

nicht mehr in die Regierung des neuen Premier-ministers Fabius einzutreten.35

VI. Die Wahlrechtsreform 1986 und die Ink-aufnahme des Aufstiegs des Front National

In einem zweiten Schritt versuchte François Mit-terrand, neben dem weiterhin gültigen Ziel einerReduktion der kommunistischen Wahlergebnis-se, eine langfristige Schwächung der beiden par-teipolitischen Kontrahenten auf der Rechten,RPR und UDF, zu initiieren. Der rechtsextremeFront National mit dem Vorsitzenden Jean-Ma-rie Le Pen spielte hierbei als „taktische Hilfe“36

eine zentrale Rolle, da die Partei rechtskonserva-tive Wähler der beiden großen Mitte-Rechts-Par-teien auf sich vereinigen sollte. Zu diesemZweck setzte sich Mitterrand erfolgreich für dieEinführung des Verhältniswahlsystems für dieParlamentswahlen 1986 ein, obwohl einflussrei-che Sozialisten vor den Folgen warnten.37 Diesich in Wahlprognosen abzeichnende ungünstigeAusgangssituation für den Parti Socialiste imbisherigen absoluten Mehrheitswahlsystem sollteauf diese Weise umgangen werden, während derPCF durch das Verhältniswahlsystem weiter ge-schwächt werden würde. Dieser wurde, da dieKommunisten mittlerweile nicht mehr landes-weit hohe Ergebnisse erzielten, sondern ihreWählerbasis in elektoralen Hochburgen hatten,durch das bisherige absolute Mehrheitswahlsys-tem bevorzugt. Das Ergebnis war aus Sicht derSozialisten jedoch ernüchternd: RPR und UDFgewannen mit deutlicher Mehrheit und, wie auf-grund des neu eingeführten Verhältniswahlsys-tems zu erwarten gewesen war, der rechtsextre-me Front National zog mit fast zehn Prozent derabgegebenen Wählerstimmen erstmals in Frakti-onsstärke in die Nationalversammlung ein. Le-diglich die weitere Dezimierung des PCF war

35 Vgl. Franz-Olivier Giesbert, Francois Mitterrand. DieBiographie, Berlin 1997, S. 396-399.

36 Ernst Weisenfeld, Frankreichs Geschichte seit 1945.Von de Gaulle bis zur Gegenwart, München 1997, S.292.

37 So trat beispielsweise mit dem LandwirtschafsministerMichel Rocard am 4. April 1985 eine Führungsfigurdes Parti Socialiste aus Protest gegen die Einführungdes Verhältniswahlsystems von seinem Amt zurück.

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Mitterrand gelungen. Bei den Wahlen zur As-semblée Nationale am 16. März 1986 erhielt derPCF erstmals seit 1932 wieder weniger als zehnProzent der Wählerstimmen bei einer landeswei-ten Wahl.38 Ebenso gravierend war aus kommu-nistischer Perspektive, dass der rechtsextremeFront National nun ebenso viele Abgeordnete indie Nationalversammlung entsenden konnte wiedie Kommunistische Partei. Durch den Wahlsiegder Neogaullisten kam es zur ersten Cohabitati-on39 der V. Republik. Jacques Chirac wurde neu-er Premierminister. Die Wahlgesetzänderungwurde von der neuen Regierung umgehend wie-der rückgängig gemacht.

VII. Die langfristigen Folgen der rééquilibragede la gauche

Das Fazit der mitterrandschen Strategie im Um-gang mit dem PCF fällt somit ambivalent aus:Einerseits wurde die bis Ende der 1970er Jahregrößte Partei der französischen Linken in ihremEinfluss deutlich minimiert und der Parti Socia-liste erreichte somit nach Jahrzehnten wieder dieFührungspositionen in der Linken. Andererseitserwuchsen im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre weitere Parteien, die verhinderten, dass dieverlorenen Wählerschichten des PCF vollständigzum Parti Socialiste wanderten.40 Hierzu gehörendie in den letzten Jahren zunehmend erfolgrei-chen trotzkistischen Parteien Lutte Ouvrière undLigue Communiste Révolutionnaire41 bzw. seit

38 Der PS erreichte in den Parlamentswahlen 198631,02% der Stimmen und 206 Mandate, der PCF9,78% und 35 Mandate und der FN gewann 9,65% undebenfalls 35 Mandate.

39 Cohabitation bezeichnet den Sonderzustand im semi-präsidentiellen System Frankreichs, wenn der Präsidentals Staatsoberhaupt und der Premierminister als Regie-rungschef unterschiedlichen politischen Lagern ent-stammen.

40 Vgl. Alistair Cole, Das französische Parteiensystem inden 90er Jahren. Wandlungstendenzen und Erklärungs-muster, in: Sabine Ruß et al. (Hrsg.), Parteien in Frank-reich. Kontinuität und Wandel in der V. Republik,Opladen 2000, S. 35-56.

41 Am 8. Februar 2009 hat sich die Ligue CommunisteRévolutionnaire in den Nouveau Parti anticapitalisteumgewandelt. Vgl. hierzu auch : Renaud Dély, Linksvon der PS. Frankreichs linker politischer Rand organi-siert sich neu, Paris, 2009, in: http://www.fesparis.org/

Februar 2009 der neugegründete Parti de Gau-che. Von der Hauptwählerklientel des PCF, derfranzösischen Arbeiterschaft, ist nur ein Bruch-teil zum Parti Socialiste gewechselt. Wahlanaly-sen zeigen dort weiterhin eine deutliche Schwä-che der seit der Parteigründung vor allem vonAngestellten, Beamten und Akademikern ge-wählten Sozialistischen Partei. Der größte Teilder kommunistischen Wählerbasis ist zumrechtsextremen Front National abgewandert.42

Bei der Parlamentswahl im Jahr 2002 stieg dervon Jean-Marie Le Pen geführte Front Nationalzur stärksten Partei in der ehemals mehrheitlichkommunistisch wählenden französischen Ar-beiterschaft auf.

Für den Parti Socialiste ist somit eine, im Ver-gleich zum gut und straff organisierten PCF,deutlich schwierigere und kontrollierbare Massean linken Splitterparteien entstanden. Prägnan-testes Ergebnis dieser Spätfolge der StrategieMitterrands ist die verheerende Niederlage desParti Socialiste im ersten Wahlgang der Präsi-dentschaftswahlen am 21. April 2002.43 Premier-minister Lionel Jospin schied als Kandidat desParti Socialiste mit 16,18% der Stimmen alsdrittplatzierter Kandidat hinter dem amtierendenneogaullistischen Präsident Jacques Chirac(19,88%) und dem Vorsitzenden des rechtsextre-men Front National Jean-Marie Le Pen (16,86%)für den entscheidenden Wahlgang am 5. Mai2002 aus. Ein Bruchteil der ehemals kommunis-tischen Wähler, welche sich größtenteils auf LePen sowie die trotzkistischen Kandidaten ArletteLaguiller (5,72%), Olivier Besancenot (4,25%)und Daniel Gluckstein (0,47%) verteilten – PCF-Kandidat Robert Hue erhielt selbst lediglich3,37% der Stimmen –, hätte ausgereicht, um

common/pdf/publications/Dely.pdf (Abruf am 25. Jan.2011).

42 Vgl.: Françoise Platone / Henry Rey, Le FN en terrecommuniste, in: Nonna Mayer / Pascal Perrineau(Hrsg.), Le Front National à découvert, Paris 1989, S.268-282.

43 Zur Analyse der Präsidentschafts- und Parlamentswah-len 2002 siehe: Patrice Buffotot / David Hanley, Thenormalisation of French Politics? The elections of2002, in: Modern & Contemporary France, Nr. 2/2003,S. 131-146.

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dem sozialistischen Kandidaten die Teilnahmeam zweiten Wahlgang zu sichern.

Mitterrands Strategie muss ebenso vor dem Hin-tergrund der willentlich in Kauf genommenenStärkung des Front National kritisch gesehenwerden. Die Einführung des Verhältniswahl-rechts hatte erwartungsgemäß eine weitereSchwächung des PCF zur Folge, der durch seineelektoralen Hochburgen im Mehrheitswahlsys-tem einen Vorteil hatte, während es den FrontNational, der wiederum im Mehrheitswahlsys-tem bislang keinen Kandidaten hatte durchbrin-gen können, erstmals in Fraktionsstärke in dieNationalversammlung einziehen ließ. In der Par-teienforschung wird dies als Durchbruch desFront National gewertet, der bis dato kaum Me-dienaufmerksamkeit erfahren hatte.44

Langfristig gesehen hat es der Parti Socialisteversäumt, den Weg der Neogaullisten einzu-schlagen. Diese haben im November 2002 mitder Union pour un Mouvement Populaire (UMP)eine Sammlungsbewegung begründet, die ideo-logisch gesehen das gesamte Spektrum der Mittebis zum rechten Rand hin abdeckt. In dieserBreite ist die UMP ein Novum für Frankreich.Neben dem neogaullistischen RPR sind derGroßteil der UDF sowie zahlreiche Kleinpartei-en aus dem liberalen, christlichen und konserva-tiven Spektrum der UMP beigetreten. Ebenso hatsich ein Teil namhafter und langjähriger Sozia-listen der UMP angeschlossen oder unterstützendiese, so wie der ehemalige französische Außen-minister Bernard Kouchner.

Der Parti Socialiste hat hingegen in Folge desNiedergangs des PCF in den letzten 15 Jahrenauf das Bündnis einer Vielzahl eigenständigerlinker Parteien gesetzt (sog. Majorité pluriellebzw. Gauche plurielle). Diesen Kleinparteien istein, im französischen Wahlvolk gerne angenom-mener, Populismus aus verschiedenen Richtun-gen möglich, der dazu führte und führt, dass sichdie Sozialistische Partei in den vergangenen Jah-ren nicht mehr ausreichend positionieren konnte.Eine tragfeste Koalition auf der französischen

44 Vgl. Jonathan Marcus, The National Front and FrenchPolitics. The Resistible Rise of Jean-Marie Le Pen,London 1995.

Linken unter der Führung des Parti Socialiste zubilden, erscheint momentan kaum möglich. Derminimierte PCF reicht als Koalitionspartnernicht mehr aus. Und die Folgen dieser Minimie-rung – zersplitterte äußere Linke mit mehrerenKleinparteien, ehemals kommunistisch wählendeArbeiter, die nun den rechtsextremen Front Na-tional wählen – lassen eine erfolgreiche Block-bildung unwahrscheinlich erscheinen. Eine koor-dinierte Unterstützung für sozialistische Kandida-ten in den zweiten Wahlgängen bei Parlaments-und Präsidentschaftswahlen, wie sie im FalleMitterrands erfolgreich durch den PCF prakti-ziert wurde, ist durch die Vielzahl von neu ent-standenen Parteien links des Parti Socialistekaum denkbar. Folge hiervon ist, dass die Sozia-listen seit dem Ende von Mitterrands Amtszeitals Staatspräsident am 17. Mai 1995 nur nocheinmal zwischen 1997 und 2002 mit Lionel Jo-spin als Premierminister eines der höchstenStaatsämter bekleiden konnten. Die Folgen dermitterrandschen Strategie im Umgang mit demPCF sind demnach bis heute deutlich erkennbarund prägen das aktuelle französische Parteien-system.

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MIP 2011 17. Jhrg. Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung Aufsätze

Die Wählerschaft der FDP 2001 bis2010 – Versuch einer Qualifizie-rung

Thomas Volkmann, M.A.1

Die Freie Demokratische Partei hat bei denWahlen zum Europäischen Parlament, zumDeutschen Bundestag und zu den Länderparla-menten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundertseine für viele überraschend positive Entwicklunggenommen. Im Jahr 2010 hatte die Partei es ge-schafft, nach den zum Teil quälend schlechtenWahlergebnissen in den neunziger Jahren, in al-len Parlamenten mit Ausnahme der Hamburgi-schen Bürgerschaft vertreten zu sein. Insbeson-dere in der zweiten Hälfte der Dekade wurdendabei zum Teil historische Höchstergebnisse er-zielt.

Dieser Beitrag befasst sich mit den Wählern2, dieder FDP bei den jeweiligen Wahlen ihre Stimmegegeben haben. Die verwendeten Daten stam-men dabei aus den Wahltagsbefragungen der In-stitute Infratest dimap bzw. ForschungsgruppeWahlen, erhoben zu den jeweiligen Wahlen.

Die Kernfrage der vorgelegten Auswertung ist:Wer wählte die FDP aus welchen Gründen, undwann fiel die Entscheidung?

Die Wahlchancen einer Partei bestimmen sichnicht nur nach der allgemeinen politischen Lage;konkrete Wahlergebnisse richten sich immerauch an bestimmten Faktoren aus: an Wählermi-lieus, an Themen, an Imagefragen oder an Perso-nalfragen. Vor diesem Hintergrund lohnt eineRückschau auf die Wahlergebnisse der FDP von2001-2010, um die nahe liegenden Fragen zu

1 Der Autor ist Referent für Sozialforschung, politischeAnalysen, Wahl- und Meinungsforschung im LiberalenInstitut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Frei-heit.

2 Zur sprachlichen Vereinfachung wird der Begriff„Wähler“ hier und im Folgenden geschlechtsneutralsowohl für die männliche, als auch für die weiblicheWählerschaft verwendet.

klären, aus welchen Personengruppen, anhandwelcher Themen und mit welchen strategischenSchwerpunkten sich die Wähler bei diesenWahlen entschieden haben und welche länger-fristigen Signifikanzen sich dabei ergeben.

Zielrichtung der Untersuchung ist nicht die Er-klärung von Wählerverhalten anhand wahlsozio-logischer Theorien und Modelle. Diese Ausar-beitung kann und will nicht erklären, warumMenschen in ihrer Gesamtpersönlichkeit gene-rell die FDP wählen oder warum sie es ebennicht tun oder gar, wie typische FDP-Wähler be-schaffen sind. Es geht nicht um theoretische Er-klärungsmodelle für Wahlverhalten3, sondernum eine konkrete Darstellung tatsächlichenWahlverhaltens. Hier kann nur versucht werden,anhand der tatsächlichen Daten über die sozialeZusammensetzung der FDP-Wählerschaft oderüber die faktische Darstellung der von den Wäh-lern als ihre Wahlentscheidung begründend ge-nannten Themen oder sonstiger Motivationen zuermitteln, wie viele Wähler ihre faktische Wahl-entscheidung mit bestimmten Faktoren begrün-den.

Ausdrücklich geht es hier nicht um das, was ge-legentlich4 in der Wissenschaft als Hauptinteres-se der politischen Parteien an der empirischenWahlforschung genannt wird: das Wissen umdie Ursachen der Wahlentscheidung zur Opti-mierung ihrer Strategien des höchsten Wahler-folgs einzusetzen, um politische Macht zu erlan-gen oder zu erhalten5.

Neben der reinen Kategorisierung der Wähler-schaft nach bestimmten sozio-demographischen

3 Auch wenn hier zur Konzeption der Darstellung er-kennbar einem gemischten soziologischen und sozial-psychologischen (Ann Arbor) Ansatz gefolgt wird, wo-nach neben der Einbettung in bestimmte soziale Grup-pen und einen gesellschaftlichen Kontext die individu-elle Wahrnehmung und Einschätzung von kurzfristigenEinflüssen wie Kandidaten und Sachthemen die Wahl-entscheidung der Einzelnen beeinflusst.

4 z.B. bei Roth, Empirische Wahlforschung – Ursprung,Theorien, Instrumente und Methoden, 2. Auflage VSVerlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008,S. 14f.

5 Insofern können in dieser Darstellung auch Rational-Choice-Ansätze zur Erklärung von Wahlverhalten au-ßen vor bleiben.

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

Faktoren muss bei der Betrachtung beachtet wer-den, dass auch diese Faktoren, bezogen auf diesie einbringenden Personen, Veränderungen un-terliegen, deren Indikatoren im Gesamtzusam-menhang nicht zu operationalisieren sind, weilsie zwar von der Bevölkerungsforschung, abernicht von der Wahlforschung erfasst und ausge-wertet werden – gemeint sind hier zum BeispielÄnderungstendenzen bezüglich der Altersgrup-pen unter Beibehaltung anderer Persönlichkeits-merkmale, Veränderungen in der allgemeinenBerufsstruktur mit sich dadurch ändernden Be-zugsgrößen oder auch politisch veranlasste Än-derungen in der Bildungsstruktur. So sind ebendie Auszubildenden von 2001 möglicherweisedie leitenden Angestellten von 2009, die „lin-ken“ Studenten von 2002 die verbeamteten Leh-rer von 2008 oder die Freiberufler von 2000 dieArbeitslosen von 2010, ohne dass dies durch tra-ditionelle Wahlanalysen erkennbar und nachvoll-ziehbar gemacht werden könnte.

Die Wahlen eines Jahrzehnts sind nur im regio-nalen Bezug miteinander vergleichbar, also je-weils die Länderergebnisse mit den jeweiligenLänderergebnissen, die Ergebnisse auf Bundes-ebene miteinander oder ähnliches. Es gibt für diekonkrete Wahlsituation in den Ländern vielespezifische Gründe, viele in langen Jahrzehntennahezu unveränderte Ausgangsbedingungen undWirkungsketten, die die Wahlergebnisse oftmalsnur landesspezifisch erklärbar machen. Vor die-sem Hintergrund kann ein abstraktes prozentua-les Ergebnis zum Beispiel in einem Stadtstaatwie Hamburg oder Bremen im spezifischen Ver-gleich als herausragend qualifiziert werden, dasin seiner prozentualen Ausformung für ein Flä-chenland mit starker liberaler Sympathisanten-Basis, wie zum Beispiel Baden-Württembergoder Hessen deutlich unterdurchschnittlich wäre.

Die Ausarbeitung verfolgt also, bedingt durcheine zweigeteilte und sich dadurch wiederholen-de Reihenfolge der Wahlen, eine Unterteilung inzwei Zyklen, von 2001-2005 und von 2006-2010. Nur in diesem Rahmen gibt es die Mög-lichkeit, spezifische Bedingungen für die gutenFDP Ergebnisse, wie sie sich ab Jahresanfang2008 aufzeigen, angemessen darzustellen.

Die Auswertung orientiert sich dabei an der tat-sächlichen Wählerschaft bei den jeweiligenWahlen, nicht an bevölkerungsspezifischen Da-ten. Dementsprechend lässt sich die Frage desWählerpotenzials, das prinzipiell für die FDP er-reichbar wäre, anhand dieser Zahlen nicht ein-deutig beantworten. Schließlich muss beachtetwerden, dass bei manchen dieser Wahlen dieWahlbeteiligung knapp über oder unter 50 %lag. Da die sogenannten Nichtwähler sich in die-ser Statistik nicht erfassen, und schon gar nichtspezifizieren und qualifizieren lassen, be-schränkt sich die Darstellung schlichtweg auf dieWählerschaft der FDP im Vergleich zur Gesamt-wählerschaft.

I. Zeithistorischer Zusammenhang: Die Wahl-ergebnisse der FDP 2001 – 2010

Die FDP startete aus einer schwierigen politi-schen Lage in das erste Jahrzehnt des 21. Jahr-hunderts: Nach dem Ende der schwarz-gelbenRegierung Kohl im Jahre 1998 gab es bei denLandtagswahlen für die FDP ausschließlich Ver-luste, mit Ausnahme der Wahlen in Schles-wig-Holstein im Februar 2000 und in Nordrhein-Westfalen im Mai 2000, und zum Teil Ergebnis-se von 1,9 % oder 1,1 %.

Die Wahlen ab 2001 brachten, mit Ausnahmenvon Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz,deutliche Verbesserungen gegenüber den Vor-wahlen. „Leuchttürme“ waren hier die Wahlenin Berlin mit einem Ergebnis von 9,9 % sowie inSachsen-Anhalt mit 13,3 %. Auch bei der Bun-destagswahl 2002 gab es bei einem Ergebnis von7,4 % deutliche Zugewinne. Dennoch konnteauch hier das Ziel einer gemeinsamen Regie-rungsübernahme mit der Union, wie es vor derWahl ausgerufen worden war, nicht erreicht wer-den. Folge war eine Schwächephase bei denFDP-Ergebnissen in 2003 und 2004, mit Aus-nahme der traditionell starken Länder wie Nie-dersachsen oder Hessen.

Die zweite Hälfte des Jahrzehnts brachte für dieFDP eine Konsolidierung und zum Teil deutli-che Verbesserungen. Interessanterweise wurde,anders als 2002, nach der nicht erreichten Regie-

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rungsübernahme bei der Bundestagswahl 2005die FDP nicht mit einem Einbruch der Ergebnis-se bei den Folgewahlen „bestraft“. Ausgehendvon dem guten Bundestagswahlergebnis 2005mit 9,8 %, wurde vielmehr in den Jahren 2006-2010 nur bei einer Wahl, nämlich in Hamburg2008, der Einzug in das Landesparlament ver-fehlt, zum Teil wurden historische Höchstergeb-nisse erzielt.

II. „Wer wählte FDP?“ – Wahlverhalten nachPersonengruppen

Für eine Qualifizierung der Wählerschaft derFDP soll der Frage nachgegangen werden, wel-che Wählerschichten die FDP im Lauf der Jahrefür sich gewinnen konnte, wo möglicherweiseSchwerpunkte in der soziologischen Zusammen-setzung der Wählerschaft liegen, wo es Entwick-lungen in welche Richtung innerhalb der unter-schiedlichen Bevölkerungsgruppen gab und obdiese mit signifikanten Veränderungen bei denWahlergebnissen in Verbindung gebracht wer-den können.

Die Analyse richtet sich zum einen an einer Dar-stellung der nach Bevölkerungsgruppen unter-teilten Wahlergebnisse im Vergleich zum Ge-samtergebnis der FDP bei den jeweiligenWahlen aus. Um die zu Grunde liegenden Fakto-ren noch deutlicher zu machen, wird dies durcheine Betrachtung der sozialen Zusammensetzungder Wählergruppe ergänzt, die über das bloßeStimmergebnis hinaus die am prozentualen An-teil messbare Bedeutung der jeweiligen Wähler-gruppe für das Wahlergebnis der FDP sowie de-ren gruppenspezifische Entwicklung im Zeit ab-lauf aufzeigt.

1. Differenzierung nach Altersgruppen6

(1) Stimmergebnisse

Eine Betrachtung der Wahlergebnisse der FDP,aufgeteilt nach Altersgruppen, zeigt auf den ers-

6 Die auf einer Auswertung der jeweiligen Wahltagsbe-fragung der Forschungsgruppe Wahlen beruhende Un-terteilung behandelt die Altersgruppen der 18- bis 29-Jährigen, der 30- bis 44-Jährigen, die 45- bis 59-Jähri-gen und der über 60-Jährigen.

ten Blick bei bundesweiten Wahlen – mit Aus-nahme der Europawahl 2009 – eine klare Ten-denz: Das altersgruppenspezifische Wahlergeb-nis sinkt mit steigendem Lebensalter7. Die jüngs-te Altersgruppe brachte mit wenigen Ausnahmendie besten Ergebnisse, allerdings mit einem ma-ximalen Vorsprung von 2 % vor der nachfolgen-den Altersgruppe.

Auf den zweiten Blick fällt auf, dass bei heraus-ragenden Wahlergebnissen ab 2008 insgesamtein bemerkenswert hohes Ergebnis in der Alters-gruppe der 30- bis 44-Jährigen erreicht wurde.Hier steht zu vermuten, dass schlichtweg eine er-hebliche Anzahl aus der vormals jüngsten in dienachfolgende Alterskohorte „durchgewachsen“und dabei ihrer vormaligen Wahlentscheidungzugunsten der FDP treu geblieben ist. So stiegendie Ergebnisse bei den 30- bis 44-Jährigen ab2006 in vielen Fällen deutlich stärker als bei den18- bis 29-Jährigen. Die Altersgruppe der 45- bis59-Jährigen erzielte nur bei den Wahlen in Hes-sen 2009 und in Bayern 2009 besonders gute Er-gebnisse; die älteste Altersgruppe der über 60-Jährigen konnte nur in Niedersachsen 2003 und2008 ein besonders hohes Ergebnis vorweisen.

So liegt die Vermutung nahe, dass die gutenWahlergebnisse der FDP nach 2006 sich vor al-lem auf die jüngeren Wählergruppen stützenkonnten.

In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen lagdie FDP fast immer überdurchschnittlich. Beider Wählergruppe der 30- bis 44-Jährigen gab esbis zur Europawahl 2004 oft unterdurchschnittli-che oder dem Gesamtergebnis vergleichbare Er-gebnisse; danach gestalteten sich die Ergebnissein dieser Altersgruppe meist leicht überdurch-schnittlich. Die Ergebnisse für die FDP in derAltersgruppe der 45- bis 59-Jährigen bewegtensich in den meisten Fällen nahe am jeweiligenGesamtergebnis; die Unterschiede lagen in denmeisten Fällen im Positiven wie im Negativenjeweils im Ein-Prozent-Bereich8. Bei der Alters-7 Zu beachten ist allerdings, dass aufgrund der in der

Wahltagsbefragung vorgenommenen Rundung die Un-terschiede zum Wahlergebnis größer erscheinen kön-nen, als sie tatsächlich sind.

8 Veränderungen im Ein-Prozent-Bereich sollen hier undim Folgenden für die Analyse unbeachtet bleiben, da

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

gruppe der über 60-Jährigen wurden über einenProzentpunkt hinaus gehende überdurchschnittli-che Werte nur bei wenigen Landtagswahlen imWesten erreicht, dies allerdings auch nur imniedrigen Prozentbereich. Bei den bundesweitenWahlen erreichte die FDP in dieser Altersgruppegrundsätzlich unterdurchschnittliche Werte, beiden Europawahlen und der Bundestagswahl2009 mit leicht höherer Differenz als bei den je-weils vorherigen Wahlen. In den neuen Bundes-ländern lag die FDP in dieser Altersgruppe re-gelmäßig, zum Teil deutlich unterdurchschnitt-lich.

Nimmt man die reinen Stimmergebnisse alsMaßstab, so war die FDP bei den jüngerenWählergruppen erfolgreicher als bei den älteren,insbesondere den ältesten Wählern.

(2) Zusammensetzung der Wählerschaft

Die Darstellung der Stimmergebnisse in den ein-zelnen Altersgruppen hat jedoch in Bezug aufdas Zustandekommen von Wahlergebnissen nurbegrenzte Aussagekraft. Hier kommt als wichti-ger Faktor die altersspezifische Zusammenset-zung der Wählerschaft ins Spiel. Erst eine beideAspekte, das Stimmergebnis und die soziale(hier: altersmäßige) Zusammensetzung der Wäh-lerschaft berücksichtigende Analyse gibt dieMöglichkeit, den Erfolg oder das Unterschreitender Möglichkeiten im jeweiligen Wählerpotenzi-al zu bewerten9: Ein hohes Stimmergebnis in ei-ner personenstarken Altersgruppe beeinflusstauch das Gesamtergebnis positiv, während einhohes Ergebnis in einer personenschwachen Al-tersgruppe bei gleichzeitigem relativ schlechtemErgebnis in einer personenstarken Gruppe dasletztendliche Wahlergebnis unter dem Optimumbleiben lässt.

sie in auf diesem Wege nicht zu klärende Weise auchdurch Auf- bzw. Abrundungsprozesse bestimmt seinkönnen und somit nicht in allen Fällen trotz gleicherZahl in gleichem Umfang signifikant sind.

9 Es sei jedoch bereits hier darauf hingewiesen, dass dieDarstellung diesbezüglich rein zahlenorientiert bleibenmuss. Eine das jeweilige Wahlverhalten inhaltlich be-gründende Policy-Analyse kann im hier zu behandeln-den Gesamtzusammenhang höchstens ansatzweise undeinzelfallbezogen erfolgen, wenn besondere Signifi-kanzen einen besonderen Zusammenhang nahelegen.

In der allgemeinen Wählerschaft stellte dieGruppe der über 60-Jährigen mit wenigen Aus-nahmen immer den größten prozentualen Anteil.Dagegen stellte die Gruppe der 18- bis 29-Jähri-gen grundsätzlich den geringsten prozentualenAnteil aller Altersgruppen.

Bei der Aufschlüsselung der Altersstruktur derFDP-Wählerschaft lässt sich erkennen, dass biszu den Wahlen im Frühjahr 2006 der prozentua-le Hauptanteil fast ausschließlich entweder beider Gruppe der 30- bis 44-Jährigen oder bei denüber 60-Jährigen lag, während ab 2007 entwederdie über 60-Jährigen oder die Gruppe der 45- bis59-Jährigen den Hauptanteil an der Wählerschaftstellte. Außer in den neuen Bundesländern undbei der Bundestagswahl 2002 stellten immer die18- bis 29-Jährigen den geringsten Anteil; in denneuen Bundesländern bildeten die über 60-Jähri-gen grundsätzlich die kleinste Wählergruppe.Die Wähler bis zum Alter von 44 Jahren stelltennur in wenigen Fällen die Mehrheit der Wähler-schaft der FDP; über 50% Wähleranteil kamendiese „jüngeren“ Wähler zusammen genommennur in den neuen Bundesländern, zunächst regel-mäßig, dann gelegentlich. Einen Anteil von über50% gab es auch bei der Bundestagswahl 2002 –dieser sank in den Bundestagswahlen 2005 und2009 aber wieder unter diese Marke.

Im Vergleich der Anteile in den jeweiligen Al-tersgruppen zwischen den FDP-Wählern und derGesamtwählerschaft zeigt sich allerdings insge-samt bei den FDP-Wählern ein oftmals erhöhterAnteil jüngerer Wähler gegenüber der allgemei-nen Wählerschaft und ein unterdurchschnittli-cher Anteil älterer Wähler, vor allem in derGruppe der über 60-Jährigen.

Das Potenzial in der ältesten Wählergruppe, beiden über 60-Jährigen, wurde mit wenigen Aus-nahmen seit 2001 von der FDP nicht ausge-schöpft. Vor allem bei den Wahlen seit 2008 gabes einen, zum Teil sehr deutlichen Überhang desAnteils dieser Altersgruppe am Gesamtstimmen-ergebnis. Die deutlichsten negativen Differenzengab es vor allem in den neuen Bundesländern.Auch bei den Bundestagswahlen 2002 und 2009war der Anteil der Altersgruppe über 60 amFDP-Wahlergebnis wesentlich geringer als in

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MIP 2011 17. Jhrg. Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung Aufsätze

der Gesamtwählerschaft. Lediglich bei der Bun-destagswahl 2005 waren die Werte einander an-genähert.

Erkenntnisse zu einer möglichen Wählerklientel,gemessen an der Altersstruktur, müssen im Lich-te der jeweiligen landes- oder wahlspezifischenBedingungen stehen und sind in einer Übersichtschwer zusammenzustellen. Auffällig ist aller-dings: Insgesamt gibt es deutlich mehr Verschie-bungen zu den beiden höheren Altersgruppen,oftmals mit deutlichem Plus bei den 45- bis 59-Jährigen, und das vor allem bei den außerge-wöhnlich guten Wahlergebnissen der FDP ab2009.

2. Differenzierung nach Geschlecht

(1) Stimmergebnisse

Die Übersicht über die Wahlergebnisse der FDP,getrennt nach Geschlechtern, zeigt mit wenigenAusnahmen grundsätzlich höhere Wahlergebnis-se bei den Männern als bei den Frauen. Nur ein-mal (Sachsen 2004) war das Ergebnis bei denFrauen um zwei Punkte höher; selten gab es aus-geglichene Ergebnisse.

Bei dieser Darstellung ist jedoch zu beachten,dass Unterschiede im Bereich von einem Pro-zentpunkt auch auf Rundungszufälligkeiten be-ruhen können. Signifikante Unterschiede im Sin-ne eines deutlichen Überhangs (> +2) bei denmännlichen Wählern gab es in Hessen 2003 (wobei den nachfolgenden Wahlen 2008 und 2009dann allerdings geringere Unterschiede auftra-ten), in Rheinland-Pfalz 2006, in Berlin 2006,bei der Bundestagswahl 2009 und in Schleswig-Holstein 2009, wo sich die Differenz auch imVergleich zur jeweils vorherigen Wahl vergrö-ßerte.

Im Vergleich mit dem jeweiligen Wahlergebnisder FDP gab es in der ersten Hälfte des Jahr-zehnts bezüglich der männlichen Wählerschaftwenige Auffälligkeiten; ein signifikant über-durchschnittliches Ergebnis (> +1) wurde beiden Männern nur sehr knapp in Rheinland-Pfalz2001 und in Berlin 2001 sowie etwas deutlicherin Hessen 2003 erzielt. Nach 2006 lagen die Er-gebnisse bei den männlichen Wählern deutlich

häufiger signifikant (> +1) über dem Wahlergeb-nis der FDP, besonders auffällig dabei bei derBundestagswahl 2009 und in Schleswig-Holstein2009, wo in beiden Fällen außergewöhnlich guteErgebnisse erzielt wurden.

Die Ergebnisse bei den Frauen lagen in denmeisten Fällen (mit Ausnahme von Sachsen2004, wo es einen Überhang zugunsten derweiblichen Wähler gab), im durchschnittlichenBereich oder knapp unterdurchschnittlich. Auchhier sind jedoch mögliche Rundungsungenauig-keiten zu beachten.

(2) Zusammensetzung der Wählerschaft

Bei einer Betrachtung der geschlechtsspezifi-schen Zusammensetzung der Gesamt-Wähler-schaft fällt auf, dass die Wähleranteile von Män-nern und Frauen bei den meisten Wahlen nahebeieinander lagen.

In der geschlechtsspezifischen Zusammenset-zung der FDP-Wählerschaft gab es nur einmaleine weibliche Mehrheit (Sachsen 2004). DreiMal erreichte der weibliche Anteil an der FDP-Wählerschaft 50 %; in allen anderen Fällen gabes eine, zum Teil deutliche, männliche Mehrheit.

Beim direkten Vergleich mit der Gesamtwähler-schaft fällt auf, dass der Anteil männlicher FDP-Wähler mit einer Ausnahme (Sachsen 2004)grundsätzlich über dem Anteil männlicher Wäh-ler in der Gesamtwählerschaft lag. Spiegelbild-lich dazu ist bei einer Betrachtung der weibli-chen Wählerschaft ein durchweg (bis auf Sach-sen 2004 und Sachsen 2009) unterdurchschnittli-cher Anteil weiblicher Wähler am FDP-Ergebniszu konstatieren.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass außergewöhn-lich hohe FDP-Ergebnisse mit einem außeror-dentlich hohen Anteil an männlichen Wählernzusammenhingen. Insbesondere bei den sehr ho-hen Ergebnissen der FDP in 2008 und 2009 la-gen die Unterschiede zwischen dem männlichenund dem weiblichen Anteil bei zwischen einemund maximal sechs Punkten.10

10 Hier gilt eine Sonderfeststellung: Im Unterschied zuden anderen gruppenspezifischen Betrachtungen derFDP-Wählerschaft müsste das grundsätzliche Ziel einegleichgerichtete Verteilung zwischen den Geschlech-

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts fällt auf,dass der Anteil weiblicher Wähler der FDP imVergleich zur jeweils vorherigen Wahl deutlichgrößeren negativen Schwankungen unterlag alsder Anteil aller weiblichen Wähler. Die FDPkonnte allerdings auch in einigen Wahlen dieQuote der weiblichen Wähler deutlich, und auchim Vergleich zur Quote weiblicher Wähler ander Gesamtwählerschaft, verbessern. Bei all die-sen Wahlen wurde eine Verbesserung des Ergeb-nisses zur jeweiligen vorherigen Wahl erzielt. Inkonkrete Nähe der 50%-Marke kam die FDP da-bei allerdings nur in Sachsen 2009 und im Saar-land 2009.

3. Differenzierung nach Berufstätigkeit undBerufsgruppen

a) Wahlverhalten nach Berufstätigkeit

(1) Stimmergebnis

Bei der Aufschlüsselung der Wählerschaft derFDP nach Berufstätigen, Rentnern und Arbeits-losen ergeben sich in Bezug auf das reine Stim-menergebnis wenige Auffälligkeiten. Die bestenStimmenergebnisse gab es mit wenigen Ausnah-men bei den Berufstätigen. Die Rentner erzieltennur in Niedersachsen knapp die besten Stimmer-gebnisse, zu beachten ist hierbei jedoch wiedereinmal der Einfluss von Rundungsverfahren.Vor allem in den neuen Bundesländern waren

tern bei gleich bleibender oder steigender Männer-Stimmenzahl sein, weil das Geschlecht kein wahlstatis-tisch qualitatives, sondern ein reines in zwei natürlicheGruppen teilendes quantitatives Merkmal ist. Insbeson-dere würde eine Politik zu Gunsten der einen Gruppeund zu Lasten der anderen Gruppe insgesamt wahr-scheinlich keinen Zugewinn im Wahlergebnis bringen.Eine geschlechtsbezogene „Klientelpolitik“ wäre mithoher Wahrscheinlichkeit ein Nullsummenspiel, imFalle einer zu großen Offensichtlichkeit der betreffen-den Schwerpunktsetzung möglicherweise sogar einVerlustgeschäft. Eine Optimierung der Stimmenaus-beute wäre ausschließlich durch eine Behebung ge-schlechtsspezifischer Unterrepräsentation, ausgerichtetam Bevölkerungsdurchschnitt, möglich, deren Gründein einer fehlenden politischen und personellen Einbin-dung der jeweiligen Personengruppe zu suchen sind –nicht durch eine Verstärkung oder Herbeiführung einergeschlechtsspezifischen Überrepräsentation.

die Stimmenergebnisse in der Gruppe der Ar-beitslosen oft höher als bei den Rentnern.

Die Gruppe der Berufstätigen lag im Vergleichzum Wahlergebnis der FDP in allen Fällen ent-weder im durchschnittlichen Rahmen oder knappüberdurchschnittlich. In den meisten Fällen wardies jedoch eine Differenz von plus einem Pro-zentpunkt.

Bei den Rentnern lagen die Ergebnisse bei denWahlen vor allem in einigen neuen Bundeslän-dern, aber auch in Nordrhein-Westfalen 2005,bei der Europawahl 2009 und bei der Bundes-tagswahl 2009 deutlich unter dem Durchschnitt.

Bei den Arbeitslosen gab es sehr selten signifi-kant überdurchschnittliche Ergebnisse. Dagegengab es eine große Zahl deutlich unterdurch-schnittlicher FDP-Ergebnisse (> -2 Prozentpunk-te), unter anderem auch bei den Bundestagswah-len 2005 und 2009. Dabei fällt eine Häufung un-terdurchschnittlicher Ergebnisse bei den Arbeits-losen gerade in Zeiten außergewöhnlich guterWahlergebnisse der FDP auf.

(2) Zusammensetzung der Wählerschaft

Bezüglich der prozentualen Zusammensetzungfällt auf, dass die Personengruppe der Berufstäti-gen sowohl in der Gesamtwählerschaft, in nochstärkerem Ausmaß aber in der FDP-Wähler-schaft den größten Anteil an der Zusammenset-zung der Wählerschaft hat. Dabei wird eineQuote von 50 % in der Gesamtwählerschaft nurselten unterschritten, in der FDP-Wählerschaftsogar nur in Hamburg 2004. Die Berufstätigenhatten generell – im Unterschied zur Gesamt-wählerschaft, wo dies nur relativ selten der Fallist – einen signifikant höheren Anteil an derFDP-Wählerschaft, in vielen Fällen auch über60%.

Der Anteil der Rentner an der FDP-Wählerschafterreichte nur selten einen Wert über 25 %. In derGesamtwählerschaft lag der Anteil der Rentnerdagegen grundsätzlich (außer bei der Bundes-tagswahl 2002 und 2009 und in Hamburg 2008)über 25 %. In einigen neuen Bundesländern lagder Anteil der Rentner an der FDP-Wählerschaft– auch bei den guten Ergebnissen in 2009 – un-

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ter oder bei 15 %. Mit wenigen Ausnahmen lagder Wähleranteil der Rentner am FDP-Ergebnisunterdurchschnittlich; sehr deutlich war der Un-terschied (> 10 Prozentpunkte) in den neuenBundesländern, Berlin ausgenommen. Dies kor-respondiert mit der Analyse der Altersgruppen(s.o.), wo die Über-60-Jährigen nur in den neuenBundesländern hinzugewinnen konnten, aller-dings auch von einem niedrigen Level kamen.

Die Arbeitslosen erreichten ihre höchsten An-teilswerte am FDP-Wahlergebnis mit 8-10 % ineinigen neuen Bundesländern zwischen 2002und 2006. Insgesamt unterscheiden sich die An-teile der Arbeitslosen an der FDP-Wählerschaftnur wenig von den Anteilen an der Gesamtwäh-lerschaft. Über die Jahre ist weder ein massiverZuwachs im Segment der Arbeitslosen zu beob-achten, noch eine bedeutsame Abwendung derArbeitslosen von der FDP.

b) Wahlverhalten nach Berufsgruppen11

(1) Stimmergebnisse

In der Aufteilung nach Berufsgruppen zeigt sichim tatsächlichen prozentualen FDP-Ergebnis mitwenigen Ausnahmen eine klare Dominanz derGruppe der Selbständigen. In der Tendenz zeigtsich, dass sich der Abstand dieser Gruppe zu denanderen Gruppen vergrößert.

Die Wahlzyklen 2001-2005 und 2006-2010 sindin der Tendenz vergleichbar, allerdings ab 2006mit zum Teil deutlich besseren Ergebnissen. Sostiegen mit wenigen Ausnahmen die Ergebnisseim Vergleich zur vorherigen Landtagswahl in al-len Berufsgruppen. Besonders deutliche Steige-rungen gab es dabei in der Gruppe der Selbstän-digen, wo ab 2006, mit Ausnahme von Bremen2007 und Hamburg 2008, Ergebnisse zwischen15 und 24 % erreicht wurden. In Nord-rhein-Westfalen 2010 lag das Wahlergebnis inder Gruppe der Selbstständigen mit 13 % dop-pelt so hoch wie die Ergebnisse der anderenWählergruppen.11 Die Forschungsgruppe Wahlen, deren Zahlen und Da-

ten für diese Zusammenstellung verwandt werden, dif-ferenziert als Berufsgruppen Arbeiter, Angestellte, Be-amte, Selbständige und Landwirte. Letztere wurden al-lerdings nicht regelmäßig erhoben.

Beim Vergleich der Stimmabgabe einzelner Be-rufsgruppen mit dem Wahlergebnis der FDP gabes innerhalb der einzelnen Gruppen gleich blei-bende Tendenzen.

So lag das Wahlergebnis in der Gruppe der Ar-beiter in allen Wahlgängen unter dem Wahler-gebnis. Zwar stiegen die Stimmenergebnisse beiden Wahlen von 2006-2010, der Abstand zumWahlergebnis in Prozent blieb jedoch annäherndgleich.

Bei der Gruppe der Angestellten lagen die Stim-menergebnisse mit einer Ausnahme immer imBereich des Wahlergebnisses. Zu beachten isthierbei allerdings der mögliche Einfluss vonRundungsverfahren.

Bei den Beamten ist keine einheitliche Tendenzersichtlich. Zum Teil lagen die Ergebnisse leichtunter dem Durchschnitt, zum Teil lagen sieleicht darüber, ansonsten bewegten sich die Er-gebnisse in dieser Gruppe nahe dem Wahlergeb-nis. Deutlich über dem Wahlergebnis lagen dieErgebnisse bei den Beamten in Schleswig-Hol-stein 2005 und 2009, deutlich darunter in Baden-Württemberg 2006 und bei der Bundestagswahl2009.

In der Gruppe der Selbständigen lagen die Wahl-ergebnisse mit Ausnahme von Hamburg 2004und 2008 immer deutlich über dem Wahlergeb-nis. Dies legt die Vermutung nahe, dass dieStimmabgabe der Selbstständigen für die Wahl-ergebnisse der FDP, insbesondere für die sehrguten Wahlergebnisse ab 2006 sehr wichtig ist.Dafür spricht die Tatsache, dass bei allenWahlen ab Thüringen 2009, bis auf Nordrhein-Westfalen 2010, in dieser Gruppe besondershohe Steigerungsraten gegenüber den vorherigenWahlen in den jeweiligen Bundesländern zu ver-zeichnen waren.

Die Ergebnisse in der Gruppe der Landwirte12 la-gen zum Teil deutlich höher als bei allen ande-ren Berufsgruppen, außer den Selbständigen, da-bei in einigen Fällen deutlich über dem Durch-schnitt, insbesondere in westdeutschen Flächen-12 Eine Bewertung der Wahlergebnisse in der Berufs-

gruppe der Landwirte gestaltet sich schwierig, weil dieWerte dieser Gruppe nicht durchweg bei allen Wahlenerhoben wurden.

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

ländern; in einigen Ländern gab es unterdurch-schnittliche Ergebnisse.

(2) Zusammensetzung der Wählerschaft

Die Wählergruppe der Angestellten stellte mitwenigen Ausnahmen, dies vor allem in den neu-en Bundesländern, mit sehr großem Abstand denhöchsten Wähleranteil, der nur in wenigen Fäl-len unter 40 % lag. Dabei blieb der Wähleranteilbei den Wahlen ab 2006 relativ stabil.

Die Gruppe der Selbständigen, bei der wie dar-gestellt die besten Stimmergebnisse erzielt wur-den, findet sich im prozentualen Anteil an derFDP-Wählerschaft bei 17 Wahlen nur auf demzweiten, bei den übrigen 20 Wahlen gar nur aufdem dritten Platz. In Nordrhein-Westfalen 2010stellten die Selbständigen zum ersten Mal seitBayern 2008 wieder einen Anteil von 20 %. Er-gebnisse über 25 % Anteil an der Wählerschafterzielten die Selbständigen nur in Hamburg2001.

Der prozentuale Anteil der Arbeiter an der Wäh-lerschaft der FDP erreichte am zweithäufigsteneinen zweiten Platz. Die besten prozentualen Er-gebnisse (> 25 %) gab es dabei in einigen neuenBundesländern, aber auch bei der Bundestags-wahl 2002. Bei den Wahlen nach 2006 verbes-serten sich die Anteile der Arbeiter an der FDP-Wählerschaft um mehr als einen Prozentpunktnur in Baden-Württemberg 2006, in Berlin 2006und bei der Bundestagswahl 2009.

Die Gruppe der Beamten stellte nur in einigenwestdeutschen Ländern mehr als 10% der FDP-Wählerschaft und lag ansonsten meist relativdeutlich darunter. Im Vergleich zu den jeweili-gen vorherigen Wahlen gab es bei den Beamtennach 2005 einen signifikanten Zugewinn (> +1)nur in Thüringen 2009. Gesunkene Anteile imsignifikanten Umfang gab es oftmals beiWahlen, bei denen die FDP besonders erfolg-reich abschnitt.

Die Landwirte stellten nur einen sehr kleinenTeil der jeweiligen FDP-Wählerschaft. Sogar inRheinland-Pfalz 2001 und 2006, wo sie die bes-ten Stimmenergebnisse von allen Gruppenbrachten, kamen sie nur auf einen Anteil von

6%. Im Vergleich der jeweiligen Wahlen zuein-ander gibt es keine signifikanten Veränderungen.

Beim Vergleich der allgemeinen Wählerschaftmit der Wählerschaft der FDP zeigt sich in derGruppe der Arbeiter ein deutliches Gefälle zuLasten der FDP. So waren die Anteile der Arbei-ter an der Gesamtwählerschaft bei allen Wahlendeutlich, in einigen Fällen sogar um 10 Punkteoder mehr höher. Die Wählergruppe der Ange-stellten unterscheidet sich bezüglich FDP- undGesamtwählerschaft nur in wenigen Fällen ummehr als zwei Punkte. Auch bei den Beamtensind die Wähleranteile vergleichbar. Bei derWählergruppe der Selbständigen überstieg derAnteil bei den FDP-Wählern denjenigen in derGesamtwählerschaft bei allen Wahlen, zum Teildeutlich um über 10 %. Bei den Landwirten, woder Anteil bei allen Wahlen sowohl in der FDP-Wählerschaft, als auch in der Gesamtwähler-schaft im geringen einstelligen Bereich lag, gabes signifikante Unterschiede nur in Rheinland-Pfalz 2001 und 2006 zu Gunsten der FDP-Wäh-lerschaft.

4. Differenzierung nach Bildungsabschlüssen13

(1) Stimmergebnisse

Mit wenigen Ausnahmen erzielte die FDP in derhöchsten Bildungsgruppe, also bei den Personenmit Hochschulabschluss, die höchsten Stimmer-gebnisse. Die Absolventen der Bildungsab-schlüsse Hauptschulreife und Mittlere Reife la-gen, nach den jeweiligen Wahlergebnissen diffe-renziert, in Berlin 2006 und Mecklenburg-Vor-pommern 2006 knapp vorn bzw. gleichauf.

Dabei lagen die Ergebnisse in der höchsten Bil-dungsgruppe zum Teil deutlich über den Ergeb-nissen der anderen Bildungsgruppen. Nur in ei-nigen Ländern, vor allem in den neuen Bundes-ländern, gab es in der ersten Hälfte des Jahr-zehnts entweder einen Gleichstand oder einenleichten Rückstand gegenüber der nachfolgendenBildungsgruppe Hochschulreife. Die niedrigstenErgebnisse gab es für die FDP mit wenigen Aus-

13 Zu den Wahlen in Baden-Württemberg 2001 undRheinland-Pfalz 2001 liegen zu dieser Kategorie leiderkeine Vergleichszahlen vor.

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nahmen durchweg in der Gruppe der Hauptschü-ler. Bei der Bundestagswahl 2005 gab es bei inden anderen Bildungsgruppen gleichmäßigenZuwächsen den leicht höchsten Wert bei denAkademikern.

Ab 2006 finden sich die höchsten Stimmergeb-nisse in den allermeisten Fällen bei den Akade-mikern, und das zum Teil mit relativ großemAbstand, dabei vor allem in den westdeutschenFlächenländern. Ausnahmen waren hier die neu-en Bundesländer und die Bundestagswahl 2009,wo die Abiturienten vorn lagen. In Berlin 2006gab es einen leichten Vorsprung von Hauptschü-lern und Absolventen mit Mittlerer Reife.

Im Vergleich der Wahlen ab 2006 mit den je-weils vorherigen Wahlgängen waren bei den we-sentlich schlechteren Ergebnissen in Sach-sen-Anhalt 2001 und in Berlin 2001 vor allem inden beiden höheren Bildungsgruppen höhereRückgänge zu verzeichnen als bei den Haupt-schülern und den Absolventen mit Mittlerer Rei-fe. Ansonsten ist kein einheitlicher Trend zu er-kennen.

Beim Vergleich der Wahlergebnisse der FDP mitdem Gesamtergebnis fällt bei den Hauptschülernauf, dass die FDP außer in Berlin 2006 in dieserGruppe immer, zum Teil deutlich unterdurch-schnittlich lag – speziell auch bei vielen beson-ders guten Ergebnissen nach 2006. Die Bil-dungsgruppe mit Mittlerer Reife lag in den aller-meisten Wahlen im Ein-Prozent-Bereich um dasGesamt-Wahlergebnis. Die Ergebnisse in derGruppe der Abiturienten waren mit wenigenAusnahmen grundsätzlich höher als oder gleichdem Wahlergebnis. Die Wahlergebnisse derFDP bei den Akademikern lagen in den meistenFällen über dem Durchschnitt; Ausnahmen wa-ren hier einige der neuen Bundesländer. Deutlichüberdurchschnittliche Ergebnisse gab es regel-mäßig in den westdeutschen Flächenländern so-wie bei der Bundestagswahl 2005 und bei derEuropawahl 2009. Es fällt auf, dass insbesonderebei den außergewöhnlich guten Ergebnissennach 2006 auch außergewöhnlich gute Ergebnis-se in dieser Bildungsgruppe gegeben waren.

(2) Zusammensetzung der Wählerschaft

In der Gesamtwählerschaft fällt auf, dass die bei-den niedrigeren Bildungsgruppen zusammen ge-nommen oftmals eine deutliche Mehrheit vonüber 60 % stellten. Nur in wenigen Fällen lagensie nahe der 50 %-Marke oder signifikant darun-ter.

In der FDP-Wählerschaft erreichten die höchstenBildungsgruppen zusammen genommen fast im-mer einen höheren Anteil als in der Gesamtwäh-lerschaft. Die Hauptschüler erreichten nur inRheinland-Pfalz 2006 eine relative Mehrheit; inden weitaus meisten Fällen stellten die Schulab-solventen mit Mittlerer Reife die größte Gruppein der Wählerschaft. Auffällig ist der hohe An-teil dieser Gruppe an den FDP-Wahlergebnissenin den neuen Bundesländern, wo sie zwischen 40und 51 % stark waren. Im Gegensatz zur Ge-samtwählerschaft konnten die Akademiker in derFDP-Wählerschaft bei einigen Wahlen dieMehrheit stellen. Die Abiturienten stellten inNordrhein-Westfalen 2010 mit knappem Vor-sprung die stärkste Wählergruppe.

Im Vergleich zu den jeweils vorherigen Wahlengab es bei den Bildungsgruppen relativ wenigeauffällige Veränderungen nach unten oder oben.

Im Vergleich der jeweiligen Bildungsgruppenzwischen der FDP-Wählerschaft und der Ge-samtwählerschaft lagen die Hauptschüler imFDP-Ergebnis außer in Berlin 2006 und in Ham-burg 2008 immer unter dem Durchschnitt, dieszum Teil sehr deutlich. Bei den Schulabsolven-ten mit Mittlerer Reife, also wie geschildert derGruppe mit dem in den meisten Fällen größtenAnteil am Wahlergebnis, lag die FDP nur in we-nigen Fällen, dabei oft in den neuen Bundeslän-dern, und meist nur in der ersten Hälfte des Jahr-zehnts deutlich (> +3) über dem Durchschnitt,ansonsten waren die Werte mit dem Gesamter-gebnis in einer Spanne von (+/- 2) vergleichbar.In der Gruppe der Abiturienten lagen die Anteileam FDP-Wahlergebnis bei den meisten Wahlenüber dem Durchschnitt; dabei gab es die deut-lichsten positiven Differenzen (> 2,5 Punkte)meist in den Jahren vor 2006. Bei den Akademi-kern lagen die Werte in der FDP-Wählerschaftmit wenigen Ausnahmen immer über dem

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

Durchschnitt, am deutlichsten (>/= 5 Punkte) re-gelmäßig vor allem in den westlichen Bundes-ländern und bei vielen der herausragenden Wahl-ergebnisse.

5. Differenzierung nach Konfessionszugehö-rigkeit

(1) Stimmergebnisse

Im Vergleich des Stimmverhaltens, spezifiziertnach Konfessionen, fällt auf, dass nur in weni-gen Fällen die besten FDP-Ergebnisse in derGruppe der Katholiken erreicht wurden. Nur inThüringen 2009 fand sich das stärkste Wahler-gebnis eindeutig bei den Katholiken. Deutlichhäufiger lagen die Protestanten im Vergleich derdrei Gruppen vorn. Oftmals fanden sich die bes-ten Ergebnisse für die FDP in der Gruppe derer,die angeben, keiner Religionsgemeinschaft anzu-gehören. Es fällt allerdings auf, dass die Gruppeder Protestanten im Vergleich zu der der Katho-liken mit nur wenigen Ausnahmen die leicht bes-seren Ergebnisse brachte und dass bei denWahlen bis inklusive 2006 oftmals die besserenErgebnisse in der Gruppe der Protestanten erzieltwurden, während speziell ab 2008 oftmals diehöchsten Ergebnisse bei den konfessionell Unge-bundenen erreicht wurden.

Insgesamt sind jedoch auch anhand der Wahler-gebnisse, spezifiziert nach konfessionellen Grup-pen, keine eindeutigen Tendenzen zur Erklärungvon Wahlergebnissen auszumachen.

(2) Zusammensetzung der Wählerschaft

In der Gesamtwählerschaft stellten die Katholi-ken nur in wenigen Fällen die Mehrheit; bei derWahl in Baden-Württemberg 2001 gab es einenGleichstand zwischen Katholiken und Protestan-ten. Die Protestanten stellten dagegen regelmä-ßig in Hamburg, in Niedersachsen, in Hessen, inBremen, in Schleswig-Holstein, bei den Europa-wahlen und bei den Bundestagswahlen dieMehrheit. In den neuen Bundesländern und Ber-lin waren ausschließlich die konfessionell Unge-bundenen, zum Teil sehr deutlich, in der Mehr-heit. Auffällig ist, dass seit 2008 der Anteil derergestiegen ist, die keine Angabe zu ihrer Konfes-

sion machen oder angeben, einer anderen Kon-fession als den Genannten anzugehören.

In der FDP-Wählerschaft14 erreichten die Katho-liken regelmäßig in Rheinland-Pfalz, in Bayernund im Saarland, bei der Bundestagswahl 2009sehr knapp und in Nordrhein-Westfalen 2010(2005 gab es dort einen Gleichstand mit den Pro-testanten) die Mehrheit. Die Protestanten warenunter den FDP-Wählern regelmäßig in Ba-den-Württemberg, in Hamburg, in Niedersach-sen, in Hessen, in Bremen, bei den Europawah-len und in Schleswig-Holstein sowie in Berlin2001, bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005(2009 lagen sie sehr knapp hinter den Katholi-ken) in der Mehrheit. Die Gruppe der konfessio-nell Ungebundenen FDP-Wähler war bei denWahlen in den neuen Bundesländern, mit Aus-nahme von Berlin 2001 in der Mehrheit.

Im Vergleich der Anteile katholischer Wählergab es bei der FDP-Wählerschaft oftmals in denwestdeutschen Flächenländern ein negatives Sal-do. Ab der Wahl in Hessen 2009 gab es jedocheine Annäherung des Anteils der katholischenFDP-Wählerschaft an den Anteil der Katholikenan der Gesamtwählerschaft durch eine Verbesse-rung der eigenen Quote im Vergleich zur jeweilsvorherigen Wahl; so gelang zum Beispiel bei derWahl in Nordrhein-Westfalen 2010 eine Verbes-serung um sechs Punkte. Hierbei muss allerdingsdie sinkende Wahlbeteiligung berücksichtigtwerden.

In der Wählergruppe der Protestanten lag derAnteil der FDP-Wähler bei fast allen Wahlennahe am Durchschnitt. Seit 2006 war der FDP-Anteil bei den Protestanten mit zwei Ausnahmenimmer zumindest leicht unterdurchschnittlich,zum Teil mit relativ deutlichem Unterschied.

In der Wählergruppe der konfessionell Ungebun-denen verzeichnete die FDP seit der Wahl inMecklenburg-Vorpommern 2006 mit drei Aus-nahmen regelmäßig, zum Teil deutlich über-durchschnittliche Wähleranteile.

Insgesamt betrachtet ist die Frage der Konfessi-on jedoch offensichtlich kein für die FDP-Wäh-

14 In Mecklenburg-Vorpommern 2002 wurden keine aufdie FDP bezogenen Daten erhoben.

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lerschaft sonderlich qualifizierendes oder gegen-über der Gesamtwählerschaft differenzierendesMerkmal. Die FDP ist scheinbar für Katholikenwie für Protestanten in gleichem Maße wählbarwie andere Parteien, und auch der Anteil konfes-sionell Ungebundener ist nicht überproportionalhoch im Vergleich zur Gesamtwählerschaft15.

III. Faktoren der Wahlentscheidung

Zur Frage, wie sich Wähler zur konkretenStimmabgabe für eine Partei motivieren lassen,bietet die Aufschlüsselung der Wählerschaft imHinblick auf die Gründe für die konkrete Stimm-abgabe Aufschlüsse. Die Wahlforschung16 unter-scheidet die Wahlfaktoren der Kandidatenorien-tierung, der Themenorientierung und der länger-fristigen Parteibindung.

Betrachtet man eine Aufschlüsselung17 derWahlfaktoren, wie sie von der Gesamtwähler-schaft für die jeweilige Wahlentscheidung ange-geben wurden, so fällt sofort auf, dass grundsätz-lich die Themenorientierung und inhaltliche Er-wägungen von der meist sogar absoluten Mehr-heit (zwischen 48 und 57%) der Befragten alsHauptmotivation für die konkrete Stimmabgabeangegeben wurden. Die zweitmeisten Nennun-gen wechselten zwischen der Kandidatenorien-tierung und der Parteibindung. Die Kandidaten-orientierung wurde jedoch maximal von einemDrittel der Befragten und nur bei wenigenWahlen als hauptsächliche Motivation zurStimmabgabe angegeben. Die Parteibindungwurde in einigen westdeutschen Flächenländern,allerdings von unter 30 % der Befragten alshauptsächliche Wahlmotivation genannt.

In der Gruppe der FDP-Wähler dominierte eben-falls die Themenorientierung, im Vergleich zurGesamtwählerschaft allerdings mit zum Teil

15 Ein in diesem Zusammenhang möglicherweise weiterführender Vergleich mit den Wählerschaften der ande-ren Parteien im Einzelnen kann hier nicht vorgenom-men werden.

16 Hier und im Folgenden wird auf die Daten der Wahl-tagsbefragung von Infratest Dimap zurückgegriffen.

17 Leider liegen zur Bundestagswahl 2002 sowie zu denEuropawahlen 2004 und 2009 keine diesbezüglichenZahlen vor.

noch deutlich höheren Werten von rund zweiDritteln. Die anderen Motivbereiche wurden da-gegen wesentlich seltener genannt. Insbesondereder Faktor der Parteibindung ist offensichtlichunter den FDP-Wählern deutlich weniger be-deutsam als in der Gesamtwählerschaft.

Auffällig ist, dass die Nennung der Themenori-entierung bei allen Wahlen seit 2008, mit Aus-nahme der Bundestagswahl 200918, stark zuge-nommen hat. Im Gegenzug nahm, mit wenigen,geringfügigen Ausnahmen, die Bedeutung derParteibindung im gleichen Zeitraum deutlich ab.Die Wichtigkeit der Kandidatenorientierungscheint dagegen unter Ländergesichtspunkten zubewerten zu sein; hier wechselten starke Anstie-ge mit Bedeutungsverlusten.

1. Wahlfaktor Kandidaten

Die Kandidatenfrage hat für die FDP-Wähler beiweitem nicht die gleiche Bedeutung wie für dieGesamtwählerschaft. Mit sehr wenigen, länder-spezifischen Ausnahmen gab es zum Teil deutli-che Unterschiede in der Einschätzung der Wich-tigkeit der Kandidatenfrage für die Wahlent-scheidung. Im Vergleich zu den jeweils vorheri-gen Wahlen verlor der Faktor Kandidaten bei ei-nigen Wahlen deutlich (> -3) an Bedeutung.Auffällig ist allerdings die Entwicklung zwi-schen Niedersachsen 2003, wo nur 5 % der FDP-Wähler sich an der Kandidatenfrage ausrichte-ten, und Niedersachsen 2008, wo 22 % diesenPunkt als wahlentscheidend nannten.

2. Wahlfaktor Parteibindung

Die FDP kann offensichtlich, auch bei den her-ausragenden Wahlergebnissen ab 2008, nicht aufeine hohe und sichere Stammwählerquote zu-rückgreifen. Deutlich weniger FDP-Wähler alsGesamt-Wähler entscheiden sich anhand einerlangfristigen Bindung an die Partei zur Stimm-abgabe. Die negative Differenz der FDP-Wähler-schaft zur Gesamtwählerschaft in dieser Fragelag in den meisten Fällen oberhalb von 5 %. DieBedeutung der Parteibindung für die Meinungs-bildung der FDP-Wähler ist in der zweiten Hälf-

18 Hier gab es einen deutlichen Rückgang gegenüber derBundestagswahl 2005.

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

te des Jahrzehnts zugunsten einer verstärktenOrientierung an Programmen und Themen zu-rückgegangen.

3. Wahlfaktor Programm

Im direkten Vergleich zeigt sich, dass die FDP-Wählerschaft deutlich stärker an Themen orien-tiert ist als die Gesamtwählerschaft. Offensicht-lich beruhten viele der besonders guten Ergeb-nisse auf hohen thematischen Anreizen der FDP.

Betreffend den Einfluss programmatischer Erwä-gungen gab es im Vergleich zu den jeweiligenvorherigen Wahlen mit wenigen Ausnahmen nurZugewinne. Bei einigen besonders deutlichenBedeutungszuwächsen (> +5) fällt auf, dass einegegenüber den vorherigen Wahlen deutlich ver-stärkte Ausrichtung der Wählerschaft an Themenund Programmen nicht immer auch außerordent-lich hohe Wahlergebnisse für die FDP gebrachthat. Dass die FDP vor allem, und gegenüber derallgemeinen Wählerschaft deutlich überpropor-tional, wegen der von ihr vertretenen Themengewählt wurde, ist allerdings klar ersichtlich. Fa-zit: Eindeutige und breit akzeptierte programma-tische Aussagen nutzen der FDP, wenn dieWahlentscheidung der Bürger nicht durch dieKandidatenfrage bestimmt wird; sehr gute Wahl-ergebnisse, zumindest seit 2008, beruhen auf ei-nem hohen Anteil beim Wahlfaktor Programm.

IV. Wahlentscheidende Themen

In allen Wahlen seit 2001 wurden bei den jewei-ligen Wahltagsbefragungen19 von den Wählerndie Bereiche Wirtschaft, Steuern und Finanzen,Arbeitsmarkt, soziale Gerechtigkeit, Bildungund Innere Sicherheit als besonders wahlent-scheidend betrachtet.

1. Gesamt-Bewertung

In der Gesamtwählerschaft stand in den meistenFällen die Wirtschaftspolitik als wahlentschei-dendes Thema im Vordergrund. Nach der Bun-destagswahl 2005 lagen die Werte allerdings nurnoch zwischen 30 und 40 %. Am zweithäufigs-

19 Hier und im Folgenden wird auf die Daten der Wahl-tagsbefragung von Infratest Dimap zurückgegriffen.

ten – in einigen neuen Bundesländern und inBremen sogar am häufigsten – wurde in denmeisten Fällen das Thema soziale Gerechtigkeitgenannt. Das Thema Arbeitsmarkt lieferte nureinmal die Hauptmotivation zur Stimmabgabe.Das Thema Bildung wurde viermal amzweithäufigsten genannt, fünfmal als drittwich-tigstes. Das Thema innere Sicherheit wurde einMal am zweithäufigsten und zwei Mal am dritt-häufigsten genannt. Das Thema Steuern wurdeerst nach der Bundestagswahl 2005 regelmäßigabgefragt, dabei kam es bei keiner Wahl für dieGesamtwählerschaft auf einen der ersten dreiPlätze in der Bedeutung als wahlentscheidend.

In der FDP-Wählerschaft unterscheidet sich dieVerteilung deutlich: Hier stand bei allen Wahlen,und auch mit wesentlich höheren Prozentzahlenvon zum Teil über 60%, die Wirtschaftspolitikim Vordergrund. Das Thema soziale Gerechtig-keit spielte für FDP-Wähler eine deutlich gerin-gere Rolle als für die Gesamtwählerschaft. Nureinmal lag das Thema auf dem zweiten Rang,neunmal wurden dritte Ränge erreicht. Am häu-figsten als zweitwichtigstes Thema stand für dieFDP-Wähler Arbeitsmarkt auf der Agenda. Diehöchsten Werte gab es u.a. bei der Bundestags-wahl 2005, bei der die Rate über 40 % lag. Vondeutlich höherer Bedeutung für die FDP-Wählerwar das Thema Steuern, das zehnmal, und insbe-sondere bei den guten FDP-Ergebnissen nach2008 auf dem zweiten Rang, sowie viermal aufdem dritten Rang lag. Auch das Thema Bildungwar für FDP-Wähler deutlich häufiger wichtigals für die Gesamtwählerschaft. Korrespondie-rend mit der Gesamtwählerschaft lag die Bil-dungspolitik viermal für die FDP-Wähler aufdem zweiten Platz und dreizehnmal auf demdritten Rang. Das Thema Innere Sicherheitscheint für FDP-Wähler ähnlich minder bedeu-tend, wie für die Gesamtwählerschaft; nur drei-mal in Stadtstaaten wurden zweite Plätze er-reicht, ansonsten fiel das Thema für die jeweili-ge Wahlentscheidung nicht weiter ins Gewicht.

2. Einzelne Politikfelder

a) Das Thema Wirtschaft war für deutlich mehrFDP-Wähler von Bedeutung, als für die Wählerallgemein; zum Teil bewegten sich die Unter-

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MIP 2011 17. Jhrg. Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung Aufsätze

schiede im Rahmen von über 20 Prozentpunk-ten. Hier gab es auch nach der Bundestagswahl2005 keine Trendumkehr. Das Thema verlor al-lerdings in der zweiten Jahrzehnthälfte bei denmeisten Wahlen, zum Teil deutlich, an Bedeu-tung. Signifikante Zugewinne (> 3) gab es nureinmal.

b) Beim Thema Steuern sind die Unterschiedezwischen der FDP-Wählerschaft und der allge-meinen Wählerschaft noch größer. Während sichdie Werte der allgemeinen Wählerschaft seit2006 knapp unter der oder um die 10 % Markebewegten (Ausnahmen waren die Bundestags-wahl 2009 und Schleswig-Holstein 2009), lagensie in der FDP-Wählerschaft nur in Niedersach-sen 2008 unter 21 %20.

c) Beim Thema Arbeitsmarkt bewegten sich dieWertungen der FDP-Wählerschaft bei den meis-ten Wahlen vergleichbar zur Gesamtwähler-schaft. Vor 2006 gab es in einigen Ländern, aberauch bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005,einen signifikanten, relativ deutlichen positivenÜberhang der FDP-Wählerschaft. Danach gingdie Zahl derer, die das Thema Arbeitsmarkt fürwahlentscheidend erklärten, für die FDP-Wäh-lerschaft im Vergleich zu den jeweils vorherigenWahlen bei allen Wahlen mit drei Ausnahmendeutlich zurück und überstieg nur in zwei Fällendie Quote in der Gesamtwählerschaft21.

d) Beim Thema Soziale Gerechtigkeit lagen dieZahlen für die FDP-Wählerschaft bei allenWahlen grundsätzlich, zum Teil sehr deutlich,unter den Zahlen der allgemeinen Wählerschaft.Insbesondere einige Wahlen mit besonders gutenErgebnissen nach 2008 zeigen in diesem Bereichlediglich Werte zwischen 12 und 18 %. Das The-

20 Ein Vergleich der Jahre 2001-05 und 2006-10 bezüg-lich des Steuerthemas ist nicht möglich, da es erst abder Bundestagswahl 2005 regelmäßig abgefragt wurde.Es ist allerdings davon auszugehen, dass einige derRückgänge beim Thema Wirtschaft in einer Schwer-punktsetzung auf das Thema Steuern begründet ist, dassich vorher nicht getrennt von den Themen Wirtschaftund Arbeitsmarkt (s.u.) behandeln ließ.

21 Es steht zu vermuten, dass viele der Befragten in denJahren zuvor den nicht abgefragten Bereich Steuernund Finanzen bei der Arbeitsmarktfrage mitbehandelthaben, was entfällt, nachdem die Steuerpolitik ab 2006regelmäßig abgefragt wurde.

ma war in diesen Fällen offensichtlich nicht ent-scheidend für die FDP-Wähler. Im Vergleich zuden jeweiligen vorherigen Wahlen verlor dieFrage der Sozialen Gerechtigkeit bei vielenWahlen nach 2005 für die FDP-Wählerschaft anBedeutung.

e) Lag die Zahl derer, die das Thema Bildung alswahlentscheidendes Thema angaben, für dieFDP-Wählerschaft vor 2006 mit wenigen Aus-nahmen grundsätzlich, zum Teil deutlich überder Gesamtwählerschaft, so war dies ab 2006nur noch in vier Fällen so.

f) Beim Thema Innere Sicherheit lag die Bedeu-tungszumessung der FDP-Wähler mit Ausnahmevon Hamburg 2001, Bremen 2007 und Nieder-sachsen 2008 bei allen Wahlen mehr oder min-der deutlich unter der Gesamtwählerschaft. Nurin Bremen 2007 gelangte das Thema Innere Si-cherheit als zweitwichtigstes Thema der FDP-Wähler zu größerer Bedeutung.

V. Zeitpunkt der Wahlentscheidung22, 23

Als weiterer wichtiger Faktor in der Analyse derWählerschaft der FDP kann eine Aufschlüsse-lung des Zeitpunktes dienen, zu dem die Wähle-rinnen und Wähler sich jeweils für die Stimmab-gabe zu Gunsten der Liberalen entschieden ha-ben24.

In der Gesamtwählerschaft gab bei allen Wahl-gängen eine relative Mehrheit an, die Wahlent-scheidung schon „vor längerer Zeit“ getroffenzu haben. Mit wenigen Ausnahmen lag die ent-sprechende Quote immer bei rund einem Dritteloder knapp darüber. Die Angabe, sich immer fürdieselbe Partei zu entscheiden, kam bei denWahlen bis zur Bundestagswahl 2005 in der Ge-samtwählerschaft relativ häufig vor, in vielen

22 Zur Bürgerschaftswahl in Hamburg 2008 liegen leiderkeine Vergleichszahlen vor.

23 Auch hier wird auf die Wahltagsbefragung von Infra-test dimap zurückgegriffen.

24 Hierbei wird zwischen fünf Kategorien unterschieden:die Entscheidung fiel erst am Wahltag; die Entschei-dung fiel in den letzten Tagen vor der Wahl; die Ent-scheidung fiel in den letzten Wochen vor der Wahl; dieEntscheidung fiel vor längerer Zeit; ich entscheidemich immer für dieselbe Partei.

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Aufsätze Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung MIP 2011 17. Jhrg.

Fällen als die am zweitmeisten genannte Alter-native. Nach 2006 galt dies nur noch in einigenwestdeutschen Ländern und Sachsen-Anhalt, je-weils aber mit geringem Vorsprung vor den an-deren Alternativen. Insgesamt gesehen fällt auf,dass bei den Wahlen ab 2006, bei gegebenemVorsprung der Alternative „vor längerer Zeit“,die anderen Zeitangaben relativ nahe beieinanderliegen.

Auch die FDP-Wählerschaft gab in der deutli-chen Mehrzahl der Fälle (relativ) mehrheitlichan, sich bereits „vor längerer Zeit“ entschiedenzu haben. In drei Fällen erklärte die relativeMehrheit, sich „in den letzten Wochen“ vor derWahl zur Stimmabgabe für die FDP entschiedenzu haben. In vier Fällen hatte die Mehrheit sich„in den letzten Tagen“ vor der Wahl dergestaltentschieden, einmal entschied sich eine Mehrheitvon 28 % erst am Wahltag für die FDP.

Beim Vergleich der Kurzentschlossenen, die sicherst am Wahltag zur konkreten Stimmabgabe ent-schieden haben, gab es bis 2006 bei vielenWahlen einen deutlichen Überhang der FDP-Wähler; danach glichen sich die Werte der FDP-Wähler und der allgemeinen Wählerschaft mitAusnahme von Hessen 2008 im Rahmen des Ein-Prozent-Bereichs aneinander an.

Bei denjenigen, die angaben, sich erst „in denletzten Tagen“ vor der Wahl konkret entschiedenzu haben, verringerte sich ebenfalls der Über-hang der FDP-Wähler, der vorher zum Teil 12oder 15 Punkte betragen hatte. Allerdings warauch in den Wahlen bis zur Bundestagswahl2009 immer eine vergleichsweise größere An-zahl von FDP-Wählern relativ kurzentschlossen.Eine Angleichung der Werte ist nur bei den zeit-lich letzten Wahlen zu beobachten.

In der mittleren Kategorie derer, die sich „in denletzten Wochen“ zur Stimmabgabe entschiedenhaben, findet sich bei vielen Wahlen ein FDP-Überhang. Allerdings haben sich die Abständeseit 2005 gegenüber den vorherigen Wahlendeutlich verkleinert.

In der Gruppe der FDP-Wähler ist die Zahl de-rer, die angeben, sich bereits „vor längerer Zeit“zur entsprechenden Stimmabgabe entschlossen

zu haben, in der zweiten Hälfte des Jahrzehntsgegenüber den jeweils vorhergehenden Wahlen,zum Teil deutlich gestiegen. Insbesondere beiden zeitlich letzten Wahlen konnte auch ein po-sitiver Saldo gegenüber der Gesamtwählerschafterreicht werden, zum Teil wurde ein negativesVerhältnis in ein positives gedreht. Insgesamt istinsbesondere ab 2008 ein leichter Trend zu be-obachten, dass die Wähler sich in längerer Vor-frist für die FDP entscheiden.

Dennoch kann die FDP nicht, vergleichbar ande-ren Parteien, auf eine breite Basis von Wählernbauen, die aufgrund einer langfristigen Parteibin-dung immer für die gleiche Partei stimmen. Indieser Kategorie liegt die FDP, wenn auch in denletzten Wahlen mit etwas verringertem Abstand,grundsätzlich weit unterdurchschnittlich. DerAbstand zur Gesamtwählerschaft hat sich dabeiallerdings in der zweiten Hälfte des Jahrzehntsverringert.

VI. Fazit

Die Darstellung der Wählerschaft(en) der FDPim ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts liefertinteressante Erkenntnisse. So erzielte die FDPbei jüngeren Wählern höhere Wahlergebnisse,erwarb ihre guten Ergebnisse aber durch die grö-ßere Menge an älteren Wählern. So lässt sich beiden meisten Wahlen eine männliche Dominanzerkennen – die aber wiederum nicht Hauptgrundfür die besonders guten Wahlergebnisse ist. Sowurde die FDP in deutlich stärkerem Ausmaßvon Berufstätigen gewählt, aber deutlich seltenervon Rentnern. So erzielte die FDP ihre bestenErgebnisse bei den Selbständigen – die aber bil-deten nicht den Hauptteil der Wählerschaft. Sohatte die FDP ihre besten Ergebnisse bei den for-mal höher Gebildeten – aber ihren stärkstenRückhalt prozentual bei den Schulabsolventenmit Mittlerer Reife. Im Rahmen einer Langzeit-analyse lassen sich diese Umstände grob darstel-len, allerdings gibt es in diesem Zusammenhangnicht darstellbare Ausnahmen, die eine nähereBetrachtung wert wären.

Eindeutiger sind die Fingerzeige bei der Frageder Wahlmotive: FDP-Wähler sind durchwegwesentlich stärker themenorientiert und wesent-

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MIP 2011 17. Jhrg. Thomas Volkmann – Die Wählerschaft der FDP 2001 bis 2010 – Versuch einer Qualifizierung Aufsätze

lich seltener Stammwähler. Aber sie entscheidensich in letzter Zeit auch längerfristig für dieStimmabgabe zugunsten der FDP als früher.

Auch bei der feinstmöglichen Betrachtung bleibtdas Ergebnis: Den klassischen FDP-Wähler gibtes nicht; zumindest lässt er sich anhand der übli-chen Schemata nicht ausreichend präzise darstel-len. Wählersoziologische Modelle, z.B. über Mi-lieugruppen o.ä., sind nicht ausreichend geeig-net, Wahlergebnisse aus einem längeren Zeit-raum in ihrer regionalen Vielfalt und zeithistori-schen Einordnung umfassend und über allgemei-ne Linien hinaus zu kategorisieren. Stattdessenmüssen die Wahlergebnisse im regionalen Rah-men und im zeitlichen Zusammenhang darge-stellt werden. Zusätzlich ist es erforderlich, ne-ben die reine Betrachtung der Wahlergebnisse inihrer gruppenspezifischen Aufschlüsselung eineBetrachtung der proportionalen Größenverhält-nisse dieser Gruppen zu stellen, um ihre Bedeu-tung zu erkennen.

Ob hierin Argumente gegen eine umfassendeAnwendung milieubezogener Erklärungsmodelleliegen, kann hier nicht abschließend behandeltwerden. Aber eine gewisse Plausibilität für dieseVermutung besteht.

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Aufsätze Andrea Bahr/Sabine Pannen – Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED MIP 2011 17. Jhrg.

Soziale Wirklichkeit und regionaleHerrschaftspraxis der SED

Andrea Bahr, Dipl.-Pol.*/Sabine Pannen, M.A.**

1. Fragestellung

Im Rückblick ist das DDR-Bild meist von zweiextremen Wahrnehmungen geprägt: Von derverklärenden Sicht der Ostalgie, die soziale Si-cherheit und Solidarität ins Zentrum rückt, undvon der Reduzierung auf den Repressionsappa-rat, wobei die Tätigkeit des Ministeriums fürStaatssicherheit im Mittelpunkt steht. Beidesgreift jedoch zu kurz. Es stellt sich vielmehr dieFrage, wie ein differenziertes Bild von der sozia-len Wirklichkeit in der DDR gezeichnet werdenkann, welches sowohl das Regime und die Ge-sellschaft als auch ihre wechselseitigen Bezie-hungen erfasst. Dazu ist es zum einen wichtig,den Fokus auf die SED zu richten, die als sozia-ler Akteur in der staatssozialistischen Gesell-schaft und als politische Herrschaftsinstanz all-gegenwärtig war. Zum anderen gilt es, eine ver-engende Perspektive auf die „Königsebene“ derPartei aufzubrechen1 und den Blick auf die Herr-schaftsdurchsetzung und –aufrechterhaltung in

* Andrea Bahr ist Doktorandin am Zentrum für Zeithis-torische Forschung in Potsdam (Abteilung 1, Kommu-nismus und Gesellschaft).

** Sabine Pannen ist assoziierte Doktorandin am Zentrumfür Zeithistorische Forschung in Potsdam (Abteilung 1,Kommunismus und Gesellschaft) und Stipendiatin derBundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

1 In bisherigen Forschungen zur SED war vor allem dasZentralkomitee, sein Sekretariat und Politbüro Thema.Die unteren Hierarchieebenen der Partei sind jedochnoch unzureichend untersucht worden. Insgesamt kannin der DDR-Forschung ein Forschungsdesiderat in Be-zug auf die Staatspartei festgestellt werden, das Her-mann Weber 1998 in der Zeitschrift Deutschland-Ar-chiv benannte: „Auffallend ist, dass ausgerechnet dieSED, deren Führung die Diktatur ausübte (…), immernoch relativ geringe Aufmerksamkeit in der Forschungfindet (…).“ Weber, Hermann: Zum Stand der For-schung über die DDR-Geschichte. In: Deutschland-Ar-chiv 31 (1998) 2, S. 256.

den sozialen Nahräumen der Gesellschaft zurichten.2

Insofern sind vor allem die SED-Kreisleitungen,als wichtigste Leitungseinheit unterhalb vonZentrale und Bezirk, sowie die Parteibasis, als„Fundament der Partei“ 3, von besonderem Inter-esse. Sie agierten an der Schnittstelle zwischenBevölkerung und Regime. Die Funktionäre derKreisleitungen und die einfachen Parteimitglie-der waren in das Alltags- und Gemeinschaftsle-ben ihres Kreises, ihrer Stadt, ihres Betriebes so-wie ihres Wohngebietes eingebunden und teiltensomit die täglichen Erfahrungen mit der Bevöl-kerung. In diesen sozialen Nahräumen der Ge-sellschaft, wo man sich persönlich kannte undsich teilweise mit Vornamen ansprach, entschiedsich maßgeblich, wie die Bevölkerung über dasRegime und seine Politik dachte. Dort war dieSED-Herrschaft konkret erfahrbar.

Im Folgenden werden Fragen nach der Herr-schaftspraxis der unteren Ebenen der SED sowienach ihrer Funktion im SED-Regime aufgewor-fen. Darüber hinaus wird die Rolle der SED-Kreisleitungen und der Parteibasis in der staats-sozialistischen Gesellschaft beleuchtet.

2. Die SED-Kreisleitungen

2.1 Die „führende Rolle“ der Partei im Terri-torium

Die SED beanspruchte für sich die Rolle der om-nipräsenten und omnikompetenten Steuerungsin-stanz in allen Bereichen des Lebens der DDR: inGesellschaft, Staat, Wirtschaft, Recht und Kul-tur. Diesen Führungsanspruch leitete die SED ab

2 Am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdamstartete 2009 ein Forschungsprojekt zur Geschichte derSED „Die SED zwischen Mauerbau und Mauerfall.Gesellschaftsgeschichte einer kommunistischen Staat-partei“. Die Autorinnen dieses Beitrags bearbeiten indiesem Forschungszusammenhang ihre Dissertations-projekte zur Herrschaft im Territorium (Andrea Bahr)und zur Parteibasis (Sabine Pannen).

3 Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands:einstimmig angenommen auf dem 6. Parteitag derSED, Berlin, 15. bis 21. Januar 1963, mit den vom 7.Parteitag der SED, Berlin, 17. bis 22. April 1967, be-stätigten Abänderungen und Zusätzen. Berlin (Ost)1968, S.73.

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von der teleologischen Vorstellung des Marxis-mus-Leninismus, welche den kommunistischenParteien die „führende Rolle“ auf dem Weg zumKommunismus zuschrieb. Sie sollten durch dieAusübung der „Diktatur des Proletariats“4 in derÜbergangsphase vom Kapitalismus zum Kom-munismus herrschen.5 Diese Suprematie schriebdie SED nicht nur in ihrem Statut fest, sondernließ sie 1968 auch in der Verfassung der DDRverankern. Dort hieß es in Artikel 1 Absatz 1:„Die Deutsche Demokratische Republik ist einsozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sieist die politische Organisation der Werktätigenin Stadt und Land unter Führung der Arbeiter-klasse und ihrer marxistisch-leninistischen Par-tei.“6

In den Kreisen und Städten der DDR waren dieSED-Kreisleitungen als Repräsentanten derStaatspartei damit beauftragt, diese „führendeRolle“ auszufüllen. Die SED-Kreisleitungenstanden der Kreisparteiorganisation, d.h. allenMitgliedern der Partei in einem Stadt- oderLandkreis7, vor und wurden von Delegiertenkon-ferenzen, die wiederum von den Grundorganisa-tionen des Territoriums beschickt wurden, ge-wählt. Das eigentliche Entscheidungszentrumder gewählten Kreisleitungen war das Sekretari-at. Es bestand in der Regel aus dem ersten undzweiten Kreissekretär, jeweils einem Sekretär

4 Diese „wird durch ein System politischer Organisati-onsformen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündetenverwirklicht, an deren Spitze die marxistisch-leninisti-sche Partei der Arbeiterklasse steht und in dem der so-zialistische Staat das Hauptinstrument für den Aufbaudes Sozialismus ist.“ Kleines Politisches Wörterbuch.Berlin (Ost) 1973, S. 169.

5 Vgl. u.a. den Abschnitt zum Thema „Die SED als Zen-trum der politischen Willensbildung“ im Artikel zurSED in: Ludz, Peter Christian (Hg.): DDR-Handbuch.Köln 1979, S. 951f.

6 Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassungder Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Okto-ber 1974. Zitiert nach: Die neue Verfassung der DDR.Köln 1974, S. 67.

7 Es ist zwischen territorialen und funktionalen Kreislei-tungen zu unterscheiden. Während erstere in Städten,Kreisen oder Stadtbezirken gebildet wurden, warenletztere u.a. in Großbetrieben, Universitäten oder be-stimmten Ministerien anzutreffen. Die funktionalenKreisleitungen wurden nach dem so genannten „Pro-duktionsprinzip“ gebildet.

für Wirtschaft, Landwirtschaft, Agitation undPropaganda sowie Wissenschaft, Volksbildungund Kultur. Weitere Angehörige des Sekretariatsder Kreisleitung waren die Kreisvorsitzenden derFreien Deutschen Jugend (FDJ) und des FreienDeutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), dieVorsitzenden der Kreisparteikontrollkommission(KPKK), der Kreisplankommission und des Ra-tes des Kreises bzw. der Stadt. Unterstützt wurdedas Sekretariat durch einen hauptamtlichen Par-teiapparat, also eine Bürokratie, die in den acht-ziger Jahren zwischen 30 und 50 Mitarbeiter hat-te, sowie durch sachspezifische Kommissionenund Arbeitsgruppen.

Das Ziel und die Aufgabe der örtlichen Parteilei-tungen war es, in ihrem Einflussbereich die Be-schlüsse der Parteispitze, also des Zentralkomi-tees, seines Sekretariats und Politbüros umzuset-zen8 und außerdem dafür die Zustimmung derBevölkerung zu gewinnen oder zumindest zuverhindern, dass Unmut oder Unzufriedenheitaufkam. Wenn nötig, hatten sie Widerstand auchmit repressiven Maßnahmen zu unterdrücken.

Dazu mussten die SED-Kreisleitungen über allegesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politi-schen Prozesse in ihren Territorien informiertsein und diese kontrollieren. Dies führte in derPraxis zu einer entgrenzten Zuständigkeit, dieNorbert Seichter, 1. FDJ-Sekretär in Treptowund später Parteisekretär an der Volksbühne inBerlin, rückblickend in einem Interview be-schreibt:

„Als ich schließlich 1. Kreissekretär der FDJ inTreptow wurde, begriff ich als gleichzeitigesMitglied der SED-Kreisleitung: Ohne Parteiläuft im Territorium nichts, überhaupt nichts.Von der Sicherheit über die Grenzsicherung bishin zu den Schulen und vor allem zur Industrie.

8 Im Statut der SED heißt es in Abschnitt V „Die Be-zirks- und Stadtorganisationen, die ländlichen, städti-schen und betrieblichen Kreisorganisationen der Par-tei“: „Die Bezirks- und Stadtorganisationen, die ländli-chen, städtischen und betrieblichen Kreisorganisatio-nen der Partei lassen sich in ihrer Arbeit von dem Pro-gramm und dem Statut der Partei leiten und organisie-ren in ihrem Bereich die Durchführung der Beschlüsseund Direktiven des Zentralkomitees.“ Statut der SEDvon 1968, a.a.O., S. 63.

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Aufsätze Andrea Bahr/Sabine Pannen – Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED MIP 2011 17. Jhrg.

Alles zentralisiert! Die SED-Kreisleitung wußteüber alles Bescheid, entschied nahezu alles.“9

Dieses Paradigma von der „allmächtigen Partei“wird von ehemaligen Funktionären immer wie-der betont, muss jedoch hinterfragt oder zumin-dest differenziert werden. Auch andere Akteurespielten in den Kreisen und Städten eine wichti-ge Rolle, so zu allererst die Räte und die Betrie-be.

Dass die Partei aber zumindest versuchte, alleszu kontrollieren und in ihre Verantwortlichkeitzu nehmen, zeigt sich bei einer Analyse der Ta-gesordnungen der Sekretariatssitzungen. Bespro-chen wurde nicht allein, wie die letzten Mitglie-derversammlungen in den Grundorganisationenabgelaufen und zu bewerten waren oder welcheKader wie zu fördern oder zu disziplinieren wa-ren. Vielmehr waren dort alle Fragen und Pro-bleme von der Kartoffelversorgung der Bevölke-rung über den Ausbau des Nahverkehrs bis zurSicherheit im Territorium auf der Tagesordnung.In einer Vorlage für das Sekretariat der SED-Kreisleitung Brandenburg an der Havel10 überdie „Arbeitsweise der Kreisleitung Brandenburgund ihrer Organe“ wird dies auf den Punkt ge-bracht:

„Das Sekretariat beschäftigt sich ständig mit denGrundfragen der politischen, ökonomischen undkulturellen Entwicklung des Kreises und arbeitet– ausgehend von den Beschlüssen des ZK [Zen-tralkomitee, Anmerkung der Verfasser] und derBL [SED-Bezirksleitung, Anmerkung der Ver-fasser] – Maßnahmen aus, die es den GO [SED-Grundorganisationen, Anmerkung der Verfas-ser], den Staatl. Organen und Massenorganisa-tionen ermöglichen, ihren spezifischen Aufgabenentsprechend an der einheitlichen Durchführungder Parteibeschlüsse mitzuwirken.“11

9 Interview in: Zimmermann, Brigitte/Schütt, Hans-Die-ter (Hg.): Noch Fragen, Genossen! Berlin. 1994, S.184.

10 Im Folgenden ist immer die Stadt Brandenburg an derHavel gemeint, die beiden Autorinnen als Fallbeispielfür ihre Untersuchungen dient.

11 „Arbeitsweise der Kreisleitung Brandenburg und ihrerOrgane“ (30.06.1965). In: BLHA, Rep. 531 Branden-burg Nr. 1011.

Neben der Allzuständigkeit macht dieser Auszugauch deutlich, dass die SED-Kreisleitungen denAnspruch hatten, alle anderen Institutionen undOrgane im Kreis – den Rat des Kreises bzw. derStadt, die Blockparteien und die Massenorgani-sationen – anzuleiten und deren Tätigkeit zukontrollierten. Anleitung und Kontrolle – so dieRhetorik der SED – waren die wichtigsten Me-thoden sozialistischer Leitungstätigkeit und setz-ten den „Demokratischen Zentralismus“12 um.Faktisch hatte die örtliche Parteileitung zwarkein Weisungsrecht gegenüber staatlichen Orga-nen und Massenorganisationen, doch sie konnte„Empfehlungen“ aussprechen und hatte über dieGenossen in den jeweiligen Gremien eine Zu-griffsmöglichkeit. Wurde zum Beispiel demVorsitzenden des Rates des Kreises, der natür-lich SED-Mitglied war, im SED-Kreissekretariataufgetragen, er müsse sich um eine Verbesse-rung der Wohnungsversorgung im Territoriumkümmern, so war das ein Parteiauftrag, der er-füllt werden musste. Jeder Genosse, egal aufwelcher Hierarchieebene und in welcher Funkti-on oder funktionslos, hatte Parteidisziplin zuwahren und den Aufträgen der SED Folge zuleisten13.

12 Der Demokratische Zentralismus war das wichtigsteOrganisationsprinzip einer bolschewistischen „Parteineuen Typus“ und kann verkürzt als Unterordnung derMehrheit unter die Minderheit beschrieben werden.Untergeordnete Parteileitungen mussten sich den Be-schlüssen ihrer übergeordneten Leitungen beugen.Zwar wurden Parteileitungen von unten nach oben ge-wählt, faktisch waren dies jedoch öffentliche Abstim-mungen über „von oben“ vorgegebene Kandidaten. Inder Realität überwog also das zentralistische Element.Vgl. u.a. Ludz, Peter Christian (Hg.): DDR-Handbuch.Köln 1979, S. 250f.

13 Im Abschnitt I „Die Parteimitglieder, ihre Pflichtenund Rechte“ des Statuts der SED ist u.a. ausgeführt:„Für das Parteimitglied genügt es nicht, lediglich mitden Parteibeschlüssen einverstanden zu sein. Das Par-teimitglied ist verpflichtet, dafür zu kämpfen, daß dieseBeschlüsse in die Tat umgesetzt werden.“ Statut derSED von 1968, a.a.O., S. 21. Vgl. zu den Pflichten derFunktionäre auch: Ammer, Thomas: Strukturen derMacht – Die Funktionäre im SED-Staat. In: Ders./We-ber, Jürgen (Hg.): Der SED-Staat: Neues über eine ver-gangene Diktatur. München 1994, S. 5-22.

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MIP 2011 17. Jhrg. Andrea Bahr/Sabine Pannen – Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED Aufsätze

Die Funktionskumulation14 und die Dominanzder Parteigenossen in den entscheidenden Gre-mien sind zentrale Aspekte, die im Hinblick aufdie „führende Rolle“ der Partei bedacht werdenmüssen.

2.2 Die Kommunikationsfunktion der SED-Kreisleitungen

Eine weitere zentrale Bedeutung der örtlichenParteileitungen für das SED-Regime ergibt sichaus ihrer Verortung an der Schnittstelle zwi-schen konkreter Lebenswelt der Bevölkerungund der staatlichen und parteilichen Macht. DieFunktionäre auf Kreisebene waren eingebundenin den alltäglichen sozialräumlichen Kontext ih-res Kreises oder ihrer Stadt, sie waren nicht „get-toisiert“, wie dies häufig für die Bezirksebeneund insbesondere für die Zentrale beschriebenwird. 15

Dadurch nahmen sie eine Mittlerfunktion ein.Sie waren einerseits Informationsbeschaffer fürdie übergeordneten Parteileitungen in Bezirk undZentrale. Andererseits war es ihre Aufgabe, diePolitik der Staatspartei den Grundorganisationensowie den parteilosen Bürgern durch die so ge-nannte „massenpolitische Arbeit“ zu vermitteln.Die SED-Kreisleitungen waren damit sowohl fürdie Top-down- als auch für die Bottom-up-Kom-munikation ein entscheidender Akteur.

Ein Aspekt, der deutlich macht wie wichtig dieörtlichen Parteileitungen als Mittler waren, istdas ausgeprägte Berichts- und Informationswe-

14 So saß beispielsweise sowohl der Oberbürgermeisterals auch der Vorsitzende des Rates des Kreises bzw.der Stadt im Sekretariat der SED-Kreisleitung. Umge-kehrt war der 1. Kreissekretär der SED auch Abgeord-neter der Stadtverordnetenversammlung. Dies ließ ei-nerseits eine Kontrolle der staatlichen Entscheidungendurch die SED zu, könnte aber andererseits auch denstaatlichen Amtsträgern dazu gedient haben, auf dieBeschlüsse der Partei Einfluss zu nehmen.

15 Die Mitglieder des Politbüros und weitere hohe Funk-tionäre lebten seit Anfang der sechziger Jahre in einerabgeschirmten Waldsiedlung in Wandlitz. Dies wareine Konsequenz des 17. Juni 1953, als sich die rang-hohen SED-Mitglieder im Hauptquartier der sowjeti-schen Streitkräfte in Berlin-Karlshorst in Sicherheitbringen mussten. Vgl. u.a. Kirschey, Peter:Wandlitz/Waldsiedlung – die geschlossene Gesell-schaft. Berlin 1990.

sen. Mit diesem System gelangten Informatio-nen, die vor Ort gewonnen wurden und bei-spielsweise über Probleme oder Stimmungen inder Bevölkerung Auskunft gaben, nach „oben“.Jede SED-Kreisleitung musste monatlich einenBericht über die Lage und die Entwicklungen inihrem Territorium an die zuständige SED-Be-zirksleitung liefern. Darüber hinaus konntenübergeordnete Parteileitungen Informationen zubestimmten Themen anfordern. „Besondere Vor-kommnisse“ wie etwa Havarien in wichtigen In-dustriebetrieben waren unverzüglich zu melden.

Dieses ausgeklügelte Informationssystem bargjedoch auch Gefahren in sich. Beispielsweisewar mit der Weitergabe von Informationen überSchwierigkeiten auch immer die Gefahr für denBerichtenden verbunden, dafür verantwortlichgemacht zu werden. Als Resultat wurde teilwei-se nur noch das gemeldet, was „oben“ erwartetwurde und keine negativen Konsequenzen nachsich zog16. Diese Tendenz blieb den übergeord-neten Leitungen natürlich nicht verborgen, wiedas Protokoll zur Sitzung des SED-Kreissekreta-riats Brandenburg am 29. August 1961 zeigt.Dort äußerte sich ein Mitglied der übergeordne-ten SED-Bezirksleitung Potsdam über die Be-richtspraxis der Genossen im Kreis:

„Gen. Schwarz hat sich mit den Informationsbe-richten der KL [Kreisleitung, Anmerkung derVerfasser] v. 26.8. und 28.8. befaßt (…). Dabeiwurde in den Berichten der KL eine Abschwä-chung der tatsächlichen Lage festgestellt. Wasist das für eine Tendenz? Entweder ist es Schön-färberei oder die Arbeit ist so unqualifiziert, daßeine wahrheitsgemäße Berichterstattung nichtmöglich ist.“17

Allerdings haben derartige Ermahnungen an die-ser Praxis wenig geändert. Bis zum Ende der

16 Dieses Problem wird auch für die Sowjetunion be-schrieben. Vgl. Bauer, Raymond/Inkeles, Alex/Kluck-hohn, Clyde: How the Soviet System Works. Cultural,Psychological and Social Themes. Cambridge 1957, S.41f.

17 Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED-Kreis-leitung Brandenburg (Stadt) am 29.08.1961. In: Bran-denburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 531Brandenburg Nr. 144.

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DDR war diese „Schönfärberei“, so der Tenorder Zeitgenossen, Gegenstand vieler Witze.18

Diese selektive Berichterstattung wird zum Teilals Erklärung für die scheinbare Unwissenheit derobersten Führungsriege über das Ausmaß der Ge-sellschaftskrise im Jahr 1989 angeführt19. Auchwenn dies zu hinterfragen ist, so waren die SED-Kreisleitungen doch eine entscheidende Instanz,wenn es darum ging, Stimmungen in der Bevölke-rung „vor Ort“ einzufangen, da sie die Forderun-gen und Bedürfnisse „ihrer Menschen“20 genaukannten.

2.3 Die Herrschaftspraxis der SED-Kreislei-tungen

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt,dass die SED-Kreisleitungen für das Regimewichtige Dienste leisteten. Es wäre jedoch ver-fehlt von diesen Funktionen für die Herrschafts-sicherung und –aufrechterhaltung umstandslosdarauf zu schließen, dass die örtlichen Funktio-näre lediglich als maschinenhafte Befehlsemp-fänger der Parteispitze agiert hätten.

Vielmehr ist zu konstatieren, dass die örtlichenParteileitungen die Beschlüsse der Führung„schöpferisch“ umsetzten. Zwar war inhaltlichund ideologisch genau vorgegeben, was zu ver-wirklichen war, die Methoden der Implementie-rung wurden jedoch von den SED-Kreisleitun-gen weitgehend selbst gewählt. Dabei ist zu be-obachten, dass sie sich häufiger „weiche“ undKonsens erzeugende Herrschaftsmechanismenund subtilere Formen der Repression, denn offenrepressive Maßnahmen zu Nutze machten.Selbst im Oktober 1989 sah Winfried Mitzlaff,der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Branden-18 Insbesondere aus literarischen Erfahrungsberichten

lässt sich dies herauslesen. So z.B. bei Böhme, Irene:Die da drüben. Sieben Kapitel DDR. Berlin 1983, S. 20.

19 So vertritt etwa Detlef Pollack die These, dass „die SED-Spitze nur mit geschönten Bildern vom Leben in derDDR versorgt wurde, [deshalb] verlor diese zuneh-mend den Kontakt zur Wirklichkeit und konnte aus ih-ren eigenen Fehlern nicht mehr lernen.“ Pollack, Det-lef: Wie modern war die DDR? In: Hockerts, HansGünter (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in derEpoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 187.

20 In vielen SED-Quellen ist immer wieder in Bezug aufdie Bevölkerung von „unseren Menschen“ die Rede.

burg, seine Hauptaufgabe noch darin, die Bevöl-kerung zufrieden zu stellen:

„In der gegenwärtigen Situation konzentrierenwir unsere Führungstätigkeit auf jene Fragen, diezum Wohlbefinden unserer Bürger beitragen sol-len und müssen. Deshalb sind für uns die Ver-sorgung und Dienstleistungen, das Gesundheits-wesen und der Nahverkehr wichtige Stimmungs-barometer und Maßstäbe für die eigene, auf Ver-änderung gerichtete Wirksamkeit. (…) Erste Er-gebnisse zur besseren Bedürfnisbefriedigung derBürger werden sichtbar und werden auf derGrundlage des Dialogs mit den Menschen undder noch konsequenteren Wahrnehmung derVerantwortung der örtlichen Räte weiter stabili-siert.“21

Natürlich traf dies für regimefeindliche oder alssolche deklarierte Gruppen der Gesellschaftnicht zu. Es wurde nicht gezögert, gegen Ausrei-seantragsteller, Oppositionelle und kirchlicheKreise offene Repression anzuwenden. Dennochkann hypothetisch davon ausgegangen werden,dass die SED-Kreisleitungen mit ihrer Herr-schaftspraxis den diktatorischen Charakter desRegimes überformten und damit zur Stabilitätund Legitimation der SED-Herrschaft beitrugen.

Eine weitere Beobachtung im Hinblick auf dieHerrschaftspraxis der SED-Kreisleitungen zeigt,dass die örtlichen Funktionäre jenseits der offizi-ellen Dienstwege Beziehungen und Strukturenetablierten, die als funktionale und personaleNetzwerke charakterisiert werden können. Siewurden genutzt, um beispielsweise Informatio-nen, die aufgrund der eigenen Stellung im Herr-schaftsgefüge nicht verfügbar waren, zu beschaf-fen oder Probleme auf dem „kleinen Dienstweg“zu lösen.

Entscheidend waren derartige informelle Arran-gements jedoch bei der Realisierung von Bau-projekten oder anderen Vorhaben im Territori-um, die vom Zugriff auf knappe materielle undpersonelle Ressourcen abhingen. So berichteteetwa ein 2. Kreissekretär rückblickend, dass eine

21 Monatsbericht des 1. Sekretärs der SED-KreisleitungBrandenburg an den 1. Sekretär der SED-Bezirkslei-tung Potsdam vom 18. Oktober 1989. In: BLHA, Rep.531 Brandenburg Nr. 2126.

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wichtige Verkehrsader nur erweitert werdenkonnte, weil sich die Betriebe des Kreises aufBitte der SED-Kreisleitung hin bereit erklärten,daran mitzuwirken und ihre Kapazitäten einzu-bringen:

„Ich hatte mich (…) schon mal mit en paar LPG-Vorsitzenden unterhalten und die LPGen, diehatten ja alle ihre eigenen Baubrigaden einge-richtet. Und die waren teilweise ganz schön leis-tungsstark. (…) ich sage: Leute, so in dem Sin-ne, wenn ihr euch mal für ein paar Wochen zu-sammenschmeißen würdet und auch eure Bezie-hungen mit einbringt. Denn keiner hat ja ge-wusst wo die mitunter den Zement und den Kies(…) wo se den hergeholt haben, das wusste mit-unter bloß der liebe Gott noch. Und ich sage:Aber, det ihr weitgehend euer Material mit ein-bringt. Würdet ihr euch zutrauen?“22

Mit Hilfe dieser Betriebe wurde die Straßeschließlich gebaut. Auch wenn solche Erzählun-gen Teil einer Rechtfertigungsstrategie der örtli-chen Funktionäre sind, so ist doch zu vermuten,dass diese informellen Arrangements oder Netz-werke genutzt wurden, um strukturbedingte De-fizite des ineffizienten Planungs- und Leitungs-systems zu kompensieren.23 Auch damit trugendie SED-Kreisleitungen zur Stabilität des Regi-mes bei.

Bei der Überprüfung beider Hypothesen zurHerrschaftspraxis der SED-Kreisleitungen giltes, die strukturellen Rahmenbedingungen nichtaus dem Auge zu verlieren. Im größeren Kontextdes DDR-Herrschaftsgefüges wird die scheinbardominante Rolle der SED-Kreisleitungen kon-trastiert durch ihre Abhängigkeit von den über-geordneten Parteileitungen in Zentrale und Be-zirk. An ihre Normen, Vorgaben und Beschlüssewaren die örtlichen Parteileitungen durch den„Demokratischen Zentralismus“ gebunden. DieDisziplinierung und Kontrolle der unteren Herr-schaftsinstanzen erfolgte insbesondere durch dasstrikte Informations- und Anleitungssystem, das22 Interview mit einem 2. Kreissekretär der SED am

23.11.2010. Transkript und Tonbandaufzeichnung derVerfasser.

23 Vgl. Schuhmann, Annette (Hg.): Vernetzte Improvisa-tionen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuro-pa und in der DDR. Köln u.a. 2008.

Nomenklatursystem und die ideologische Deter-mination durch Parteidisziplin und Parteimoral.Die SED-Kreisleitungen befanden sich daher ineiner „inbetween“-Situation. Sie waren einerseitsHerrscher in ihrem Territorium und andererseitsBeherrschte im Verhältnis zu den Bezirksleitun-gen und der zentralen Parteiführung.

Dennoch waren die SED-Kreisleitungen ein ent-scheidender Akteur für die Legitimation und dieStabilität der DDR, weshalb ihre Erforschunglohnenswert ist. Sie überformten mit ihrer Herr-schaftspraxis, die sich vielfach auf persönlicheBeziehungen stützte und Volksnähe sowie Für-sorglichkeit gegenüber „ihren Menschen“ insze-nierte, den diktatorischen Charakter des Regi-mes. So waren sie wesentlich daran beteiligt,dass ein „stilles Arrangement“ 24 zwischen Be-völkerung und Regime zu Stande kam.

3. Die Parteibasis

Nach Zentrale, Bezirks- und Kreisleitungen bil-deten die Grundorganisationen der SED die un-terste Ebene im hierarchischen Gefüge derStaatspartei. Sie organisierten die Gesamtheitder Mitglieder aus allen gesellschaftlichen Berei-chen, weshalb der Begriff Parteibasis hier inKontrast zum hauptamtlichen Parteiapparat undzur Parteiführung verstanden wird. Die SEDselbst begriff laut Statut ihre Grundorganisatio-nen und damit ihre Mitglieder als „Fundamentder Partei”. Auch wenn diese Metapher Teil desParteimythos war, so bringt sie zum Ausdruck,dass der Mitgliedschaft eine zentrale Stabilisie-rungsfunktion zukam. Als Bindeglied zwischenRegime und Bevölkerung galten sie als Vermitt-ler und Repräsentanten der Einheitspartei imstaatssozialistischen Alltag und waren somitzentral für die Legitimation und Aufrechterhal-tung der so genannten führenden Rolle der Par-tei.

Zugleich handelte es sich bei der Parteibasis umkeine kleine privilegierte Kaste im Staatssozia-lismus. Die SED konnte seit ihrer Gründung1946 die Zahl ihrer Mitglieder stetig vergrößern,

24 Ettrich, Frank: Neotraditionalistischer Staatssozialis-mus. Zur Diskussion eines Forschungskonzeptes. In:Prokla 86/1992, S. 99.

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von knapp 1.300.000 Millionen Genossen 1946bis über 2 Million in den achtziger Jahren. 1987erreichte die Staatspartei mit 2.328.331 Millio-nen Mitgliedern und Kandidaten25 bei insgesamt12 Millionen erwachsenen Bürgern den Höchst-stand ihrer Mitgliederentwicklung.26 Damit warjeder sechste Bürger der DDR Genosse und derso genannte „Vortrupp der Arbeiterklasse“ auchquantitativ eine nicht zu unterschätzende Größeim gesellschaftlichen Gefüge der DDR.

Der Aufbau der Grundorganisationen folgte demPrinzip des „Demokratischen Zentralismus“. Sieunterstanden den Kreisleitungen als nächst höhe-rer Instanz, die die Sekretäre der Grundorganisa-tionen anleitete. Umgekehrt waren die Sekretärefür die Kommunikation „nach unten“ verant-wortlich.27 Zudem hatten die Kreisleitungen mitihren Kontrollkommissionen direkten Zugriffauf die unterste Ebene und kontrollierten die so-ziale Praxis des Parteilebens.

Um im Alltag ihre Macht durchzusetzen undaufrechtzuerhalten, war die SED betrieblich or-ganisiert. Diese Organisationsstruktur war Cha-rakteristikum einer kommunistischen Partei sow-jetischen Typs und von entscheidender Bedeu-tung, um in die gesellschaftlichen Nahräumehinein wirken zu können. In Betrieben, Institu-tionen oder Verwaltungen waren die Parteimit-glieder der Belegschaft in Grundorganisationenvon mindestens drei bis höchsten 150 Genossenzusammengefasst. In größeren Betrieben mit ei-ner höheren Mitgliederdichte waren die Grund-organisationen unterteilt in Abteilungsparteior-ganisationen und diese wiederum in Parteigrup-pen gegliedert. Letztere bildeten mit 15 bis 20Genossen die kleinste organisatorische Einheiteines Großbetriebs. Sie bestand in der Regel aus

25 Malycha, Andreas/Winters, Peter Jochen: Die SED.Geschichte einer deutschen Partei. München 2009, S.412-415.

26 Ammer, Thomas, a.a.O., S. 5.27 Parteisekretäre von Grundorganisationen, Abteilungs-

parteiorganisations-Sekretäre und Parteigruppenorga-nisatoren waren in der Regel ehrenamtlich tätig. DieBetriebsparteileitung größerer Betriebe hatte gewöhn-lich einen ersten Sekretär, der hauptamtlich tätig war.Vgl. Herbst, Andreas/Stephan, Gerd-Rüdiger/Winkler,Jürgen (Hg.): Die SED Geschichte-Organisation-Poli-tik. Ein Handbuch. Berlin 1997, S. 511-513.

Parteimitgliedern, die auch Kollegen einerSchicht oder einer Abteilung waren. Hausfrauen,Rentner und Selbstständige waren dagegen inWohnparteiorganisationen zusammengefasst undohne eine Betriebszugehörigkeit in größeremMaße unabhängig.28

Diese Verschränkung von Berufsleben und Par-teizugehörigkeit war intendiert, denn sie gewähr-leistete aus der Perspektive der höheren Ebeneneine effiziente Disziplinierung sowie Mobilisie-rung der Genossen an der Basis zur Umsetzungder „führenden Rolle“ der Partei. Zugleich wardie Parteizugehörigkeit auf individueller Ebeneeng mit sozialer Mobilität verknüpft und der be-rufliche Aufstieg ging häufig mit dem Besitzoder dem Erhalt des Parteibuches einher. DieseWechselbeziehung war Charakteristikum derHerrschaftsstrategie der SED, denn die zentralis-tische Verteilung von Bildungs-, Berufs- oderEinkommenschancen erfolgte in der Organisati-onsgesellschaft der DDR, so Detlef Pollack,nach politisch-ideologischen Gesichtspunkten.In einem Austauschverhältnis aus Anpassungund Versorgung waren in den achtziger Jahrenim FDGB 97 Prozent der Erwerbstätigen organi-siert, 75 Prozent der Jugendlichen zwischen 14und 15 Jahren gehörten der FDJ an und 97 Pro-zent aller Bauern der Vereinigung der gegensei-tigen Bauernhilfe (VdgB).29 Mit der Mitglied-schaft zur SED ging jedoch anders als die Zuge-hörigkeit zu einer Massenorganisation eine be-sonders enge Verbundenheit bzw. Integration indas politische System der DDR einher.

3.1 Parteileben und Herrschaftspraxis an derBasis

Mit dem Beitritt zur SED bekundete man nichtnur die Zugehörigkeit zu einer politischen Ge-sinnungsgemeinschaft, sondern trat zugleich ei-

28 Vgl. Herbst, Andreas u.a., a.a.O., S. 496 und 524.Wohnparteiorganisationen folgten dem gleichen orga-nisatorischen Prinzip wie die Betriebsparteiorganisati-on und waren auch der Kreisleitung unterstellt. Sieheauch Passens, Katrin: Der Zugriff des SED-Herr-schaftsapparates auf die Wohnviertel. Berlin 2003.

29 Pollack, Detlef: Kirche in der Organisationsgesell-schaft, zum Wandel der gesellschaftlichen Lage derevangelischen Kirche in der DDR. Stuttgart 1994, S.63-68.

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ner Dienstklasse bei, die der Herrschaftselitedurch ein besonderes Disziplinar- und Loyali-tätsverhältnis verbunden war.30 So heißt es imStatut der SED „Mitglied der SozialistischenEinheitspartei Deutschlands zu sein ist einegroße Ehre.“31 Nach erfolgreicher Aufnahme indie Reihen der Einheitspartei ging die Zugehö-rigkeit mit vielen Verpflichtungen einher.32 DerGenosse musste im Alltag eine politische, beruf-liche und private Vorbildfunktion erfüllen sowieals Bindeglied zwischen Partei und Gesellschaftdie so genannte „Verbundenheit mit den Massenfestigen“, um dem Selbstbild der Einheitsparteials Vortrupp der Arbeiterklasse zu entsprechen.

Der Praxis der Parteimitgliedschaft bzw. dasParteileben an der Basis lässt sich dabei in einSystem von Binnen- und Außenkommunikationstrukturieren. Die Binnengeschlossenheit wurdezunächst durch Parteiversammlungen ausge-drückt, die nur Mitgliedern zugänglich waren.Damit blieben die Genossen aus Sicht der Partei-losen „unter sich.“ Davon ausgehend waren sieangehalten, nach außen und damit in der Regelam Arbeitsplatz, die Parteilinie zu kommunizie-ren und durch ihre Vorbildrolle zu verkörpern.Das Prinzip dieser Doppelstruktur manifestiertesich in der Losung „Wo ein Genosse ist, da istdie Partei!“

Den Rahmen der Binnenkommunikation bildetedas Parteileben. An jedem Montag fand in dergesamten DDR in den Betrieben nach Arbeits-schluss abwechselnd die Versammlung derGrundorganisation, der Abteilungsparteiorgani-

30 Jessen, Ralph: Partei, Staat und „Bündnispartner“: DieHerrschaftsmechanismen der SED-Diktatur, in: Judt,Matthias: DDR-Geschichte in Dokumenten. Bonn1998, S. 32.

31 Statut der SED von 1968, a.a.O., S. 19.32 Ab dem 18. Lebensjahr war es möglich, der SED bei-

zutreten. Dazu waren Bürgschaften von zwei Mitglie-dern nötig, die mindestens zwei Jahre Parteimitgliedwaren und die um Aufnahme bemühte Person ein Jahraus beruflicher und gesellschaftlicher Tätigkeit kann-ten. Erst dann erfolgte die Aufnahme als Kandidat derPartei. Die Zeit der „Bewährung“ betrug in der Regelein Jahr. Letztlich entschied die Mitgliederversamm-lung der Grundorganisation über die Aufnahme desKandidaten in die Partei. Dieser Beschluss musste vonder Kreisleitung als nächst höherer Instanz bestätigtwerden. Vgl. Statut der SED von 1968, a.a.O., S. 32.

sation, der Parteigruppe oder das Parteilehrjahrstatt. Montag war der Tag der Partei und die ak-tive Teilnahme an jeder Veranstaltung eine zen-trale Verpflichtung. Auf den harten Stühlen derWerkkantine oder des Sitzungszimmers hörteman Referate, welche die Planerfüllung des Be-triebs, das letzte Plenum des Zentralkomiteesoder die aktuelle Rede eines Vertreters der Par-teiführung zum Gegenstand hatte.33 Die Ver-sammlungen werden zeitgenössisch und retro-spektiv häufig als Belastung beschrieben, da sienicht nur zeitintensiv waren, sondern durch ihreRitualität als eintönig und langweilig empfundenwurden. Allerdings bildeten sie auch den Ort, woGenossen parteiinterne oder betriebliche Infor-mationen erhielten, die parteilose Kollegen ersteinige Tage später zum Beispiel auf der Gewerk-schaftsversammlung erfuhren. Das ehemaligeSED-Mitglied Irene Böhme schildert 1982, dassdie Vorstellung vom „Geheimbund der Kommu-nisten“ noch nicht verschlissen sei. „Die Genos-sen seien die Auguren, die Eingeweihten, diewissend Lächelnden; Menschen, die über Infor-mationen verfügen, deren gewöhnliche Sterbli-che nicht teilhaftig werden. In einem Land, indem Informationen sparsam gehandelt und nachhierarchischen Prinzipien dosiert vermittelt wer-den, erscheint das als Privileg.“34 Deshalb tragejeder Genosse bewusst oder unbewusst zu dieserAura bei.

Parteiversammlungen bildeten jedoch auch dasForum, Genossen zu disziplinieren – angefangenmit parteierzieherischen Mitteln, wie Kritik,Missbilligung oder der Verwarnung, die bei ge-ringeren Verstößen angewandt wurden, bis hinzu Parteistrafen, von der Rüge bis zum Partei-ausschluss. Als Repräsentanten der Staatsparteikam auch einfachen Mitgliedern eine „Om-ni-Vorbildfunktion“ zu. Parteistrafen wurden beiprivaten „Verfehlungen“ wie Ehebruch oderauch bei Konflikten mit Gesetz und Ordnung

33 Die Ausgestaltung einer Mitgliederversammlung warnicht allein von der Orthodoxie des Parteisekretärs ab-hängig, sondern auch vom sozialen Milieu und spezifi-schen beruflichen Kontexten. Das Parteileben folgte inder Akademie der Wissenschaften beispielsweise ande-ren Schwerpunkten als im Ministerium für Staatssi-cherheit oder im Stahlwerk in Brandenburg.

34 Böhme, Irene, a.a.O., S. 46-47.

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wie Trunkenheit am Steuer oder bei beruflichenVersäumnissen wie Alkoholmissbrauch am Ar-beitsplatz ausgesprochen. Die höchste Strafe warder Parteiausschluss, der bei so genanntem „par-teifeindlichen Verhalten“ erteilt wurde. Einekonkrete Definition des feindlichen Verhaltensgab es jedoch nicht, so dass es häufig im Ermes-sensspielraum letztlich der Parteikontrollkom-mission lag, was als „feindlich“ galt.35

Parteiverfahren wurden in der Praxis in der Mit-gliederversammlung durchgeführt und verhan-delt. Die dort durch Abstimmung festgelegteStrafe bedurfte jedoch einer Bestätigung der Par-teikontrollkommission der Kreisleitung alsnächst höherer Instanz. Nicht selten griff dieKreisparteikontrollkommission in die Praxis derGrundorganisation ein. Jenseits dieser Diszipli-nierungspraxis war ein freiwilliges Ausscheidenbzw. ein Austritt aus der SED formal erst seit1976 möglich und wurde in der Praxis entwederin eine Streichung und nicht selten in einen par-teifeindlichen Ausschluss für den Abtrünnigenumgewandelt.36

Parteiverfahren und Strafen bargen hohes Bedro-hungspotential für die Angeklagten. Zunächstwurde das vermeintliche Fehlverhalten auf derMitgliederversammlung im Kreise aller Genos-sen und damit auch unter Kollegen und Vorge-setzten diskutiert und über eine Strafe abge-stimmt. Mit dem Unterwerfungsritual der Kritikund Selbstkritik konnten die Kläger milde ge-stimmt und durch diese Art der Einsicht eine ge-ringe Parteistrafe erzielt werden. Neben diesemeinschüchternden Ritus konnte eine Parteistrafe

35 Als zentrales Disziplinierungsinstrument war es Aufga-be der Kontrollkommissionen, Widerspruch und Kritikso zu behandeln, dass er sich nicht in organisierten po-litischen Widerstand umwandelte. Zu Aufgaben undEntwicklung der Parteikontrollkommissionen: Klein,Thomas: „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Dieinnerparteilichen Kontrollorgane der SED in der ÄraUlbricht. Köln 2002; Christian, Michel: Ausschließenund Disziplinieren. Kontrollpraxis in den kommunisti-schen Parteien der DDR und der Tschechoslowakei.In: Kott, Sandrine (Hg.): Die ostdeutsche Gesellschaft.Eine transnationale Perspektive. Berlin 2006. S. 53-70.

36 Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.Einstimmig angenommen auf dem IX. Parteitag derSozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin,18. bis 22. Mai 1976. Berlin 1976, S. 10.

insbesondere der Parteiausschluss beruflicheKonsequenzen nach sich ziehen oder die Ausbil-dungschancen der eigenen Kinder in Gefahrbringen.37 Diese Sorge brachte ein Ingenieur desTiefbaukombinats Brandenburg zum Ausdruck,als er im Sommer 1980 im Kontext der Versor-gungsknappheit zu seinem Gartennachbarn sag-te, dass er aus der Partei austreten würde, wennseine Kinder schon erwachsen wären. Diese Äu-ßerung über den Gartenzaun brachte ihm eineAussprache vor der Parteikontrollkommissionder Kreisleitung Brandenburg und eine strengeRüge ein.38

Diese Verschränkung von privater, beruflicherund politischer Ebene war zentrales Funktions-prinzip der SED und fand im Alltag an der Basisin vielerlei Hinsicht seine Ausprägung. Im Be-rufsalltag beispielsweise gehörten politische In-strumentarien zur Managementpraxis von Vor-gesetzten bzw. mittleren Leitern. So berichteteWerner M., der seinen Arbeitsplatz wechselnwollte, dass sein Meister ihn mit politischenMitteln zwang, im Betrieb zu verbleiben. Erschilderte in seiner Eingabe an die Kreispartei-kontrollkommission Brandenburg: „Der GenosseM., und dies ist eine schöne Taktik, verlangtevon den anwesenden Genossen, die auf der [Par-tei]Schulung erschienen waren eine sofortigeAbstimmung, daß ich einen Parteiauftrag erhalteim Betrieb zu verbleiben. Ich durfte mich dazuäußern, aber nur in beschränktem Maße.“39 Imweiteren Verlauf der Eingabe schildert er, dasser nicht den Betrieb wechseln werde, da er einenAusschluss befürchte, falls er sich dem Partei-auftrag widersetze. Zwar bleibt die Motivationdes Meisters zur Erteilung des Parteiauftrags un-37 Lutz Niethammer beschreibt die Kaderakte als wich-

tigstes Kontrollinstrument der Organisationsgesell-schaft. In diesem Kompendium fanden sich nicht nurberufliche, sondern auch politische Informationen.Vgl. Niethammer, Lutz: Die SED und „ihre“ Men-schen. In: Suckut, Siegfried/Süß, Walter (Hg.): Staats-partei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SEDund MfS. Berlin 1997, S. 324.

38 Protokoll der Sitzung der KPKK Brandenburg am 27.August 1980. In: BLHA Rep. 531 Brandenburg Nr.1821.

39 Eingabe des Genossen M. vom 18. 2.1980 an dieKPKK der KL Brandenburg. In: BLHA Rep. 531Brandenburg Nr. 1829.

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artikuliert, jedoch kann vermutet werden, dass ervor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangelszu dieser Maßnahme griff.

Parteiaufträge waren ein zentrales Mobilisie-rungsinstrument und für die Außenkommunika-tion entscheidend. Genossen wurden auf dieseWeise angehalten beispielsweise Massenorgani-sationen politisch-ideologisch anzuleiten. Damitkonnte eine Patenschaft für die FDJ-Gruppe imBetrieb verbunden sein oder die Wiederbelebungder Betriebsgruppe der „Deutsch-Sowjeti-schen-Freundschaft“ oder die Gründung einesAgitatoren-Kollektivs, um politische Gesprächein den Gewerkschaftsgruppen zu mobilisieren.Bezüglich ihrer politischen „Aufklärungs-“ undOrganisationsarbeit waren die Grundorganisatio-nen auch zur Leitung der betrieblichen Pressewie der Betriebszeitung, der Wandzeitung oderdem Betriebsfunk verpflichtet. Parteiaufträgewurden jedoch auch zur Kandidatenwerbung er-teilt. Genossen wurden beauftragt, politische Ge-spräche mit Kollegen im Betrieb zu führen, umsie als Mitglied bzw. als Kandidat zu werben.40

Insofern waren SED-Mitglieder angehalten, beiparteilosen Kollegen Konsens zur Politik derParteiführung zu erzeugen und im Sinne des Sta-tuts „die Verbundenheit mit den Massen unauf-hörlich zu festigen.“41 Die Rolle als Aktivistblieb nicht nur auf den Betrieb beschränkt, son-dern sollte auch im Wohngebiet ausgeübt wer-den. Dazu gehörte das Engagement in der Wohn-parteigruppe, oder die Unterstützung der Natio-nalen Front42 bei der Vorbereitung und Durch-führung von Wahlen oder die Mitgliedschaft imElternbeirat der Schule.

40 Böhme, Irene, a.a.O., S. 50. Vgl. Statut der SED von1968, a.a.O., S. 75.

41 Statut der SED von 1968, a.a.O., S. 2142 Die Nationale Front war eine Art Dachverband aller

Parteien und gesellschaftlichen Organisationen derDDR und verkörperte das Organisationsmonopol derSED. Anders als in den Massenorganisationen konntenEinzelpersonen nicht Mitglied werden, aber in ihrenAusschüssen mitarbeiten und sich für die Pflege vonGrünflächen, Naherholungsgebieten oder Spielplätzeneinsetzen. Vgl. Eppelmann, Rainer/Möller, Horst/Noo-ke, Günter/Wilms, Dorothee (Hg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem derDeutschen Demokratischen Republik. Paderborn u.a.1996, S. 428- 431

Die Verschränkung von Parteizugehörigkeit, Be-rufsleben bzw. Berufschancen, ehrenamtlichemEngagement und moralischer Vorbildfunktionwar Charakteristikum der Mitgliedschaft undprägte das Selbstverständnis der SED sowie dieFremdwahrnehmung der Genossen. Die Teilhabean der Herrschaft sowie das ausgeprägte Loyali-täts- bzw. Disziplinverhältnis bildeten zentraleIntegrationselemente. So hing das Funktionierendes Parteiapparates, wie Ralph Jessen konstatier-te, von der Folgebereitschaft der Parteimitgliederab und die diktatorische Kontrolle der Gesell-schaft setzte die diktatorische Kontrolle der Par-tei voraus.43

3.2 Mitgliedschaft und Gesellschaft

Die Logiken der Parteimitgliedschaft beschrän-ken sich nicht allein auf die Mechanismen vonIntegration und Kontrolle. Von besonderem In-teresse ist die Frage nach der mentalen Beschaf-fenheit der Parteibasis. Um die unterschiedlichenBindungen der Mitglieder zur Staatspartei unddie von ihr ausgehenden Bindungskräfte bzw.Identifikationsangebote in ihrer Komplexität zuerfassen, gilt es, das propagierte Bild der ge-schlossenen Kampf- und Avantgardeorganisati-on aufzubrechen. In einer neueren Synthese wur-den eher beiläufig drei Gruppen in der Mitglied-schaft benannt: die Opportunisten, die aus beruf-lichen Gründen eintraten; die Überzeugten, diean „die Sache“ glaubten und diejenigen, die garnicht wussten, weshalb sie Mitglied waren.44

Dieses grobe Raster bedarf der Differenzierung.Die Parteibasis setzte sich aus Menschen unter-schiedlichen Alters aus verschiedenen sozialenMilieus und beruflichen Kontexten zusammen.Generationserfahrungen und Milieubindungenstellten daher wichtige Faktoren für die Bindungund Loyalität zur Staatspartei dar.

Aus einer diachronen Perspektive zeigt sich dieTendenz, dass eine Entpolitisierung der Mit-gliedschaft stattfand. Die Altkommunisten, dieim KPD-Milieu der Vorkriegszeit sozialisiertworden waren und politische Verfolgung unterden Nationalsozialisten erlitten hatten, beschrie-43 Jessen, Ralph, a.a.O., S. 32-37.44 Kolwalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel, Die Revolution

von 1989 in der DDR. München 2009, S. 40.

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ben die Partei nicht selten als „Mutter“ und „Va-ter“. Sie hatten ihr Leben der sozialistischen Ideeverschrieben. Auch für viele Angehörige der sogenannten HJ- bzw. Aufbaugeneration war derEintritt in die SED häufig mit einem politischenBekenntnis verbunden. Der Aufbau einer klas-senlosen Gesellschaft, die Chancengleichheitversprach, und der Antifaschismus waren ideelleMotive, von denen große Anziehungskräfte aus-gingen. Das Versprechen des Neuanfangs wurdedurch ihren beruflichen und sozialen Aufstiegbiographisch beglaubigt. Dieser Aufbruchspa-thos verflüchtigte sich zusehends bei den folgen-den Generationen und das Zugehörigkeitsgefühl„dabei zu sein und mitzumachen“ sowie die Par-teizugehörigkeit der Eltern wurden zu dominan-ten Motiven.45 Wie auch die FDJ-Mitgliedschaftund die Teilnahme an der Jugendweihe normalwaren, wurde der Eintritt in die Partei nicht sel-ten als nächster Schritt zum Erwachsenendaseinempfunden. Jens Bisky, Jahrgang 1966, erinnertesich an seinen Eintritt folgendermaßen: „DieAufnahme war nach Statut und ohne Feierlichkei-ten erfolgt, der Eintritt für mich eine Selbstver-ständlichkeit gewesen, ein Akt, der kein langesNachdenken erforderte. Ich zahlte nun noch mehrBeiträge für Mitgliedschaften, es gab eine Ver-sammlung mehr jeden Monat. Weiter hatte sichnichts geändert. Ich war nicht mit allem zufrieden,aber doch grundsätzlich einverstanden.“46

Daneben ist auch ein Unterschied zwischen so-zialen Milieus zu konstatieren. So scheinen nichtnur ältere Parteimitglieder eine engere Bindungzur SED und den sozialistischen Idealen, wiedem Mythos des Antifaschismus oder der frie-denspolitischen Programmatik, gehabt zu haben,sondern auch Funktionäre des Partei- und Staats-apparates, Künstler und Intellektuelle gegenüberProduktionsarbeitern und Angestellten, die ten-denziell eher unpolitisch eingestellt waren. Ne-

45 Vgl. Epstein, Cathrine: The Last Revolutionaries, Ger-man Communists and their Century. Cambridge 2003;Eckart, Gabriele: So sehe ick die Sache. Protokolle ausder DDR. Leben im Havelländischen Obstanbaugebiet.Köln 1984; Fraumann, M.: „Die DDR war ein Teilmeines Lebens.“ Ein deutsches Geschichtsbuch 1918-2000. Berlin 2006.

46 Bisky, Jens: Geboren am 13. August. Der Sozialismusund ich. Berlin 2004, S. 106f.

ben der von Lutz Niethammer beschriebenen po-litisch-moralischen Generationensymbiose47 zwi-schen Altkommunisten und HJ-Generation, dievon großer Relevanz für die Anpassungsbereit-schaft schien, müssen jedoch weitere Faktorenfür die Kohäsionskraft der Basis untersucht wer-den. Dabei gilt es vor dem Hintergrund der Mas-senaustritte im Herbst 1989 ebenso sozial-politi-sche Mechanismen der Desintegration in denBlick zu nehmen. Diese größeren Entwicklungs-linien mit Milieu- und Generationensystematikbilden eine wichtige Bezugsgröße, um Stimmun-gen und Meinungen zu bestimmten Ereignissenzu systematisieren und zu deuten, will man Ko-häsionskräfte sowie Erosionsprozesse identifi-zieren. Die Untersuchung der Parteibasis stelltvor diesem Hintergrund eine doppelte Heraus-forderung dar. Es gilt das Bild der willigen Er-füllungsgehilfen der Herrschaftselite zugunsteneiner differenzierten Betrachtungsweise aufzu-brechen, ohne jedoch das Spezifische der politi-schen Zugehörigkeit aus dem Blick zu verlieren.

Eine genauere Betrachtung der untersten Ebeneder SED zeigt, dass sich die Dichotomie zwi-schen Herrscher und Beherrschten bzw. zwi-schen Bevölkerung und Regime im Hinblick aufdie Parteibasis auflöst. Durch ihre Zugehörigkeitzur so genannten „Avantgarde“ und ihrer da-durch bedingten Teilhabe an der Macht verzahn-te die Mitgliedschaft auf allen Ebenen Gesell-schaft und Regime. Insofern gilt es der Parteiba-sis mit einer doppelten Perspektive, als Teil derStaatspartei und als Teil der Gesellschaft, zu be-gegnen, möchte man ein instruktives Bild ihrersozial-moralischen Verbindungen und Entbin-dungen auf verschiedenen Ebenen und für ver-schiedene Gruppen gewinnen.

4. Fazit

Die Kreisleitungen und die Parteibasis der SEDwaren entscheidende Akteure im Herrschaftsge-füge und in der Gesellschaft der DDR. In denKreisen und Städten sowie in den Betrieben undWohnbezirken waren sie nicht allein Repräsen-tanten der Staatspartei oder Statthalter der Zen-

47 Niethammer, Lutz: Volkspartei neuen Typs? Sozial-biografische Voraussetzungen der SED in der Indus-trieprovinz. In: Prokla 80 (1990), Nr. 3, S. 40-70.

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trale, sondern mit der Steuerung und Kontrolleder Gesellschaft betraut. Insofern ist die „Desag-gregation der Zentralperspektive“48 unumgäng-lich, will man die Herrschaftspraxis, die Legiti-mationsstrategien sowie den Zerfall der SED-Diktatur analysieren. Dabei gilt es zum einen,das Zusammenspiel von Repression, fürsorgli-cher Überformung und der Erzeugung „stillerArrangements“49 zwischen Bevölkerung und Re-gime zu beleuchten. Zum anderen muss aberauch der wechselseitige Charakter der Beziehun-gen und damit die Interaktion in den Mittelpunktgerückt werden, um eindimensionale Erklä-rungsversuche zu vermeiden. Nur ein differen-ziertes Bild von SED, staatssozialistischer Ge-sellschaft und ihres asymmetrischen Beziehungs-geflechts kann die „rätselhafte Stabilität“50 derDDR und ihren scheinbar plötzlichen Zerfall er-klären sowie einen wesentlichen Beitrag zur„Rekonstruktion der oft diffusen und schwer zufassenden Realität des sozialen Alltags“ liefern.51

48 Lindenberger, Thomas: Die Diktatur der Grenzen. ZurEinleitung. In: Ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinnin der Diktatur: Studien zur Gesellschaftsgeschichteder DDR. Köln u.a. 1999. S. 17.

49 Ettrich, Frank, a.a.O. S. 99.50 Vgl. Port, Andrew: Die rätselhafte Stabilität der DDR.

Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Ber-lin 2010.

51 Jarausch, Konrad H.: Die gescheiterte Gegengesell-schaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte derDDR. In: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999). S. 2.

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Aufsätze Jasmin Siri – Kritik der Gewohnheit. Der Krisendiskurs der Parteien und seine Funktion für die moderne Demokratie MIP 2011 17. Jhrg.

Kritik der Gewohnheit. Der Kri-sendiskurs der Parteien und seineFunktion für die moderne Demo-kratie

Jasmin Siri, Dipl.-Soz.1

Die folgenden Überlegungen setzen sich mit derFrage auseinander, weshalb Parteien, seit es siegibt, als in der Krise befindlich beschrieben wer-den. Nicht nur die Politikwissenschaft, sondernauch Rechtswissenschaft, Soziologie sowie dieMassenmedien und politische Rollenträger tra-gen zu dieser Beschreibung bei. Es handelt sichum einen interdisziplinären Krisendiskurs, derdie Parteien seit ihrer Entstehung begleitet undder für seine eigene Historizität eigentümlichblind zu sein scheint.2

Ich werde zunächst danach fragen, was die poli-tische Soziologie zu einer Untersuchung der mo-dernen Parteien beitragen kann (1.). Anhand ei-nes differenzierungstheoretischen Analyserah-mens werde ich die Parteienkritik anschließendgenauer in den Blick nehmen (2.). Im dritten Ka-pitel des Aufsatzes soll der Krisendiskurs, mit-tels des Hinweises auf die Gegenwartsorientie-rung politischer Analysen, auf seine Funktionfür die moderne Demokratie befragt werden. Ichwerde aus einer gesellschaftstheoretischen Per-spektive zur Diskussion stellen, ob die Krisen-kommunikation nicht, statt auf politische Proble-me und Legitimationsdefizite, gerade auf dieWehrhaftigkeit der modernen parlamentarischenDemokratie hinweist (3.).

1 Die Verfasserin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin amInstitut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Uni-versität München.

2 Ich danke Prof. Armin Nassehi und den Teilnehmerin-nen und Teilnehmern des Lehrstuhlcolloquiums fürhilfreiche Kommentare.

1. Das Desinteresse der Soziologie für die politi-schen Parteien

Die universitäre und theoretisch interessierte po-litische Soziologie widmete sich in den 1960erund 1970er Jahren vor allem der Soziologie derÖffentlichkeit und entdeckt in den 1990er Jahrendie Individualisierung und Globalisierung neu.Statt empirischer Studien über die politische Pra-xis werden vor allem die Erkenntnisse der Sozi-alstrukturanalyse, wie die Auflösung traditiona-ler Bande und Lebenslagen, auf die Beschrei-bung der Parteien übertragen. Empirische For-schungen zu Parteien werden etwa durch die Po-litikwissenschaft, die Rechtswissenschaft, dieKommunikationswissenschaft und die Psycholo-gie unternommen, während die Soziologie sichvornehm zurückhält. Dies ist angesichts des brei-ten Themenspektrums, dem sich die Soziologiewidmet, eine Überraschung. Um zu diskutieren,welchen Mehrwert eine soziologische Perspekti-ve auf die Parteiorganisation erzeugen kann,werde ich mich daher zunächst mit den Ursa-chen für das Desinteresse der Soziologie für diepolitischen Parteien auseinandersetzen.

In einem Aufsatz über die „Perspektiven der po-litischen Soziologie“ begründet Trutz von Tro-tha (2007) als damaliger Vorsitzender der „Sek-tion politische Soziologie“ der Deutschen Ge-sellschaft für Soziologie, dass die Soziologiesich zur Untersuchung von „grundlegenden For-men des Machthandelns“ besonders gut eigne:„Im Unterschied zur Politikwissenschaft arbeitetdie politische Soziologie mit Begriffen der Poli-tik, die weder (im gleichen Maße) normativ auf-geladen noch an den Begriff des Staates oder gardes okzidentalen Nationalstaates gebunden sind“(von Trotha 2006: 283). Man könnte sich dar-über wundern, dass die Soziologie, trotzdem sienach von Trotha die „besseren“ Begriffe für sichbeanspruchen könnte, kaum einen konkretenBeitrag zur Untersuchung politischer Parteienleistet. Deren Untersuchung wird der Politikwis-senschaft und anderen Disziplinen überlassen.Von Trotha begründet dies implizit: Er argumen-tiert, dass sich die Politische Soziologie zur Er-kundung „des Neuen“ im Politischen besonderseigne, da sie nicht nur weniger normativ und na-

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tionalstaatlich zentriert sei, sondern zudem kei-nen institutionellen Bias besitze. Anschließendpräsentiert er die aus seiner Sicht wichtigstenFelder der politischen Soziologie in der folgen-den Abfolge: Tendenzen der De-Institutionalisie-rung (z.B. NGOs, Global Players und „politischgewichtige Akteure der Zivilgesellschaft“) (ebd.:285), Soziologie der politischen Gewalt und desKrieges (ebd.: 286), Repräsentation und Legiti-mation (ebd.: 286), Subpolitik und ein weiteresmal die NGOs (ebd.: 292), Politik und Religion„an der Schwelle zum dritten „Zeitalter derMission“ (ebd.: 293), „Globalisierung und derAufstieg des Lokalen“ (ebd.: 295) sowie die So-ziologie der Politik zwischen der „Anthropolo-gie politischen Handelns und herrschaftssoziolo-gischer Theorie der Institutionalisierung und De-Institutionalisierung“ (ebd.: 297). So weit, sogut. Parteien ordnet von Trotha im Themen-schwerpunkt „Repräsentation und Legitimation“ein und formuliert, dass die Aufgabe der Sozio-logie hierbei in der Untersuchung „entwicklungs-politischer Demokratisierungspolitik“ (ebd.: 287)bestehe. Besonders die Untersuchung von Wah-len in Ländern der Dritten Welt könnten Sozio-logen laut von Trotha besser leisten als Politik-wissenschaftler (ebd.: 287).

Von Trothas Schwerpunktbeschreibung spiegeltdeutlich das hohe Interesse des soziologischenMainstreams für „subpolitische“ Akteure, trans-nationale Regime und Governance-Strukturenwider. Dies geht mit einem Desinteresse fürscheinbar „alte“ Organisationen und Verbändeund die Rechtsförmigkeit politischer Verfahreneinher. Auch der Erfolg der Individualisierungs-theorie in der Soziologie der 1990er Jahre hatzum Desinteresse an Parteien und Institutioneneinen Beitrag geleistet. „Jenseits von Stand undKlasse“ führen, so eine prominente Diagnose,die Bürgerinnen und Bürger ein riskant-indivi-dualisiertes Leben, in dem Kollektivität eine un-tergeordnete Rolle spiele (Beck 1994). „Die In-stitutionen werden in ihrer Programmatik, in ih-ren Grundlagen unwirklich, widerspruchsvollund daher individuumsabhängig“ (Beck 1993:154). Im Inneren des Nationalstaats versande dieMacht, während transnationale und zivilgesell-schaftliche Akteure Weltpolitik gestalten. Eine

Untersuchung nationalstaatlicher Arrangementsist aus dieser Perspektive eine Fleißarbeit, wel-che den Politikwissenschaftlern zu überlassensei, während sich die Soziologie „außerokziden-talen“ Arrangements widme (von Trotha 2006:287, 299f.). Ulrich Beck diagnostiziert eine„Doppelkrise“ (Beck 1993: 220) der westlichen„Vorbilddemokratien“ (ebd.): „Die Regierungenund die um ihre Ablösung buhlende Oppositionmussten Stimmenverluste hinnehmen, kränkelnund kriseln. Kalküle der Schwäche beginnensich einzuspielen. Man achtet nicht mehr darauf,den Konkurrenten mit Leistungen zu überholenund zu übertreffen, sondern das Ausmaß der Kri-sen und Skandale unter dem Pegel des Versa-gens und Vertrauensentzuges zu halten, das denGegenspieler beutelt“ (ebd.).3 Die Lösung siehtBeck in der Stärkung von Subpolitiken, von Po-litik außerhalb der Institutionen.

Es liegt nahe, aus Becks Ausführungen denSchluss zu ziehen, dass die Parteien ausgedienthaben (vgl. ebd.: 224 ff.). Im Spätwerk mündetdie Theorie Becks daher in einer Beschreibungder Gesellschaft aus der Perspektive westdeut-scher Protestbewegungen – und deren Subjekten:den sich aufgrund hoher Bildung und relativer fi-nanzieller Unabhängigkeit jenseits von Standund Klasse wähnenden Kosmopoliten (Beck2004). Es ist nicht erstaunlich, dass sich ange-sichts der hier mit von Trotha und Beck skizzier-ten Trends, das empirische wie theoretische In-teresse an nationalen Großorganisationen inGrenzen hielt. Viel interessanter sind dann Go-vernance-Regime, Subpolitik abseits der „alten“Institutionen und Verfahren oder die Frage nachden Bedingungen einer Weltverfassung für dieWeltgesellschaft (vgl. Habermas 2005).

Ungeachtet dessen haben sich in den Parteien(wie in allen modernen Organisationen) Verän-derungen vollzogen, die der politischen Soziolo-gie entgehen, denn das „Neue“ wird an das Ent-stehen „neuer“ Regierungsformen und „neuer“Organisationen gebunden. Die Absage an die

3 Manfred Lauerman (1994) weist in seinem instruktivenText „Carl Schmitt – light“ auf die Empiriearmut derBeckschen Beschreibung des Politischen und des„Subpolitischen“ hin (Lauermann 1994: 94) und be-fragt sie auf ihre Erkenntnisbedingungen.

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Staatlichkeit und nationale Container (hier stell-vertretend für viele durch von Trotha und Beckartikuliert) begründet, unter Zugabe einer gutenPortion Ignoranz für die legitimatorische Funkti-on von Verfahren im Rechtsstaat, das Desinter-esse der politischen Soziologie für die kleinenund großen Veränderungen in den „alten“ Orga-nisationen des Nationalstaates und damit dieLeerstelle soziologischer Erforschung modernerParteien und der Mitgliedschaft in ihnen. Ange-sichts dieser Ausgangslage kann man zu demSchluss kommen, dass (vor allem die theoretischinteressierte) Soziologie seit 1946 nur wenig zurpraktischen Erforschung der politischen Parteienbeigetragen hat. Das bedeutet nicht, dass Partei-en nie erwähnt würden, aber „Wahlsoziologie“,Parteiensoziologie und „Abgeordnetensoziolo-gie“ fanden vor allem an politikwissenschaftli-chen Lehrstühlen, in quantitativ interessiertenProjekten und in privaten Forschungsinstitutenstatt. Selbst Niklas Luhmann und Jürgen Haber-mas, die in ihren Gesellschaftstheorien beinahealles erforscht haben, was es zu erforschen gibt,werden beim Thema „Parteien“ ungewohntschweigsam. Dies liegt möglicherweise darin be-gründet, dass sie sich aus ihrer jeweiligen Per-spektive mehr für den Staat und die Verwaltung(Luhmann 1983) und das demokratische Verfah-ren interessieren, als für die Vorbereitung dieserVerfahren durch Parteiorganisationen (vgl. Luh-mann 1971, Habermas 1992). Luhmann legt denempirischen Schwerpunkt seiner politischenTheorie auf den Staat und seine Verwaltung, Ha-bermas den seinen auf auf die Vermittlung vonVerfassung, Verfahren und demokratischer Öf-fentlichkeit (vgl. Habermas 1990, 1992). Abseitsder mannigfaltigen quantitativen Untersuchun-gen der Wahlforschung sowie vor allem medien-soziologisch (vgl. Soeffner 2002, Hitzler 1994)und soziohistorisch (vgl. Lepsius 1993) infor-mierter Studien tut sich somit seit den Arbeitenvon Michels und Weber eine Lücke auf, die vorallem in einer Analyse der Partei als lebenswelt-licher Gegenwart, in welcher sich Mitglieder or-ganisieren und verhalten, der Veränderungen derParteiorganisation und der wissenssoziologi-schen Dekonstruktion der „Parteienkrise“ be-steht. Doch nicht nur die Soziologie vergibt sichetwas, wenn sie sich der Untersuchung der Par-

teiorganisation enthält. Der Parteienforschungentgeht eine Beschreibung der Parteien, die vonder Verunsicherung für sicher gehaltenen Wis-sens, der Analyse alltäglicher organisationalerPraktiken und der Abklärung normativer Empha-se durch die Untersuchung ihrer Funktion lebt.Forschung über Parteien kann aus dieser Per-spektive selbst zum Gegenstand von Forschungwerden, die Problembeschreibung eines Partei-mitglieds als Lösung für eine gegenwärtige Pra-xis betrachtet werden (vgl. Nassehi 2008). Bevorich dies am empirischen Material, hier: dem Kri-sendiskurs der Parteienstaatlichkeit und Parteior-ganisation, zu zeigen versuche, will ich kurzwichtige theoretische Einflüsse der zugrunde lie-genden Studie4 illustrieren.

1.1 Kritik und Krise

Kritik und Krisendiagnosen scheinen bei der Un-tersuchung von Parteien eine Gewohnheit wis-senschaftlicher, medialer und organisationalerBeobachter darzustellen (vgl. für viele Walter2001). Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtli-che Arbeit über „Kritik und Krise“ (1959) gibtHinweise darauf, weshalb dies nicht außerge-wöhnlich, sondern überaus wahrscheinlich ist.Von Koselleck kann eine parteiensoziologischeUntersuchung lernen, dass erst die Erfindungvon Geschichte zu einer Erzählbarkeit von Zeitals planbarer Zukunft führt (vgl. Ders. 1979)aber auch, wie sich Kritik und Krise im Über-

4 Der Aufsatz präsentiert Ausschnitte aus einer Studie,welche im Rahmen eines Dissertationsprojekts zumThema „Partei und Mitglied - Formwandel politischerOrganisierung“ an der Ludwig-Maximilians-Universi-tät (Betreuer: Prof. Dr. Armin Nassehi) durchgeführtwird. Diese untersucht über das hier präsentierte Mate-rial hinaus mediale Äußerungen und aktuelle Lehrbü-cher auf ihren Umgang mit Krisensemantik. Zudemwurden Interviews mit Parteimitgliedern, Angestelltender Parteien, Politikberatern und Publizisten geführt,um abseits der Krisendiagnostik eine primär organisati-onssoziologisch interessierte Analyse des Formwan-dels moderner Parteien zu erarbeiten. Hierfür eignetesich in besonderem Maße ein Blick auf Luhmanns or-ganisationssoziologische Schriften. Mit Luhmann kannbetont werden, dass Parteien als Organisationen „wiealle anderen auch“, nicht nur der Logik eines Funkti-onssystems sklavisch folgen, sondern z.B. in Parteienjede Kommunikation als politische Kommunikationverstanden werden kann – aber nicht muss.

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gang vom Absolutismus zur bürgerlichen Gesell-schaft aneinander dialektisch entfalten: „der kri-tische Prozeß der Aufklärung hat die Krise imgleichen Maße heraufbeschworen, wie ihr derpolitische Sinn dieser Krise verdeckt blieb“ (Ko-selleck 1959: 5). Die „neue“ Welt wird durch dieRolle des aufsteigenden Bürgertums (ebd.: 6) be-stimmt und erfolgt aus dem „privaten Innen-raum, auf den der Staat seine Untertanen be-schränkt hatte. (...) Die Aufklärung nimmt ihrenSiegeszug in dem Maße, als sie den privaten In-nenraum zur Öffentlichkeit ausweitet“ (ebd.:41). Koselleck beschreibt am Beispiel der Werkevon Lessing und Schiller, wie sich zunächst dieBühne mittels der Kritik der Politik und der Poli-tiker dem Staat entgegen stellt (ebd.: 80ff.) DieWelt wird dabei in einen Bereich der Moral undin einen Bereich der Politik geteilt.5 Mit denWorten Kosellecks: „Die dualistische Aufspal-tung der Welt in einen Bereich der Moral undeinen Bereich der Politik ist in ihrer Geschicht-lichkeit Voraussetzung und Folge der politischenKritik“ (ebd.: 85). Die Kritik nahm sich also zu-nächst aus der Politik aus, um diese aus einerscheinbar neutralen Perspektive „ihrem Richter-spruch zu unterwerfen“ (ebd.: 81): „Die Kritikscheidet sich zwar als unpolitisch vom Staate ab,unterwirft ihn aber doch ihrem Urteil. Hierausentspringt die Ambivalenz der Kritik, die seitVoltaire ihr geschichtliches Charakteristikumwird: scheinbar unpolitisch und überpolitisch,war sie tatsächlich doch politisch“ (ebd.: 95).Koselleck beschreibt also eine totale Politisie-rung der Moderne, die dem Absolutismus imLaufe der europäischen Revolutionen mehr undmehr die Kraft entziehe. Die Krise wird durchsie zum Indikator eines neuen Bewusstseins in

5 Die Trennung der moralischen von der politischenSphäre deutet sich bereits im Werk Machiavellis an.Machiavelli (1469-1527) will die Dinge nicht nur sobeschreiben, wie sie sein sollen, sondern auch wie siesind und eröffnet damit dem politischen Denken Frei-heitsgrade abseits theologischer und moralischer Be-schreibungen. Er prägt das neuzeitliche Denken durchseine pessimistische Anthropologie und die ergebnis-orientierte Beschreibung politischen Handelns. Ma-chiavelli weist darauf hin, dass man Politik nicht nurmoralisch, sondern z.B. auch strategisch beobachtenoder begründen kann. Beides findet sich im modernenDezisionismus Carl Schmitts wieder.

einer Gesellschaft, in der sich die Politik von derMoral abgekoppelt hat (ebd.: 133f.). Die Krise,so Koselleck, „beschwört die Frage an die ge-schichtliche Zukunft“ (ebd.: 105), thematisiertalso das Wissen um die Kontingenz einer weite-ren Weltentwicklung. „Verdeckung und Verschär-fung der Krise“ bedingen sich gegenseitig (ebd.:156).6

1.2 Systemtheorie der Politik

Auch wenn Niklas Luhmann den Parteiorganisa-tionen in seinem Werk vergleichsweise geringeAufmerksamkeit schenkt, so stellt er einer aktu-ellen Parteiensoziologie eine Vielzahl hilfreicherDenkfiguren bereit. Die Funktion der Politik be-steht laut Luhmann in der Vorbereitung und Be-reithaltung der Kapazität für kollektiv bindendeEntscheidungen (2002: 84f.: 254). Parteien sinddabei vor allem für den ersten Part der Definiti-on – für die Vorbereitung der Entscheidung –durch das Herausarbeiten politischer Themen,durch Testen der Konsenschancen und durch Be-reitstellung geeigneten Personals für politischeÄmter, zuständig. Luhmann betont die „Arbeits-teilung“ zwischen Parteien und Staatsorganisati-on: „die Parteien saugen neue Probleme an, poli-tisieren den Meinungsmarkt, die Staatsorganisa-tion versucht, mit einer juristisch und finanziellhaltbaren Ordnung nachzukommen. Die einensorgen für Varietät, die anderen für Redundanz“(2002a: 215).

Zwei Hinweise Luhmanns sind für die Untersu-chung politischer Parteien besonders wichtig:Erstens weist er auf die geringe Nützlichkeit derUnterscheidung von Staatslehre und politischerSoziologie hin, die er auf eine „Hypertrophie desStaatsbewußtseins“ zurückführt (1998: 758). DerStaat – eine Selbstbeschreibung der Politik – seinicht mit der Funktion des Politik, der Herstel-lung kollektiv bindender Entscheidungen, zuverwechseln. Luhmann zeigt, wie sehr die Unter-6 Die „Krise“ wird in diesem Aufsatz nicht als „System-

krise“, sondern vielmehr empirisch gefasst. Jürgen Ha-bermas (1973) hatte Systemkrisen als „anhaltende Stö-rungen der Systemintegration“ (1973: 11) definiert. ImFolgenden wird zu zeigen sein, dass Krisensemantikender Parteiorganisation nicht auf ein Problem der Sys-temintegration, sondern gerade auf eine Problemlösungfür die moderne Demokratie verweisen.

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stellung der Identität von Staat und Politik sowievon Staat und Staatsvolk von demokratietheore-tischen Erwartungen lebt, die schließlich auchauf die Beschreibung der Organisation abfärben(vgl. Luhmann 1981: 12ff.). Die Vorstellungen,die wir uns von Demokratie, Verfassung, Politikund Grundwerten machen, haben ein theoreti-sches Fundament (ebd.: 12). Das Entstehen neu-zeitlicher Staaten war „begleitet von politischerTheorie, die die Entwicklung, soweit schonsichtbar, reflektierte, auf ihre Probleme reagierteund Lösungen rechtlicher und institutioneller Artanbot. Politische Reflexion dieser Art wird sehrrasch von der Politik selbst absorbiert und wirddamit zum Moment des Gegenstandes, über densie nachsinnt“ (ebd.).

Luhmanns Gesellschaftstheorie hält also zwei-tens dazu an, die Gewordenheit der europäi-schen Denkgewohnheiten stets im Hinterkopf zubehalten (vgl. Luhmann 2005). Hier trifft sichseine Perspektive mit der Begriffsgeschichte undder Diskursanalyse Michel Foucaults. Luhmannformuliert eine Kritik der ontologischen Er-kenntnisvoraussetzungen, eine Kritik der Seins-gebundenheit der Dinge und des Wissens. „On-tologie soll dabei heißen, daß ein Beobachter mitder Unterscheidung Sein/Nichtsein operiert undmit Hilfe dieser Unterscheidung das bezeichnet,was er für relevant, für anschlussfähig, kurz: für»seiend« hält“ (Luhmann 2005: 220). Die Onto-logie, so Luhmann, beschränke durch den Glau-ben an die Gemeinsamkeit der beschriebenenWelt das „Beobachten von Beobachtern auf zweiFunktionen: auf Kritik und auf Lernen“ (Luh-mann 2005: 221). Luhmann argumentiert, dassdie Moderne sich vor allem durch die Gleichzei-tigkeit unterschiedlicher Funktionslogiken aus-zeichnet. Kein Funktionssystem (z.B. Recht, Po-litik, Liebe, Erziehung), könne außerhalb seinerGrenzen die Geltung der eigenen Codierung(zum Beispiel Recht/Unrecht, Macht haben/kei-ne Macht haben) beanspruchen.

Armin Nassehi (2003, 2006) hat, auf LuhmannsArbeiten aufbauend, formuliert, dass die Funkti-on des Politischen nicht nur in der Bereitstellungvon Kapazitäten für kollektiv bindende Ent-scheidungen besteht (vgl. Luhmann 2002a), son-dern auch in der Herstellung und Sichtbarma-

chung von Zurechenbarkeit (Nassehi 2006:342ff.): „Das Medium, in dem solche Sichtbar-keit und Zurechenbarkeit hergestellt wird, sindunterstellte Kollektivitäten, für die Sichtbarkeitund Transparenz kollektiv wirksamer Kausalitä-ten ebenso hergestellt wie diese dadurch erst er-zeugt werden“ (ebd.: 345). Politische Kommuni-kationen können also nicht nur sachlich auf ihreIdeen von Demokratie, Politik usw. untersuchtwerden. Nassehi konzeptioniert Systeme als„temporalisierte Systeme“ (ebd.: 66) und rücktdamit die Echtzeitlichkeit von Kommunikation inden Mittelpunkt der soziologischen Analyse.„Autopoietische Systeme sind demnach Syste-me, die je nur in einer Gegenwart sich entfaltenund letztlich von sich selbst überrascht werden“(Nassehi 2003: 74). Während mit Luhmann er-klärt werden kann, warum der gleiche Satz (z.B.„Ich lasse mich scheiden.“) in unterschiedlichenFunktionssystemen unterschiedliches bedeutet(Im Scheidungsverfahren der Wunsch nach Be-endigung eines Rechtsverhältnisses, im Systemder Liebe eine Erpressung oder das Ende desSystems, im System der Religion möglicherwei-se die Beschädigung eines heiligen Sakraments),kann man mit Nassehi erklären, dass die Gleich-zeitigkeit von Unterschiedlichem nicht auf Wi-dersprüche oder Identitätskonflikte, eben nichtauf Krise verweisen muss (vgl. Nassehi 2006,vgl. von Groddeck/Siri 2010). Statt Desintegrati-on oder Entfremdung stellt Perspektivendiffe-renz die Normalität der empirischen Erfahrungeiner modernen Gesellschaft dar.

Ich fasse zusammen: Reinhard Koselleck erklärtKritik und Krise sozio-historisch als Effekt derentstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Mit Ko-selleck und Luhmann wird deutlich, dass dieKrise kein gegebener sozialer Sachverhalt „ist“.Es geraten vielmehr kommunikative Arrange-ments in den Blick, in denen das Reden undSchreiben von Krise anschlussfähig ist. Mit Nas-sehi kann gezeigt werden, dass nicht nur die De-konstruktion von Krisenkommunikation als einer„alteuropäischen Gewohnheit“, sondern auchihre Funktion für gegenwärtige Praktiken sozio-logisch zu erforschen ist. Ich komme hierauf imletzten Kapitel zurück, nachdem ich im Folgen-den das Augenmerk auf die Historizität der Par-

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teienkritik und des Krisendiskurses der Parteienrichte. Dabei beschränke ich mich in diesemAufsatz auf die Darstellung weniger und aus-schließlich wissenschaftlicher Perspektiven.7

2. Der Krisendiskurs der Parteiorganisationund der Parteienstaatlichkeit

Politische Organisation reagiert auf das bereitsin der antiken Stadt formulierte Interesse, Posi-tionen zu definieren, die den Tod ihres Inhabersüberdauern können. Instabilität, Anarchie undBarbarei gefährdeten im Falle des Todes vonMonarchen, Statthaltern oder Clanchefs die vor-moderne soziale Ordnung. Trotzdem die Not-wendigkeit geregelter Nachfolgen bereits in vor-modernen Gesellschaften thematisiert wurde, lie-ßen sich Amt und Amtsethos zunächst nicht ge-trennt voneinander denken, da der Ursprung (ar-ché) das Wesen bestimmte und daher von derAbstammung auf eine Ähnlichkeit des Wesensgeschlossen werden konnte (vgl. Luhmann 1997:689). Die Kritik der Organisierung von Politikgeht mit ihrer Entstehung einher und die „Ur-form“ der Parteienkritik kritisiert, dass Politiküberhaupt organisiert wird.

Bereits in den 1740er Jahren formuliert DavidHume, dass moderne Politik keine Wahrheitsan-sprüche mehr mitführen und nur noch Interes-senausgleich verhandeln könne (vgl. Bermbach1988: XXXIIIf.). Er schreibt: „So sehr man unterden Menschen die Gesetzgeber und Staatsgrün-der ehren und respektieren sollte, so sehr sollteman die Gründer von Sekten und Faktionen ver-achten und hassen, denn der Einfluß von Faktio-nen ist dem von Gesetzen genau gegensätzlich.(…) Die Gründer von Parteien sollten uns des-halb noch verhaßter sein, weil solche Ansätzenur schwer wieder auszumerzen sind, wenn sieeinmal in einem Staat Wurzeln geschlagen ha-ben“ (Hume 1988: 52). Humes Haltung gegen-über Parteien ist mehr als ambivalent und steht

7 Eine weitergehende Darstellung würde auch die Unter-suchung medialer Äußerungen sowie die Interpretationvon Interviewdaten und Bildmaterial in die Analyseaufnehmen. Dabei bietet es sich an, Parteien kontras-tierend zu anderen Organisationen, wie beispielsweiseUnternehmen, zu untersuchen (vgl. Mayr/ Siri 2010,von Groddeck/ Siri 2010).

damit für einen bis heute anhaltenden Diskurs,der zwischen Kritik und Verachtung für die Par-teien, bei Anerkennung ihrer Organisationsleis-tung für den Staat, oszilliert. Robert Michels(1911) kritisiert die Tendenz der Parteiorganisa-tion zur Oligarchie und thematisiert damit eben-falls den Verlust der Einheit von Vertretenenund Vertretenden. Am Beispiel der deutschenSozialdemokratie formuliert er: „Die regelmäßi-gen Veranstaltungsbesucher sind, insbesonderean den kleinen Orten, häufig nicht Proletarier,die, von der Arbeit erschöpft, sich abends frühzur Ruhe legen, sondern allerhand Zwi-schenexistenzen, Kleinbürger, Zeitungs- undPostkartenverkäufer, Kommiß, junge, noch stel-lenlose Intellektuelle, die Freude daran finden,sich als authentisches Proletariat zu apostrophie-ren und als Klasse der Zukunft feiern zu lassen.“(Michels 1911: 49).8

Während Hume und Michels die Parteiorganisa-tion kritisieren, aber keine Alternative zu ihr se-hen, beschreibt für Carl Schmitt das anonymedemokratische Verfahren den Anfang vom Endeder Demokratie. Die Moderne beschreibtSchmitt als eine Epoche, der die Fähigkeit zurForm fehle (Schmitt 1991: 59). Der Formverlustäußere sich in der Flucht zu falschen Surrogatenund die „argumentierende öffentliche Diskussi-on“ werde „zu einer leeren Formalität gemacht“(Schmitt 1923: 10). „Die Parteien (die es nach

8 Bis heute ist die Kritik der „Lehrer- und Beamtenpar-tei“ in die Selbstbeschreibung der Sozialdemokrati-schen Parteiorganisation eingelassen. Hier ein Beispielaus einem qualitativen Interview: H: „... (laut) das isseinfach relevant und das iss auch das Traurige,dass immer weniger Arbeitnehmer und Sozial-schwache eben Mitglied sind oder eben ihre Mei-nung einfach artikulieren. ... Aber das liegt einfachauch an den Strukturen. ...I: Wie meinst du das?

H: Ähm, dass du in der Partei nur hochkommst, wenndu in Anführungsstrichen 'nen gewissen Bildungsgradhast. Und dich artikulieren kannst. Zusammenhängeverstehen kannst, dich damit beschäftigen kannst über-haupt erst mal... Also wenn man 8, 9 Stunden am Tagarbeitet und dann nach Hause kommt hat man in derRegel wenig Lust dann noch sich theoretisch großartigin irgendwelche Debatten zu stürzen. Ähm, vor allemwenn’s sowieso hinten und vorne brennt, finanziell undmit anderen Problemen...“

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dem Text der geschriebenen Verfassung offiziellgar nicht gibt) treten heute nicht mehr als disku-tierende Meinungen, sondern als soziale oderwirtschaftliche Machtgruppen einander gegen-über, berechnen die beiderseitigen Interessenund Machtmöglichkeiten und schließen auf die-ser faktischen Grundlage Kompromisse und Ko-alitionen“ (Schmitt 1923.: 11). Schmitt kritisiert,dass die Parteien nicht in der Verfassung veran-kert sind. Die mangelnde positivrechtliche Be-stimmung der Parteien wird über die WeimarerRepublik hinaus zum dankbaren Thema fürStaatsrechtslehrertagungen. Gerhard Leibholz at-testiert den Weimarer Verfassungsvätern, dasssie sich „keine zu hohe Meinung von den Partei-en gebildet“ hätten (Leibholz 1964: 84). Für po-sitivistische Staatsrechtslehrer folgte aus derNichtfeststellung der Parteienstaatlichkeit in derVerfassung die Verletzung des Repräsentations-systems und die Forderung der Einschränkungder Macht der Parteien und des Personenwahl-rechts. Antidemokratische Staatsrechtslehrer wieCarl Schmitt und Heinrich Triepel beschreibendie Parteienbildung als Angriff auf die Verfas-sung und nehmen die Differenz von Faktizitätund Geltung zum Anlass, den Parlamentarismusals kranken Körper zu beschreiben. „Die Rettungwerde »mit elementarer Gewalt aus dem Schoßedes Volkes« herauskommen, indem sich derStaat von unten zu einem echten »Organismus«erneuere“ (Lenk/Neumann 1968: XLVIII, vgl.auch Mergel 2002). In Verteidigung der Partei-enstaatlichkeit argumentierte z.B. Hans Kelsen(2006): Der Parteienstaat sei keine Ablösung,sondern eine Aktualisierung des Parlamentaris-mus.9 Ernst Forsthoff aktualisiert Carl SchmittsSubstanzkritik des modernen Parlaments. Forst-hoff beschreibt einen Staat, dessen Repräsenta-ten nicht mehr versuchten, eine „Verbindungvon Geist und Staat“ herzustellen (Forsthoff1971: 55). Die Bundesrepublik habe als „para-digmatischer Staat der Industriegesellschaft“ ihre

9 Lenk und Neumann beschreiben, wie auf der Staats-rechtslehrertagung 1931 die verschiedenen Perspekti-ven aufeinander prallten. Zuvor hatte Reichsinnenmi-nister Wirth einen Wahlgesetzentwurf zur stärkerenBerücksichtigung der Persönlichkeit vorgelegt, um der„Zersplitterung im Reichstag“ (Lenk/Neumann 1968:LII) entgegenzuwirken.

„geistige Selbstdarstellung“ verloren (ebd.: 55).Empirisch begründet sich die Kritik unter ande-rem anhand der Beschreibung der Ununter-scheidbarkeit der (im Parlament vertretenenbzw. regierenden) Parteien. Kritische Kommen-tatoren der Parteienstaatlichkeit in den 1960erund 1970er Jahren stellen hierauf ab und kritisie-ren z.B. die geringeren Wahlwerbungschancender opponierenden Parteien (vgl. Abendroth1966: 212ff., vgl. auch Forsthoff 1971: 90ff.).Die Ununterscheidbarkeit von politischen Orga-nisationen ist auch eine alte und beliebte Figurdes Spotts über die Parteien in Film und Kaba-rett. So sind in Monty Phytons „Life of Brian“die programmatischen Ziele der „judäischenVolksfront“ und der „Volksfront von Judää“nicht zu unterscheiden: Ihr Hass aufeinanderübersteigt aber den gemeinsamen Hass auf dieRömer und so vernichten sie sich schließlich ge-genseitig. Und in einer der vielen auf Youtubeabrufbaren Folgen von „Loriot“ wird aus Kos-tengründen mit dem gleichen Darsteller, welchernur seinen Gesichtsaudruck verändert, für alleParteien ein Wahlkampfbild aufgenommen. Wiekönnen nun solche Beobachtungen soziologischerklärt werden?

Zwischenfazit: Der Sündenfall der Organisie-rung

Mittels einer Zusammenfassung der oben ver-handelten Literatur will ich nun versuchen, diehistorisierende Beschreibung um eine soziologi-sche Analyse der Funktion der Krisenkommuni-kation zu ergänzen. Hierbei werden nun die ein-geführten gesellschaftstheoretischen Positionen(vgl. Luhmann 2002a, Nassehi 2003, 2006) zumTragen kommen.

Durch die politische Organisierung, die MosseijOstrogorski (1902) und Max Weber (1988) inihren parteiensoziologischen Werken beschrei-ben, wird das Selbstverständnis „radikaler“ De-mokraten wie Robert Michels und Carl Schmitterheblich erschüttert. Kritik und Krisensemantikwerden durch diesen „Sündenfall“ aktiviert.Ostrogorski und Weber betonen die Unmöglich-keit einer Rückkehr zur Demokratie ohne Massen-wahlen und Massenorganisation. Sind Michels

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und Schmitt aber überzeugt, dass die Moderne dieSubstanz des Politischen destruiere, betont Weberdie individuellen Freiheitspotentiale. Weber be-jaht das Fachmenschentum und die systematisier-te Lebensführung, wenn sie einem Leben mit „Be-rufung“, zum Beispiel zur Politik, dienen und so-lange es sich um wertorientiertes Handeln handle.Die Werte werden dabei nicht kollektiv, sondernindividuell entwickelt, begründet und verteidigt.Sie dienen primär dazu, die individuelle Lebens-führung auszurichten und nicht in erster Liniedazu, ein Kollektiv zu stärken. Dies ist der ent-scheidende Unterschied zu Schmitts identitärerDemokratietheorie, für den die intersubjektiveAneinanderreihung von Werten durch bürgerlicheIndividuen den Tod der Politik bedeutet (vgl.Eberl 1994: 54f).

Kurt Lenk und Franz Neumann führen die Kri-sensemantik der Parteien – sie sprechen von„Antiparteienaffekten“ – auf die Wirkung derSchriften von Hobbes, Rousseau10 und Hegel zu-rück. Hobbes beschrieb Parteien unter dem Ein-druck der Bürgerkriege der Stuarts und der Puri-taner als „organisierte Verschwörungen“ (Lenk/Neumann 1968: XXII) und idealisiert das Aufge-hen der Rechte der Bürger im Unterwerfungsver-trag mit dem Souverän. Rousseau beschrieb Par-teien als „Fremdkörper im Staatswesen“ (ebd.).Die egoistischen Sonderinteressen der Bürger, jaalle Partikularinteressen, seien dem VolontéGénérale abträglich und zu unterdrücken. HegelsArbeiten inspirierten eine Staatsverehrung, diedurch Partikularinteressen gleichsam beleidigtwurde. Die „Fetischisierung des Staates“ (ebd.)ging im deutschen Sprachraum ein Bündnis mitobrigkeitsstaatlichen Haltungen ein. Ulrich K.Preuß hat folgerichtig beschrieben, dass nichtdas Mehrheitswahlrecht als rechtliche Form,sondern ein falsches Verständnis des Mehrheits-wahlrechts zur Selbstabschaffung der WeimarerDemokratie geführt habe. Die Mehrheitsregelhabe sich „von einem Prinzip des Verfahrens zueinem substantiellen Ordnungsprinzip“ gewan-

10 Vgl. hierzu Koselleck 1959, S. 142 ff. Koselleck zeigt,dass Rousseau die politische Krise als moralische Kri-se argumentiert und zieht ihn als ein Beispiel für seineTheorie vom Dualismus der Moral und der Politik, fürdie Blindheit der Philosophie für ihre Destruktion derabsolutistischen Ordnung, heran.

delt (Preuß 1979: 344). Es sei kein Zufall, „daßdie Krise des liberal-repräsentativen Verfas-sungssystems in der Weimarer Republik aus-brach. Den sozio-ökonomischen und kulturellenBedingungen einer Massengesellschaft konnteein Verfassungssystem nicht gewachsen sein,welches lediglich eine modifizierte Fortschrei-bung der Grundprinzipien einer liberal-repräsen-tativen politischen Ordnung aus dem 19. Jahr-hundert war“ (ebd.).

Bis heute – das kann den Ausführungen Lenksund Neumanns hinzugefügt werden – spielt derRückzug in ästhetische und romantische Öffent-lichkeiten, die Aversion kantianischer Ethikengegen „Realpolitik“, eine Rolle in einem vor al-lem deutschsprachigen Diskurs, der ethische Re-flexionen real-politischen Verfahren vorzieht.Die Unwiederbringlichkeit der „direkt-demokra-tischen“ Erfahrung einer vormodernen Gesell-schaft haben über den Umweg kritischer Theori-en der Öffentlichkeit zu einer intellektuellenMissachtung für Parteiorganisationen geführt,die in der Unausweichlichkeit der Organisie-rung moderner demokratischer Verfahren be-gründet liegt. Die Figur der „Politikverachtung“– wie ich sie am Beispiel Carl Schmitts vorstell-te – findet sich daher in moralischen Parteienkri-tiken ebenso wieder wie in empirischen Untersu-chungen der „Parteienverdrossenheit“. Die Fun-damentalkritiken brechen dabei die Unterschei-dung von „links“ und „rechts“ auf: Die Figur derEntfremdung wird von Marxisten und Existen-zialisten gleichermaßen gegen die Politik unddie Öffentlichkeit in Stellung gebracht, wie Hel-muth Plessner 1960 in seiner Göttinger Rekto-ratsrede bemerkte (vgl. Schlenk 2008: 57). Auchfällt auf, dass die Kritik sich im deutschenSprachraum meist als Elitenprojekt habituali-siert.

3. Die Funktion der Krisenkommunikation unddie Paradoxie des Politischen

Michel Foucault (1992) kritisiert, dass sichdurch die Philosophie Kants eine Fixation desVerhältnisses von Kritik und Aufklärung auf dasProblem der „richtigen“ Erkenntnis ereignethabe (ebd.: 29ff.). Dies resultiere in der „Legiti-

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mitätsprüfung der geschichtlichen Erkenntnis-weisen“ (ebd.: 30) als dominanter Analyseproze-dur. Auch Dilthey oder Habermas, so Foucault,reformulierten vornehmlich die Frage, „welchefalsche Idee sich die Erkenntnis von sich selbstgemacht“ (ebd.) und an welche falsche „Herr-schaft sie sich folglich gebunden“ fand (ebd.).Niklas Luhmann beschreibt Kritik als ein Äqui-valent für Universalitätsansprüche. Diese „wer-den durch „Kritik“ ersetzt, mit der der Stand-punkt des Subjekts sich zur Universalität wiederaufrundet“ (1987: 108).

Die Parlamentarismusbeschreibungen von Mi-chels, Weber und Schmitt thematisieren in ihrerUnterschiedlichkeit die gleiche historische Er-fahrung: Eine Kränkung des Ideals substanziel-ler Demokratie durch die Faktizität der Organi-sation. Weber stört die „unerhörte Langeweile“von Reden im Parlament (1994: 71). Michelsübersieht die Funktionalität unterschiedlicherpolitischer Praxen, indem er folgende Beobach-tung nur als Kritik und nicht als soziologischeBeschreibung formuliert: „Die Fraktionen pfle-gen sich sowieso nur selten an die ihnen auf demParteitage vorgeschriebenen Marschrouten zuhalten. (…) Die Geschichte der Parteien bestehtaus einer Kette gebrochener Parteitagsbeschlüs-se.“ (Michels 1911: 138f.) Legt man hier ArminNassehis Konzept einer Gesellschaft der Gegen-warten an, so wird deutlich, dass die Kritik dieGleichzeitigkeit und Unversöhnlichkeit unter-schiedlicher Gegenwarten in einer politischenPraxis thematisiert. Durch die Kritik wird diesals Hinweis auf Inkonsistenz thematisierbar,während es für die Akteure auf dem Parteitagund in der Fraktion keinen Ausweg aus der je-weiligen Praxis gibt. Die Kritik zurrt unter-schiedliche politische Gegenwarten zu einer uni-versellen Beobachtung zusammen und übersiehtdabei zwangsläufig, dass Unterschiedliches un-terschiedlich funktioniert. Im ersten Kapitel habeich die Funktion des Politischen mit Armin Nas-sehi als Herstellung und Sichtbarmachung vonKollektiven bezeichnet (Nassehi 2006: 345), de-nen (als Volk) die Autorschaft an den Gesetzen,die Urheberschaft an der Regierung und die Ein-nahme einer Publikumsrolle als politische Öf-fentlichkeit zugerechnet werden kann. In diesem

Übersehen des Unvermeidlichen – dem Ignorie-ren der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Aspekteund Eigenzeiten der politischen Organisierung –liegt genau ihre Funktion. Während die Kritikden Sündenfall der Organisierung allgemein the-matisiert, reformulieren Krisendiagnosen ihn ineiner Sprache, mit der die Organisation durchReform (aber eben auch nur durch Reform ihrerselbst) umgehen kann. Die Paradoxie des Politi-schen besteht also darin, dass nur in der Refe-renz auf und der Kritik von Unterschieden dieSymbolisierung von Kollektivität und Substanzüberhaupt noch gelingen kann. Kritik- und Kri-senkommunikation tragen durch die Beschrei-bung der Krise (und der dabei im Subtext mit-laufenden Betonung dessen, wie es „eigentlich“laufen sollte), das diversifizierte politische Pu-blikum zumindest hypothetisch als Kollektiv zuformen. In den Organisationen wird die Krisen-diagnose zur Reform verarbeitet. Diese ermög-licht jedoch keine „bessere“ Vermittlung desVolkes mit der Organisation, sondern trägt zurReproduktion der Organisation bei. Die Kritikträgt somit dazu bei, auch weiterhin zu organi-sieren, was in der Moderne organisiert werdenmuss. Alle Parteienkritiken thematisieren auf jeunterschiedliche Weise die Frage, wie Kollekti-vität und Identität unter der Bedingung politi-scher Organisierung möglich ist. Dies ist auchder Grund, weshalb sich bis heute Krisendiagno-sen der Parteien stabil reproduzieren, sich dabeiaber stets selbst für sehr aktuell halten (vgl. Wal-ter 2001). Erstens kann hieraus erklärt werden,dass Krisendiagnostik bis heute en vogue ist.Hier könnte eine Kritik der Krisendiagnosen an-setzen, welche ihre Naivität oder Unangemes-senheit betont. Viel interessanter ist es aberzweitens, sich genauer mit der Funktion von Kri-tik- und Krisenkommunikation für die Politikder modernen Gesellschaft zu befassen.

3.1 Die Funktion der Parteienkrise für diemoderne Demokratie

„Die in der Beobachtung operativ verwen-dete, aber nicht beobachtbare Unterschei-dung ist der blinde Fleck des Beobachters“(Luhmann 2005: 233).

Der blinde Fleck der Parteienkritik besteht in ih-rer Funktionalität für die anhaltende Bereitstel-

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lung von Legitimation der demokratischen Ver-fahren. Denn nicht nur der „freiheitliche, säkula-risierte Staat lebt von Voraussetzungen, die erselbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde1976: 60). Das Gleiche gilt auch für das demo-kratische Verfahren und die Organisation vonDemokratie durch politische Organisationen.Durch die Kritik und die Krisendiagnosen derpolitischen Organisation wird in der demokrati-schen Gesellschaft kommuniziert, was gesell-schaftlich nicht beobachtbar ist: Die Substanzder demokratischen Entscheidung und ihre Sym-bolisierung der Identität von Volk und Regie-rung. Indem wissenschaftliche, mediale und or-ganisationale Beobachter die Parteien kritisie-ren, kann das in einer komplexen, demokrati-schen Gesellschaft praktisch verunmöglichtePlebiszit zumindest als Ideal präsent gehaltenwerden.

Zugleich wird durch die Idealisierung eines sub-stanziellen Volkswillens von der Potenz der de-mokratischen Verfahren abgelenkt. Denn andersals die Kritik suggeriert: Die Kriterien für dieUntersuchung innerparteilicher Strukturen sindnicht alleine aus der Organisation und nicht in„Kategorien der Demokratie, sondern einzig ausder Verträglichkeit der jeweiligen Art und Weiseinnerparteilicher Willensbildung mit den institu-tionellen Erfordernissen der konkret gegebenenStaatsform“ (Hennis 1957: 52) abzuleiten: „Dieephimäre Rolle, die der Staatsform seit RobertMichels »Soziologie des Parteiwesens« – im Ge-gensatz zu Ostrogorskis zu Unrecht im Schattenstehenden Werk – in den üblichen parteiensozio-logischen Arbeiten zugeschrieben wird, fallsüberhaupt von ihr die Rede ist, hat ihre Wurzelin einem radikaldemokratischen Unverständnisfür den sittlichen Sinn und die freiheitsbewah-rende Funktion der Verfassung und der Staats-form insbesondere“ (ebd.). Auch wenn ich michfür den „sittlichen Sinn“ der Verfassung undStaatsform an dieser Stelle weniger interessiereals dafür, wie politische Kommunikationendurch ihre Organisation in Verfahren strukturiertwerden: Der Hinweis ist wertvoll, da die Verfah-rensförmigkeit der Demokratie trotz der Beto-nung in den Arbeiten von Habermas und Luh-mann (in der soziologischen Fachdiskussion)

vernachlässigt wird. Geschieht dies, so wird ers-tens übersehen, dass Parteienkritik nicht nur „an-tidemokratischer“ Tradition, sondern auch einemstaatsrechtlich legitimierten Formalismus ent-springen kann (vgl. Lenk/Neumann 1968: XXI).Zweitens wird übersehen, dass die Kritik an denParteien evtl. eine Stabilisierung der Verfahrenmit sich bringt und drittens einer eigenen diskur-siven Dynamik folgt. Krisensemantiken bildenden sozialen Wandel ab und bieten durch ihreWiederholung Stabilität. Die „Krise der Partei-en“ ist eine auf Dauer gestellte, historisch erfolg-reiche Beschreibung. Die Krisenkommunikationbeschreibt eine unmittelbare empirische Erfah-rung der Organisation und ihrer Beobachter,welche die Sehnsucht nach einer Demokratieohne Organisation formuliert. Die Krisendia-gnosen sind vor allem Krisendiagnosen der Or-ganisation und der politischen Rollenträger, dieVerfahren geraten seltener in den Blick. Ich ver-mute, dass der historische Diskurs der Krise derParteien es auch unter anderem ermöglicht, dassParteien als „Ganzheit“ als mit sich ident be-schrieben werden. Denn die Krisendiagnoseführt immer auch eine Schutzbedürftigkeit desals in der Krise Begriffenen mit sich. Krisendia-gnosen erlauben, eine komplexe Großorganisati-on gleich einem kränkelnden Subjekt zu adres-sieren, welches ein Stück Souveränität verlorenhat, die ihm eigentlich zusteht. Mit Habermasgesprochen: „Indem wir einen Vorgang als eineKrise begreifen, geben wir ihm unausgesprocheneinen normativen Sinn: die Lösung der Krisebringt für das verstrickte Subjekt eine Befreiung(Habermas 1973: 10). Die Organisation wird alsschützenswerte Identität adressierbar. Und Kri-sendiagnosen sind, im Sinne eines „jetzt erstrecht“ ein guter Grund für das Engagement derMitglieder. Der blinde Fleck der Parteienkritikbesteht in seiner Historizität und in seiner Funk-tionalität für die Organisierung von Demokratie.Denn paradoxerweise ermöglicht der Verweisauf die Krise der Parteien und die Kritik an ih-nen vor allem eines: So weiterzumachen, „wiebisher“.

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3.2 Die Wehrhaftigkeit der Verfahren

„In der Geschichtsschreibung gilt ein Tradi-tionsabbruch, mit dem identitätsverbürgendeDeutungssysteme ihre sozial-integrativeKraft einbüßen, als Indikator für den Zu-sammenbruch sozialer Systeme. (…) DerTraditionsabbruch ist ein zumindest unge-naues Kriterium, da sich die Medien derÜberlieferung und die Bewußtseinsfor-schung der geschichtlichen Kontinuitätselbst geschichtlich ändern. Überdies stelltsich das zeitgenössische Krisenbewußtseinpost festum oft als trügerisch heraus. EineGesellschaft stürzt nicht nur und nicht im-mer dann in eine Krise, wenn ihre Mitglie-der es sagen“ (Habermas 1973: 12).

In Abwandlung einer prominenten Formulierungdes regierenden Bürgermeisters von Berlin ließesich zusammenfassen: Parteien sind in der Krise– und das ist gut so. Nur die Parteienkritik undihre Reformulierung als Krise der Organisationermöglicht, normative Kommunikation in daspolitische System einzuspeisen. Nicht so gut ist,wenn die Soziologie sich nicht darum kümmert,eine eigene Perspektive auf diese Organisationenzu produzieren. Während die Politikwissenschaftund die Rechtswissenschaften ihrer eigenen wis-senschaftlichen Perspektive treu bleiben, wennsie krisenhafte Zustände diagnostizieren oder dieVereinbarkeit aktuellen Parteienrechts mit derVerfassung diskutieren, übernimmt die Soziolo-gie Fremdbeschreibungen – und vergeudet damitihr Potential. Allein mit dem Verweis auf sin-kende Mitgliederzahlen oder Politiker, die nunneben Plakaten auch facebook nutzen, ist der So-ziologie der Parteien nicht genüge getan. StattVeränderungen als „Entpolitisierung“ oder als„Werteverfall“ zu interpretieren, kann eine so-ziologische Perspektive zeigen, dass sich die Or-ganisationen durch den Einbau von Unschärfen(vgl. von Groddeck 2011) wie dem Konzept der„Catch-All-Partei“, durch Wertekommunikation(ebd.) und durch die Nutzung neuer Medien aufdie Dynamiken ihrer gesellschaftlichen Umwelteinstellen. Kritiken formulieren dabei jeweils dieSorge und Substanzverlust durch Veränderungund begleiten den organisationalen Wandel.

Meine Darstellungen provozieren die Frage, wasdenn bitte, wenn nun die Krise in Permanenz an-geblich so funktional sei – ein „echtes“ Problem

der demokratischen Parteien wäre? Auch wenndie hier eingenommene Perspektive sich mit ei-ner Antwort schwer tut, will ich zumindest ver-suchen, eine solche anzudeuten. Jürgen Haber-mas (1973) betont in seiner Rekonstruktion desBegriffs der Systemkrise, dass von Aristotelesbis Hegel die Krise den Wendepunkt einesschicksalhaften Prozesses beschreibe. Erst mitKarl Marx sei die Krise als Systemkrise erzähl-bar. Habermas begründet, dass Krisenerschei-nungen im Spätkapitalismus ihren naturwüchsi-gen Charakter verlieren. Wenn nun eine System-krise dermaßen unwahrscheinlich ist, so bleibtder Soziologie nur die Beobachtung von Krisen-semantiken und deren Form und Funktion. Eine„Zerstörung“ der Parteien, wie wir sie kennen,ist nie unmöglich, aber in der Bundesrepublikhoch unwahrscheinlich.

Dies hat nicht zuletzt mit den starken Vorkeh-rungen zu tun, die das Parteienrecht nach der Er-fahrung der Weimarer Republik getroffen hat.Vice versa lässt sich daraus schließen, dassrechtsradikale, linksradikale oder populistischeParteien in der Bundesrepublik immer ein Pro-blem haben werden. Nicht unbedingt deshalb,weil die Demokratinnen und Demokraten sichwehren, sondern weil sich „das Verfahrenselbst“ wehrt – ganz ohne, dass es „die Men-schen“ dafür braucht. Auch wenn die „enthuma-nisierte“ Systemtheorie häufig dafür kritisiertwurde, wie wenig Macht sie den Menschen überdie Veränderung der Welt zugesteht, so lässtsich paradoxerweise mit ihr den Demokratinnenund Demokraten eine gute Nachricht überbrin-gen: Die Demokratie – oder wenn wir so wollen„das System“ – ist aus eigener Kraft heraus über-aus wehrhaft. Es gewöhnt den politischen Akteu-ren durch die Bereitstellung von Verfahren einedemokratische Praxis an, die abseits der politi-schen Forderungen als Gewohnheit durch dasWahrscheinlichmachen von Anschlusskommuni-kation wirksam wird. Die Parteien werden durchdie Verfahren gleichsam domestiziert, wofür dieEntwicklung der Grünen in den 1980er Jahrenoder jene der Regierungsbeteiligung der Links-partei in Landesparlamenten als Beispiel heran-gezogen werden kann. Die Demokratie erziehtihre Kinder – auch ohne, dass die immer etwas

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dazu tun müssten. Soziologen beschreiben diesmit der Unterscheidung von Erziehung und So-zialisation. Während erste eine pädagogischeKommunikation in guter Absicht durch den Er-zieher darstellt, vermittelt sich zweite unbe-wusst, alltäglich und nicht zielgerichtet (vgl.Luhmann 2002b: 53ff.).

Die Wehrhaftigkeit der Demokratie gründet (in-zwischen) möglicherweise weniger in den„großen“ rechtlichen Schranken, wie der Mög-lichkeit, verfassungswidrige Parteien zu verbie-ten, sondern darin, dass extreme und populisti-sche Parteien die modernen, institutionellen Vor-richtungen der Demokratie nicht richtig „begrei-fen“ – und in der organisationalen Praxis nichtadäquat anwenden können. Über ihre Fähigkeit,Wahlerfolge zu erzielen, sagt dies gewiss nichtsaus. Mit Luhmann gesprochen lässt sich aberfeststellen: rechtspopulistische und radikale Par-teien sind keine funktionalen Äquivalente für de-mokratische Parteiorganisationen, die die radika-le Differenzierung moderner Gesellschaft in sichselbst prozessieren und mit den demokratischenVerfahren ohne Reibungsverluste umgehen kön-nen.

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MIP 2011 17. Jhrg. Heiko Biehl/Uwe Kranenpohl – Große Politik in einer kleinen Partei [...] Aufsätze

Große Politik in einer kleinen Par-tei. Strukturen und Determinan-ten innerparteilicher Partizipati-on in der Ökologisch-Demokrati-schen Partei (ödp)

Dr. Heiko Biehl/ Prof. Dr. Uwe Kranenpohl*

1. Einleitung

Die ödp stellt in gewisser Weise einen Sonder-fall in der bundesdeutschen Parteienlandschaftdar. Entstanden 1982 aus der Ökologiebewe-gung, als eine Gruppe von ‚Wertkonservativen’um den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordne-ten Herbert Gruhl die Grünen verließ, konnte dieödp nur lokal reüssieren: KommunalpolitischeMandate errang sie vor allem in Bayern, aberauch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – im Freistaat gelang es ihr gar, einige Bür-germeisterposten zu besetzen (ödp 2009). AufLandesebene war die ödp hingegen nur bei zweiVolksbegehren in Bayern erfolgreich (Senatsab-schaffung 1997 und Nichtraucherschutz 2010),selbst bei Landtagswahlen im Freistaat übertrifftdie Partei nicht die 2-Prozent-Marke.

Dennoch ist die ödp ungeachtet der mäßigen po-litischen Erfolge als demokratische Partei eta-bliert und nimmt als einzige nicht-extremistischeKleinpartei seit drei Jahrzehnten regelmäßig anWahlen teil und erreicht dabei zumindest Stim-manteile im Prozentbereich. Dabei ist sie prinzi-piell bundesweit präsent, wenngleich sie einendeutlichen regionalen Schwerpunkt im Südender Republik hat – vor allem in Bayern, wo rund4.000 der knapp 6.500 Mitglieder leben (ödp2010).1 * H. Biehl ist Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwis-

senschaftlichen Institut der Bundeswehr und Lehrbe-auftragter an der Universität Potsdam. U. Kranenpohlist Professor an der Evangelischen Hochschule Nürn-berg und Privatdozent an der Universität Passau.

1 In ihrer zahlenmäßigen Stärke sind daneben nur dieLandesverbände Baden-Württemberg (ca. 1.000 Mit-

Die ödp bietet sich damit als geeigneter Fall fürdie Untersuchung innerparteilicher Partizipationaußerhalb der etablierten Bundestagsparteien an.Insbesondere zeigt sich in ihr das vermeintliche‚Paradox der (partei-)politischen Beteiligung’,wie es die Rational-Choice-Theorie ausformu-liert hat, in zugespitzter Art und Weise: Weshalbbeteiligen sich Bürger in der ödp, obwohl siewissen, dass ihr Engagement einen allenfallsgraduellen Einfluss auf politische Entscheidun-gen nimmt? Weshalb sind sie nicht in einer dergroßen Parteien aktiv? Oder ziehen sich gleichganz ins Private zurück?

Daneben ist zwar in den letzten Jahren ein raschwachsendes politikwissenschaftliches Interessean Ausmaß, Trägergruppen und Beweggründeninnerparteilicher Beteiligung zu verzeichnen.Aber ist es bislang nicht geklärt, ob die dabei er-mittelten Befunde auch auf kleinere Parteienübertragbar sind oder sich dort andere Formenund Triebfedern des Engagements zeigen.

Im Folgenden geht es also um die Analyse derStrukturen, Trägergruppen und Beweggründe in-nerparteilicher Aktivität in der ödp. Hierzu wer-den zunächst die bislang von der Parteienfor-schung erarbeiteten Befunde zur innerparteili-chen Teilhabe präsentiert sowie hinsichtlich derÜbertragbarkeit auf die ödp diskutiert (Abschnitt2). Die Untersuchung basiert auf einer Befra-gung von ödp-Angehörigen zu ihrem Engage-ment, ihren politischen Einstellungen und sozio-demographischen Merkmalen (Abschnitt 3). DieAuswertungen legen die Strukturen und Deter-minanten der innerparteilichen Partizipation inder ödp offen (Abschnitt 4). Abschließend wer-den die Befunde hinsichtlich ihrer Beiträge zurCharakterisierung der ödp und zur Partizipati-onsforschung diskutiert (Abschnitt 5).

2. Forschungsstand, Erklärungsansätze undHypothesen zur innerparteilichen Partizipation

Das Engagement in Parteien ist eine Form politi-scher Beteiligung. Von daher sollten einerseitsdie Annahmen und Befunde der allgemeinen

glieder), Nordrhein-Westfalen (ca. 500 Mitglieder) undRheinland-Pfalz (ca. 300 Mitglieder) bedeutender.

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Partizipationsforschung gelten und auf die politi-schen Parteien übertragbar sein. Dazu kann aufeine Bandbreite von Theorien, Methoden undBefunden zurückgegriffen werden, da die Parti-zipationsforschung sich zu einem formidablenForschungsstrang der Politikwissenschaft bzw.der politischen Soziologie entwickelt hat. Einekaum noch zu überschaubare Fülle von einschlä-gigen – vorwiegend empirisch ausgerichteten –Arbeiten im nationalen wie internationalen Kon-text liegt mittlerweile vor. Zudem ist in den letz-ten Jahren die Kanonisierung dieser Teildisziplinvorangeschritten, wie einschlägige Überblicks-darstellungen belegen (van Deth 2009; Hoecker2006; Niedermayer 2005). Andererseits weistdas parteipolitische Engagement Besonderheitenauf, die es zu berücksichtigen gilt: So ist dieMitarbeit in Parteien vergleichsweise stark for-malisiert und strukturiert. Sie findet in einem or-ganisatorischen Rahmen statt, der sich merklichvon freien Assoziationen (wie Bewegungen, Ini-tiativen etc.) oder Aktionen (wie Demonstratio-nen, Petitionen etc.) unterscheidet. Die Arbeit ineiner Partei umfasst mehrere Funktionen:

– Sie dient der Artikulation politischer Ab-sichten und mobilisiert diese vor allem,aber nicht alleine bei Wahlen.

– Sie integriert und repräsentiert aber eben-so unterschiedliche soziale und politischeInteressen sowie deren Vertreter.

– Eine weitere Besonderheit stellt der re-stringierte Zugang zur innerparteilichenPartizipation dar. Dieser ist vorwiegendauf Parteimitglieder beschränkt. Im Zugeder jüngsten Parteireformen wurden dieMöglichkeiten für Nicht-Parteimitgliedersich einzubringen, zwar gestärkt; gleich-wohl dominieren Parteiangehörige wei-terhin das Innenleben der Parteien.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist hier-zulande ein geradezu sprunghafter Anstieg derForschungsanstrengungen zu Parteimitgliedernzu verzeichnen. Melanie Walter-Rogg und OscarW. Gabriel weisen in einer Übersicht (2004:313ff.) insgesamt 24 Studien zu bundesdeut-schen Parteiangehörigen aus, von denen 13 nach1990 entstanden sind. Erklärlich wird diese In-

tensivierung der Forschungsbemühungen durchdie deutsche Vereinigung und den Zusam-menschluss mit den ostdeutschen Parteien bzw.die Ausweitung der westdeutschen Parteien nachOstdeutschland sowie durch den scheinbar un-aufhaltsamen Schwund der Parteiangehörigen(Niedermayer 2009).2 Mithin besteht ein erhebli-ches Interesse seitens der Parteien an Informatio-nen, wie die vorhandenen Mitglieder gebundenund neue hinzu gewonnen werden können. Zudiesem Zweck haben die Parteien sich mehr undmehr für sozialwissenschaftliche Untersuchun-gen ihrer Mitgliedschaft geöffnet. Die Analyseinnerparteilicher Partizipation ist fester Bestand-teil der vorliegenden Studien. Unter Vernachläs-sigung der Spezifika hinsichtlich befragter Par-tei, verwendetem Design, genutzter Methodeund dahinter stehender Erklärungsansätze lassensich einige übergreifende Befunde formulieren:

– So bestehen in den Parteien zwei Sphäreninnerparteilicher Beteiligung (Bürklin1997: 77ff., Whiteley et al. 1994: 103f.,Heinrich et al. 2002: 61).3 Parteiarbeit istfolglich nicht eindimensional auf politi-sche Teilhabe ausgerichtet, sondern fä-chert sich auf: Einerseits gibt es ein ge-nuin politisches Engagement, bei dem esum die Formulierung politischer Ziele,das Bestreiten von Wahlkämpfen und dieErlangung politischer Macht durch Amtund Mandat innerhalb und außerhalb derPartei geht. Diese Dimension, die ge-meinhin mit dem Engagement in Partei-en gleichgesetzt wird, erfährt eine Ergän-zung durch eher vereinsmäßige Beteili-gungsformen. Dazu zählen Aktivitätenwie sie auch in anderen Organisationenund Zusammenschlüssen zu finden sind:Seien es Versammlungen, Treffen undsoziale Aktivitäten oder Feste und Fei-

2 Auch im internationalen Rahmen ist ein Anstieg derForschungsanstrengungen zu verzeichnen, wobei dieStudien zu britischen (Whiteley/Seyd 1992; Whiteleyet al. 1994; Seyd/Whiteley 2004; Seyd et al. 2006) undskandinavischen Parteimitgliedern (u.a. Heidar 1994;Saglie/Heidar 2004; Pedersen et al. 2004) nochmalsherausstechen.

3 Vgl. abweichend hiervon Heidar 1994: 74, der für dienorwegischen Parteien drei Dimensionen nachweist.

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ern. Mit Wilhelm Bürklin (1997: 80)können eine ‚ämterorientierte’ und eine‚gesellige’ Sphäre des Parteiengagementsunterschieden werden.

– Ferner bestehen erhebliche Unterschiedeim Ausmaß der Beteiligung. Ein bedeu-tender Teil der Parteimitglieder entwi-ckelt keinerlei Aktivitäten. Je nach Stu-die, Partei und Erhebungsmethode kannein Drittel bis zur Hälfte der Angehörigemit Markus Klein (2006: 54ff.) durchausals ‚Karteileiche’ bezeichnet werden(ähnlich: Falke 1982: 70ff; Niedermayer1989: 223f.; Heidar 1994: 68f.; Bürklin1997: 83; Heinrich et al. 2002: 48ff.; Ga-briel/Walter-Rogg 2004: 14f.). Dem ste-hen äußerst aktive Parteimitglieder ge-genüber, die etwa fünf bis zehn Prozentder Gesamtmitgliedschaft stellen und dieals eigentliche Träger des Parteilebensgelten können.

Angesichts dieser Differenzen drängt sich dieFrage nach den dahinter stehenden Ursachen auf:Weshalb bringen einige Mitglieder den Großteilihrer verfügbaren Zeit für die Parteiarbeit auf?Und warum gehören andere überhaupt einer Par-tei an, wenn sie dort keinerlei Aktivität entfal-ten? Die Parteienforschung bedient sich in An-lehnung an die allgemeine Partizipationsfor-schung dreier Theoriestränge, um die Differen-zen im individuellen Partizipationsniveau zu er-klären: Ressourcenmodell, sozialpsychologi-scher Ansatz und Kosten-Nutzen-Kalkül akzen-tuieren jeweils unterschiedliche Impulse partei-bezogener Partizipation.

a) Das Ressourcenmodell

Das Ressourcenmodell fragt nach den Fähigkei-ten und Fertigkeiten, die notwendig sind, umsich in der Partei zu engagieren und rückt damitdas ‚Können’ in den Mittelpunkt der Analyse.Das wesentlich von Sidney Verba (Verba/Nie1972: Kap. 8; Verba et al. 1995: Teil III) entwi-ckelte Ressourcenmodell geht von der Überle-gung aus, dass die parteipolitische Partizipationeine anspruchsvolle Tätigkeit darstellt und„communications and organizational capacities“

oder kurz „civic skills“ (Verba et al. 1995: 270–272) erfordert. Diese konzentrieren sich in be-stimmten sozialen Gruppierungen, wie Höherge-bildeten, Männern, Angehörigen der mittlerenAlterskohorte und in Berufsgruppen, die Füh-rungs- und Kommunikationskompetenzen auf-weisen. Folglich sind mit dem Ressourcenmo-dell stets Fragen nach dem Sozialprofil der Akti-ven und der sozialen Repräsentation verbunden.Wie die einschlägigen Studien aufzeigen, sindim Vergleich zu Bevölkerung und Wählerschaftin den Parteien überdurchschnittlich viele Män-ner, Angehörige der mittleren Alterskohorte, Öf-fentlich Bedienstete und Angestellte sowie Hö-hergebildete vertreten (Biehl 2005).

Allerdings setzt sich diese Überrepräsentationressourcenstarker Bürger unter den Aktiven zu-nächst nicht fort. Denn die Untersuchungen zurinnerparteilichen Partizipation belegen nahezuunisono, dass es den Parteien gelingt, die Mit-gliedergruppen im ähnlichen Ausmaß am Partei-leben teilhaben zu lassen (Niedermayer 1989:238; Bürklin 1997: 131-138; Hallermann 2003:125f., Klein 2006: 57). Nicht zuletzt dank orga-nisationspolitischer Maßnahmen wie Quoten undProporz sowie aufgrund von Repräsentationser-wägungen nehmen ressourcenschwächere Mit-glieder (fast) entsprechend ihres Anteils an derGesamtmitgliedschaft am innerparteilichen Ge-schehen teil. Zwei Einschränkungen sind aller-dings zu machen:

– Erstens sind ressourcenstarke Bürger un-ter den Parteimitgliedern im Vergleichzur Bevölkerung bereits so deutlich über-repräsentiert (dies gilt auch für die ödp,s. Kranenpohl 2008: 50ff.), dass sie auchdas Gros der Aktiven stellen.

– Zweitens hat die gleichmäßige Beteili-gung aller Mitgliedergruppen offenbar daihre Grenzen, wo es um den genuinenpolitischen Aufstieg geht. Denn wie TimSpier (2010) mit den Daten des Potsda-mer Parteimitgliederprojekts nachweist,hat auf Ortsebene die individuelle Res-sourcenausstattung nur einen marginalenEinfluss auf die Chance eines Mitglieds,ein Vorstandsamt zu übernehmen (ibid.:

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143f.), während sich auf Kreisebene be-reits ein deutlicher Effekt zeigt (ibid.:146f.).

Diese Befunde schließen aber nicht aus, dass so-zial schwächere Personen sich in Parteien betei-ligen. Dies ermöglichen organisationsbasierteRessourcen, die durch seine soziale Einbindungentwickelt werden können. Dabei sind sozialeKontakte und Netzwerke von entscheidender Be-deutung. Durch Engagement in Vereinen undVerbänden können Bürger Fähigkeiten erlangen,die ihnen ein innerparteiliches Engagement er-leichtern. Von daher gilt es neben soziodemogra-phischen Charakteristika auch die gesellschaftli-che Einbindung als Teil der aktivitätsrelevantenRessourcen zu erfassen.

b) Der sozialpsychologische Ansatz

Im Gegensatz zum Ressourcenmodell fragt dersozialpsychologische Ansatz nicht nach dem‚Können’, sondern nach dem ‚Wollen’ des Ein-zelnen und betrachtet dessen Einstellungen alszentrale Voraussetzung für ein Engagement. In-folgedessen sind vor allem diejenigen engagiert,die politische Interessen hegen und sich mit ihrerPartei im besonderen Maße identifizieren. Dane-ben muss das einzelne Mitglied der Überzeu-gung sein, sich kompetent in politische Zusam-menhänge einbringen zu können. Er muss davonausgehen, dass seinem Engagement Gehör ge-schenkt und grundsätzlich auf politische Aktivi-täten reagiert wird (Reaktionsbereitschaft derPolitik bzw. external efficacy) und er den Anfor-derungen, die das politische Geschehen an ihnstellt, gewachsen ist (politisches Selbstvertrauenbzw. internal efficacy). Empirische Studien be-stätigen in Teilen diese Annahmen. So üben beiKlein (2006: 57) insbesondere die Einschätzungder eigenen politischen Kompetenz (ebenso: Ca-leta u.a. 2004: 64; vgl. auch Bürklin 1997: 134)sowie das Interesse an der (Kommunal-)Politikeinen Einfluss auf das Ausmaß innerparteilicherBeteiligung aus.

Inwiefern die politische Grundausrichtung parti-zipationsfördernd wirkt, wird in der Literaturstrittiger diskutiert. Hierzu finden sich zwei wi-dersprechende Hypothesen: So könnte eine iden-

tische Position parteipolitische Aktivität stärken,weil das Mitglied davon ausgeht, genau für dieZiele einzutreten, die auch der Gesamtparteiwichtig sind. Mitglieder, die eine größere Di-stanz zwischen sich und der Partei wahrnehmen,sollten sich demgegenüber resigniert aus demParteigeschehen heraushalten. Umgekehrt könn-te vermutet werden, dass die wahrgenommeneDiskrepanz zur eigenen Partei partizipationsver-stärkend wirkt, da das Mitglied das Bedürfnishat, sich für eine Korrektur der Parteiziele einzu-setzen. Mitglieder, die sich in Einklang sehenmit der Parteiposition, würde diesen Vorstellun-gen entsprechend, weniger Anreiz zur Beteili-gung verspüren, da ihre Inhalte bereits repräsen-tiert werden. Welche dieser Überlegungen eherzutrifft, wird in den Auswertungen noch zu prü-fen sein.

c) Das Kosten-Nutzen-Kalkül

Als drittes Erklärungsmuster wird im Folgendenein an die Rational-Choice-Theorie angelehntesKosten-Nutzen-Kalkül verfolgt. Dieses ver-gleicht die Vor- und Nachteile parteibezogenerPartizipation aus Sicht des Mitgliedes. Dabeiwird einem engen Verständnis der Ratio-nal-Choice-Theorie, wie es Anthony Downs(1957) und Mancur Olson (1965) angelegt ha-ben, gefolgt. Den Erwartungen dieses Ansatzesgemäß sollte die Kosten-Nutzen-Bilanz den Aus-schlag für oder gegen die innerparteiliche Parti-zipation geben. Entsprechend sollten Aktiveeinen höheren Nutzen bzw. niedrige Kosten mitihrem Engagement verbinden, als Inaktive diestun. Hierzu liegen einige Befunde vor, die imGroßen und Ganzen den theoretischen Annah-men entsprechen: So zeigt sich in der PotsdamerParteimitgliederstudie ein deutlicher Zusammen-hang zwischen Kostenwahrnehmung und inner-parteilichem Engagement (Heinrich et al. 2002:164; Klein 2006: 57), der in den multivariatenAuswertungen zumindest mit Blick auf die ge-sellige Partizipation einen signifikanten Einflussbehält.

Damit gehen diese Studien einen anderen Weg alsParteimitgliederstudien, die sich an das General-Incentives-Modell von Patrick Seyd und Paul F.Whiteley anlehnen. Dies ist durch zwei Überle-

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gungen begründet, die hier zumindest angedeutetwerden sollten:

– Erstens handelt es sich bei dem General-Incentives-Ansatz um kein echtes Ratio-nal-Choice-Modell in dem Sinne, dassauf Basis sparsamer Annahmen über in-dividuelle Präferenzen (Nutzenmaximie-rung in (sozio-)ökonomischer Hinsicht)politisches Handeln erklärt wird. Viel-mehr werden alle möglichen Handlungs-motive als Präferenzen und Nutzen defi-niert und dies oftmals ex post. Beim Ge-neral-Incentive-Ansatz handelt es sichmithin um ein catch-all-Modell, das kei-ne Trennschärfe zu anderen Erklärungs-mustern, insbesondere sozialpsychologi-schen, erkennen lässt. In der Folge er-scheint hinfort jede Handlung rational,da es aufgrund individueller Präferenzenzu einer positiven Kosten-Nutzen-Kalku-lation kommt. Das Modell verliert jed-weden prognostischen Gehalt und liefertkeine Erklärung sozialen Verhaltens mehr,sondern dient lediglich als ein Beschrei-bungsmuster mit theoriespezifischer Be-grifflichkeit. Im Bereich der Partizipati-onsforschung stellt eine solch weite Aus-legung der Rational-Choice-Theorie allen-falls „eine Neuverpackung früherer Er-gebnisse des sozialpsychologischen Para-digmas“ (Fuchs/Kühnel 1998: 351) dar.

– Zweitens – und dies ist oftmals Folge dertheoretischen Erweiterung – erweisensich in den empirischen Auswertungenoftmals Indikatoren als erklärungsstark,die zwar in die Sprache des General-In-centives-Modells verpackt werden, dieaber in großer inhaltlicher Nähe zur zuerklärenden Größe stehen. So verbergensich in der Studie von Heinrich et al.(2002: 174) hinter den positionsorientier-ten Anreizen, die den stärksten Einflussauf die ämterorientierte Partizipationausüben, vor allem die Antworten „ausInteresse an einem öffentlichen Mandat“und „aus Interesse an einem Parteiamt“auf die Frage nach den Motiven der Par-teizugehörigkeit. Vergleichbar diskussi-

onswürdige Operationalisierungen findensich bei Klein (2006: 38, 41), Bürklin(1997: 102), Spier (2010: 132) und Whi-teley et al. (1994: 89). Um solche tauto-logischen Zusammenhänge zu umgehenund Umschreibungen sozialpsychologi-scher Einflussgrößen zu vermeiden, wirdim Folgenden alleine Nutzen im engerenSinne (als soziale Anerkennung, Kontak-te und exklusive Informationen) betrach-tet.

d) Besondere Annahmen zur ödp als Klein-partei

Bislang wurden Erklärungsmodelle und empiri-sche Erwartungen präsentiert, die für die partei-politische Partizipation im Allgemeinen Gültig-keit haben sollten. Mit Blick auf die ödp lassensich zusätzlich Hypothesen formulieren, die mitihrem Status als ‚kleiner’, nicht etablierter, vor-rangig auf kommunaler Ebene präsenter Parteizusammenhängen:

– So sollten die Parteimitglieder durch-schnittlich aktiver sein als die der großenParteien. Wer in die ödp eintritt, so eineVermutung, trifft diese Entscheidungsehr bewusst. Entsprechend sollte sichdie Aktivität nicht in einer bloßen Mit-gliedschaft erschöpfen, sondern weiter-gehend sein, zumal die Partei recht über-sichtlich ist und es dem einzelnen Ange-hörigen – entsprechende soziale Normenund Erwartungen vorausgesetzt – schwe-rer fällt, sich den Partizipationserwartun-gen seiner Parteifreunde zu entziehen. Indiese Richtung weist auch die verglei-chende Studie von Steven Weldon(2006: 474), die einen negativen Zusam-menhang zwischen Parteigröße und in-nerparteilichem Beteiligungsniveau offen-legt. Demzufolge sollte die Aktivität inder ödp eher hoch sein.

– In diesem Zusammenhang ist zu beob-achten, inwiefern sich innerhalb einerkleinen Partei überhaupt zwei Sphärender Beteiligung ausbilden können: Unter-scheiden sich auch in der ödp ämterori-

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entierte und gesellige Partizipation odergehen diese Hand in Hand?

– Weiterhin ist zu prüfen, welches die Trä-gergruppen der Parteiarbeit sind. Be-kanntlich steht die ödp in der Schnitt-menge zweier größerer Milieus: der Um-weltschutzbewegung und einem christli-chen bzw. katholischen Milieu, in demnicht zuletzt der Einsatz gegen Abtrei-bungen wichtig ist (Kranenpohl 2008).Anhand des Sozialprofils der Aktivenkann überprüft werden, inwieweit dieseMilieus die Parteiarbeit prägen.

3. Ausmaß und Strukturen innerparteilicherPartizipation in der ödp

a) Hinweise zu Forschungsprojekt und Da-tensatz

Die nachstehenden Auswertungen basieren aufeiner 2007 durchgeführten Befragung der Mit-glieder der ödp. Die Studie wurde im Einverneh-men zwischen dem Vorstand der ödp und denWissenschaftlern durchgeführt. Der Datensatzwurde von Andrea Fengler (Sozialwissenschaft-liches Institut der Bundeswehr, Strausberg) er-stellt. Die Datenerfassung unterstützte der ödp-Bundesvorstand finanziell und organisatorisch.

Der Fragebogen ist angelehnt an die PotsdamerParteimitgliederstudie. Dies ermöglicht den Ver-gleich der ödp-Angehörigen zu den Mitglied-schaften der Bundestagsparteien, wenngleich zuberücksichtigen ist, dass die Potsdamer Untersu-chung aus dem Jahr 1998 stammt. Die ödp-Be-fragung gibt erstmals Einblicke in die Sozial-struktur, Aktivität und politischen Einstellungender Mitglieder einer kleinen Partei. An der Fra-gebogenbefragung nahmen insgesamt 1.510 Per-sonen teil – dies entspricht einer Beteiligung von24,3 Prozent aller ödp-Mitglieder. Ein Vergleichmit den Daten der Mitgliederdatei ergab, dassdie Stichprobe in allen relevanten sozialstruktu-rellen Merkmalen (Geschlecht, Alter, Zugehörig-keit zu Landes- bzw. Bezirksverband) der Ge-samtmitgliedschaft ähnelt. Die Befunde sinddeshalb verallgemeinerungsfähig.

b) Die Aktivität der Parteimitglieder

Die Aktivität der Parteimitglieder – als abhängi-ge Variable – wird auf zweierlei Weise erfasst:Rein quantitativ wird die Zeit erfragt, die im mo-natlichen Durchschnitt für Parteiarbeit aufge-bracht wird. Ergänzend wird erhoben, wie häufigdie Mitglieder diverse Tätigkeiten (von Ver-sammlungsteilnahmen über Wahlkampforgani-sation bis hin zu Kandidaturen) für die Parteiausführen.

Tabelle 1: Zeitlicher Aufwand für Parteiarbeit

ödp Bayern Baden-Württem-berg

NRW Rhein-land-Pfalz

restli-cheLandes-verbän-de

Bundes-tagspar-teien

30 Stundenund mehr

2 2 0 5 1 2 2

20 bis unter30 Stunden

2 2 2 1 5 3 3

10 bis unter20 Stunden

8 8 9 5 6 5 7

5 bis unter10 Stunden

12 12 11 9 14 11 15

Bis unter 5Stunden

37 39 42 36 30 29 32

Keine 40 37 37 43 43 50 40

N 1.488 882 224 118 79 185 9.982

Frage: „Wie viel Zeit wenden Sie normalerweise pro Monat für die Mit-arbeit in der ödp auf?“

Angaben in Prozent; ödp-Gesamtmitgliedschaft, unterteilt nach Landes-verbänden und Vergleichswert für Bundestagsparteien

Die Mitglieder der ödp betreiben unterschiedli-chen zeitlichen Aufwand für die Parteiarbeit.Während 40 Prozent keinerlei Engagement ent-faltet, investiert ein gutes Drittel (37 Prozent)immerhin bis zu fünf Stunden im Monat in par-teibezogene Aktivitäten. Dem steht eine Spitzen-gruppe von vier Prozent der Parteimitglieder ge-genüber, die mehr als 20 Stunden investieren,die Hälfte davon gar über 30 Stunden im Monat.Ein Fünftel der Mitglieder investiert zwischenfünf und 20 Stunden. Die kleineren Landesver-bände (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalzund die als ‚andere’ zusammengefassten übrigenLandesverbände) weisen ein etwas polarisiertesBild auf. Hier halten einige Aktivisten mit ho-hem zeitlichen Engagement das Parteileben auf-recht. Demgegenüber sind bis zur Hälfte derMitglieder inaktiv, da vermutlich auch kaumMöglichkeiten bestehen, sich sporadisch undzeitschonend in die Parteiarbeit einzubringen.

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Das Engagement der ödp-Mitgliedschaft ent-spricht dem durchschnittlichen Aufwand, dendie Mitglieder der Bundestagsparteien investie-ren. Vermutungen, dass die Angehörigen einerkleinen Partei – in ihrer Gesamtheit – aktiversind, bestätigen sich damit nicht.

Tabelle 2: Beteiligung an diversen Parteiaktivitäten

sehrhäufig

eherhäufig

manch-mal

eherselten

selten/nie

Plakate kleben, Flugblät-ter und Informationsma-terial der ödp verteilen

15 (12) 19 (12) 23 (19) 15 (12) 27 (45)

die Parteiversammlungenbesuchen

16 (25) 21 (23) 19 (24) 18 (15) 27 (13)

bei Bedarf zusätzlichGeld spenden

5 (4) 15 (10) 37 (31) 23 (23) 19 (31)

im persönlichen Gesprächneue Mitglieder werben

2 (5) 9 (10) 29 (31) 30 (23) 29(31)

ein Amt in der Parteiübernehmen

12 (10) 12 (11) 11 (12) 11 (10) 53 (58)

für ein öffentliches Amtkandidieren

7 (9) 10 (7) 15 (8) 12 (8) 55 (68)

bei der Organisation derParteiarbeit mithelfen

9 (9) 12 (13) 15 (17) 16 (17) 48 (45)

bei Festen und anderengeselligen Veranstaltun-gen der Partei mitmachen

4 (13) 9 (17) 21 (28) 22 (19) 43 (23)

in Arbeitskreisen oderGremien der Partei an derFormulierung politischerAussagen mitwirken

4 (7) 8 (11) 15 (17) 17 (18) 57 (47)

bei sozialen und umwelt-politischen Aktionen derPartei mitmachen (z. B.Seniorenbetreuung, Klei-dersammlung, Pflanzak-tionen)

3 (5) 5 (7) 13 (15) 23 (22) 56 (51)

in Beiträgen für Parteizei-tungen, Informations-dienste und Zeitungen dieAnsichten der ödp deut-lich machen

4 (3) 6 (6) 10 (9) 18 (16) 63 (66)

Frage: „Es gibt verschiedene Formen der Mitarbeit in der Partei. Na-türlich hat kaum jemand die Zeit und die Möglichkeit, dies alles zu tun.Wenn Sie an die letzten fünf Jahre denken, wie oft haben Sie sich nor-malerweise an den nachfolgend aufgeführten Aktivitäten beteiligt? Soll-ten Sie weniger als fünf Jahre Mitglied sein, betrachten Sie bitte nurden Zeitraum Ihrer bisherigen Mitgliedschaft“

Angaben in Prozent; in Klammern Aktivitäten für Parteimitglieder Bun-destagsparteien.

Quelle: ödp-Mitgliederbefragung 2007; Potsdamer Parteimitgliederpro-jekt 1998.

Die diversen parteibezogenen Aktivitäten wer-den von den Mitgliedern der ödp in unterschied-lichem Maße genutzt. Am häufigsten besuchendie Befragten Versammlungen und engagierensich im Wahlkampf. Jeweils rund ein Drittelnimmt an diesen Aktivitäten (eher) häufig teil,aber jeweils ein gutes Viertel auch gar nicht. Ein

beachtlicher Teil der Mitgliedschaften bringtsich in genuin politische Arbeit ein: So über-nimmt rund ein Viertel (eher) häufig ein Partei-amt, 21 Prozent helfen bei der Parteiorganisationund 17 Prozent bewerben sich um öffentlichePositionen. Ferner geben 20 Prozent an, dass siebei Bedarf zusätzlich Geld spenden. Erwartungs-gemäß etwas geringer sind die Anteile derjeni-gen, die sich an der Politikformulierung in Ar-beitskreisen oder Publikationen beteiligen.

Erstaunlich wenige Parteiangehörige nehmen re-gelmäßig an Veranstaltungen – seien es Festeund gesellige Veranstaltungen oder öffentlich-keitswirksame Aktionen – teil. Gerade im Ver-gleich zu den Bundestagsparteien ist der Ver-sammlungscharakter in der ödp gering ausge-prägt. Dies liegt mutmaßlich daran, dass es eineshöheren Aufwands bedarf, um eine ausreichendeZahl an Parteimitgliedern (oftmals über größereDistanzen) für solche Veranstaltungen zusam-menzubringen, so dass sich für das einzelne Mit-glied seltener Möglichkeiten zu einem entspre-chenden Engagement bieten.

Diese Einschätzung stützt auch die nach Landes-verbänden separierte Analyse (ohne tabellari-schen Nachweis). Dabei zeigt sich, dass in Bay-ern die Beteiligung an Veranstaltungen (öffent-lichkeitswirksame Aktionen wie gesellige Ver-sammlungen und Feste) höher ist als in den an-deren Landesverbänden. Dort verfügt die ödpüber eine höhere Mitgliederdichte und Organisa-tionseinheiten auf Lokalebene, die solche Veran-staltungen anbieten und an denen die Mitgliederin unmittelbarer Nähe zum Wohnort – ohne lan-gen Anfahrtsweg und zu großen zeitlichen Auf-wand – teilnehmen können.

Der Vergleich zu den anderen Parteien zeigt aberebenso, dass die ödp-Angehörigen in der Ten-denz aktiver bei genuin politischen Tätigkeiten(Kandidaturen, Wahlkampf, Geldspende) sind.Hier spielt sicherlich hinein, dass eine solch klei-ne Partei wie die ödp nicht über die Mittel ver-fügt, die Wahlkampfführung an professionelleAgenturen zu externalisieren, wie dies bei denBundestagsparteien immer mehr Usus ist (Nie-dermayer 2002; Bukow 2010). Zudem gibt eseinen anteilsmäßig erhöhten Bedarf an Kandida-

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ten für öffentliche und Parteiämter, weshalb diegrößere Erfahrung der Parteiangehörigen mitentsprechenden Bewerbungen und Kandidaturennicht verwundern kann.

Die ödp lässt sich mithin als auf den politischenBetrieb ausgerichtete Partei verstehen, bei derdie Parteimitglieder noch selbst den politischenWettbewerb mitorganisieren und bestreiten. Hin-gegen fehlt es der Partei an einer ausreichendenMitgliederzahl, um daneben größere geselligeAktivitäten zu entwickeln, wie die Bundestags-parteien dies tun. Angesichts dieses Befundesdrängt sich die Frage nach der Struktur des in-nerparteilichen Engagements auf. Wie oben dar-gelegt (Abschnitt 2), zeigen die meisten Studien,dass sich in den Parteien ein ämterorientierterund ein geselliger Bereich der Beteiligung von-einander abgrenzen lassen. Um zu prüfen, obdieses Muster auch in der ödp besteht, wird eineFaktorenanalyse durchgeführt, die die Strukturder parteibezogenen Aktivitäten offenlegt.

Tabelle 3: Dimensionalität parteibezogener Aktivität

Faktorladung

bei der Organisation der Parteiarbeit mithelfen .88

ein Amt in der Partei übernehmen .86

die Parteiversammlungen besuchen .84

Plakate kleben, Flugblätter und Informationsmaterialder ödp verteilen

.78

in Arbeitskreisen oder Gremien der Partei an der For-mulierung politischer Aussagen mitwirken

.78

für ein öffentliches Amt kandidieren .76

bei Festen und anderen geselligen Veranstaltungen derPartei mitmachen

.75

in Beiträgen für Parteizeitungen, Informationsdiensteund Zeitungen die Ansichten der ödp deutlich machen

.71

bei sozialen und umweltpolitischen Aktionen der Parteimitmachen (z. B. Seniorenbetreuung, Kleidersamm-lung, Pflanzaktionen)

.68

im persönlichen Gespräch neue Mitglieder werben .57

bei Bedarf zusätzlich Geld spenden .54

R² .56

Eigenwert 6.14

Faktorenanalyse: Hauptkomponenten- Extraktion, Varimax-Rotation.

Quelle: ödp-Mitgliederbefragung 2007.

Die Faktorenanalyse zeigt eine eindeutig einfak-torielle Lösung. Die Faktorladungen sind hoch,ebenso die erklärte Varianz und der Eigenwert.Selbst wenn nur der Landesverband Bayern mit

seiner höheren Mitgliederdichte in die Analysemiteinbezogen wird, zeigt sich eine einfaktoriel-le Lösung.4 Dies legt nahe, dass Partizipation inder ödp homogen ist und nicht in unterschiedli-che Aktivitätswelten zerfällt. Das Engagement inder ödp verbindet folglich genuin politische undeher soziale Aspekte – diese bilden keine eige-nen Aktivitätsräume wie in anderen Parteien.Wie zu erwarten besteht ein enger Zusammen-hang zwischen dem Ausmaß, in dem die jeweili-gen Aktivitäten ausgeübt werden, und dem zeit-lichen Aufwand, wie die sehr hohe Korrelation(r = .78**) zwischen beiden Größen zeigt.

c) Das Sozialprofil

Wer sind und was denken die Aktiven? Im Fol-genden wird zunächst das Sozialprofil der akti-ven Parteimitglieder skizziert. Dahinter steht dieFrage, ob sich ressourcenstarke Personen ver-stärkt in die innerparteilichen Aktivitäten ein-bringen – wie dies das Ressourcenmodell undBefunde der allgemeinen Partizipationsfor-schung nahe legen – oder ob Proporz und Reprä-sentationsverpflichtungen bzw. -erwägungen diegleichmäßige Beteiligung aller Mitgliedergrup-pen am politischen Geschehen ermöglichen.Zum Vergleich werden die Parteimitglieder ent-sprechend des zeitlichen Aufwands, den sie be-treiben, in drei etwa gleich große Gruppen auf-geteilt. Als Aktive werden diejenigen bezeichnet,die sich über fünf und in der Spitze 30 und mehrStunden im Monat für die Partei engagieren. AlsTeilaktive gelten diejenigen, die sporadisch, aberkontinuierlich aktiv sind und dabei im Durch-schnitt bis zu fünf Stunden im Monat investie-ren. Inaktiv sind die Parteiangehörigen, die vonsich selbst sagen, dass sie keine Zeit für Parteiar-beit aufwenden. Während die Aktiven ein knap-pes Viertel (24 Prozent) und die Teilaktiven eingutes Drittel (37 Prozent) der Mitgliedschaftstellen, machen die Inaktiven 40 Prozent aus.

4 Die Stabilität der einfaktoriellen Lösung bestätigt sichauch bei weiteren statistischen Überprüfungen: Er-zwingt man durch Vorgabe eine zweifaktorielle Lö-sung, dann lassen sich die beiden Dimensionen nichtsinnvoll als ämterorientierte und gesellige Faktoren be-schreiben. Die Parteiarbeit in der ödp muss mithin alseindimensional begriffen.

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Tabelle 4: Sozialprofil der Aktiven

Inaktive Teil-aktive

Aktive ödpinsge-samt

40 37 23Geschlecht (**)

Männer 58 66 74 64Frauen 43 34 26 36

Bildung (n.s.) Hauptschule 9 10 8 9

Realschule 20 22 24 22Abitur 20 18 16 19

Studium 51 50 51 51Alter (**)

40 Jahre und jünger 32 24 24 2741 – 59 Jahre 48 50 51 4960J und älter 20 26 25 23

Tätigkeit (**) (nur n > 50)Angestellter Wirtschaft 19 19 21 20

Öffentlicher Dienst 31 27 30 29Selbstständiger 9 8 13 10

Akademiker 5 3 4 4Rentner 15 22 19 19

Hausfrau 13 8 6 10Konfession (n.s.)

Evangelisch 25 23 27 25Katholisch 55 61 56 58

Andere 6 4 3 4Keine 15 12 14 14

Kirchenbesuch (**) Häufig

(einmal die Woche oder mehr) 34 41 28 36Regelmäßig

(einmal im Monat oder mehr) 41 39 52 43Kaum/nie

(einmal im Jahr oder nie) 25 20 20 22Gesellschaftliches Engagement(**) (1)

Keins 9 8 4 8Niedrig 27 22 17 22Mittel 33 31 29 31Hoch 33 39 49 39

Lokale parlamentarische Prä-senz (**) (2)

Ja 52 62 74 61Nein 48 38 26 39

Angaben in Prozent; in Klammern: ** Signifikanz (Chi-Quadrat) <= ,01; * Signifikanz <= ,01; n. s. = nicht signifikant.

(1) Gesellschaftliches Engagement als Summenwert aus der Skala:

Frage: „In welchen weiteren Organisationen außerhalb Ihrer Parteiarbeiten Sie mit? Wo sind Sie Mitglied? Und wo haben Sie ein Amt“

Items: „Berufsverband, Gewerkschaft, Unternehmerverband, Freizeit-verein (z. B. Musik- oder Sportverein), Freiwillige Feuerwehr, Wohl-fahrtsverband/Kriegsopferverband, Traditions- und Heimatverein, Um-weltschutzverband, Tierschutzverband, Bürgerinitiative, Frauengruppebzw. -vereinigung, Jugendorganisation, soweit nicht kirchlich, kirchli-che/religiöse Gruppe“

Antwortkategorien „arbeite mit, ohne Mitglied zu sein“ = 1, „bin pas-sives Mitglied“ = 1, bin aktives Mitglied“ = 2, „habe ein Amt“ = 3.

(2) Frage: „Ist die ödp in Ihrem Kreis bzw. Ihrer kreisfreien Stadt inKommunalparlamenten vertreten?“

Quelle: ödp-Mitgliederbefragung 2007.

Männer stellen mit 64 Prozent nicht nur dieMehrheit unter den ödp-Mitgliedern, sie sindauch unter den Aktiven überproportional stark

vertreten. Von den inaktiven ödp-Angehörigensind 58 Prozent Männer, von den aktiven Partei-mitgliedern aber drei Viertel. Während die Ge-schlechtszugehörigkeit damit – wie von der Res-sourcentheorie vermutet – sehr wohl das Aus-maß der innerparteilichen Partizipation mitbe-stimmt, gilt dies nicht für den Bildungsab-schluss. Dieser hat keinen systematischen Ein-fluss auf das Ausmaß innerparteilicher Aktivitä-ten. Höhergebildete sind in der Mitgliedschaftzwar deutlich überrepräsentiert und jeder zweiteParteiangehörige hat ein Studium absolviert.Diese Dominanz nimmt unter den Aktiven je-doch nicht weiter zu. Hinsichtlich der Altergrup-pen sind die jüngeren Mitglieder weniger aktiv.Es sind eher die mittlere und ältere Kohorten, dieunter den Aktiven überproportional vertretenund die die Träger des innerparteilichen Engage-ments sind. Der höhere Anteil inaktiver jüngererödp-Angehöriger verweist auf die widerstreiten-den Ansprüche von Familie, Ausbildung, Studi-um und Beruf einerseits sowie politischer Arbeitandererseits, die sich in diesem Altersband be-sonders bemerkbar machen. Hinsichtlich des be-ruflichen Profils der aktiven Parteimitgliederfällt auf, dass vor allem Selbständige und Rent-ner sich überproportional engagieren. Letztereshängt unmittelbar mit dem hohen Aktivitätsni-veau der älteren Kohorte zusammen. Zugleichweisen Selbständige wie Rentner eine hohe Zeit-souveränität auf. Unter den Aktiven deutlich un-terrepräsentiert sind Hausfrauen.5 Augenfälligist, dass Angestellte und Öffentlich Bedienstetesich nicht überproportional in die Parteiaktivitä-ten einbringen, obwohl diese unter den Partei-mitgliedern selbst stark überrepräsentiert sindund in den Bundestagsparteien mit zu den Trä-gern des Engagements zählen (Heinrich et al.2002: 94).

Die konfessionelle Zugehörigkeit wiederum hatkeinen systematischen Einfluss auf die innerpar-teilichen Aktivitäten. Die Verteilung von katho-lischen, evangelischen und konfessionslosenMitgliedern unter den aktiven, teil- und inakti-ven Parteiangehörigen unterscheidet sich nur in

5 Bezeichnenderweise – und angesichts des weltanschau-lichen Profils der Partei nicht überraschend – bezeich-neten sich nur 8 Befragte als Hausmann.

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Nuancen und folgt keinem einheitlichen Muster.Demgegenüber hat die Kirchennähe sehr wohleinen Effekt. Hierbei zeigt sich ein kurvenlinea-rer Verlauf, wobei die Parteiangehörigen, die re-gelmäßig (d.h. mindestens einmal im Monat,aber weniger als einmal die Woche) die Kirchebesuchen, sich überproportional in die Parteiar-beit einbringen. Die Daten bestätigen die Bedeu-tung der Ressource ‚Zeit’ für die Aktivität derMitglieder. Um es pointiert zu formulieren: Wertäglich in die Kirche geht, hat weniger Zeit fürdie Partei.

Die aktivitätsfördernde Wirkung gesellschaftli-cher Einbindung ist nicht auf den kirchlichenBereich beschränkt. Auch die Zugehörigkeit zuVerbänden und Vereinen sowie die Mitarbeit insozialen Initiativen und Gruppen begünstigt par-teipolitisches Engagement. Um diese Einflüssezu bemessen, wurde die Zugehörigkeit in diver-sen Organisationen und Zusammenschlüssen er-hoben. Für eine erste Veranschaulichung wurdendie Parteimitglieder danach unterschieden, ob siegar kein, ein niedriges, mittleres oder hohes ge-sellschaftliches Engagement aufweisen. Im Ver-gleich zeigt sich die partizipationssteigerndeWirkung sozialer Netzwerke. So sind diejenigen,die sich stark in Vereinen und Verbänden enga-gieren, auch in der ödp aktiv: Sie stellen nur einDrittel der inaktiven, aber die Hälfte der aktivenödp-Mitglieder. Umgekehrt stellen diejenigenmit geringem außerparteilichen Engagement 27Prozent der Inaktiven, aber nur 17 Prozent derAktiven. Weiterführende Analysen (ohne Nach-weis) legen offen, dass die gesellschaftliche Ein-bindung der ödp-Mitglieder in drei Sphären zer-fällt: in einen sozioökonomischen Bereich, in or-ganisierten Umweltschutz sowie in kirchlicheGruppierungen. Dabei zeigt sich alleine zwi-schen dem Engagement in Umweltgruppen undder Parteiaktivität ein signifikanter und starkerZusammenhang (r = .27**). Damit hat außerpar-teiliches Engagement nicht generell einen Ein-fluss auf die innerparteiliche Partizipation, son-dern nur die Mitarbeit in Organisationen, diesich dem Umweltschutz widmen – wobei aller-dings zu beachten ist, dass insbesondere in Bay-ern eine starke bürgerliche Ökologieszene umden Bund Naturschutz und den Landesbund für

Vogelschutz existiert (Mauritz 1995: 136ff.). Inden sich anschließenden multivariaten Analysengehen deshalb nicht die hier ausgewiesenenSummenwerte ein, sondern Faktorenwerte fürdie drei Dimensionen des gesellschaftlichen En-gagements.

Als weitere organisationsbasierte Ressourcekann die lokale Präsenz der Partei gelten. Vondaher kann es kaum überraschen, dass das Enga-gement der Mitglieder auch davon abhängt, obdie ödp in örtlichen Parlamenten präsent ist.Über alle Mitglieder hinweg geben 61 Prozentder Befragten an, die ödp sei an ihrem Wohnortin einem Kommunalparlament vertreten. Bei denInaktiven gilt dies jedoch nur für die Hälfte, beiden Aktiven aber für drei Viertel. Dies verdeut-licht nochmals, wie wichtig eine lokale Präsenzund Wahlerfolge für die Etablierung und Stabili-sierung einer Partei sind. Sitze in Kommunalver-tretungen erhöhen die Partizipationsbereitschaftder Parteiangehörigen.6

d) Die politischen Einstellungen

Gemäß den Voraussagen des sozialpsychologi-schen Modells sollten sich die Mitglieder nichtnur in ihren sozialen Charakteristika unterschei-den, sondern auch hinsichtlich ihrer politischenEinstellungen. Diejenigen Mitglieder, die sichstärker mit der ödp identifizieren und für Politikinteressieren, die politisch selbstbewusster sindund davon ausgehen, Einfluss auf die Politikauszuüben, sollten sich stärker ins Parteilebeneinbringen. Ferner wird der Einfluss der politi-schen Position berücksichtigt. Dabei wird über-prüft, wieweit die Distanz zwischen der eigenenPosition und der Parteiposition politische Aktivi-tät antreibt bzw. hemmt. Wie die nachfolgende6 Hierzu ist einschränkend anzumerken, dass auch ande-

re Zusammenhänge denkbar sind. Einerseits könnte esauch sein, dass es der ödp eher in ‚aktiven’ Kreisver-bänden gelingt, in die Kommunalparlamente einzuzie-hen (in welche Richtung dieser Zusammenhang wirkt,ist mit den vorliegenden Daten nicht abschließend zuklären). Andererseits ist ein möglicher Einfluss derFragestellung („Ist die ödp in Ihrem Kreis (bzw. Ihrerkreisfreien Stadt) in Kommunalparlamenten vertreten?“)nicht auszuschließen, denn es ist davon auszugehen,dass ‚aktive’ Mitglieder eher darüber informiert seinwerden, wenn die ödp zwar nicht im Kreistag, aber inden Räten benachbarter Gemeinden vertreten ist.

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Tabelle illustriert, heben sich die beiden vermu-teten Effekte gegenseitig auf.

Tabelle 5: Einstellungsprofil der aktiven, teilaktivenund inaktiven Parteimitglieder

Inaktive Teil-aktive

Aktive ödp ins-gesamt

40 37 23

Links-rechts-Skala (n.s.): (1)

kein Unterschied 45 42 45 44

geringer Unterschied 46 49 47 47

Politisches Interesse (2)

Kommunalpolitik (**) 62 76 85 72

Landespolitik (**) 65 74 86 74

Bundespolitik (**) 80 82 89 83

Parteiidentifikation (**) (3) 83 91 98 90

Politisches Selbstvertrauen (4)

traue mir aktive Rolle zu (**) 38 49 82 53

Politik zu kompliziert (**) 11 9 4 8

Reaktionsbereitschaft Politik (5)

Abgeordnete Kontakt zur Bevölkerung (*)

7 6 7 7

Parteien wollen Wähler-stimmen (n.s.)

54 53 44 51

Angaben in Prozent; in Klammern: ** Signifikanz (Chi-Quadrat) <= ,01; * Signifikanz <= ,01; n. s. = nicht signifikant.

(1) Betrag der Differenz zwischen eigener und Parteiposition auf derLinks-Rechts-Skala (von 1 bis 11). Kein Unterschied = eigene und Par-teiposition sind identisch; geringer Unterschied = Differenz von ein biszwei Punkten auf Links-Rechts-Skala, größerer Unterschied = Differenzvon zwei oder mehr Punkten auf Links-Rechts-Skala.

(2) Frage: „Wie stark sind Sie selbst an Kommunal-, Landes- und Bun-despolitik interessiert?“ Antwortkategorien: „sehr interessiert“, „eher interessiert“, „teils-teils“,„eher nicht interessiert“, „überhaupt nicht interessiert“. Hier zusammen-gefasst „sehr interessiert“ und „eher interessiert“.

(3) Frage: „Wenn Sie es einmal insgesamt betrachten, wie stark neigenSie der ödp zu?“ Antwortkategorien: „sehr stark“, „ziemlich stark“, „mäßig“, „ziemlichschwach“, „sehr schwach“. Hier zusammengefasst „sehr stark“ und„ziemlich stark“.

(4) Frage: Nachfolgend stehen einige Aussagen zu unserem Staat und zuden Parteien, Bitte geben Sie für jede Aussage an, inwieweit Sie Ihr per-sönlich zustimmen.“ Items: „Ich traue mir zu, in einer Gruppe, die sich mit politischen Fragenbefasst, eine aktive Rolle zu übernehmen.“; „Die ganze Politik ist sokompliziert, dass jemand wie ich nicht versteht, was vorgeht.“ Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“, „teils-teils“, „stimme eher nicht zu“, „stimme überhaupt nicht zu“. Hier zu-sammengefasst: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“.

(5) Frage: Nachfolgend stehen einige Aussagen zu unserem Staat und zuden Parteien, Bitte geben Sie für jede Aussage an, inwieweit Sie Ihr per-sönlich zustimmen.“ Items: „Die Bundestagsabgeordneten bemühen sich um einen engenKontakt zur Bevölkerung“, „Die Parteien wollen nur die Stimmen derWähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht“. Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“, „teils-teils“, „stimme eher nicht zu“, „stimme überhaupt nicht zu“. Hier zu-sammengefasst: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“.

Quelle: ödp-Mitgliederbefragung 2007.

Um den Einfluss politischer Einstellungen zu be-messen, wurde der Betrag der Differenz zwi-schen der eigenen und der der Partei durch denBefragten zugewiesenen Positionen auf derLinks-Rechts-Skala (mit 1 = links, 11 = rechtsund 6 als Mittelwert) herangezogen. Dabei istkein systematischer Einfluss zwischen den poli-tischen Positionierungen und der Aktivität er-kennbar. Demgegenüber üben die anderen be-trachteten Größen einen merklichen Einfluss aufdas politische Engagement aus.

So befördert das politische Interesse die Bereit-schaft, sich in der ödp zu einzubringen. Auf al-len drei hier betrachteten Ebenen – Kommunal-,Landes- und Bundespolitik – zeigen sich die Ak-tiven nochmals interessierter als die Inaktiven.Wobei es zu berücksichtigen gilt, dass auch die-se bereits mit jeweils zwei Dritteln oder mehrein (sehr) großes politisches Interesse artikulie-ren. Den deutlichsten Einfluss auf die Parteiakti-vität nimmt das Interesse an der Kommunalpoli-tik, was den Schwerpunkten der politischen Ar-beit der ödp entspricht. Eine Partei, der es bis-lang nur auf lokaler Ebene gelungen ist, parla-mentarische Repräsentanz und exekutive Posi-tionen zu erlangen, tritt zwangsläufig vor allemkommunalpolitisch in Erscheinung. Infolgedes-sen differenziert das politische Interesse der akti-ven ödp-Angehörige auf den drei betrachtetenEbenen kaum.

Daneben übt die Parteineigung einen merklichenEinfluss auf die Aktivität aus. Wer sich stärkermit der ödp identifiziert, ist auch eher bereit, amparteipolitischen Geschehen teilzunehmen. Wäh-rend sich von den Inaktiven bereits 83 Prozent‚ziemlich’ bzw. ‚sehr stark’ der ödp zuneigen,tun dies gar 98 Prozent der Aktiven. Mithin ge-hen politisches Engagement und affektive Bin-dung an die ödp Hand in Hand.

Ferner hängt das Ausmaß der politischen Teilha-be von dem Selbstvertrauen, das ein Befragter inseine politischen Fähigkeiten hat, ab. Wer sicheine Führungsrolle in diesem Zusammenhangzutraut, wird auch eher aktiv. Umgekehrt zeigtsich, dass die Politik eher denjenigen als zukompliziert vorkommt, die weniger bzw. garnicht aktiv sind. Im Vergleich übt dabei die Zu-

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schreibung eigener Fähigkeiten den größeren Ef-fekt auf die Partizipation aus.

Dagegen bestehen kaum signifikante Korrelatio-nen zwischen der dem politischen System zuge-schriebenen Reaktionsbereitschaft und der Akti-vität. Dies wird allerdings dem Charakter derödp als auf Landes- und Bundesebene kaum eta-blierte Kleinpartei geschuldet sein. Es ist anzu-nehmen, dass die Befragten die Aussagen weni-ger auf ihre eigene als auf die anderen Parteienbezogen haben. Die Vermutung einer reinen Ori-entierung der Parteien an Wählerstimmen giltdann wohl eher der etablierten Konkurrenz imParteienwettbewerb und die Kritik an den Abge-ordneten trifft ohnehin nicht die Repräsentantender eigenen Partei.

e) Kosten-Nutzen-Kalküle der Parteimitglie-der

Fast alle hier berücksichtigten Aspekte einesKosten-Nutzen-Kalküls wirken sich auf die in-nerparteiliche Teilhabe aus. Generell gilt folg-lich: Je höher der Nutzen bzw. je niedriger dieKosten innerparteilicher Aktivität bewertet wer-den, desto intensiver bringt sich das Mitglied indas Parteigeschehen ein. So sind diejenigen, dieParteiarbeit als ermüdend, anstrengend und zeit-raubend betrachten, weniger aktiv. Umgekehrtbefördert die Aussicht auf interessante Kontakteund Einblicke in politische Fragen ebenso wieder Wille, Einfluss auf politische Entscheidun-gen nehmen zu können, die Mitarbeit in der ödp.

Tabelle 6: Kosten-Nutzen-Kalkül der aktiven, teilakti-ven und inaktiven Parteimitglieder

Inaktive Teil-aktive

Aktive allePM

40 37 23

Nutzen (1)

soziale Anerkennung (n.s.) 15 15 11 14

interessante Leute kennen (**) 69 70 77 72

politischer Sachverstand (**) 29 40 45 37

Einfluss auf Politik (**) 66 69 82 71

Kosten (2)

Parteiveranstaltungen ermüdend (**) 69 57 44 59

Parteiarbeit langweilig (**) 10 7 4 7

zu wenig Zeit für Freunde und Familie(**)

52 32 33 40

Angaben in Prozent; in Klammern: ** Signifikanz (Chi-Quadrat) <= ,01; * Signifikanz <= ,01; n. s. = nicht signifikant.

(1) Frage: „Es gibt verschiedene Gründe dafür, sich stärker oder schwä-cher in der Partei zu engagieren. Inwieweit stimmen Sie den folgendenAussagen zu?“ Items: „Wer sich in einer Partei engagiert, kann mit Achtung und Aner-kennung rechnen.“; „Als aktives Parteimitglied kann man interessanteLeute kennen lernen“, „Die aktive Mitarbeit in der Partei ist ein geeigne-ter Weg, um persönlich Einfluss auf die Politik auszuüben.“Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“, „teils-teils“, „stimme eher nicht zu“, „stimme überhaupt nicht zu“. Hier zu-sammengefasst: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“.

(2) Frage: „Es gibt verschiedene Gründe dafür, sich stärker oder schwä-cher in der Partei zu engagieren. Inwieweit stimmen Sie den folgendenAussagen zu?“ Items: „Neben einem anstrengenden Alltag noch auf Parteiveranstaltun-gen zu gehen, kann sehr ermüdend sein“, „Für die Partei zu arbeiten,kann sehr langweilig sein“, „Das Engagement in der Partei lässt häufigzu wenig Zeit für Freunde und Familie“. Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“, „teils-teils“, „stimme eher nicht zu“, „stimme überhaupt nicht zu“. Hier zu-sammengefasst: „stimme voll und ganz zu“, „stimme eher zu“.

Quelle: ödp-Mitgliederbefragung 2007.

Als einzige der betrachteten Größen übt derwahrgenommene soziale Nutzen keine aktivi-tätsfördernde Wirkung aus. Dies kann auf zweiAspekte zurück geführt werden:

– Erstens könnte den Mitgliedern einerkleinen Partei, wie der ödp, ein geringe-res Ansehen zuwachsen, da es ihr an öf-fentlicher Aufmerksamkeit, politischenGestaltungsmöglichkeiten und Präsenzim parlamentarischen und exekutivenRaum weitgehend fehlt. In der Folgerechneten auch die aktiven Parteimitglie-der nicht mit einem höheren sozialen Re-nommee als die inaktiven.

– Zweitens – und dies legen Befunde zumgenerellen Standing der politischen Par-teien in der Öffentlichkeit nahe – wirdden Parteien grundsätzlich ein großesMaß Skepsis entgegengebracht. Dieskönnte auch für die einzelnen Mitgliedergelten, weshalb wohl eher davon gespro-chen werden muss, dass sich einige Bür-ger trotz – und keinesfalls wegen – desöffentlichen Images in einer Partei enga-gieren. Von einem Nutzen, im Sinne hö-herer sozialer Anerkennung, kann in ei-nem solchen Umfeld dann keine Redemehr sein, weshalb diese Größe auchkeine aktivitätsfördernde Wirkung entfal-ten kann.

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4. Determinanten innerparteilicher Partizipati-on der ödp-Mitgliedschaft

Nachdem bislang die sozialen Merkmale der Be-fragten, ihre Einstellungen und Kosten-Nutzen-Kalküle getrennt voneinander betrachtet wordensind, werden diese in der nachstehenden Aus-wertung gemeinsam analysiert. Dabei wird mit-tels einer multiplen Regression der Einfluss derdiversen Größen unter Berücksichtigung der an-deren Faktoren ermittelt. Dies ermöglicht Aussa-gen darüber, welcher theoretische Ansatz dasAusmaß der innerparteilichen Partizipation ambesten erklären kann. Dazu werden die drei An-sätze zunächst einzeln (Modell 1 bis Modell 3)und anschließend gemeinsam (Modell 4) be-trachtet. Dies liefert Hinweise auf die Erklä-rungskraft einzelner Faktoren.

a) Methodische Anmerkungen

Aus Illustrationszwecken wurde bislang (Tabelle4 bis 6) entsprechend des zeitlichen Aufwandeszwischen aktiven, teilaktiven und inaktiven Mit-gliedern unterschieden. Im Folgenden geht alsabhängige Variable der Faktorwert der Skala zuden verschiedenen Formen der innerparteilichenBeteiligung ein (Tabelle 2). Dadurch ist eine ge-naue Differenzierung der Befragten nach demAusmaß ihrer Beteiligung gewährleistet, da fürjede der elf Tätigkeiten (von Plakate kleben biszur Kandidatur für ein öffentliches Amt) erho-ben wurde, wie oft diese in den letzten fünf Jah-ren ausgeübt wurde. Der Tausch der Variablenerscheint angesichts des hohen Zusammenhangszwischen ihnen (r = .78**) angemessen. Da essich bei den Faktorwerten um metrische Datenhandelt, ist eine multiple lineare Regressionmöglich. Ausgewiesen sind die beta-Werte, dieauf standardisierter Basis den Einfluss der ein-zelnen Variablen ausweisen sowie die erklärteVarianz des Gesamtmodells (R²), das Auskunftüber die Erklärungskraft aller betrachteten Va-riablen gibt.

Im Ressourcenmodell geht die Tätigkeit alsDummy-Variable (Hausfrau – andere Tätigkeit)in die Analyse ein. Bildung wird – obwohl ei-gentlich ordinal skaliert – wie eine metrischeVariable behandelt. Konfession und Kirchgang

bleiben unberücksichtigt, da sie hoch mit demgesellschaftlichen Engagement in kirchlichenGruppen korrelieren. Dieses wird – ebenso wiedie Einbindung in sozioökonomische Vereini-gungen und Umweltgruppen – als Faktorwerte indie Analyse aufgenommen. Im sozialpsychologi-schen Ansatz gehen das politische Interesse, daspolitische Selbstvertrauen sowie die dem politi-schen System zugeschriebene Reaktionsbereit-schaft ebenfalls als Faktorwerte in die Auswer-tung mit ein, die die in Tabelle 4 ausdifferenzier-ten Items zusammenfassen. Dies gilt in Modell 3analog für die wahrgenommenen Kosten undNutzen eines Parteiengagements.

Tabelle 7: Determinanten der innerparteilichen Betei-ligung in der ödp

Modell1

Modell2

Modell3

Modell4

Ressourcenmodell

Geschlecht -.09** n.s.

Bildung n.s. n.s.

Alter n.s. .05*

Tätigkeit

Referenzkategorie: Hausfrau

n.s. n.s.

Gesellschaftliches Engagement

…in sozioökonomischenVereinigungen

n.s. n.s.

…in Umweltschutzgruppen .26** .17**

…in kirchlichen Gruppen n.s. n.s.

Lokale parlamentarische Präsenz .19** .18**

Sozialpsychologischer Ansatz

Politisches Interesse .17** .12**

Parteiidentifikation .23** .17**

Politisches Selbstvertrauen .28** .26**

Reaktionsbereitschaft Politik .06* n.s.

Differenz auf Links-rechts-Skala n.s. n.s.

Kosten-Nutzen-Kalkül

Kosten -.23** -.18**

Nutzen .18** .08**

Erklärte Varianz .13 .23 .08 .34

Fallzahl 1241 1323 1370 1136

Multiple Regression, Beta-Werte und erklärte Varianz, ** Signifikanz<= ,01; * Signifikanz <= ,01; n. s. = nicht signifikant.

Quelle: ödp-Mitgliederbefragung 2007.

b) Die Erklärungskraft der Ansätze

Alle drei Ansätze erweisen sich in den Regressi-onsanalysen als erklärungskräftig. Im Ressour-cenmodell (Modell 1) sind es insbesondere dieorganisationsbasierten Ressourcen, die innerpar-teiliche Partizipation befördert. Das Engagement

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in Umweltgruppen befördert – im Unterschiedzur Zugehörigkeit zu kirchlichen Gruppen undsozioökonomischen Zusammenschlüssen – dieTeilnahme am Geschehen in der ödp. Dies er-klärt zum Teil, weshalb die umweltpolitischenAnliegen in der Partei oftmals prägender sind alsdie religiös motivierten (Kranenpohl 2008). Eineebenfalls partizipationsfördernde Wirkung gehtvon der örtlichen Präsenz der ödp aus. Dort wosie in lokalen Parlamenten vertreten ist, fällt esihr viel leichter, ihre Parteimitglieder zu aktivie-ren. Dies belegt den bekannten Selbstverstärker-effekt (partei-)politischer Partizipation, wonacheine ‚kritische Masse’ an Aktiven vorhandensein muss, um Parteiaktivitäten vor Ort am Le-ben zu erhalten. Die Tatsache, dass die individu-elle Ressourcenausstattung der Mitglieder so gutwie keinen Einfluss auf deren Beteiligung hat,verweist nochmals auf eine besondere Fähigkeitpolitischer Parteien: Sie können, wie keine ande-re Partizipationsform, ihre Mitgliedergruppengleichmäßig einbinden und mittels Proporz undanderer Mechanismen sich der sozialen Reprä-sentation von aktiven und inaktiven Mitgliedernannähern.

Die im Vergleich größte Erklärungskraft weistder sozialpsychologische Ansatz auf (Modell 2).Mit einer erklärten Varianz von .23 gelingt esmittels weniger Variablen recht gut, das indivi-duelle Ausmaß parteipolitischer Teilhabe zuschätzen. Einen hohen Einfluss übt dabei das po-litische Selbstvertrauen aus. Aber auch wer sichmit seiner Partei stärker identifiziert und sichmehr für Politik interessiert, nimmt intensiveram Parteigeschehen teil. Daneben kommt derDistanz zwischen eigener und Parteiposition aufder Links-Rechts-Skala sowie der dem politi-schen System zugeschriebenen Reaktionsbereit-schaft – wohl wegen des Status der ödp als imVergleich zu den Bundestagsparteien wenig eta-blierter politischen Kraft – keine praktisch rele-vante Bedeutung zu.

Daneben üben Kosten-Nutzen-Erwägungeneinen gewissen Einfluss auf das individuelleAusmaß politischer Aktivität aus (Modell 3).Wie erwartet dämpfen Kosten- und beflügelnNutzenerwartungen das politische Engagement.

Im direkten Vergleich zeigt sich wiederum, dassden Kosten eine größere Bedeutung zukommt.

Die Gesamtbetrachtung der Modelle bestätigtweitgehend die Eindrücke der getrennten Analy-sen (Modell 4). Von zentraler Bedeutung sinddie sozialpsychologischen Aspekte: PolitischesInteresse, Selbstvertrauen und Parteiidentifikati-on. Zusätzlich sind organisationsbasierte Res-sourcen und das Kosten-Nutzen-Kalkül relevant.Mit einer erklärten Varianz von .34 ist die Erklä-rungskraft des integrierten Modells zufrieden-stellend. Dies rechtfertigt nochmals den – vor-wiegend konzeptionell begründeten – Verzichtauf Selbstauskünfte über die Motivation zur Par-teizugehörigkeit.7

Aufs Ganze betrachtet stehen hinter der inner-parteilichen Beteiligung in der ödp weitgehenddie gleichen Größen, die auch das Engagementin einer Bundestagspartei befördern. SpezifischeAbweichungen, die sich aus der Größe bzw. demniedrigen Etablierungsgrad der Partei ergeben,sind gering. Am ehesten noch scheinen die ein-dimensionale Ausrichtung des internen Engage-ments sowie die partizipationsfördernde Wir-kung der lokalen Präsenz ödp-Spezifika zu sein,die bei den Bundestagsparteien allenfalls in‚Diaspora-Gebieten’ auftreten. Ansonsten bestä-tigen die vorstehenden Analysen weitgehend dieBefunde, die aus der Analyse anderer Parteienbekannt sind. Das Engagement in der ödp folgtdamit weitgehend den gleichen Mustern wie dieTeilhabe in den etablierten und großen Parteien.

5. Fazit und Ausblick

Am Ausgang der vorliegenden Untersuchungstand die Verwunderung, weshalb sich Bürgerinnerhalb der ödp beteiligen, obwohl sie wissen,dass ihr Engagement einen allenfalls graduellenEinfluss auf politische Entscheidungen nimmt.

7 Wie die vorstehenden Analyse (und insbesondere Mo-dell 4) illustriert, ist es möglich, mit Variablen, die al-leine soziale Merkmale und politische Einstellungenabbilden, die innerparteilichen Aktivitäten von Partei-mitgliedern überzeugend zu erklären. Ein Rückgriff aufGrößen, die in unmittelbarer inhaltlicher Nähe zur Par-teiaktivität stehen, und die in keine überzeugende RC-Lesart überführt werden können, erscheint damit über-flüssig.

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Die Auswertungen belegen zunächst, dass dieBeweggründe für parteipolitisches Engagementbei den Mitgliedern der Kleinpartei ödp weitge-hend jenen entsprechen, die auch für jene derBundestagsparteien ausschlaggebend sind. Dieskönnte darauf hinweisen, dass Faktoren, die sichunter dem Stichwort intrinsischer Motivation zu-sammenfassen lassen, für das Engagement in po-litischen Parteien einen starken Einfluss haben.Die Auswertungen legen nahe, dass insbesonde-re jene Parteimitglieder aktiv sind, die sich fürkompetent halten und sich die Gestaltung politi-scher Arbeit zutrauen. Auch starkes politischesInteresse steigert das Engagement. Daneben ha-ben selbstverständlich auch Kosten-Nutzen-Kal-küle einen Einfluss: die Wahrnehmung von Vor-teilen hebt die Parteiaktivität, während wahrge-nommene Kosten diese dämpfen.

Mit Blick auf die Kleinpartei ödp ist hervorzuhe-ben, dass dort – anders als bei den Bundestags-parteien – keine zwei Sphären der politischenBeteiligung existieren, sondern politische undgesellige Aktivitäten Hand in Hand gehen. Mög-licherweise spiegelt sich auch darin die starke in-nere Verbundenheit mit der Partei, die für vieleParteiangehörige ein aktivierendes Moment dar-stellt. Fast alle Aktiven empfinden ein emotiona-les Band zur ödp, die für sie politische Heimatist. Von daher kommt für sie ein Engagement inanderen Parteien kaum bzw. nicht in Frage. Diesist wohl insbesondere mit Blick auf die Aktivitätin der Ökologiebewegung von Bedeutung, denndie Mitgliedschaft in Umwelt- und Naturschutz-organisationen ist ein Faktor, der sehr stark zurMitarbeit in der Partei antreibt. Dann wäre aberzu fragen, warum diese Personen ihre Aktivitätnicht bei den Grünen als ‚etablierter’ Ökologie-partei entfalten, wofür unter Kosten-Nutzen-Überlegungen eigentlich vieles spräche. Hier istwohl ein Einfluss der außergewöhnlich hohenKirchenbindung über die gesamte Mitgliedschaftanzunehmen, selbst wenn die wöchentlichenKirchgänger unter den Aktiven unterrepräsen-tiert sind. Die starke Einbindung der überdurch-schnittlich aktiven Parteimitglieder in der Öko-logiebewegung gibt allerdings auch einen Hin-weis darauf, warum ökologische Themen imParteidiskurs so stark dominieren.

Daneben nimmt die ungleiche lokale Präsenz derödp mit ausgeprägten Hochburgen und Diaspo-ra-Gebieten Einfluss auf das innerparteiliche En-gagement. Dort wo die ödp etabliert, also inKommunalparlamenten vertreten ist und es be-reits eine kontinuierliche Parteiarbeit gibt, fälltes ihr leichter, Mitglieder zur Aktivität zu bewe-gen. Umgekehrt verhält es sich in den Regionenmit geringer Mitgliederdichte. Angesichts derStärke des ‚Matthäus-Effekts’8 darf die Parteikaum Hoffnung haben, außerhalb ihrer – vor al-lem bayerischen – ‚Hochburgen’ organisatorischFuß fassen zu können, womit für die ödp derStatus einer Kleinpartei zementiert scheint.

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8 „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass erFülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch ge-nommen, was er hat“ (Mt 25, 29).

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Aufsätze Sören Lehmann – Politische Betätigung im Steuerrecht MIP 2011 17. Jhrg.

Politische Betätigung im Steuer-recht

Sören Lehmann1

A. Einleitung

Wer das Steuerrecht nach „politischen Normen“durchsucht, wird an vielen Stellen fündig. Insbe-sondere im Bereich der Lenkungsnormen werdenoft politische Ziele und Wertvorstellungen in dasSteuerrecht implementiert und so der ursprüngli-che Zweck der Steuergesetzgebung in den Hin-tergrund gerückt. Der folgende Beitrag behandeltNormen, die sich mit politischer Betätigung alssolcher beschäftigen. Sind die Parteispendentat-bestände des EStG noch beinahe jedem bekannt,fristen viele andere im selben Atemzug zu nen-nende Normen eher ein steuerrechtliches Schat-tendasein. Diese „politischen Normen im enge-ren Sinne“ sollen im Folgenden in einen Kontextgestellt und diskutiert werden, um so ein voll-ständiges Bild der politischen Betätigung imSteuerrecht zu erhalten.

B. Besteuerung von politischen Parteien undWählergemeinschaften

I. Körperschaftsteuerbefreiung für politischeParteien, kommunale Wählervereinigungenund deren Dachverbände, § 5 I Nr. 7 KStG

1. Persönlicher Anwendungsbereich

§ 5 I Nr. 7 S. 1 KStG ist eine sachliche Steuerbe-freiung für politische Parteien im Sinne des § 2PartG und deren Gebietsverbände sowie fürkommunale Wählervereinigungen und derenDachverbände. Die Norm knüpft für den Partei-begriff an § 2 PartG an.2 Die ausdrückliche Steu-1 Der Verfasser ist Finanzbeamter am Finanzamt Düssel-

dorf-Süd. Er studiert Rechtswissenschaften an derHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf und arbeitet amInstitut für Deutsches und Internationales Parteienrechtund Parteienforschung (PRuF).

2 S. ausführlich zu den Tatbestandsmerkmalen des Par-teibegriffs Ipsen in: Ipsen (Hrsg.), PartG, § 2 Rn. 3 ff.

erbefreiung auch der Gebietsverbände politischerParteien trägt deren Aufbau vor dem Hinter-grund der in § 7 I S. 1 PartG statuierten grund-sätzlichen Pflicht zur Untergliederung bestmög-lich Rechnung. Die Körperschaftsteuerbefreiungfür Gebietsverbände setzt deren Steuersubjekts-qualität i.S.v. § 1 I KStG voraus.3 Sofern diesenicht gegeben ist, richtet sich die Steuerpflichtnach dem Status des die Untergliederung umfas-senden Steuersubjekts.4 Mit Beschluss vom29.09.19985 entschied das BVerfG, eine Körper-schaft- und Vermögensteuerpflicht der kommu-nalen Wählervereinigungen sowie ihrer Dach-verbände verstoße gegen deren Recht auf politi-sche Chancengleichheit. Der Verzicht auf Kör-perschaft- und Vermögenssteuer habe bei politi-schen Parteien eine unmittelbare Begünstigungund deren Erhebung auf Seiten der Wählerverei-nigungen eine unmittelbare Belastung zur Folge.Die geltenden Steuerfreibeträge hätten für eineWählervereinigung gerade dann kaum noch eineBedeutung, wenn sie an politischem – und somitauch finanziellem – Gewicht gewinne und zu ei-ner echten Konkurrenz der politischen Parteienwerde. In Reaktion auf das Urteil wurde dieSteuerbefreiung 19996 auf kommunale Wähler-vereinigungen und deren Dachverbände ausge-dehnt.

2. Sachlicher Anwendungsbereich

§ 5 I Nr. 7 S. 2 KStG sieht eine partielle Steuer-pflicht vor, soweit ein wirtschaftlicher Ge-schäftsbetrieb unterhalten wird. Nach § 14 AOliegt ein solcher unabhängig von einer Gewinn-erzielungsabsicht vor, wenn eine selbständigenachhaltige Tätigkeit, durch die Einnahmen oderandere wirtschaftliche Vorteile erzielt werden,unterhalten wird. Es darf sich jedoch nicht umbloße Vermögensverwaltung handeln, wie diesetwa bei der Erzielung von Kapital- oder Ver-

3 Vgl. zu den diesbezüglichen Anforderungen ausführ-lich BMF v. 18.10.1988, BStBl I 1988, 443 und v.30.03.1990, DB 1990, 913; hierzu Sauter in: Erle/Sau-ter (Hrsg.), KStG, 3. Aufl. 2010, § 5 Rn. 132 ff.

4 Bott in: Ernst/Young (Hrsg.), KStG Bd. 1, § 5 Rn. 337,344.

5 BVerfGE 99,69.6 BGBl I 1999, 2601.

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mietungseinnahmen der Fall ist.7 Dem Steuerab-zug unterliegende Kapitaleinkünfte fallen gemäߧ 5 II Nr. 1 KStG generell nicht unter die Steuer-befreiungstatbestände des § 5 I KStG.

II. Steuerfreiheit von Leistungen zwischenden selbständigen Gliederungen einer politi-schen Partei, § 4 Nr. 18a UStG

1. Persönlicher Anwendungsbereich

Politische Parteien sind Unternehmer im Sinnedes § 2 I UStG, wenn sie eine gewerbliche oderberufliche Tätigkeit selbständig und nachhaltigzur Einnahmeerzielung ausüben. Eine Gewinner-zielungsabsicht ist hierfür nicht erforderlich.Steuerbare und steuerpflichtige Umsätze einerpolitischen Partei stellen beispielsweise die Her-stellung und der Vertrieb von Druckerzeugnissengegen Entgelt oder die Ausrichtung von Publi-kumsveranstaltungen gegen Eintrittsgelder dar.Auch Gebietsverbände einer Partei, die nach§§ 7 I, 6 I S. 2, 8 I PartG über eine eigene kör-perschaftliche Verfassung, sowie eine Satzungverfügen, können unter den Voraussetzungen des§ 2 I UStG Unternehmer sein. Vom unternehme-rischen Bereich der politischen Partei abzugren-zen ist der nichtunternehmerische Bereich. Die-ser umfasst nach dem BMF-Schreiben vom01.03.19918 die Wahrnehmung der durch dieVerfassung, das PartG und die Satzung festge-legten Aufgaben, einschließlich der hiermit ver-bundenen Hilfsumsätze, soweit diese Tätigkeitendurch Mitgliederbeiträge, Spenden, Zuschüsseoder andere Zahlungen abgegolten werden, dadiese Zahlungen nicht den Charakter eines Leis-tungsentgelts innehaben. Steuerbar sollen hinge-gen beispielsweise Personalgestellungen, diezentrale Übernahme von EDV-Dienstleistungenoder die Überlassung von Kraftfahrzeugen und

7 Typische wirtschaftliche Geschäftsbetriebe einer politi-schen Partei sind etwa die Herstellung und der Vertriebvon Druckerzeugnissen, die Durchführung von Veran-staltungen mit Leistungen gegen Entgelt (vgl. zu dieserProblematik BFH BStBl II 1960, 231) oder der Ver-trieb von Werbeanzeigen in Parteizeitschriften (vgl.hierzu auch BFH BStBl II 1962, 73). Ausführlich zuwirtschaftlichen Tätigkeiten politischer ParteienSchindler, Die Partei als Unternehmer, 2005, 23 ff.

8 BMF v. 01.03.1991, IV A 2 – S 7104 – 6/91.

Büroeinrichtungen zwischen den selbständigenParteigliederungen sein. Bei diesen Umsätzensetzt bisher § 4 Nr. 18a UStG an, der Leistungenzwischen den selbständigen Gliederungen einerpolitischen Partei, soweit diese im Rahmen dersatzungsmäßigen Aufgaben gegen Kostenerstat-tung ausgeführt werden, von der Umsatzsteuerbefreit. Nicht nur Leistungen der Gebietsverbän-de untereinander, sondern auch Leistungen derParteizentrale an die Gebietsverbände sind vonder Umsatzsteuer befreit. Nicht befreit sind hin-gegen Leistungen zwischen sog. Schwesterpar-teien wie zum Beispiel CDU und CSU.9 DemWortlaut nach nicht einbezogen sind kommunaleWählergemeinschaften und deren Dachverbände,die ebenso wie politische Parteien eine funda-mentale Bedeutung für die politische Willensbil-dung haben und weitgehend gleichlaufendeFunktionen erfüllen. Die Norm sollte aus Grün-den der Gleichbehandlung dahingehend weitausgelegt werden, dass auch diese Organisatio-nen erfasst sind.

2. Sachlicher Anwendungsbereich

Da nach dem Normtext Leistungen nur steuerbe-freit sind, soweit sie im Rahmen der satzungsge-mäßen Aufgaben gegen Kostenerstattung er-bracht werden, stellt sich die Frage, ob sich dieEinschränkung „soweit“ auf die Satzungsmäßig-keit der Aufgaben, die Kostenerstattung oder aufbeide Tatbestandsmerkmale erstreckt. Zu beach-ten ist hier das auch für die Beurteilung vonSteuerbefreiungen wichtige Prinzip der Einheit-lichkeit der Leistung. In der Regel ist jede Liefe-rung und sonstige Leistung als eigene selbständi-ge Leistung zu betrachten.10 Ein einheitlicherwirtschaftlicher Vorgang darf jedoch umsatz-steuerlich nicht in mehrere Leistungen aufgeteiltwerden. Die Frage, ob mehrere selbständigeHauptleistungen vorliegen, ist aus der Sicht ei-nes Durchschnittsverbrauchers zu beurteilen.11

Dass für einzelne Leistungen ein Gesamtentgelterbracht wird, reicht für die Annahme einer ein-heitlichen Leistung nicht aus. So ist beispiels-

9 Kulmsee in: Reiß/Krausel/Langer (Hrsg.), UStG Bd. 1,§ 4 Nr. 18a Rn. 22.

10 Vgl. im Folgenden R 29 UStR 2008.11 BFH BStBl II 2001, 658.

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Aufsätze Sören Lehmann – Politische Betätigung im Steuerrecht MIP 2011 17. Jhrg.

weise eine Steuerbefreiung bei der gegen ein-heitliche Kostenerstattung durchgeführten zwei-wöchigen Gestellung von Personal durch dieParteizentrale an einen Landesverband – eineWoche zwecks Mithilfe bei der Vorbereitungund Durchführung eines Parteitages, eine zweiteWoche zur Begleitung älterer Parteimitgliederauf einer Freizeitreise – nur hinsichtlich der ers-ten Woche möglich. Trotz der einheitlichen Kos-tenerstattung liegen hier zwei voneinander ge-trennt zu beurteilende Leistungen vor. Anderswäre der Fall, wenn sich Leistungen dem Wesendes Umsatzes nach nicht so eindeutig voneinan-der trennen ließen. Entfällt eine einheitlicheLeistung teilweise auf satzungsfremde Zwecke,ist der Umsatz nicht steuerbefreit, wenn die sat-zungsfremden Zwecke der Leistung ihr wirt-schaftliches Gepräge geben. Die Einbeziehungdes Begriffs „Kostenerstattung“ erscheint eben-falls aus Gründen der möglichst einheitlichenBehandlung einer Leistung nicht sinnvoll. Wenndas Entgelt die reine Erstattung von Kostenüberschreitet, mithin ein Gewinn aus der Leis-tungserbringung erzielt wird, ist also der gesam-te Umsatz steuerpflichtig. Der Wortlaut „soweit“ist dementsprechend sowohl im Hinblick auf dieSatzungsmäßigkeit der Aufgabe, als auch in Be-zug auf die Kostenerstattung für einen jeweilseinheitlichen Umsatz grundsätzlich als „wenn“zu verstehen, so dass eine Leistung nur ganzoder gar nicht umsatzsteuerbefreit ist. 12

Auf die Steuerbefreiung kann mangels Nennungin § 9 I UStG nicht verzichtet werden. Da dieseOption ausgeschlossen ist, kann der Leistendenach § 15 II UStG keinen Vorsteuerabzug fürEingangsleistungen geltend machen.

3. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte

Ein grundlegendes Problem ist die fehlendeRichtliniengrundlage für eine derartige Steuerbe-freiung im deutschen Recht.13 Da Umsatzsteuer-

12 Kulmsee in: Reiß/Krausel/Langer (Hrsg.), UStG Bd. 1,§ 4 Nr. 18a Rn. 24 kommt unter Rückgriff auf die Ge-setzesbegründung BT-Drs. 12/1506, 178 zu demselbenErgebnis. Diese trifft hierzu jedoch keinerlei Aussage.

13 Vgl. Kulmsee in: Reiß/Krausel/Langer (Hrsg.), UStGBd. 1, § 4 Nr. 18a Rn. 5 ff., der sich ausführlich mitden in Betracht kommenden Grundlagen auseinander-

befreiungen durch die Mitgliedsstaaten grund-sätzlich nicht über den in der MwStSystRL14 ge-regelten Umfang hinaus eingeführt werden dür-fen,15 ist die Steuerbefreiung m.E. gemein-schaftsrechtswidrig.16

Fragen hinsichtlich eines überhaupt noch beste-henden Anwendungsbereiches der Befreiungs-vorschrift wirft schließlich das EuGH-Urteilvom 06.10.2009 auf.17 Im zugrundeliegendenFall hatte die Landesorganisation Kärnten derSozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ)geltend gemacht Unternehmerin zu sein, umVorsteuerbeträge aus Eingangsleistungen für dievon ihr an untergeordnete Bezirks- und Ortsor-ganisationen erbrachten Leistungen im Bereichder Öffentlichkeitsarbeit, der Werbung und derInformationstätigkeit abziehen zu können. DasGericht verneinte die Unternehmereigenschaftder Landesorganisation für die in Frage stehen-den Leistungen mit der Begründung, diese Tätig-keiten nehme sie hauptsächlich zur Verwirkli-chung ihrer politischen Ziele wahr, nicht aber,um an einem Markt teilzunehmen. Wegen derunregelmäßigen, die entstehenden Kosten nichtannähernd deckenden Zahlung von Kostenerstat-tungen durch die Leistungsempfänger, welcheim Übrigen nicht auf einer rechtlichen Verpflich-tung beruhten, sei kein einen Leistungsaustauschbegründendes Rechtsverhältnis gegeben. Viel-mehr stammten die nachhaltigen, die Tätigkeitder SPÖ erst ermöglichenden Einnahmen haupt-

setzt, letztlich jedoch keine Rechtsgrundlage in derMwStSystRL findet.

14 Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsa-me Mehrwertsteuersystem v. 28.11.2006, Abl. EU2006, Nr. L 347, 1, ber. ABl EU 2007, Nr. L 335, 60.

15 EuGH EuGHE 1989, 1737; EuGHE 2002, I-5811;EuGHE 2003, I-4101; EuGH UR 2004, 82, Rn. 36;UR 2005, 24, Rn. 17. Kritisch zu der Direktive desEuGH Stadie, Umsatzsteuerrecht, 2005, S. 305 f.

16 Ebenso Kulmsee in: Reiß/Krausel/Langer (Hrsg.),UStG Bd. 1, § 4 Nr. 18a Rn. 11; Oelmaier in: Sölch/Ringelb (Hrsg.), UStG, § 4 Nr. 18a Rn. 3. Hünnekensin: Peter/Burhoff/Stöcker (Hrsg.), UStG Bd. 2, § 4Nr. 18a Rn. 4 will eine Grundlage in Art. 132 I lit. l)MwStSystRL sehen, was jedoch wegen der fehlendenMitgliedereigenschaft selbständiger Parteigliederungenm.E. abzulehnen ist.

17 Vgl. EuGH v. 06.10.2009, C-267/08, SPÖ Landesor-ganisation Kärnten.

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sächlich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen.Die Verneinung der Unternehmereigenschaft hatgleichsam die Nichtsteuerbarkeit entsprechenderLeistungen zur Folge.

Hinsichtlich der Verneinung eines Leistungsaus-tausches in Bezug auf hauptsächlich durch Spen-den und Mitgliedsbeiträge finanzierte Tätigkei-ten liegt das Urteil auf einer Linie mit dem BM-F-Schreiben vom 01.03.1991. Eine Neuerungfindet sich allerdings im Hinblick auf die Leis-tungen zum Zwecke der Verwirklichung politi-scher Ziele, denen der Marktcharakter abgespro-chen wird.18 Wendet man diese Grundsätze auf§ 4 Nr. 18a UStG an, so verbleibt für dessen An-wendung kaum noch Raum. Sofern selbständigeParteigliederungen einen Leistungsaustauschzum Zwecke der Außenwerbung vornehmen,werden sie wegen der vorrangigen Verfolgungparteipolitischer Zwecke nicht mehr unterneh-merisch tätig. Sie treten nicht am Markt in Er-scheinung. Da diese Leistungen schon nichtsteuerbar sind, ist der Anwendungsbereich von§ 4 Nr. 18a UStG nicht eröffnet. Die Urteilsbe-gründung lässt sich jedoch nicht nur auf den Be-reich der Außenwerbung beziehen. Auch die Ge-stellung von Infrastruktur oder Personal gleichwelcher Art gegen einen entsprechenden Kosten-ersatz dient letztlich nur der Verwirklichung dervon der politischen Partei verfolgten Zwecke.Auch sie dürften dem Grundgedanken des Ur-teils nach nicht mehr steuerbar sein.

C. Besteuerung politischer Akteure

I. Die steuerliche Behandlung kommunalpoli-tischer Wahlämter

Es soll geklärt werden, welcher Einkunftsart dieim Zusammenhang mit der Bekleidung kommu-nalpolitischer Wahlämter gezahlten Vergütungenzuzurechnen sind. Dann sollen in Betracht kom-mende Steuerbefreiungstatbestände angespro-

18 Der EuGH weicht insoweit von seiner bisherigenRechtsprechung ab, nach der eine Tätigkeit an sich un-abhängig von Zweck und Ergebnis betrachtet wird,EuGH v. 21.02.2006, C-223/03, University of Hud-dersfield, Rn. 47; v. 26.06.07, C-284/04, T-MobileAustria u.a., Rn. 35 und v. 26.06.07, C-369/04,Hutchinson 3G u.a., Rn. 29.

chen und die steuerliche Behandlung von Ausga-ben dargestellt werden.

1. Qualifizierung der Einnahmen

Gemeinderatsmitglieder und Bürgermeister be-ziehen grundsätzlich Einkünfte aus sonstigenselbständigen Tätigkeiten nach § 18 I Nr. 3 EStGund zwar unabhängig davon, ob sie hauptberuf-lich oder ehrenamtlich tätig sind.19 Der selbstän-dige Charakter der Tätigkeit ergibt sich aus deran der freien, nur durch das Gesetz und dieRücksicht auf das Gemeinwohl begrenztenAmtsführung.20 Die Amtsführung muss einnah-meorientiert sein; sog. Liebhaberei schließt dieAnnahme steuerlich relevanter Einnahmen gene-rell aus.21 Jedoch darf die Einnahmeerzielungs-absicht Nebenzweck sein; ein primär politischesInteresse an der Amtsführung ist also unschäd-lich.22 Bei Vorliegen der Charakteristika einesnichtselbständigen Arbeitsverhältnisses – dieserichten sich nach der jeweils einschlägigen Ge-meindeordnung – können Einkünfte aus kommu-nalen Wahlämtern auch als solche aus nichtselb-ständiger Arbeit nach § 19 I Nr. 1 EStG anzuse-hen sein.

2. Steuerfreie und steuerpflichtige Einnah-men

Nach § 3 Nr. 12 S. 2 EStG sind Aufwandsent-schädigungen aus öffentlichen Kassen an Perso-nen, die öffentliche Dienste leisten, einkommen-steuerfrei, soweit nicht festgestellt wird, dass siefür Verdienstausfall oder Zeitverlust gezahltwerden oder sie den Aufwand des Empfängersoffensichtlich übersteigen. Aufwandsentschädi-gungen können sowohl bei ehrenamtlichen alsauch hauptberuflichen Ratsmitgliedern oder Bür-

19 BFH DStR 1996, 1323, 1324. 20 BFH BStBl II 1988, 266, 267; vgl. jedoch zu der Qua-

lifizierung der Tätigkeit eines bayrischen Bürgermeis-ters als nichtselbständige Arbeit BFH BStBl II 1971,353.

21 Vgl. statt aller Wacker in: Schmidt (Hrsg.), EStG, 29.Aufl. 2010, § 18 Rn. 5 unter Nennung der einschlägi-gen Rechtsprechung.

22 BFH BStBl II 1988, 266, 268 mwN.; Jachmann, JA1997, 158.

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Aufsätze Sören Lehmann – Politische Betätigung im Steuerrecht MIP 2011 17. Jhrg.

germeistern anfallen.23 Keine Aufwandsentschä-digungen im Sinne der Vorschrift sind Ver-dienstausfallentschädigungen. Diese stellen nach§ 24 Nr. 1a EStG steuerpflichtige Einnahmenaus der Einkunftsart, bei welcher der Ausfalleingetreten ist, dar. 24 Für aus öffentlichen Kas-sen gezahlte Reisekostenvergütungen, Umzugs-kosten oder Trennungsgelder sieht § 3 Nr. 13EStG einen eigenen Befreiungstatbestand vor.

3. Behandlung der Ausgaben

Grundsätzlich stellen durch das Mandat veran-lasste Aufwendungen Betriebsausgaben im Sin-ne des § 4 IV EStG dar. Aufwendungen, die aus-schließlich im Zusammenhang mit der Erbrin-gung unentgeltlich ehrenamtlicher Tätigkeitenstehen, sind mangels einnahmeorientierter Ver-anlassung keine Betriebsausgaben. Soweit Aus-gaben mit steuerfreien Entschädigungen nach § 3Nr. 12, 13 EStG abgegolten sind, ist ein Be-triebsausgabenabzug nach § 3c I EStG ausge-schlossen.

Der BFH hat entschieden, dass es sich bei Wahl-kampfkosten eines kommunalen Mandatsträgersum vorweggenommene Betriebsausgaben oderWerbungskosten handeln kann.25 Entscheidendfür einen Abzug sei jedoch, dass die steuer-pflichtigen Einnahmen aus der angestrebten Tä-tigkeit – gleich ob diese haupt- oder nebenberuf-lich ausgeführt werde – die Höhe hauptberufli-cher Einkommen der unteren Lohngruppen er-reichten. Das tatsächliche Erringen des ange-strebten Wahlamtes ist für einen Betriebsausga-ben- bzw. Werbungskostenabzug jedoch ohneBedeutung; auch vergebliche Aufwendungensind abzugsfähig. Ein hinreichend konkreter Zu-sammenhang zwischen Aufwendungen und derangestrebten Tätigkeit kann bei einem durch einePartei aufgestellten Bewerber ab dem Zeitpunkt

23 Beispielsweise erhalten Bürgermeister in Nord-rhein-Westfalen nach § 5 EingrVO NRW (GVNW1979, 97; § 5 zuletzt geändert durch Verordnung v.18.10.1994, GVNW 1994, 933) eine nach der Gemein-degröße gestaffelte pauschale Aufwandsentschädigungzwischen 102,26 € und 388,58 € monatlich.

24 FG Nürnberg EFG 1981, 89; Drenseck in: Schmidt(Hrsg.), EStG, 29. Aufl. 2010, § 24 Rn. 34.

25 BFH BStBl II 1974, 407; BStBl II 1996, 431.

seiner Nominierung, bei einem Einzelbewerbermit Beginn der Unterschriftensammlung ange-nommen werden.26 Jedoch ist auch bei Wahl-kampfkosten – wie bei allen Betriebsausgabenund Werbungskosten – darauf zu achten, ob einefür den Abzug schädliche private Mitveranlas-sung im Sinne des § 12 Nr. 1 S. 2 EStG vorliegt.Bei klassischen durch den Wahlkampf verur-sachten Aufwendungen wie z.B. Fahrtkosten,Saal- und Büromieten oder Ausgaben für Bro-schüren, Plakate und sonstiges Werbematerial isteine einnahmeorientierte Veranlassung unpro-blematisch gegeben. Vor allem für die Durch-führung von Freizeitveranstaltungen dürfte je-doch eine private Mitveranlassung im Sinne des§ 12 Nr. 1 S. 2 EStG gegeben sein, was bei Feh-len einer konkreten Zuordnungs- und Auftei-lungsmöglichkeit einen Ausschluss der Abzugs-fähigkeit zur Folge hat. Für Bewirtungsaufwen-dungen, Geschenke und häusliche Arbeitszim-mer sind die Abzugsbeschränkungen des § 4 VEStG zu beachten.

II. Die steuerliche Behandlung von Abgeord-neten auf Landes-, Bundes- und Europaebene

Abgeordnete auf Landes-, Bundes- und Europae-bene werden nach einem anderen System besteu-ert, als die Träger kommunaler Wahlämter. ImFolgenden soll ein Überblick über die steuerli-che Situation der Abgeordneten auf Einnahmen-und Ausgabenseite gegeben werden.

1. Qualifizierung der Abgeordnetenbezüge

Bis 1975 waren Abgeordnetenbezüge vollständigvon der Einkommensteuer befreit. Erst mit demDiätenurteil des BVerfG vom 05.11.197527 wur-de die vollständige Steuerfreiheit für verfas-sungswidrig erklärt. In Folge dessen wurde § 22Nr. 4 EStG geschaffen. Abgeordnetenbezügestellen sonstige Einkünfte im Sinne des § 22

26 Rothe/Rothe/Oster, Entschädigungsregeln im Kommu-nalrecht, 2. Aufl. 2002, 102 unter Bezugnahme auf dasSchreiben des FinMin NRW zur steuerlichen Behand-lung der Aufwendungen im Zusammenhang mit derWahl v. 22.09.1997; zustimmend Carlsen, Die Ge-meinde SH 2003, 319, 321.

27 BVerfGE 40, 296.

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EStG dar.28 Einkünfte nach § 18 EStG sollennicht vorliegen, weil die Abgeordnetentätigkeitnicht auf die Erzielung von Einnahmen aus ent-geltlichen Dienstleistungen gegenüber Drittenausgerichtet sein darf;29 Einnahmen aus nicht-selbständiger Tätigkeit liegen nicht vor, weil einAbgeordneter in keinem Abhängigkeits- undWeisungsverhältnis zu einem Dienstherrn steht.Nach dem abschließenden Katalog des § 22Nr. 4 S. 1 EStG sind Entschädigungen, Amtszu-lagen, Zuschüsse zu Kranken- und Pflegeversi-cherungsbeiträgen, Übergangsgelder, Über-brückungsgelder, Sterbegelder, Versorgungsab-findungen und Versorgungsbezüge, die aufGrund des AbgG30 und des EuAbgG31 gezahltwerden, sowie vergleichbare Bezüge, die aufGrund der entsprechenden Gesetze der Länder32

gezahlt werden, steuerpflichtige sonstige Ein-künfte. Ebenfalls erfasst sind Entschädigungen,Übergangsgelder, Ruhegehälter und Hinterblie-benenversorgungen, die auf Grund des Abgeord-netenstatuts des Europäischen Parlaments33 vonder Europäischen Union gezahlt werden.34 Keinesonstigen Einkünfte stellen hingegen übrige Ein-künfte des jeweiligen Abgeordneten aus z.B.rechtsanwaltlicher, beratender oder werbenderTätigkeit dar. Die Einordnung dieser Einkünfterichtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. DieBezüge von Ministern und Staatssekretären stel-28 Bestätigt durch BVerfG HFR 1993, 127.29 Lindberg in: Frotscher (Hrsg.), EStG Bd. 4, § 22 Rn.

182. Angesichts dieser zutreffenden Begründung fragtsich jedoch, warum die grundsätzlich unter denselbenEinschränkungen stehende Tätigkeit eines kommuna-len Amtsträgers unter § 18 EStG fällt.

30 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder desDeutschen Bundestages v. 21.02.1996, BGBl I 1996,326, z.B. §§ 11 I, II, 18-26, 27 AbgG.

31 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder desEuropäischen Parlaments aus der BundesrepublikDeutschland v. 06.04.1979, BGBl I 1979, 413, §§ 9ff.EuAbgG.

32 Für Nordrhein-Westfalen: Abgeordnetengesetz desLandes Nordrhein-Westfalen v. 05.04.2005, GVNRW2005, 259, z.B. §§ 5 I, II, 9-12, 13 AbgG NRW.

33 Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments, ABlEU 2005, Nr. L 262/1, Art. 9 ff.

34 Einen ausführlichen Überblick über die auf den ver-schiedenen Ebenen in Betracht kommenden Bezügebietet Stalbold, Die steuerfreie Kostenpauschale derAbgeordneten, 2004, 21 ff.

len Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit dar.35

Trotz der Qualifizierung als sonstige Einkünftenimmt § 22 Nr. 4 S. 4 EStG eine Annäherung anandere Einkunftsarten vor, indem andere Nor-men für entsprechend anwendbar erklärt werden:§§ 3 Nr. 62 (Behandlung von Nachversiche-rungsbeiträgen und Zuschüssen für Kranken-und Pflegeversicherungsbeiträgen wie steuerfreieArbeitgeber- Sozialversicherungsbeiträge), 19 II(Anwendung des Versorgungsfreibetrages auchauf abgeordnetenrechtliche Versorgungsbezüge),34 I (Behandlung von Übergangsgeldern undVersorgungsabfindungen als außerordentlicheEinkünfte), 34c I EStG (Anrechnung der Ge-meinschaftssteuer nach Art. 12 des Abgeordne-tenstatuts des Europäischen Parlaments auf diedeutsche ESt).

2. Steuerfreie Einnahmen

Nach § 3 Nr. 12 S. 1 EStG sind die aus einerLandes- oder Bundeskasse gezahlten Bezüge, diein einem Bundes-, Landesgesetz oder einer bun-des- oder landesrechtlichen Verordnung von derBundes- oder einer Landesregierung als Auf-wandsentschädigung festgesetzt sind und alsAufwandsentschädigung im Haushaltsplan aus-gewiesen werden, steuerfrei. Durch die Befrei-ung soll eine pauschalierte Abgeltung von Auf-wendungen ohne Einzelprüfung über die Höhedes tatsächlich entstandenen Aufwandes ermög-licht werden.36 Das Tatbestandsmerkmal „Fest-setzung“ statuiert, dass es nur auf ebendiese an-kommt, nicht jedoch darauf, ob tatsächlich zu er-setzender Aufwand vorliegt. Für den Ausweis imHaushaltsplan ist es ausreichend, dass der Ge-samtbetrag der Aufwandsentschädigungen dortausgewiesen wird.37

Das BVerfG erklärte die Vorschrift mit Be-schluss vom 11.11.199838 für unvereinbar mitArt. 3 I GG. Zur Begründung führte es aus, dieSteuerbefreiung bestehe unabhängig von der Er-

35 Lohr, DStR 1997, 1230, 1232.36 Der Begriff „Aufwendungen“ ist in diesem Zusammen-

hang weiter als der Werbungskostenbegriff zu verste-hen, vgl. BFH BStBl III 1965, 144.

37 Bergkemper in: Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.),EStG/KStG Bd. 2, § 3 Nr. 12 Rn. 10.

38 BVerfGE 99, 280.

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füllung des steuergesetzlichen Tatbestandes desAufwandes, seiner Nachweisbarkeit und Verifi-kation. Durch die pauschale Aufwandsentschädi-gung würden auch Zeitaufwand, Verdienstaus-fall und Arbeitsleistung ausgeglichen. Für einePrivilegierung derartiger Entschädigungen be-stünde jedoch kein besonderer, die Ausnahmesachlich rechtfertigender Grund. Es werde durchdas Tatbestandsmerkmal der „Festsetzung“ le-diglich auf die Qualifikationskompetenz vonBundesregierung und Parlament verwiesen. Diesseien jedoch nicht steuerliche, sondern sach-fremde Maßstäbe. Statt die Vorschrift für nichtigzu erklären wurde dem Gesetzgeber die Mög-lichkeit eröffnet, die Steuerbefreiung insgesamtzu beseitigen, sie auf den tatsächlich entstande-nen, nachweisbaren Aufwand zu begrenzen, denErwerbsaufwand in der Steuerfreiheit pauscha-lierend zu beschränken oder andere Vereinfa-chungstatbestände zur Vermeidung oder Be-schränkung von Nachweis- oder behördlichenÜberprüfungspflichten einzuführen. Auf das Ur-teil wurde trotz zahlreicher zwischenzeitlicherÄnderungen des Einkommensteuergesetzes bis-her nicht reagiert. Wegen des in diesem Bereichvorliegenden teilweise selbstgeschaffenen Kon-trolldefizits39 ist nicht zu erwarten, dass in nähe-rer Zeit erneut ein Verfahren vor dem BVerfGangestrengt wird. Wegen seiner Verfassungswid-rigkeit sollte § 3 Nr. 12 S. 1 EStG nur noch imengst möglichen Sinne verstanden werden.Durch das Erfordernis einer „Zahlung“ aus „öf-fentlichen Kassen“ scheidet eine Auslegung imHinblick auf die Gewährung von Sachbezügen

39 Die Formulierung „strukturelles Kontrolldefizit“ präzi-siert die Formel von der „Entscheidung in eigener Sa-che“ dahingehend, dass sich einige Rechtskomplexebereits durch die Verfassungsstruktur selbst derRechtskontrolle entziehen, vgl. hierzu ausführlichStreit, Entscheidung in eigener Sache, 2006, 179 ff.Das Kontrolldefizit ist in diesem Fall zum Teil wegendes prozessualen Problems mangelnder Klagebefugnisein strukturelles (Drysch, DStR 2008, 1217, 1223 plä-diert vorliegend für eine Ausnahme, um die „Beseiti-gung eines solchen Unrechtszustandes“ zu ermögli-chen. Kritisch auch Tipke, FR 2006, 949 (950), zumTeil ist es aber auch selbstgeschaffen, weil die Finanz-behörden erst durch einfachgesetzlichen Akt keine Er-mächtigungsgrundlage zur Überprüfung der Aufwen-dungen mehr haben.

aus.40 Auf Bundesebene kommt für die steuer-freie Aufwandsentschädigung vor allem der fi-nanzielle Anteil der Amtsausstattung nach § 12AbgG in Betracht. Reisekostenerstattungen sindnach § 3 Nr. 13 EStG steuerbefreit.

3. Behandlung der Ausgaben

§ 22 Nr. 4 S. 2 EStG bestimmt, dass durch dasMandat veranlasste Aufwendungen nicht alsWerbungskosten abgezogen werden dürfen,wenn hierfür Aufwandsentschädigungen gezahltwerden. Die Vorschrift scheint als Bestätigungdes allgemeinen Abzugsverbotes (§ 3c I EStG)deklaratorisch zu wirken. Dies ist jedoch nichtder Fall. Vielmehr schließt sie den Werbungs-kostenabzug durch die Formulierung „wenn“ ka-tegorisch aus, wohingegen § 3c I EStG den Ab-zug nur ausschließt, „soweit“ steuerfreie Einnah-men vorliegen. Weil § 3 Nr. 12 S. 1 EStG ver-fassungswidrig ist, unterfallen ihm nach hier ver-tretener Ansicht keine Sachleistungen. § 22 Nr. 4S. 2 EStG verbietet den Abzug von Werbungs-kosten auch in diesem nicht steuerbefreiten Be-reich von Aufwandsentschädigungen. Darüberhinaus schließt § 22 Nr. 4 S. 2 EStG auch einenWerbungskostenabzug aus, soweit pauschaleEntschädigungsleistungen durch tatsächlichenAufwand überstiegen werden.41 Wenn für Auf-wendungen jedoch überhaupt keine Aufwands-entschädigung geleistet wird, ist ein Werbungs-kostenabzug nach den allgemeinen Grundsätzenmöglich. Sonder-, Partei- und Fraktionsbeiträgesind nur im Rahmen von §§ 10b II, 34g EStGabzugsfähig, um deren Voraussetzungen nicht zuumgehen.42

§ 22 Nr. 4 S. 3 EStG enthält ein Abzugsverbotfür Wahlkampfkosten von Landes-, Bundes-,und Europaabgeordneten. Zur Begründung wirddarauf verwiesen, dass Mandatsbewerbern regel-mäßig ein Anspruch auf Erstattung von Wahl-kampfkosten zusteht. Es kommt jedoch nichtdarauf an, ob im konkreten Fall ein solcher An-spruch bestand. Auch wenn der Bewerber das40 v. Beckenrath in: Kirchhof/Söhn/Mellinhoff (Hrsg.),

EStG Bd. 15, § 3 Nr. 12 Rn. B 12/42.41 Risthaus in: Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.),

EStG/KStG Bd. 10, § 22 Rn. 472.42 BFH BStBl II 1988, 433.

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angestrebte Mandat nicht erhält, findet keine Be-rücksichtigung von Wahlkampfkosten statt.43

D. Steuerliche Behandlung von Zuwendungenan politische Parteien und Wählergemeinschaf-ten

Indem der Staat Zuwendungen an politische Par-teien und Wählervereinigungen steuerlich be-günstigt, belohnt er die Zuwendenden. Grund-sätzlich problematisch mag hierbei erscheinen,dass von einer steuerlichen Begünstigung nurdiejenigen Bürger partizipieren, deren zu ver-steuerndes Einkommen ohne die Berücksichti-gung derartiger Zuwendungen überhaupt eineSteuerschuld generiert. Da jedoch die wenigenBürger, welche die Grundfreibeträge unterschrei-ten von der Möglichkeit zu Spenden mangels Fi-nanzkraft häufig keinen Gebrauch machen kön-nen, bewegt sich die steuerliche Begünstigungderartiger Zuwendungen im Gestaltungsspiel-raum des Gesetzgebers.

Die steuerliche Behandlung von Zuwendungenan politische Parteien und Wählergemeinschaf-ten weist eine bewegte Änderungshistorie auf.Im Folgenden soll ausgehend von einer Analyseder einschlägigen Rechtsprechung ein Überblicküber die Umsetzung der hier zu berücksichtigen-den Interessen gegeben werden.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts zu politisch motivierten Zuwen-dungen

Die steuerliche Förderung von Spenden und Mit-gliedsbeiträgen an politische Parteien und Wäh-lervereinigungen bewegt sich in einem sensiblenBereich. Sie ist deshalb von einer starken Ein-flussnahme durch die Rechtsprechung desBVerfG geprägt.

Der Staat ist von Verfassungswegen nicht ver-pflichtet, politische Parteien durch die Gewäh-rung von Steuervorteilen auf Zuwendungen mit-telbar zu finanzieren.44 Verfassungsrechtlich ister hieran aber auch nicht gehindert, muss bei Er-greifung dieser Möglichkeit jedoch übergeordne-

43 BFH BStBl II 1988, 266; BFH/NV 1994, 175.44 BVerfGE 52, 63, 81 f.

te Verfassungsprinzipien beachten.45 Normen,die ihrem Wortlaut nach keine Ungleichbehand-lung politischer Organisationen nach sich zie-hen, können gleichwohl verfassungswidrig sein,wenn ihre materiell-rechtliche Wirkung eine Un-gleichbehandlung zur Folge hat.46 Bei der steuer-lichen Förderung politischer Zuwendungen tre-ten zu den übrigen, in der Steuergesetzgebung zubeachtenden Verfassungsprinzipien zwei an derdemokratischen Willensbildung orientierte spe-zielle Gleichheitssätze hinzu: Politische Organi-sationen haben ein Recht auf Chancengleichheitim politischen Wettbewerb.47 Für politische Par-teien ergibt sich dies aus Artt. 3 I, 21 GG; fürWählervereinigungen sind die Artt. 3 I, 9, 28 IS. 2 GG maßgeblich. Der Gesetzgeber muss beijedem – auch nur mittelbaren – Eingriff in denBereich des politischen Wettbewerbes eine Ein-schränkung seines Gestaltungsspielraums aufdas Vorliegen zwingender Gründe für die Recht-fertigung einer Ungleichbehandlung achten.48

Der Staat darf also durch Steuervergünstigungenfür politische Zuwendungen die von ihm vorge-fundene politische Wettbewerbslage grundsätz-lich nicht in ins Gewicht fallender Art und Wei-se verzerren.49 Spiegelbildlich zum Recht aufChancengleichheit im politischen Wettbewerbhaben die Bürger nach Art. 3 I GG ein Recht aufgleiche Teilhabe an der politischen Willensbil-dung. Einschränkungen dieses Rechtes müssensich ebenfalls am strikten, formalen Gleichheits-satz messen lassen.50 Beide Grundrechte stehengrundsätzlich in einer Abhängigkeit zueinander.Ist das eine Grundrecht verletzt, so ist ohne dasHinzutreten korrigierender Elemente51 grund-

45 BVerfGE 8, 51, 63; 52, 63, 81 f.46 BVerfGE 8, 51, 64.47 BVerfGE 6, 273, 280; 8, 51, 62 f.; 24, 300, 357 f.; 52,

63, 84; 69, 92, 108; 78, 350, 358; 99, 69, 78.48 BVerfGE 8, 51, 68 f.; 24, 300, 360 f.; 52, 63, 88; 73,

40, 71; 121, 108, 122.49 BVerfGE 69, 92 109; 73, 40, 89; 85, 264, 297, 313;

99, 69, 78 f.; 121, 108, 123.50 BVerfGE 52, 63, 88; 69, 92, 107 f.; 99, 69, 78; 121,

108, 121 f.51 Ein Versuch, die strukturelle Benachteiligung kleiner

und die Interessen einkommensschwacher Schichtenvertretender Parteien durch die Gewährung einer Aus-gleichszahlung zu kompensieren, war die Einführung

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sätzlich auch das andere Grundrecht in nicht ge-rechtfertigter Weise beeinträchtigt.

Der Staat darf die politische Meinung der Bezie-her von Großeinkommen nicht in verstärktemMaße gegenüber der Meinung von Beziehernkleinerer Einkommen steuerlich prämieren.52

Wenn die Berücksichtigung der Zuwendungenauf Ebene der Bemessungsgrundlagenermittlungstattfindet, liegt eine volle Progressionswirksam-keit der Aufwendungen vor. Insbesondere dieAnknüpfung an einen bestimmten Prozentsatzder Einkünfte, des Umsatzes oder an eine zuhohe Obergrenze zur Bemessung der maximalabsetzbaren Zuwendungshöhe stellt einen nichtgerechtfertigten Eingriff dar.53 Durch das Zusam-mentreffen sehr hoher oder flexibler Obergren-zen für den Spendenabzug mit einem progressi-onswirksamen Zuwendungsabzug werden näm-lich die Bezieher hoher Einkommen in doppelterArt und Weise bevorzugt. Zum einen sind nursie in der Lage, hohe Obergrenzen wirklich aus-zuschöpfen, zum anderen erhalten sie durch dieeinkommensteuerliche Progression einen ver-hältnismäßig höheren Steuervorteil. Dies bewirkteine Anreizdiskrepanz zuungunsten der Bezieherkleinerer Einkommen.54 Von einer solch struktu-rellen Bevorzug von Großverdienern profitierentendenziell politische Organisationen, dieSchwerpunkte in der Wirtschafts- und Kapital-marktpolitik setzen.55 Die steuerliche Begünsti-gung politischer Zuwendungen muss also so aus-gestaltet sein, dass einer Mehrzahl der Steuer-pflichtigen die Möglichkeit eröffnet bleibt, invergleichbarer Weise an der Steuervergünsti-gung teilzuhaben.56 Die Gewährung steuerlicher

des sog. Chancenausgleichs nach § 22a PartG (vgl.hierzu BT-Drs. 10/697, 4). Hätte diese Regelung dieihr zugedachte Funktion erfüllt – da sie dies nicht tat,wurde sie durch BVerfGE 85, 264 für verfassungswid-rig erklärt –, wäre zwar die Chancengleichheit politi-scher Parteien gewahrt, ein Eingriff in das Recht zurgleichen Teilnahme an der politischen Willensbildungder Steuerpflichtigen jedoch immer noch denkbar ge-wesen.

52 BVerGE 8, 51, 69; 24, 300, 358 f.53 BVerfGE 52, 63, 91.54 BVerfGE 8, 51, 69; 73, 40, 72 f.; 85, 264, 316.55 BVerfGE 8, 51, 67.56 BVerfGE 52, 63, 91.

Vorteile für Zuwendungen natürlicher Personenan politische Parteien und Wählervereinigungenist demzufolge verfassungsrechtlich nur insoweitunbedenklich, als sich die Förderung auf Zuwen-dungen in einer auch für den durchschnittlichenEinkommensempfänger erreichbaren Größenord-nung beschränkt.57 Der Staat darf durch die steu-erliche Begünstigung von Spenden keine – wennauch durch Art. 21 I S. 4 GG offenzulegende –Gefahr der bestimmenden politischen Einfluss-nahme Einzelner fördern.58 Politische Spendenvon Körperschaften dürfen steuerlich nicht be-günstigt werden, da ansonsten diejenigen Perso-nen, welche hinter Körperschaften stehen, einezusätzliche Möglichkeit staatlich geförderterEinflussnahme auf die politische Willensbildungerhalten, welche den übrigen Bürgern vorenthal-ten bleibt. Die körperschaftsteuerliche Begünsti-gung von Parteispenden verstößt deshalb gegendas Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe an derpolitischen Willensbildung.59

Der Gesetzgeber muss die Unterschiede zwi-schen kommunalen Wählervereinigungen undpolitischen Parteien nicht außer Betracht lassen.Politische Parteien zeichnen sich durch eine vor-wiegend am Staatsganzen orientierte Politik miteiner dementsprechend starken Differenzierungvon Aufgaben und Organisation aus. Diesen kos-tenträchtigen Faktoren steht auf Seiten der kom-munalen Wählervereinigungen eine vorwiegendauf die Kommune zugeschnittene Organisation

57 BVerfGE 85, 264, 316.58 BVerfGE 73, 40, 83 f.59 Vgl. das Sondervotum BVerfGE 73, 40, 103 f. und

später dann 85, 264, 315. Das Gericht stellte nicht fest,ob die steuerliche Begünstigung politischer Spendenvon Körperschaften darüber hinaus eine Verletzungdes Rechts auf Chancengleichheit im politischen Wett-bewerb nach sich zieht. Da in Deutschland die GmbHmit Abstand die häufigste körperschaftsteuerpflichtigeRechtsform ist (in 2004 etwa 93 % aller Körperschaft-steuerpflichtigen, vgl. Bundesamt für Statistik, im In-ternet abrufbar unter http://offenedaten.de/package/de-statis-statistik-73211, zuletzt besucht am 15.02.2011)und deren Gründung mit hohen Kosten verbunden ist(vgl. § 5 I GmbHG), erscheint es – trotz der Möglich-keit, eine GmbH mit beliebig vielen Gesellschaftern zugründen – naheliegend, dass hinter den meisten Kör-perschaften eher gutverdienende Personengruppen ste-hen, welche diejenigen politischen Organisationen för-dern, die ihren Interessen am ehesten gerecht werden.

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gegenüber, welche sich in einem niedrigeren Fi-nanzbedarf widerspiegelt. Dementsprechendgreifen Differenzierungen zulasten der kommu-nalen Wählergemeinschaften, wenn sie nur einegeringe steuerliche Auswirkung haben, nicht inins Gewicht fallender Art und Weise in den poli-tischen Wettbewerb ein.60 So liegt keine unzuläs-sige Wettbewerbsverzerrung von Seiten desStaates vor, wenn die maximale steuerliche Aus-wirkung einer Steuervergünstigung von Zuwen-dungen an politische Parteien bei ca. 300 DM jeSteuerpflichtigen und Veranlagungszeitraumliegt.61 Jedoch sind kommunale Wählervereini-gungen in ihrem Recht auf politische Chancen-gleichheit verletzt, wenn sie von Zuwendungsre-gelungen ausgeschlossen sind, welche Spenden-abzüge über 100.000 DM zulassen.62 Ein ins Ge-wicht fallender Eingriff liegt auch vor, wenn derGesetzgeber kommunale Wählervereinigungenund ihre Dachverbände von einer Erbschaft- undSchenkungsteuerbefreiung ausschließt, welchefür Zuwendungen an politische Parteien gewährtwird. Die Wählervereinigungen sehen sich hin-sichtlich eines Teiles der eingeworbenen Zuwen-dungen mit einer Steuerlast konfrontiert.63 Aufder anderen Seite kann der Zuwendende mit sei-ner durch die Steuerlast geschmälerten Zuwen-dung nicht die gleiche Wirkung erzielen, wiederjenige, der die gleiche Summe an eine politi-sche Partei spendet, ist also in seinem Recht aufgleiche Teilhabe an der politischen Willensbil-dung verletzt.64

II. Der einkommensteuerliche Abzug vonSpenden an politische Parteien und Wähler-vereinigungen, §§ 10b II, 34g EStG

Spenden sind als Sonderausgaben nach § 2 IVEStG zu qualifizieren. Dies hat zur Folge, dasssich ihr Abzug auf der Ebene der Ermittlung dersteuerlichen Bemessungsgrundlage voll progres-sionswirksam auswirkt. Eine Ausnahme hiervonmacht § 34g EStG, der Zuwendungen an politi-sche Parteien und Vereine ohne Parteicharakter60 BVerfGE 69, 92, 110 f.61 BVerfGE 69, 92, 111.62 BVerfGE 78, 350, 361.63 BVerfGE 121, 108, 124, 126 f.64 BVerfGE 121, 108, 128 ff.

jeweils bis zur Höhe von 1.650 € direkt steuer-mindernd wirken lässt. Durch die Verlagerungdieser Zuwendungen aus dem Bereich der Ein-kommensermittlung hin zur festzusetzendenSteuer (§ 2 VI EStG) wird eine Progressionsneu-tralität der entsprechenden Aufwendungen er-wirkt. Die Durchbrechung der durch die Progres-sion zum Ausdruck gebrachten vertikalen Steu-ergerechtigkeit65 wird durch das Recht der Bür-ger auf gleiche Teilhabe an der politischen Wil-lensbildung und das Recht politischer Akteureauf Chancengleichheit gerechtfertigt. Erst Zu-wendungen, die nicht durch die Höchstbeträgedes § 34g EStG aufgebraucht sind, stellen bis zurHöhe von 1.650 € abzugsfähige Sonderausgabennach § 10b II EStG dar. Da § 34g EStG trotz sei-ner Stellung am Ende der Einkommensteuerer-mittlung vorrangig vor § 10b II EStG Anwen-dung findet, erscheint es sinnvoll, diesen zu-nächst zu erörtern und dann auf § 10b II EStGeinzugehen.

1. § 34g EStG

Die §§ 34g, 10b II EStG verwenden den Begriffder Zuwendung. Gemeint sind hiermit Spendenund Mitgliedsbeiträge. Nach § 34g S. 1, 2 EStGermäßigt sich die tarifliche Einkommensteuerbei Zuwendungen an politische Parteien iSd. § 2PartG und die dort bezeichneten Vereine ohneParteicharakter um 50 % der Zuwendungen,höchstens jedoch um jeweils 825 €. Wie sich ausS. 2 der Vorschrift ergibt, enthält die Norm zweivoneinander unabhängige Tatbestände, was zurFolge hat, dass ein Steuerpflichtiger sowohl fürZuwendungen an Parteien, als auch an Wähler-gemeinschaften jeweils eine Steuerermäßigungvon 825 € erzielen kann.

Der Begriff der Partei in § 34g S. 1 Nr. 1 EStGist durch Bezugnahme auf § 2 PartG hinreichendkonkretisiert. Es stellt sich jedoch die Frage, obder Begriff des Vereins ohne Parteicharaktersinnvoll gewählt wurde. Nach § 34g S. 1 Nr. 2S. 1 lit. a) EStG darf der Zweck des Vereins aus-schließlich die Teilnahme an Wahlen auf Bun-des-, Landes- oder Kommunalebene mit eigenen

65 Hierzu ausführlich Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd.2, 2. Aufl. 2003, 837 ff.

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Aufsätze Sören Lehmann – Politische Betätigung im Steuerrecht MIP 2011 17. Jhrg.

Wahlvorschlägen sein.66 Da § 2 I PartG jedochdie Wahlbeteiligung auf Bundes- oder Landes-ebene als Voraussetzung für die Anerkennungeiner Vereinigung als Partei nennt, ergibt sicheine Überschneidung. Der mit § 2 I PartG funk-tional abgegrenzte Parteibegriff ist auch aufWählergemeinschaften anzuwenden, die anWahlen auf Landes- und Bundesebene teilneh-men. Richtigerweise sind derartige Vereinigun-gen unabhängig von „entgegenstehenden Lip-penbekenntnissen“67 bei Erfüllung der übrigen in§ 2 PartG genannten Tatbestandsmerkmale alspolitische Parteien zu behandeln. Für die An-wendung des § 34g S. 1 Nr. 2 EStG verbleibenmithin nur Wählergemeinschaften auf kommu-naler Ebene.68

Diese auf den ersten Blick eher akademisch er-scheinende Differenzierung zeitigt gewichtigeFolgen, vergleicht man die nur für Wählerge-meinschaften geltenden Ausschlusskriteriennach § 34g S. 1 Nr. 2 S. 1 lit. b) S. 2 bis 4 EStGmit den Gründen für die Beendigung der Partei-eigenschaft nach § 2 II PartG. Nach § 34g S. 1Nr. 2 S. 1 lit. b) EStG muss der Verein ohne Par-teicharakter bei der jeweils letzten Bundestags-,Landtags- oder Kommunalwahl mindestens einMandat errungen haben, oder der jeweils zustän-digen Wahlleitung angezeigt haben, dass er beider jeweils nächsten entsprechenden Wahl miteigenen Wahlvorschlägen teilnehmen will. § 34gS. 1 Nr. 2 S. 2 EStG bestimmt, dass die Ermäßi-gung für Beiträge und Spenden bei Nichtteilnah-me an der jeweils nächsten Wahl nur für die biszum Wahltag geleisteten Spenden gewährt wird.

66 Nach BMF v. 16.06.1989, BStBl I 1989, 239 muss derZweck sich in erster Linie auf die in § 34g S. 1 Nr. 2EStG genannten politischen Ziele beschränkt sein. Diegelegentliche, beiläufige Durchführung geselliger Ver-anstaltungen ist jedoch unschädlich.

67 Morlok/Merten, DÖV 2011, 125, 132 f. gehen nocheinen Schritt weiter und fordern eine Einbeziehungauch kommunaler Wählergemeinschaften in den Par-teienbegriff.

68 Theede, Die Gemeinde SH 2007, 226, 228 f. unter-nimmt den Versuch, § 34g EStG durch verfassungs-konforme Auslegung auch für Zuwendungen an Orga-nisationen, die sich lediglich an Wahlen auf europäi-scher Ebene beteiligen, Bürgerinitiativen ohne Verein-scharakter und unabhängige Kandidaten auf Kommu-nalebene fruchtbar zu machen.

Nach S. 3 der Vorschrift wird die Ermäßigungnach vorhergehender Nichtteilnahme erst dannwieder gewährt, wenn der Verein sich mit eige-nen Wahlvorschlägen an einer Wahl beteiligthat; für diesen Fall sieht § 34g S. 1 Nr. 2 S. 4EStG eine Berücksichtigung von Beiträgen undSpenden erst nach dem Beginn des Jahres vor, indem die Wahl stattfindet. Nach § 2 II PartG ver-liert eine Partei ihre Rechtsstellung als Partei erstdann, wenn sie sechs Jahre lang weder an einerBundestags- oder Landtagswahl mit eigenenWahlvorschlägen teilgenommen hat. PolitischeParteien gelten also innerhalb einer Zeitspannevon sechs Jahren unabhängig von einer Wahl-teilnahme als begünstigte Empfänger, Wählerge-meinschaften hingegen müssen lückenlos anWahlen teilnehmen, um begünstigte Spenden-empfänger zu bleiben. Diese Ungleichbehand-lung scheint sich jedoch im verfassungsrechtlichzulässigen Rahmen zu bewegen, bedenkt man,dass das BVerfG 1988 die Einbeziehung kom-munaler Wählergemeinschaften in die politi-schen Spendentatbestände zu einer Zeit forderte,in der Zuwendungen an politische Parteien bisüber 100.000 DM steuerlich begünstigt waren.Das Gericht hatte den vorangegangenen Partei-spendentatbestand mit einer maximalen steuerli-chen Auswirkung von ca. 300 DM schließlichnoch als verfassungskonform bezeichnet. Dasheutige Spendensystem bewegt sich in seinenmöglichen steuerlichen Auswirkungen zwischendiesen beiden Polen, ist aber dennoch weit vonder 1988 geltenden Rechtslage entfernt. Da kom-munale Wählervereinigungen – insbesonderewenn sie nicht den gewünschten Wahlerfolg er-zielen – wegen ihrer meist geringeren organisa-torischen Verfestigung möglicherweise eher ge-neigt sind, sich in anderer Form oder auch nichtmehr zu engagieren, erscheinen die erhöhten An-forderungen an eine ernsthafte politische Betäti-gung als zulässige Ausübung des gesetzgeberi-schen Einschätzungsspielraumes.

2. § 10b II EStG

§ 10b II EStG gilt nur für Parteien im Sinne des§ 2 PartG. Er schließt kommunale Wählerverei-nigungen vollständig aus. Durch einen erhöhtensteuerlichen Anreiz wird so die politische Partei

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als Zuwendungsempfänger attraktiver. Die Dif-ferenzierung wird vor allem mit einem durch dielandes- bzw. bundespolitische Ausrichtung be-dingt höheren Finanzbedarf begründet. Vor demHintergrund eines gegenüber kommunalen Wäh-lervereinigungen tatsächlich höheren Finanzbe-darfes, sowie der Frage, ob Zuwendungen ankommunale Wählergemeinschaften unter dergeltenden Rechtslage überhaupt einer steuerli-chen Begünstigung nach § 10b II EStG bedürf-ten,69 erscheint die ausschließliche Einbeziehungpolitischer Parteien durchaus sachgerecht.70 Diean politische Parteien getätigten Zuwendungendürfen nach § 10b II EStG insgesamt bis zurHöhe von 1.650 € je Kalenderjahr abgezogenwerden, soweit sie nicht schon durch Anwen-dung des § 34g EStG verbraucht sind. Ein allein-stehender Steuerpflichtiger muss zur Erlangungeiner höchstmöglichen Steuerentlastung also3.300 € an politische Parteien und 1.650 € ankommunale Wählergemeinschaften spenden.

III. Aufwendungen zur Förderung staatspoli-tischer Zwecke, § 4 VI EStG

Nach § 4 IV EStG sind Betriebsausgaben alleAufwendungen, die durch den Betrieb verursachtsind. Für den Bereich der Überschusseinkünftenimmt § 9 I EStG eine Definition der Werbungs-kosten als Aufwendungen zur Erwerbung, Siche-rung und Erhaltung der entsprechenden Einnah-men vor. Zuwendungen an politische Parteienund Wählervereinigungen können also demGrunde nach als Werbungskosten oder Betriebs-ausgaben zu qualifizieren sein, wenn sie einenVeranlassungszusammenhang zu entsprechen-den Einnahmen aufweisen. § 4 VI EStG – derüber § 9 V EStG für den Bereich der Über-schusseinkünfte entsprechende Anwendung fin-det – sagt jedoch unter Bezugnahme auf § 10b II

69 Die sich aus der Anwendung von § 10b II EStG maxi-mal ergebende Steuerersparnis für einen Alleinstehen-den beträgt heute 1.650 € x 47,48 % (derzeitiger Spit-zensteuersatz aus ESt und SolZ) = 783,42 €. DieserBetrag als der maximal mögliche Vorteil politischerParteien und ihrer Gönner ist in Anbetracht der zwi-schenzeitlichen Geldentwertung nicht weit von der ca.300 DM betragenden maximalen Steuerersparnis nachder Rechtslage 1985 entfernt.

70 A.A. Theede, Die Gemeinde SH 2007, 226, 227.

EStG,71 dass Aufwendungen zur Förderungstaatspolitischer Zwecke keine Betriebsausgabensind. Da sich der Betriebsausgabenbegriff nacheinem einnahmeorientierten Veranlassungszu-sammenhang richtet, Spenden jedoch als freiwil-lig-altruistisch zu qualifizieren sind, scheint dieNorm rein deklaratorischer Natur zu sein.72 Dashat zur Folge, dass Aufwendungen dann weiter-hin als Betriebsausgaben bzw. Werbungskostenabzugsfähig sein können, wenn sie erwerbsnüt-zig sind. Dieses Verständnis begegnet jedochtiefgreifenden Bedenken. Ein unbeschränkterAbzug dieser Aufwendungen würde zu einersteuerlich unbegrenzten Begünstigung führen,mit der Folge, dass das oben geschilderte, amProzess demokratischer Willensbildung ausge-richtete Interessengefüge in Schieflage geriete.Denn es ist naheliegend, dass sich politische Ak-teure durch Zahlungen von privatwirtschaftlicherSeite in Abhängigkeiten begeben können. Ebendiese Verlagerung politischer Aktivitäten zu-gunsten der zahlenden Klientel, welche sichletztlich ein – wie auch immer geartetes – ver-bessertes Klima zur Einnahmeerzielung erkaufte,wäre ja die Minimalvoraussetzung im Sinne ei-nes Veranlassungszusammenhangs für einenWerbungskosten- oder Betriebsausgabenabzug.Die Rechtsprechung des BVerfG, zu deren ef-fektiver Umsetzung auch die durch die Erwerbs-tätigkeit motivierten Aufwendungen für politi-sche Zwecke einbezogen werden müssen, würdekonterkariert. Eine Grenze für die unbeschränktesteuerliche Begünstigung stellten dann lediglichdie Beschränkungen des § 4 V EStG dar. Ein un-eingeschränkter Abzug liefe dem für politischeParteien nach § 25 II Nr. 7 PartG geltenden An-nahmeverbot für Spenden, die erkennbar in Er-wartung oder als Gegenleistung eines bestimm-ten wirtschaftlichen oder politischen Vorteils ge-währt werden, zuwider. Sie würde ein auf Emp-fängerseite verbotenes Verhalten auf Seite desLeistenden sogar noch steuerlich begünstigen,was vor dem Hintergrund der Einheit der

71 Aus Gründen der Gleichbehandlung sind auch Auf-wendungen nach § 34g EStG in die Norm hineinzule-sen, vgl. Kirchhof/Geserich in: Kirchhof/Söhn/Mellin-hoff (Hrsg.), EStG Bd. 15, § 34g Rn. A 41.

72 So auch die Ansicht der Innenausschussmehrheit, BT-Drs. 10/697, 7.

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Rechtsordnung73 nicht wünschenswert erscheint.Die Rechtsprechung löst das Problem derscheinbaren Inhaltslosigkeit des § 4 VI EStG miteiner Qualifizierung politisch motivierter Auf-wendungen als gemischter, nicht aufteilbarer,nicht abziehbarer Aufwand der privaten Lebens-führung nach § 12 Nr. 1 S. 2 EStG.74 Sie vermaghiermit die allgemein auf die Verbesserung desrechtlichen, wirtschaftlichen und tatsächlichenRahmen abzielenden Aufwendungen aus demBetriebsausgabenbegriff auszuscheiden. Dies er-fährt vor dem Hintergrund der aktuell geführtensog. „Sponsoringdebatte“ besondere Bedeutung.Sponsoring im klassischen Sinne wird als „dieGewährung von Geld oder geldwerten Vorteilendurch Unternehmen zur Förderung von Perso-nen, Gruppen und/oder Organisationen in … be-deutsamen gesellschaftspolitischen Bereichen,mit der regelmäßig auch eigene unternehmens-bezogene Ziele der Werbung oder Öffentlich-keitsarbeit verfolgt werden“75 verstanden. Einsolch echtes Sponsoring stellt unproblematischBetriebsausgaben dar. Da den Aufwendungen imvorliegenden Fall jedoch regelmäßig keine solchwerbende Gegenleistung gegenübersteht, dieMotivation hierzu mithin in einem privaten bzw.nur mittelbar über eine politische Einflussnahmeliegenden betrieblichen Interesse besteht, könnensie nicht als echtes Sponsoring verstanden wer-den und müssen nach § 12 Nr. 1 S. 2 EStG alsnicht abzugsfähig behandelt werden.76 Jedochfindet diese Auffassung kaum Antworten aufFälle, in denen der Leistung einer politischenAufwendung ein handfester wirtschaftlicherVorteil gegenübersteht; es sei nur erinnert an diemillionenschweren Zuwendungen aus der Hotel-branche und den im Anschluss hieran verab-schiedeten ermäßigten Umsatzsteuersatz für Be-herbergungsumsätze nach § 12 Nr. 11 UStG.77 In

73 Vgl. hierzu grundlegend Baldus, Die Einheit derRechtsordnung, 1995.

74 BFH BStBl II 1986, 373.75 BMF v. 18.02.1998, BStBl I 1998, 212.76 Hey, Parteiensponsoring aus steuerrechtlicher Sicht, in:

Morlok/von Alemann/Streit (Hrsg.), Sponsoring – einneuer Königsweg der Parteienfinanzierung?, 2006,107, 113 f., 117.

77 Hierzu Autor n.n., Hoteliers und Parteien: Große Ge-schenke erhalten die Freundschaft, Spiegel-Online v.

derartigen Fällen wird der Rückgriff auf eine pri-vate Mitveranlassung schwieriger. Wenngleiches oftmals an einem nachweisbaren Kausalzu-sammenhang fehlt, sind dennoch Fälle denkbar,in denen an der Kausalität von Leistung und Ge-genleistung kaum Zweifel bestehen können.Dann könnte eine betriebliche Veranlassung derAufwendungen vorliegen mit der Folge, dassnach geltender Rechtslage ein Betriebsausgaben-abzug möglich erscheint. Eine verfassungskon-forme Auslegung des § 4 VI EStG scheitert andessen ausdrücklicher Bezugnahme auf§ 10b II EStG. Eine Anwendung von§ 12 Nr. 1 S. 2 EStG auch bei vollständig be-triebsdienlichen Aufwendungen erscheint nichtsachgerecht und strapaziert die Vorschrift nurüber ihre bisherigen Abgrenzungsproblematikenhinaus. Zwecks Schaffung von Rechtsklarheitund zur Vermeidung von Widersprüchen sollte§ 4 VI EStG deshalb dahingehend neu gefasstwerden, dass er eine Umqualifizierung auch der-jenigen politischen Aufwendungen vornimmt,welche ausschließlich durch die Einnahmeerzie-lung motiviert sind. So fände trotz eines eventu-ell gegebenen Veranlassungszusammenhangszwischen Aufwendungen im politischen Bereichund der Generierung von Einnahmen eine Weg-verlagerung aus der einnahmemotivierten Sphärestatt, um eine klare Trennlinie zwischen politi-scher Einflussnahme und einnahmeorientierterBetätigung zu ziehen. Eine solche Durchbre-chung des objektiven Nettoprinzips ließe sichgut mit dem oben aufgezeigten spezifischen Ge-fährdungspotenzial der geltenden Rechtslagerechtfertigen.78

17.01.2010, im Internet abrufbar unter http://www.-spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,672409,00.html,zuletzt besucht am 11.02.2011. Zwar würde ein be-günstigter Umsatzsteuersatz im Allphasen-Nettosystemder Umsatzsteuer keine Mehreinnahmen für die Hote-liers bedeuten; dass sich der ermäßigte Umsatzsteuer-satz in jedem Falle auf die Endpreise der Hotelzimmerauswirkt, kann man jedoch bezweifeln.

78 Ebenfalls der Meinung, § 4 VI EStG ginge nicht weitgenug Tipke, StuW 1985, 279, 285.

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IV. Wegfall der Körperschaftsteuerbefreiungfür Berufsverbände bei Zuwendungen an po-litische Parteien, § 5 I Nr. 5 S. 2 lit. b), S. 4KStG

Nach § 5 I Nr. 5 S. 1 KStG sind Berufsverbändeohne öffentlich-rechtlichen Charakter sowiekommunale Spitzenverbände auf Bundes- oderLandesebene einschließlich ihrer Zusam-menschlüsse, deren Zweck nicht auf einen wirt-schaftlichen Zweckbetrieb gerichtet ist, von derKörperschaftsteuer befreit. Seit 1994 sieht § 5 INr .5 S. 2 KStG einen vollständigen Ausschlussder Steuerbefreiung vor, wenn Berufsverbändemehr als 10 Prozent ihrer Einnahmen für die un-mittelbare oder mittelbare Unterstützung oderFörderung politischer Parteien verwenden. DerBerufsverband verliert damit seinen Status alsbegünstigtes Steuersubjekt. Die Unterstützungoder Förderung politischer Parteien jedwederHöhe führt nach § 5 I Nr. 5 S. 4 KStG zu einerpauschalisierten Körperschaftsteuer in Höhe von50 Prozent der Zuwendungen. Die Norm sollteihrem Zweck nach weit verstanden und auch aufZuwendungen an kommunale Wählervereinigun-gen angewandt werden.

Zwar stehen die Verfolgung allgemeinpolitischerZiele sowie die Einnahme wirtschafts- oder sozi-alpolitischer Grundeinstellungen, welche allge-meine Belange des Berufs- oder Wirtschafts-zweiges berühren, der Steuerbefreiung nicht ent-gegen,79 jedoch wirken sich Zuwendungen, dieBerufs- oder andere von der Vorschrift erfassteVerbände an politische Parteien tätigen, direktnegativ auf deren steuerlichen Status aus. Auslö-ser dieser starken Einschränkung der Steuerfrei-heit war das Urteil des BVerfG vom 09.04.1992.80

Das Gericht erklärte die bis dahin vom BFHpraktizierte Rechtspraxis,81 die Steuerbefreiungdes Berufsverbands unberührt zu lassen, soweitdieser durch einmalige oder laufende Zahlungen,

79 BFH BStBl III 1952, 221, 223; BStBl II 1981, 368;BStBl II 1982, 465; Jäger/Lang, Körperschaftsteuer17. Aufl. 2005, 541.

80 BVerfGE 85, 264, 318.81 Vgl. das grundlegende Rechtsgutachten des BFH BSt-

Bl III 1952, 228; kritisch hierzu List, BB 1984, 460; zuWidersprüchlichkeiten des Gutachtens Groh, NJW1985, 993, 995.

die keinen erheblichen Teil seiner Einnahmenausmachten, Einfluss auf die politische Willens-bildung nahm, für verfassungswidrig. Begründetwurde die Entscheidung mit der Gefahr einermittelbar politischen, steuerlich geförderten Ein-flussnahme auch über die Spendenhöchstbeträgehinaus. Zwar sind derartige mittelbare Einfluss-nahmen auf die politische Willensbildung wegender unverändert vollen Abzugsfähigkeit der Bei-träge auf Seiten des Verbandsmitglieds auchheute noch steuerlich begünstigt, die erhöhteKörperschaftsteuer, die der leistende Berufsver-band auf der anderen Seite auf die Zuwendungentrichten muss, führt jedoch zu einer Kompen-sation des Steuervorteils.82

Der vollständige Wegfall der Steuerbefreiungnach § 5 I Nr. 5 S. 2 lit. b) KStG sowie die hoheKörperschaftsteuer auf Zuwendungen an politi-sche Parteien sprechen dafür, dass vorliegendkeine Steuerquelle erschlossen, sondern die Ver-wendung von Mitteln der Berufsverbände zu-gunsten politischer Parteien wirksam verhindertwerden soll.83 Diese gesetzgeberische Gestaltungstellt in Kombination mit dem Verbot der An-nahme von Durchlaufspenden nach § 25 II Nr. 4PartG auf den ersten Blick ein wirksames Mittelzur Verminderung der politischen Einflussnah-me der Berufsverbände dar, begegnet jedoch an-gesichts der nach wie vor hohen Spendenbereit-schaft der Berufsverbände Bedenken.84 Das An-liegen der Norm, Steuervorteile auf Seiten desVerbandsmitglieds zu kompensieren, mag zwarerfüllt sein; rechtspolitisch ist jedoch zu erwä-gen, ob das Recht juristischer Personen, Zuwen-dungen in unbegrenzter Höhe an Parteien zu täti-gen, nicht noch einmal grundsätzlich diskutiertwerden müsste.85

82 BT- Drs. 12/5574, 20.83 Dies nur hinsichtlich des § 5 I Nr. 5 S. 4 KStG feststel-

lend: Frotscher in: Frotscher/Maas (Hrsg.), KStG Bd.1, § 5 Rn. 82 c.

84 Schütz, Wie käuflich ist die Republik?, Stern vom28.12.2010 im Internet abrufbar unter http://www.s-tern.de/politik/deutschland/spenden-lobbyismus-kun-gelei-wie-kaeuflich-ist-die-republik-1638052.html, zu-letzt aufgesucht am 10.02.2011, zählt diverse Zuwen-dungen des Jahres 2009 auf.

85 Vgl. aber BVerfGE 85, 264.

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V. Erbschaft- und Schenkungsteuerfreiheitvon Zuwendungen an politische Parteien undWählergemeinschaften, § 13 Nr. 18 ErbStG

Mit der einkommen- und körperschaftsteuerli-chen Behandlung von Zuwendungen an politi-sche Parteien und Wählergemeinschaften istzwar die Berücksichtigung auf Seiten des Gebersgeklärt, offen bleibt jedoch die Frage nach dersteuerlichen Wirkung der Zuwendungen aufEmpfängerseite. Nach § 1 I Nr. 1, 2 ErbStG stel-len Erwerbe von Todes wegen sowie Schenkun-gen unter Lebenden grundsätzlich erbschaft- undschenkungsteuerpflichtige Vorgänge dar. So-wohl politische Parteien als auch Wählergemein-schaften können nach § 1923 BGB Erben sein.Um eine Steuerpflicht politisch motivierter Ver-mögenszuwendungen zu vermeiden, sieht § 13 INr. 18 ErbStG eine Steuerbefreiung vor. Zuwen-dungen an politische Parteien sind hiernach vonder Steuerpflicht befreit, wenn diese die Kriteri-en des § 2 PartG erfüllen. § 13 I Nr. 18 lit. b)ErbStG stellt – angelehnt an die Tatbestands-merkmale des § 34g EStG – Zuwendungen anVereine ohne Parteicharakter von der Steuer frei.Hier gilt das zu § 34g S. 1 Nr. 2 S. 1 EStG Ge-sagte: Durch die Bezugnahme auf Bundestags-und Landtagswahlen kommt es zu einer Über-schneidung mit dem funktionalen Parteibegriffdes § 2 I PartG, so dass von § 13 I Nr. 18 lit. b)ErbStG nur kommunale Wählervereinigungen er-fasst sind. § 13 I Nr. 18 lit. b) S. 2 ErbStG siehteinen sog. Nachsteuervorbehalt für Zuwendun-gen an eine Wählergemeinschaft vor, wenn derVerein an der jeweils nächsten Wahl nach derZuwendung nicht teilnimmt, es sei denn, dass ersich ernsthaft um eine Teilnahme bemüht hat.86

Ein nach einer Wahl zunächst steuerfreier Er-werb kann also mit Wirkung für die Vergangen-heit steuerpflichtig werden. Die verschärften An-forderungen für Zuwendungen an kommunaleWählergemeinschaften finden ebenso wie dieEinschränkungen des § 34g EStG ihren Grundim Bestreben einer Förderung von dauerhafter,

86 Derartige Bemühungen sollen objektiv feststellbarsein; denkbar wäre z.B. ein Verfehlen der notwendigenZahl der Unterschriften für einen Wahlvorschlag, vgl.BT- Drs. 11/11107, 9.

ernsthafter politischer Betätigung und erscheinendeshalb gerechtfertigt.

Nur unmittelbare Zuwendungen an die Parteibzw. Wählergemeinschaft zu deren freier, sat-zungsmäßiger Verfügung sind steuerbefreit. Zu-wendungen, die durch eine ausdrückliche Aufla-ge des Zuwendenden, sie etwa ausschließlich zurFörderung eines bestimmten Kandidaten zu ver-wenden, der freien Verwendungsmöglichkeit aufSeiten des Empfängers entzogen sind, fallennicht unter die Befreiung.87 Diese können aufSeiten des mit der Auflage Bedachten einensteuerpflichtigen Vorgang darstellen, §§ 7 INr. 2, 3 II Nr. 2 ErbStG. Allgemein für denWahlkampf der Partei oder Wählergemeinschaftgedachte Zuwendungen sind als Zweckzuwen-dungen nach § 8 ErbStG ebenfalls nicht befreit.Unverbindliche Verwendungswünsche auf Sei-ten des Gebers sind jedoch unschädlich.88 Vonder Befreiung erfasst sind auch Zuwendungen,die an Abgeordnete oder Kandidaten mit der An-weisung gegeben werden, diese an die Parteibzw. Wählergemeinschaft weiterzuleiten, da indiesen Fällen die Bereicherung auf Seiten derPartei anfällt, §§ 7 I Nr. 2, 3 II Nr. 2 ErbStG. Da§ 13 I Nr. 18 ErbStG von Zuwendungen sprichtund hiermit auch Mitgliederbeiträge meint, greiftder pauschale Steuerfreibetrag für Mitgliederbei-träge nach § 18 S. 1 ErbStG nicht, § 18 S. 2ErbStG.

E. Sonstige steuerliche Berührungspunkte

I. Politik und gemeinnützige Zwecke, § 52 IIS. 1 Nr. 7, 13, 24 AO

Das Gemeinnützigkeitsrecht ist Ausdruck staatli-cher Anerkennung einer dem Gemeinwohl imweitesten Sinne dienenden nichtstaatlichen Tä-tigkeit. Allgemein lässt sich festhalten, dass ge-meinnützige Körperschaften vielfach Aufgabenerfüllen, die sonst Bund, Länder und Gemeindenim Interesse der Bürger wahrnehmen müssten.Vom Gemeinnützigkeitsstatus einer Körper-

87 FinMin NRW v. 14.11.1985, DB 1986, 621.88 Kein-Hümbert in: Moench/Weinmann (Hrsg.), ErbStG,

§ 13 Rn. 112; Meincke, ErbStG, 14. Aufl. 2010, § 13Rn. 57.

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schaft hängen viele Steuererleichterungen und-befreiungen ab. Im Folgenden soll ein Über-blick über das „Ob“ der Gemeinnützigkeit fürpolitische Betätigungen im weitesten Sinne ge-geben werden.89

1. Grundlagen

Die §§ 51 bis 68 AO regeln die steuerliche Be-handlung solcher Körperschaften, die steuerbe-günstigte Zwecke im gemeinnützigen, mildtäti-gen oder kirchlichen Bereich verfolgen. Alle vonden Vorschriften umfassten Körperschaftenmüssen nach den §§ 55 bis 57 AO ihre Zweckeselbstlos, ausschließlich und unmittelbar verfol-gen. Nach § 52 I S. 1 AO verfolgt eine Körper-schaft gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätig-keit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit aufmateriellem, geistigem oder sittlichem Gebietselbstlos zu fördern. S. 2 der Vorschrift stelltklar, dass an den Begriff der Allgemeinheit hoheAnforderungen zu stellen sind. So ist keine För-derung der Allgemeinheit gegeben, wenn derKreis der Personen, die gefördert werden, festabgeschlossen ist, oder aufgrund besonderer Ab-grenzung, wie z.B. nach räumlichen oder berufli-chen Merkmalen dauerhaft nur klein sein kann.§ 52 II S. 1 AO stellt einen Katalog von unterden Voraussetzungen des Absatzes 1 förderungs-würdigen Körperschaften auf.

2. Anwendungsbereich des § 52 II S. 1 Nr. 24AO

Nach § 52 II S. 1 Nr. 24 AO ist die allgemeineFörderung des demokratischen Staatswesens imGeltungsbereich der AO als gemeinnützig anzu-erkennen. Die Einschränkung auf den Geltungs-bereich der AO erscheint doppeldeutig. Einer-seits könnte hiermit eine Bezugnahme auf dieFörderungshandlung gemeint sein, andererseitskönnte sich die Einschränkung auf die Förderungeines Staatswesens im Geltungsbereich der AObeziehen. Vor dem Hintergrund des Wortlautes,

89 Nicht behandelt wird hingegen das „Wie“ der Gemein-nützigkeit, also die jeweiligen einzelsteuerrechtlichenFolgen. Vgl. hierzu ausführlich Schauhoff (Hrsg.),Handbuch der Gemeinnützigkeit, 3. Aufl. 2010, 430 ff,823 ff.; Buchna, Gemeinnützigkeit im Steuerrecht, 9.Aufl. 2008, 448 ff.

der auf die Förderung des demokratischenStaatswesens und nicht auf die Förderung einesStaatswesens rekurriert, erscheint es sachgerecht,nur die Förderung des inländischen demokrati-schen Staatswesens unter die Norm zu subsu-mieren.90 Diese Form der Auslegung steht imÜbrigen im Einklang mit § 51 II AO, dessen An-wendbarkeit bei Anknüpfung an eine inländischeFörderungsaktivität kraft Spezialität ausge-schlossen wäre. Da er jedoch anwendbar bleibt,ist auch die im Ausland durchgeführte Förderungdes inländischen demokratischen Staatswesensbegünstigt, sofern sie natürlichen Personen mitWohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im In-land zugute kommt oder zum Ansehen der Bun-desrepublik Deutschland im Ausland beitragenkann. Die Förderung eines ausländischen demo-kratischen Staatswesens kann jedoch ebenso wiedie Förderung der europäischen Integration u.U.als Förderung internationaler Gesinnung, der To-leranz auf allen Gebieten der Kultur und desVölkerverständigungsgedankens im Sinne von§ 52 II S. 1 Nr. 13 AO angesehen werden. Sofernman sie nicht dort verortet, ist jedenfalls über dieAnwendung der Öffnungsklausel nach § 52 IIS. 2, 3 AO nachzudenken, nach der eine Betäti-gung, welche zwar nicht unter den Katalog des§ 52 II S. 1 AO fällt, die Allgemeinheit jedochauf materiellem, geistigem oder sittlichen Gebietentsprechend selbstlos fördert, für gemeinnützigerklärt werden kann.

3. Keine Förderung politischer Zwecke

Die finanzielle Unterstützung politischer Partei-en widerspricht unabhängig von ihrer Höhe nach§ 55 I Nr. 1 S. 3 AO dem Selbstlosigkeitserfor-dernis. Von der allgemeinen Förderung des de-mokratischen Staatswesens abzugrenzen ist dieFörderung politischer Zwecke durch Einfluss-nahme auf die politische Meinungsbildung oderdie Förderung politischer Parteien. Insoweit liegtkein gemeinnütziger Zweck vor.91 Vor diesemHintergrund ist der vielfach bei parteinahen Stif-tungen anzutreffende Gemeinnützigkeitsstatus

90 So auch Uterhark in: Schwarz (Hrsg.), AO Bd. 1, § 52Rn. 42.

91 § 52 Rn. 15 AEAO 2009, BFH NV, 91, 485.

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kritisch zu betrachten.92 Ein Gemeinnützigkeits-status ist insgesamt und nicht nur teilweise imHinblick auf nicht begünstigte Tätigkeiten zuversagen. Politische Stiftungen sollten wegen ih-res engen Verhältnisses zu den politischen Par-teien aus dem Gemeinnützigkeitsbegriff ausge-schieden werden, solange sie diese finanzielloder faktisch unterstützen, um eine Umgehungder Spendenhöchstbeträge nach § 10b II EStG zuverhindern.93

Sofern nur bestimmte Einzelinteressen staatsbür-gerlicher Art verfolgt werden oder sich die allge-meine Förderung des demokratischen Staatswe-sens auf den kommunalpolitischen Bereich be-schränkt, scheidet gemäß § 52 II S. 1 Nr. 24Hs. 2 AO die Förderungswürdigkeit aus. DerGemeinnützigkeitsausschluss von auf den kom-munalpolitischen Bereich beschränkten Bestre-bungen findet seinen Grund in einer möglichenVermischung persönlicher Interessen und politi-scher Betätigung.94 Da § 55 I Nr. 1 S. 3 AO nurfür politische Parteien gilt, stellt die Norm einenotwendige Ergänzung im Hinblick auf denAusschluss kommunaler Wählervereinigungendar. Der Begriff „kommunalpolitische Bestre-bungen“ sollte deshalb dahingehend eng verstan-den werden, dass ihm nur die Förderung aktivpolitischer Bestrebungen unterfallen.

Da § 51 III AO eine Steuervergünstigung für sol-che Organisationen, welche Bestrebungen imSinne des § 4 BVerfSchG fördern oder dem Ge-danken der Völkerverständigung zuwiderlaufen,von vornherein ausschließt, ist die Förderung ex-tremistischen Gedankenguts nicht gemeinnützig.

92 Sikora, Politische Stiftungen – vita activa der Parteipo-litik oder vita contemplativa der politischen Erkennt-nis?, 1997, 62 f. zählt einige Beispiele für die aktiveFörderung politischer Parteien durch die ihnen nahe-stehenden Stiftungen auf.

93 A.A. Merten, Parteinahe Stiftungen im Parteienrecht,52 f., die für eine Entscheidung zugunsten der Gemein-nützigkeit parteinaher Stiftungen auf deren politischmotivierte Bildungsarbeit, nicht jedoch auf eine Gefahrder Umgehung des § 10b II EStG durch sonstiges ge-meinnützigkeitsschädliches Verhalten abstellt.

94 So auch v. Wallis, DStZ 1983, 135; ähnlich Tipke in:Tipke/Kruse (Hrsg.), AO/FGO Bd. 1, § 52 Rn. 51m.w.N.

4. Tätigkeit der Körperschaft; Abgrenzungzu § 52 II S. 1 Nr. 7 AO

Eine Förderung des demokratischen Staatswe-sens ist nur gegeben, wenn sich die Körperschaftumfassend, objektiv und neutral mit demokrati-schen Grundprinzipien beschäftigt. Diese lassensich unmittelbar aus dem GG entnehmen.95 Einezur Zweckvermittlung gelegentlich vorgenom-mene Äußerung zu tagespolitischen Themen istunschädlich, sofern Tagespolitik nicht den Mit-telpunkt der Tätigkeit einer Körperschaft dar-stellt.96

Sofern der Zweck einer Körperschaft auf dieFörderung der neutralen politischen Bildung ge-richtet ist, kann eine gemeinnützige Förderungder Volksbildung nach § 52 II S. 1 Nr. 7 AO inBetracht kommen. Eine derartige Begünstigungist für Fälle der unreflektierten Indoktrinationoder der parteipolitisch motivierten Einflussnah-me ausgeschlossen,97 wobei eine völlige Wert-neutralität jedoch nicht erforderlich erscheint.

II. Aberkennung der Amtsfähigkeit undWählbarkeit als Nebenfolgen bei Begehungbestimmter Steuerstraftaten, § 375 I AO

§ 375 I AO sieht für bestimmte Steuerstraftatendie Möglichkeit der gerichtlichen Verhängungstrafrechtlicher Nebenfolgen nach § 45 II StGBvor. Neben einer Freiheitsstrafe von mindestenseinem Jahr wegen Steuerhinterziehung (§ 370AO), Bannbruchs (§§ 372 II, 373 AO), Steuer-hehlerei (§ 374 AO) oder der Begünstigung dergenannten Steuerstraftaten (§ 369 I Nr. 4 AO,§ 257 StGB) kann das Gericht die Fähigkeit, öf-fentliche Ämter zu bekleiden, und das passiveWahlrecht nach § 45 II StGB für die Dauer vonzwei bis fünf Jahren aberkennen. Dass Amtsfä-higkeit und Wählbarkeit im vorliegenden Fallnur zusammen aberkannt werden können, ergibtsich bereits aus dem Wortlaut des § 375 I AO.98

95 Beispiele nennen Felix/Streck, DStZ 1984, 79.96 BFH BStBl II 1984, 844; FG Köln EFG 96, 1091.97 BFH BStBl II 2000, 200.98 Dumke in: Schwarz (Hrsg.), AO Bd. 4, § 375 Rn. 4;

Wannemacher/Meyer in: Beermann/Gosch (Hrsg.),AO/FGO Bd. 3, § 375 Rn. 7, 8; a.A. Joecks in: Fran-zen/Gast/Joecks (Hrsg.), Steuerstrafrecht, 7. Aufl.

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MIP 2011 17. Jhrg. Sören Lehmann – Politische Betätigung im Steuerrecht Aufsätze

Auch der Normzweck, die Staatsautorität vor derRepräsentation durch ungeeignete Personen zuschützen, spricht hierfür. Anordnung und Dauerdes Rechtsstellungsverlustes stehen – anders alsdie von Gesetzes wegen eintretenden Rechtsfol-gen des § 45 I StGB – im Ermessen des Straf-richters.

Öffentliche Wahlen im Sinne des § 375 AO sindalle Wahlen in öffentlichen Angelegenheiten,also Wahlen zu Volksvertretungen ebenso wieWahlen zu Organen öffentlich-rechtlich funktio-naler Selbstverwaltungskörperschaften. DieWählbarkeit in privatrechtlichen und kirchlichenVerhältnissen wird jedoch nicht von § 375 I AOberührt. Dies hat gleichwohl nicht zur Folge,dass derjenige, der von seinem öffentlich-rechtli-chen Passivwahlrecht ausgeschlossen ist, seinepolitische Einflussnahme – und hiermit letztlichauch eine zumindest mittelbar öffentlich-rechtli-che Repräsentationsmöglichkeit – durch dieWahl zu einem Organ einer politischen Parteibehalten kann. Denn nach § 10 I S. 4 PartG kannMitglied einer Partei nicht sein, wer infolge ei-nes Richterspruches kein aktives oder passivesWahlrecht besitzt.99 Nicht auszuschließen wäreeine derartige Konstellation jedoch für kommu-nale Wählergemeinschaften, die mangels Partei-status bisher nicht unter § 10 I S. 4 PartG fallen.Obwohl viele kommunale Wählergemeinschaf-ten für derartige Fälle Regelungen in ihren Sat-zungen treffen,100 erscheint eine gesetzgeberischeLösung des Problems zwecks einheitlicherRechtsanwendung sinnvoll.

F. Zusammenfassung

Politische Betätigung wird durch das Steuerrechtin vier verschiedenen Bereichen geregelt. Den

2009, § 375 Rn. 11; Kutzner in: Kohlmann (Hrsg.),Steuerstrafrecht Bd. 1, § 375 Rn. 24 mwN.

99 Siehe hierzu den Beitrag von J. Oelbermann „Automa-tischer Verlust der Parteimitgliedschaft für verurteilteKriminelle – Sinn und Unsinn einer solchen Regelung“in diesem Heft.

100 Vgl. z.B. die Satzungen der Freien Wähler Burgenland(§ 11) oder des Bürgerbundes Bad Doberan (§ 22), unterhttp://www.freie-waehler-burgenlandkreis.de/ueber.phpund http://www.buergerbund.com/html/satzung.html on-line abrufbar, zuletzt besucht am 11.02.2011.

ersten Komplex stellt die Besteuerung politi-scher Organisationen dar. Politische Parteienund Wählergemeinschaften sind nach § 5 I Nr. 7KStG sachlich von der Körperschaftsteuer be-freit. Diese Befreiung deckt alle Aktivitäten ab,soweit kein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb un-terhalten wird. Umsatzsteuerlich unterscheidensich politische Organisationen im Außenbereichnicht von sonstigen Unternehmern, sie könnensteuerbare und steuerpflichtige Umsätze tätigen.Zwischen den Unterorganisationen einer politi-schen Partei getätigte steuerbare Umsätze sindregelmäßig nach § 4 Nr. 18a UStG steuerbefreit.Die Vorschrift ist aus Gründen politischerGleichbehandlung auf kommunale Wählerverei-nigungen und ihre Dachverbände entsprechendanzuwenden. Angesichts der aktuellen EuGH-Rechtsprechung ist jedoch zweifelhaft, ob über-haupt noch ein Anwendungsbereich besteht.

Der zweite Bereich steuerlich geregelter politi-scher Betätigung umfasst die Besteuerung politi-scher Akteure. Diese ist auf Kommunalebene an-ders ausgestaltet, als auf Landes-, Bundes- oderEuropaebene. Kommunale Wahlbeamte erzielenregelmäßig Einkünfte aus selbständiger Arbeit,Abgeordnete auf höheren Ebenen beziehen sons-tige Einkünfte. Beide Gruppen erhalten steuer-freie Einnahmen nach § 3 Nr. 12 EStG. Die steu-erfreie Aufwandspauschale nach § 3 Nr. 12 S. 1EStG wird trotz ihrer Verfassungswidrigkeitnach wie vor gewährt, ist aber aus diesem Grun-de im engest möglichen Sinne zu verstehen. FürAufwendungen sind die Abzugsverbote nach§§ 3c I, 22 Nr. 4 S. 2 EStG zu beachten. Andersals auf kommunaler Ebene unterliegen Wahl-kampfkosten von Landes-, Bundes- und Europa-abgeordneten dem Abzugsverbot nach § 22 Nr. 4S. 3 EStG.

Die steuerliche Regelung von Zuwendungen anpolitische Organisationen stellt den dritten Be-reich dar. Das aus Art. 3 I GG abgeleitete Rechtder Bürger auf gleiche Teilhabe an der politi-schen Willensbildung und das Recht der politi-schen Akteure auf Chancengleichheit im politi-schen Wettbewerb (Artt. 3 I, 21 GG für politi-sche Parteien bzw. Artt. 3 I, 9, 28 I S. 2 GG fürWählervereinigungen) erzeugen ein Spannungs-verhältnis, dem auch die steuerliche Behandlung

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Aufsätze Sören Lehmann – Politische Betätigung im Steuerrecht MIP 2011 17. Jhrg.

„politischer Zuwendungen“ Rechnung tragenmuss. Die Spendenabzugstatbestände finden sichin den §§ 10b II, 34g EStG. § 4 VI EStG gehtnach seinem derzeitigen Wortlaut nicht weit ge-nug. Alle politisch motivierten Aufwendungensollten aus der betrieblichen bzw. beruflichenSphäre ausgeschieden werden, um so Rechts-klarheit zu schaffen, eine Umgehung der Spen-denhöchstbeträge zu verhindern und Einfluss-nahmen auf die politische Willensbildung nichtzusätzlich steuerlich zu fördern. Berufsverbändemüssen nach § 5 I Nr. 5 S. 2 lit. b) KStG mit ei-nem Verlust ihrer Steuerbefreiung rechnen,wenn sie zu hohe politische Zuwendungen täti-gen. Diese Zuwendungen werden unabhängigvon ihrer Höhe nach § 5 I Nr. 5 S. 4 KStG miteiner Steuer von 50% der Zuwendung belegt, umbeim Mitglied entstehende Steuervorteile zukompensieren. Zuwendungen an politische Par-teien und Wählergemeinschaften sind regelmä-ßig nach § 13 I Nr. 18 ErbStG von der Erb-schaft- und Schenkungsteuer befreit.

Als vierter und letzter Komplex sind die sonsti-gen steuerlichen Berührungspunkte anzusehen.Hierunter fallen die Gemeinnützigkeitsregeln fürdie allgemeine, überparteiliche Förderung desdemokratischen Staatswesens und die politischeBildung nach § 52 II S. 1 AO mit den hieran an-knüpfenden einzelsteuerrechtlichen Folgen eben-so wie die Aberkennung des passiven Wahl-rechts als Nebenfolgen bei der Begehung be-stimmter Steuerstraftaten nach § 375 AO.

Diese vier Bereiche stehen nicht beziehungslosnebeneinander, sondern ergänzen sich gegensei-tig und decken so den größten Teil politischerBetätigung ab. Der Steuergesetzgeber muss imgesamten Bereich politischer Willensbildungübergeordnete Verfassungsprinzipien beachten.Dieser Umstand schränkt seine Gestaltungsfrei-heit stark ein, was zur Folge hatte, dass viele Re-gelungen der verfassungsrechtlichen Überprü-fung nicht standhielten. Da auch das heutige po-litische Steuerrecht im engeren Sinne noch vielerechtliche Fragen aufwirft und unsere Gesell-schaft einem stetigen Werte- und Interessenwan-del unterliegt, ist es wahrscheinlich, dass sich diesteuerliche Behandlung politischer Betätigungenin Zukunft weiter verändern wird.

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MIP 2011 17. Jhrg. Roland Höhne – Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Tradition und Anpassung Aufsätze

Parteientransformation in Italien –Die nationale Rechte zwischen Tra-dition und Anpassung

Prof. Dr. Roland Höhne1

1. Einleitung

Die nationale Rechte sammelte sich nach dem II.Weltkrieg vor allem in der 1948 gegründetenneofaschistische Sozialbewegung MovimentoSociale Italiano (MSI). Diese fusionierte 2009mit der wirtschaftsliberalen Forza Italia (FI)zum Popolo della Libertà (PdL). Von diesemspaltete sich im März 2011 die Futuro e Libertàper l‘ Italia (PLI) als liberal-konservative Alter-native ab. Ihr schlossen sich jedoch bisher nureine Minderheit der ehemaligen MSI- bzw. AN-Mitglieder an. Ihre Erfolgsaussichten scheinendaher begrenzt. Damit stellt sich die Frage nachder Reichweite sowie den treibenden und hem-menden Kräften des Parteienwandels im rechtenSpektrum des italienischen Parteiensystems.

Die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellungstützt sich methodologisch auf die Annahme derneo-institutionalistischen Schule, wonach Partei-en die Fähigkeit zur Anpassung an sich verän-dernde Handlungsbedingungen besitzen. DieseAnnahme beruht auf der Prämisse, daß es eineneigenen Raum des Politischen gibt, der nicht vonhistorischen, kulturellen, sozialen und wirt-schaftlichen Bedingungen determiniert wird.Entscheidend für den Positionswandel von Par-teien ist nach dieser Sichtweise die Anpassungs-leistung politischer Kräfte. Sie stehen daher imMittelpunkt dieses Beitrages.

1 Der Verfasser war bis 2001 Professor für Geschichteund Politik Westeuropas an der Universität Kassel. Zuseinen Forschungsschwerpunkten zählen die politi-schen Systeme Westeuropas, insbesondere Parteien,soziale Bewegungen und Wahlen in Frankreich undItalien.

2. Der MSI – eine neofaschistische Antisystem-partei

2.1. Entstehung

Der MSI wurde 1946 von Veteranen der Re-pubblica Sociale Italiana (RSI)2 sowie von ehe-maligen Aktivisten des faschistischen Regimesgegründet. Diese hatten sich schon in den Jahren1943/45 auf die Fortsetzung ihrer politischen Tä-tigkeit in der Nachkriegszeit vorbereitet und inverschiedenen Geheimbünden organisiert.3 DerMSI konnte sich daher bei seiner Gründung aufeine landesweite Infrastruktur stützen. Er orien-tierte sich an den radikalfaschistischen Prinzipi-en der RSI und bekämpfte die antifaschistische,demokratische Nachkriegsordnung. In ihm do-minierten zunächst die Radikalfaschisten, mitder Zeit gewannen jedoch konservative Regime-faschisten die Führung. Die ideologisch-pro-grammatischen sowie strategischen und bündnis-politischen Gegensätze beider Richtungen präg-ten die innerparteilichen Auseinandersetzungenund Machtkämpfe der Partei bis zu ihrer Trans-formation 1993/1995.4 Sie wurden demokratischausgetragen und förderten so die innerparteilicheDemokratie. Durch diese unterschied sich derMSI grundlegend von der jeweiligen Staatsparteider beiden faschistischen Regime.5

2 Die Repubblica Sociale Italiana wurde nach dem Alli-anzwechsel des Königreichs Italien im September1943 von Mussolini und seinen Anhängern unter demSchutz der deutschen Streitkräfte mit Regierungssitz inSalò gegründet. Sie orientierte sich am republikani-schen Bewegungsfaschismus der Jahre 1919-1922 undversuchte vergeblich, durch die Wiederbelebung vondessen nationalsyndikalistischer und sozialrevolutio-närer Programmatik die Arbeiterschaft zu gewinnen.Als die deutschen Streitkräfte Ende April in Norditali-en kapitulierten, brach sie zusammen. Vgl. Lutz Klink-hammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das natio-nalsozialistische Deutschland und die Republik vonSalò 1943-1945, Tübingen 1993.

3 Vgl. Giuseppe Parlato, Fascisti senza Mussolini. Leorigini del neofascismo in Italia, 1943-1948, il Mulino,Bologna 2006.

4 Vgl. Piero Ignazi, Il polo escluso. Profilo storico delMovimento Sociale Italiano, 2. Aufl., Bologna 1998.Marco Tarchi, Dal MSI ad AN, Bologna 1997.

5 Partito Nazionale Fascista (PNF) 1921-1943, Partitofascista repubblicano (PFR) 1943/1945.

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Aufsätze Roland Höhne – Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Tradition und Anpassung MIP 2011 17. Jhrg.

In der Gründungsphase dominierten die Radika-len unter der Führung des Parteigründers PinoRomualdi6 und des ersten Generalsekretärs derPartei, Giorgio Almirante.7 Sie kamen vor allemaus dem Norden, in dem nach dem 1. Weltkriegder Faschismus entstanden war und wo in denJahren 1943/45 ein erbitterter Bürgerkrieg zwi-schen faschistischen Milizen und antifaschisti-schen Partisanen tobte. Bereits auf dem Parteitagvon Neapel 1948 aber besaßen die Konservati-ven die Mehrheit, da sie bei den Parlamentswah-len vom April des gleichen Jahres weit erfolgrei-cher waren als die Radikalen.8 Ihre Machtbasislag im Süden, in dem noch viele Nostalgiker desRegimefaschismus lebten, die diesen als Moder-nisierungskraft betrachteten. Hier konnten siesich daher zu einer relevanten politischen Kraftauf kommunaler und regionaler Ebene entwi-ckeln. Dank ihres Rückhaltes in der süditalieni-schen Wählerschaft dominierten sie die meisteZeit die Partei. Ihr wachsendes Gewicht veran-laßte 1950 Almirante zum Rücktritt. SeineNachfolge übernahm ein ehemaliger revolutio-närer Syndikalist und Faschist der ersten Stunde,Funktionär des faschistischen Regimes und da-nach Parteigänger der RSI, Augusto De Marsa-nich.9 Dieser befürwortete eine „Einfügung“ indas Parteiensystem durch die Bildung einer anti-kommunistischen Einheitsfront mit den Christ-demokraten.

2.2. Zielsetzung

Offiziell strebte der MSI eine neue soziale Ord-nung an. Das erste Presseorgan der Partei hießdenn auch „L’Ordine Sociale“. Aus den inner-

6 Pino Romualdi war 1944/45 stellvertretender Sekretärder faschistischen Staatspartei PFR der RSI und Leiterdes neofaschistischen Kampfbundes Farc (Fasci diazioni rivoluzionaria) nach dem Krieg. Vgl. AdalbertoBaldoni, La Destra in Italia 1945-1969, 2. Aufl., Roma2000, S. 92, Anm. 8.

7 Giorgio Almirante war ein faschistischer Journalist undgehörte dem Regierungsapparat der RSI an. Vgl. ebd.,S. 130, Anm.10.

8 Vgl. Mario Corte (Hrsg.), 1946-2006: sessant’anni dielezioni in Italia, Rom 2006, S. 12f.; P. Ignazio, Il poloescluso, op. cit., S. 359 ff.

9 Vgl. A. Baldoni, La Destra in Italia, op. cit., S. 321,Anm. 8.

parteilichen Diskursen und den zahlreichen Pu-blikationen im Umfeld der MSI läßt sich jedochschließen, daß diese nur die Grundlage einesneuen faschistischen Staates nach dem Vorbildder RSI sein sollte. Angesichts der Dominanz derantifaschistischen Kräfte in Staat und Gesell-schaft sowie dem Verbot der Wiedergründungeiner faschistischen Partei propagierte der MSIjedoch nicht offen seine faschistische Zielset-zung. Er bekannte sich zwar zu seiner faschisti-schen Herkunft und zu den faschistischen Ideen,betonte jedoch, er wolle das faschistische Re-gime nicht restaurieren. Seinen Ausdruck fanddiese Grundorientierung auf dem 1. Parteitagvom April 1948 in der Formel „Nicht verleugnenund nicht restaurieren“ (Non rinnegare e non re-staurare).10

Der MSI bemühte sich aber von Anfang an umdie Gewinnung von Macht- und Einflußchancenim politischen System durch die Teilnahme anWahlen. Dabei ließ er sich jedoch stets von sei-nen weltanschaulichen Vorstellungen leiten. Erwar daher eine Weltanschauungspartei im SinneMax Webers. Erst als die neofaschistischen Ide-en an Wirkungsmacht verloren, wandelte er sichallmählich zu einer Interessenpartei.

2.3. Ideologie

Die geistige Grundlage des MSI bildete eine eli-täre, voluntaristische, traditionalistische, heroi-sche Weltsicht, die sich vor allem auf die IdeenEvolas, Gentiles, des katholischen Traditionalis-mus, des französischen und des spanischen Fa-schismus sowie der Konservativen Revolutionstützte.11 Sie verstand sich als Antithese zum In-dividualismus des Liberalismus, zum Egalitaris-mus der Demokratie und zum Materialismus desKommunismus.12 Sie wurde im Laufe der Zeitzwar modifiziert, aber nicht grundlegend revi-diert. Der MSI blieb daher bis zu seiner Trans-formation in die AN ideologisch eine neofaschis-tische Partei.13

10 Vgl. ebd., S. 264 f.11 Vgl. ebd., S. 101-135. 12 Vgl. ebd., S. 260-264.13 Vgl. Francesco Germinario, Da Salò al governo. Im-

maginario e cultura politica della destra Italiana, Turi-no 2005.

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MIP 2011 17. Jhrg. Roland Höhne – Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Tradition und Anpassung Aufsätze

Der zentrale Bezugspunkt des MSI bildete dieNation. Darunter verstand er die sprachlich-kul-turelle und staatlich-politische Gemeinschaft derItaliener, die sich seit der Antike herausgebildethabe. Ihre zentrale Organisation bilde der Staat.Dieser sei eine organische Totalität, in der diepolitischen Werte über wirtschaftliche und so-ziale Interessen dominierten.14 Er habe vor allemdie Aufgabe, die Existenz der Nation zu sichern,die öffentliche Ordnung zu garantieren und als„nationaler Staat der Arbeit“ für soziale Gerech-tigkeit zu sorgen. Damit er diese Aufgabenwahrnehmen könne, sei ein Gleichgewicht zwi-schen individueller Freiheit und staatlicher Auto-rität notwendig. Als institutionelle Form desStaates bekannte sich der MSI wie bereits derPartito fascista repubblicano (PFR) der RSI zurRepublik und unterschied sich in diesem Punktvom Regimefaschismus der Jahre 1922-1943.15

Aus dem Nationalismus ergab sich die Idee dernationalen Solidarität als das Grundprinzip dergesellschaftlichen Ordnung. Sie sollte den Ge-gensatz von Kapital und Arbeit und damit denKlassenkampf überwinden und so eine solidari-sche Gesellschaft ermöglichen. Die Radikalenwollten diese durch ein gemischtes Wirtschafts-system auf der Grundlage von gesellschaftlichemund privatem Eigentum verwirklichen. Die Ver-gesellschaftung (socializzazione) der Großunter-nehmen sollte die Macht des Großkapitals bre-chen und die Kleinunternehmer schützen. Verge-sellschaftete Großunternehmen und privateKleinunternehmen könnten so gemeinsam demGemeinwohl dienen. Die Konservativen wolltendie nationale Solidarität dagegen durch den Kor-poratismus erreichen. In diesem sollten die Pro-duzenten das Wirtschaftsgeschehen ohne die In-tervention des Staates selbst regeln.

14 Vgl. u.a. Pino Romualdo auf dem VIII. Parteitag desMSI in Rom 1965, in: A. Baldoni , La Destra in Italia1945-1969, op. cit., S. 575. Ferner Adriano Romualdi,Una cultura per l’Europa, hrsg. von Gennaro Malgieri,Roma 1986.

15 Besonders die Radikalfaschisten betonten die republi-kanische Identität des MSI, um sich von den Monar-chisten abzugrenzen. Siehe die Auseinandersetzungenauf dem III. Parteitag des MSI 1952, in: A. Baldoni, LaDestra in Italia, op. cit. S. 418.

Die Ideologie des MSI entsprach vor allem denInteressen und der Mentalität der traditionellenBevölkerungsgruppen des Südens sowie derkleinen Selbständigen des Nordens. Die nationa-le Solidarität garantierte einen permanenten Res-sourcentransfer aus dem reichen Norden in denarmen Süden und der staatliche Zentralismus botvielen Süditalienern landesweit Stellen im öf-fentlichen Dienst. Der Korporatismus konnte diekleinen Selbständigen in Handwerk, Dienstleis-tung und Landwirtschaft vor der Konkurrenz derGroßunternehmen und dem Machtanspruch derGewerkschaften schützen, ohne das Privateigen-tum an den Produktionsmitteln und ohne die un-ternehmerische Eigeninitiative zu beseitigen.Der MSI fand daher seinen stärksten Rückhalt inbeiden Sozialkategorien.

2.4. Programmatik

Die MSI- Programmatik spiegelte nur teilweisedie neofaschistische Ideologie wider, da sie sichnach den rechtlichen und politischen Erforder-nissen des Parteienwettbewerbs richtete. Neofa-schistische Aktivitäten waren verboten undkonnten zum Verbot der Partei führen. Der MSIbeschränkte sich daher in seinem programmati-schen Diskurs auf Themen, die rechtlich formalmit der Verfassungsordnung vereinbar waren. Inseinem Zehn-Punkte-Programm von 1946 for-derte er u. a. die Wahrung der Einheit, territoria-len Integrität und Unabhängigkeit Italiens, dieBildung einer europäischen Union, die Restaura-tion der Autorität des Staates und die Teilnahmedes Volkes an der Wahl seiner Führer, die Tren-nung von Staat und Kirche entsprechend den La-teranverträgen von 1929 und die Schaffung einesnationalen Staates der Arbeit.16 Zwei Jahre spä-ter fügte er seinen Forderungen die Direktwahldes Staatspräsidenten und die Umwandlung desSenats in eine korporative Kammer hinzu. BeideForderungen waren mit dem parlamentarischenDemokratieverständnis der Verfassungsparteiennicht vereinbar.

16 Das Programm lehnte sich noch stark an die Chartavon Verona des Partito fascista repubblicano vom 17.November 1943 an. Vgl. Baldoni, la destra in Italia,op.cit., S. 140 f.

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Entsprechend seiner Forderung nach Wahrungder territorialen Integrität Italiens lehnte der MSIden Friedensvertrag von 1947 ab, verlangte dieRückgabe aller verlorenen Gebiete (Istrien, Fiu-me, Zara) und der Kolonien, die RückgliederungTriests und die internationale Gleichberechti-gung Italiens.17 Noch 1975 stimmte er als einzigePartei gegen die Ratifizierung des Vertrages vonOsimo, in dem Italien die Nachkriegsgrenze mitJugoslawien endgültig anerkannte.18

In dem sich 1946/47 abzeichnenden Ost-West-Konflikt befürwortete der MSI zunächst einestrikte außenpolitische Neutralität und lehnteeinen Beitritt zur Atlantischen Allianz ab.19 AlsAlternative zu den politisch-militärischen Blö-cken forderte er die Schaffung eines VereintenEuropas unter Einschluß Deutschlands mit Afri-ka als Ergänzungsraum und der arabischen Weltals Partner.20 Es sollte ein „Europa der Nationen“sein im Gegensatz zum supranationalen Europader Christdemokraten und Sozialisten.21 Er ver-urteilte die Teilung des europäischen Kontinentsin eine östliche und westliche Hälfte durch dieSiegermächte und wandte sich während des Un-garnaufstandes von 1956 scharf gegen die „Lo-gik von Jalta“, d.h. die Respektierung des sowje-tischen Herrschaftsbereichs durch den Westen.22

Die grundlegende Veränderung der sicherheits-politischen Interessenlage Italiens durch denKalten Krieg veranlaßte jedoch die Parteifüh-rung bereits im Oktober 1951, sich offiziell zurwestlichen Allianz zu bekennen.23 Damit hattedie Partei bereits in ihrer Frühphase einen zen-

17 So Generalsekretär De Marsanich auf dem III. Partei-tag 1952. Vgl. ebd., S. 414 f.

18 Vgl. ebd., S. 425-433. 19 Im Herbst 1949 befürworteten die MSI-Parlamentarier

zwar die Aufnahme von Verhandlungen über eineneventuellen Beitritt zur Atlantischen Allianz, stimmtendann aber gegen diesen. Vgl. Giorgio Almirante, Pro-cesso al Parlamento, Roma 1968, Bd. I, S. 281.

20 Zur Europakonzeption des MSI vgl. Filippo Anfuso,Botschafter der RSI in Berlin in den Jahren 1943/1944,auf dem III. Parteitag des MSI 1952, in: A. Baldoni,La Destra in Italia, op. cit., S. 416 f.

21 An dieser Idee hielt der MSI bis zu seiner Transforma-tion fest. Siehe die Debatten auf dem VIII. Parteitagdes MSI 1965 in Pescara, in: Ebd., S. 573.

22 Vgl. Il Secolo d’Italia vom 1. Nov. 1956.

tralen Punkt ihrer außenpolitischen Programma-tik unter dem Druck der internationalen Ent-wicklung revidiert und sich den Positionen derpro-westlichen Parteien angenähert. Gegenüberden westlichen Siegermächten wahrte sie jedochihre kritische Distanz. Noch 1984 gedachte siedes vierzigsten Jahrestages des deutsch-italieni-schen Abwehrerfolges von Anzio im Januar/Fe-bruar 1944 gegenüber amerikanischen Lan-dungstruppen.24

Wirtschaftspolitisch forderten die Radikalen bisin die siebziger Jahre eine korporatistische Wirt-schaftsordnung sowie die Sozialisierung der öf-fentlichen Unternehmen durch eine Beteiligungder Betriebsangehörigen an deren Leitung undErgebnissen.25 Der rechte Parteiflügel bekanntesich dagegen zur Marktwirtschaft und lehnte einestaatliche Lenkung der Wirtschaft prinzipiell ab.Der Staat dürfe nur dann wirtschaftlich aktiv wer-den, wenn die Privatwirtschaft versage.26

Aufgrund seiner Herkunft, Ideologie und Pro-grammatik war der MSI eindeutig eine neofa-schistische Partei, die sich am Bewegungsfa-schismus der Frühzeit und der RSI orientierte.Im Unterschied zum Bewegungsfaschismus derJahre 1919-1922 verzichtete er aber auf die An-wendung von Gewalt zur Machteroberung undfügte sich nolens volens in das demokratischeVerfassungssystem ein, und im Unterschied zurfaschistischen Staatspartei der RSI trug er seineinternen Gegensätze demokratisch aus, da er nurso seine Einheit bewahren konnte. Ideologischund programmatisch gab es eine gewisse Nähezu den Monarchisten und zum rechten Flügel derChristdemokraten. Von den Monarchisten unter-schied er sich jedoch durch seine Ablehnung derMonarchie, von den Christdemokraten durch sei-ne Ablehnung des antifaschistischen Verfas-

23 Vgl. A. Baldoni, La Destra in Italia, op.cit., S. 321,Anm. 4.

24 Diese Manifestation war eine Gegenveranstaltung zuden westlichen Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahres-tag der alliierten Landung in der Normandie.

25 So in der programmatischen Erklärung des VIII. Par-teitages von Rom 1965. Vgl. A. Baldoni op.cit., S.577.

26 So A. Michelini auf dem VII. Parteitag des MSI von1963 in Rom, in: Ebd., S. 566.

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sungskonsenses und seine Distanz zur katholi-schen Kirche.

2.5. Strategie

Zur Durchsetzung seiner Zielsetzungenschwankte der MSI in den ersten Jahren zwi-schen einer Opposition zum System und einerOpposition zu den Verfassungsparteien im Sys-tem. Die Radikalen befürworteten eine konse-quente Antisystemstrategie, weil sie das demo-kratische System grundsätzlich ablehnten. Nuraus opportunistischen Gründen befürworteten siedie Beachtung der republikanischen Legalität,um ein Parteiverbot zu vermeiden, sowie dieTeilnahme an Wahlen, um die Einflußchancender Institutionen zu nutzen. Bündnisse mit de-mokratischen Parteien lehnten sie strikt ab, weilsie einen Verlust der „revolutionären Energien“fürchteten. Stattdessen pflegten sie Kontakte zunationalrevolutionären Geheimbünden und Zir-keln.27 Die Konservativen befürworteten dage-gen ab 1950 ein „Einfügen“ in das System sowieBündnisse mit antikommunistischen Parteien,insbesondere der Democrazia Cristiana (DC).Allerdings betrachteten auch sie die parlamenta-rische Demokratie nicht als Wertesystem, son-dern lediglich als Methode zur Auswahl und Le-gitimation des politischen Führungspersonals.28

Unter der Führung von de Marsanich konnten siesich durchsetzen, verfehlten jedoch ihr Ziel, daweder die Monarchisten noch die Christdemo-kraten zur Zusammenarbeit bereit waren. DerStimmenanteil des MSI stieg aber bei den Parla-mentswahlen von 1953 gegenüber 1948 von 2auf 5,8 Prozent.29

Die operativen Strategien der MSI wurden in ho-hem Masse von den Handlungsbedingungen desParteiensystems bestimmt. Diese ergaben sichvor allem aus dessen normativen Grundlagen,dem Ost-West-Konflikt, den Institutionen sowieaus den zentralen Konflikten und den dominie-

27 Vgl. Piero Ignazi, Postfascisti? Dal Movimento socialeitaliano ad Alleanza nazionale, Bologna 1994, S. 13f.

28 Vgl. De Marsanich auf dem II. Parteitag des MSI, Juli1949, in Rom, in: A. Baldoni, La destra in Italia, op.-cit., S. 304.

29 Vgl. Mario Corte (Hrsg.), sessant’anni de elezioni inItalia, op. cit., S. 18 ff.

renden Weltanschauungen der italienischen Ge-sellschaft.30

Normative Grundlage des italienischen Parteien-systems bildete ein antifaschistischer Verfas-sungskonsens, der von allen politischen Kräftengetragen wurde, die den Faschismus bekämpftund sich 1946/47 am Verfassungsgebungsprozeßbeteiligt hatten.31 Er beruhte auf den Werten derpluralistischen Demokratie, des Rechtsstaatesund des Antifaschismus.32 Da der MSI ihn nichtteilte, wurde er von den Verfassungsparteien ausdem demokratischen Leben ausgegrenzt. Er wardaher auf der nationalen Ebene bis 1994 wederan Wahlbündnissen noch an Regierungskoalitio-nen beteiligt. Lediglich auf der kommunalenEbene kooperierten im Süden die Monarchistenund bis Anfang der sechziger Jahre auch dieChristdemokraten mit ihm. Piero Ignazi charak-teresierte ihn daher sehr treffend als „ausge-schlossenen Pol“ des italienischen Parteiensys-tems.33

Der Kalte Krieg spaltete ab Mai 1947 die Ver-fassungsparteien in ein kommunistisch-sozialis-tisches und ein antikommunistisches Lager. Ob-wohl die sozialistisch-kommunistische Aktions-gemeinschaft34 sich 1956 auflöste und der Ge-gensatz beider Lager in den siebziger Jahren anSchärfe verlor, beherrschte dieser bis gegenEnde des Ost-West-Konfliktes den Parteienwett-

30 Vgl. Isabel Kneisler, Das italienische Parteiensystemim Wandel, Wiesbaden 2011, S. 75-91. Elisabeth Fix,Italiens Parteiensystem im Wandel. Von der Ersten zurZweiten Republik, Frankfurt/Main 1999, S. 51-114.

31 Es handelte sich dabei um Liberale, Katholiken, Sozia-listen und Kommunisten. Die Monarchisten hatten seitdem Sturz Mussolinis im Juli 1943 zwar auch den anti-faschistischen Widerstand unterstützt, gehörten jedochnicht zum „Verfassungsbogen“, da sie die 1946 perReferendum eingeführte Republik ablehnten.

32 Vgl. Ugo De Siervo, Le scelte fondamentali dell’As-semblea Costituente, in: Hartmut Ullrich (Hrsg.), Ver-fassungsgebung, partitocrazia und Verfassungswandelin Italien vom Ende des II. Weltkrieges bis heute,Frankfurt am Main 2001, S. 57-68.

33 Vgl. Ignazi, Piero: Il polo escluso. Profilo del Movi-mento Sociale Italiano, Il Mulino, Bologna 1989.

34 Der Patto d’unità d’azione zwischen PCI und PSI vomAugust 1934 war analog der Front commun zwischenPCF und SFIO in Frankreich im Zuge der kommunisti-schen Volksfrontstrategie gegründet worden.

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bewerb.35 Trotz seines Systemcharakters zerstör-te der Konflikt zwischen Kommunisten und An-tikommunisten jedoch nicht den antifaschisti-schen Grundkonsens der Verfassungsparteien,sondern überlagerte ihn lediglich. Die Neofa-schisten blieben daher auch nach Ausbruch desKalten Krieges im Parteiensystem isoliert. Aller-dings bildeten sie nun in diesem den antikom-munistischen Gegenpol, um den sich die militan-ten Gegner des Kommunismus sammelten. Un-ter der Führung des Nationalkatholiken und mili-tanten Antikommunisten Arturo Michelini be-mühte sich der MSI in den Jahren 1954-1969verstärkt um eine „Einfügung“ (Inserimento) indas parlamentarische System.36 Als Vorausset-zung einer Zusammenarbeit mit der DC betrach-tete Michelini die Transformation des MSI ineine nationale, soziale und populäre Rechtspar-tei. Statt an der RSI sollte sich diese an der Nati-on, der abendländischen Zivilisation und demwestlich-pluralistischen Staats- und Gesell-schaftsmodell orientieren. Aus Protest gegen sei-ne Transformationsbemühungen verließen diemilitanten Systemgegner um Pino Rauti nachdem Parteitag von Mailand 1956 die Partei undgründeten den Ordine Nuovo, eine radikalfa-35 Es handelte sich dabei sowohl um einen außenpoliti-

schen Orientierungs- als auch um einen innenpoliti-schen Systemkonflikt. Andere Konflikte, die ebenfallsdie italienische Politik bestimmten, so der Konfliktzwischen Kapital und Arbeit, Laizisten und Katholi-ken, Stadt und Land, Norden und Süden, Zentrum undPeripherie verloren dadurch an Bedeutung. Dies er-möglichte die Bildung antikommunistischer Regie-rungskoalitionen aus Christdemokraten, Liberalen, Re-publikanern und Sozialdemokraten, an denen sich seit1963 auch die Sozialisten beteiligten. Diese Koalitio-nen beherrschten das Land bis 1994 und verhindertenso einen demokratischen Machtwechsel. Vgl. ReimutZohlnhöfer, Das Parteiensystem Italiens, in: OskarNiedermayer/Richard Stöss/Melanie Haas (Hrsg.), DieParteiensysteme Westeuropas, Wiesbaden 2006, S. 275-298.

36 Arturo Michelini war Nationalist, Katholik und Anti-kommunist. Er kämpfte als Freiwilliger im SpanischenBürgerkrieg auf der Seite der Frankisten und im II.Weltkrieg als Soldat des italienischen Expeditions-korps (ARMIR) in der Sowjetunion, war aber nichtMitglied der faschistischen Partei PNF und schloß sich1943 auch nicht der RSI an. Von Oktober 1954 bis zuseinem Tode im Dezember 1969 war er Vorsitzenderdes MSI. Vgl. A. Baldoni, La Destra in Italia, op.cit.,S. 388, Anm. 35.

schistische Aktionsgruppe. Dies stärkte die Posi-tion der Konservativen, welche Michelinis Stra-tegie unterstützten.

Begünstigt wurde diese durch die labilen parla-mentarischen Mehrheitsverhältnisse. Diese nö-tigten die Christdemokraten bis Anfang dersechziger Jahre, die Neofaschisten bei wichtigenparlamentarischen Entscheidungen zu konsultie-ren und gelegentlich auch informell mit ihnen zukooperieren. So waren die DC-Minderheitsregie-rungen der Jahre 1957 und 1959 auf die parla-mentarische Unterstützung des MSI angewiesen.Seinen Höhepunkt erreichte die informelle Zu-sammenarbeit beider Parteien unter der DC-Min-derheitsregierung Tambroni 1960. Diese zer-brach jedoch 1961 am massiven Widerstand an-tifaschistischer Kräfte. Tambroni mußte zurück-treten und die DC wandte sich den Sozialistenzu. Die „Einfügungsstrategie“ des MSI war da-mit gescheitert.

2.6. Das Experiment der „nationalen Rech-ten“ 1969-1977

Nach dem Tod von Michelini 1969 vollzog sichein tiefgreifender personeller, strategischer undprogrammatischer Wandel der Partei. Ihre Füh-rung übernahm nun wieder der Repräsentant desnationalsozialen Flügels, Giorgio Almirante. Erbetonte die traditionellen Werte der Partei undstützte sich innerparteilich vor allem auf die Par-teiaktivisten, verstand es jedoch, auch die kon-servativen Honoratioren einzubinden. Er zentra-lisierte den Parteiapparat, schärfte das program-matische Profil und transformierte den MSI ineine Massenpartei mit einer ausdifferenziertenOrganisationsstruktur. Dadurch stärkte er die Po-sition der Parteiführung und ihrer Funktionsträ-ger.37

Strategisch verfolgte Almirante zwei Ziele. Ei-nerseits wollte er die gesamte Rechte einschließ-lich radikaler Gruppierungen in die Partei inte-grieren, um diese zu einem zentralen Akteur deritalienischen Politik zu machen. Andererseitswollte er einen antikommunistischen Rechts-blocks, eine Grande Destra aus Neofaschisten,Monarchisten, Liberalen und konservativen

37 Vgl. P. Ignazi, Il polo escluso, op. cit., S. 133 ff.

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Christdemokraten innerhalb des Parteiensystemsbilden, um so an der Macht beteiligt zu werden.Im Interesse dieser doppelten Zielsetzung erklär-te er den Gegensatz von Faschismus und Antifa-schismus historisch für überholt und bekanntesich zur Demokratie, zum Verfassungsstaat undzum Parteienwettbewerb, attackierte jedochgleichzeitig die „Parteienherrschaft“ (partitocra-zia), d. h. die zentrale Rolle der Parteien in Staatund Gesellschaft, den Klientelismus, die Lottiz-ziatione und die „Ineffizienz“ des parlamentari-schen Prozesses, das Vordringen von Materialis-mus und Utilitarismus, von Marxismus undLinksextremismus sowie die katholischen Re-formbestrebungen. Mit dieser Doppelstrategiegelang es ihm, den 1956 abgespaltenen OrdineNuovo sowie die Monarchisten einzubinden, dieLiberalen und Christdemokraten lehnten dage-gen weiterhin eine Zusammenarbeit ab.38

Durch die Fusion mit der monarchistischen PDI-UM39 zur Destra Nazionale40 1972 erhöhte sichdie Mitgliederzahl auf rund 400.000 Personen.Außerdem gelang dem MSI der Einbruch in daskonservative Bürgertum. Bei den Parlaments-wahlen von 1972 erzielte er mit 8,7 Prozent derWählerstimmen sein bis dahin bestes Wahler-gebnis.41 Er verfehlte jedoch sein Wahlziel, dieBildung eines großen antikommunistischenBlocks, da sich die DC und die Liberalen weiter-hin verweigerten. Damit war auch der zweite In-tegrationsversuch gescheitert.

2.7. Radikalisierung und Erneuerung 1977-1987

Der Fehlschlag der Integrationsstrategie Almi-rantes begünstige eine erneute Radikalisierungder Partei. Daraufhin kehrten ihr viele Monar-chisten den Rücken und gründeten die Democra-zia Nazionale.42 Diese entwickelte sich jedochnicht zu einer ernsthaften Konkurrenz für den

38 Vgl. ebd., S. 143 ff. 39 Partito Democratico Italiano di Unità Monarchica.40 1972. Vgl. Marco Revelli, La Destra Nazionale, Mai-

land 1996.41 Vgl. Mario Corte (Hrsg.), sessant’anni di elezioni in

Italia, op. cit., S. 51 ff.42 Vgl. Raffaele Delfino, Prima di Fini. Intervista a cura

di Marco Bertoncini, Foggia 2004.

MSI, sondern wurde bald von der DC aufgesogen.Der MSI konnte so seine Hegemonie auf derRechten behaupten. Bei den Wahlen von 1976sank sein Stimmenanteil jedoch auf 6,1 Prozent.43

In den Jahren 1976-1979 bekämpfte er erbittertdie Bestrebungen um einen „historischen Kom-promiß“ zwischen Kommunisten und Christde-mokraten zur Stabilisierung des Verfassungssys-tems44, verlor bei den Parlamentswahlen von1979 aber erneut Stimmen.45 Der Antikommu-nismus hatte bereits zu diesem Zeitpunkt erheb-lich an Mobilisationskraft verloren und die großeMehrheit der bürgerlichen Wähler vertraute nochimmer den bürgerlichen Verfassungsparteien,insbesondere der DC. Der MSI kehrte daher zurAntisystemopposition zurück.

Infolge politischer, sozialer und kultureller Ent-wicklungen veränderten sich in den achtzigerJahren erneut seine Handlungsbedingungen. Ei-nerseits verbesserten die Historisierung des Fa-schismus46, das Verblassen des Resistenza-My-thos47, die Erosion der subkulturellen Milieus48,die zunehmende Volatilität des Wählerverhal-tens und der beginnende Niedergang der DC49

erheblich seine Wahlchancen. Andererseits ver-schlechterten sich diese durch die Transformati-on der PCI in die demokratische ReformparteiPartito democratico de la Sinistra (PDS).50

Wenngleich eine radikale Minderheit die Trans-

43 Vgl. Mario Corte (Hrsg.), sessant’anni di elezioni, op.-cit., S. 59.

44 Vgl. Christian Jansen, Italien seit 1945, Göttingen2007, S. 167 ff.

45 5,3 Prozent in der Kammer und 5,7 Prozent im Senat.Vgl. Mario Corte (Hrsg.), Sessant’anni di elezioni, op.cit., S. 65 ff.

46 Vgl. Renzo De Felice, Intervista sul fascismo, Roma1975.

47 Vgl. Claudio Pavone, Una guerra civile. Saggio storicosulla moralità nella Resistenza, Turino 1991.

48 Vgl. Peter Fritsche, Die politische Kultur Italiens,Frankfurt/M. 1987.

49 Vgl. Rudolf Lill/Stephan Wegener, Die DemocraziaCristiana Italiens (DC) und die Südtiroler Volkspartei(SVP); In: Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Christlich-de-mokratische und konservative Parteien in Westeuropa,Bd. 3, Paderborn 1991, S. 157-203.

50 Vgl. Giuseppe Chiarante, Da Togliatti a D’Alema. Latradizione dei comunisti italiani e le origini del PDS,Roma 1996.

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formation ablehnte und mit linksalternativenGruppen eine neue kommunistische Partei grün-dete51, so bedrohte der Kommunismus in denAugen bürgerlicher Wähler von nun an nichtmehr ernsthaft die demokratische Ordnung. DerMSI verlor so seine Funktion als antikommunisti-sches Bollwerk. Infolge der Erosion der Subkultu-ren und der zunehmenden Volatilität des Wähler-verhaltens veränderte sich aber auch gleichzeitigseine Wählerbasis. Bei den Parlamentswahlen von1987 gewann er Wähler im Norden, verlor abertraditionelle Anhänger im Süden. Insgesamt wardie Wählerbilanz negativ.52

Zeitlich parallel zur Veränderung der externenHandlungsbedingungen veränderten sich auchdie internen Verhältnisse der Partei. Aus Alters-gründen zogen sich viele Angehörige der Grün-dergeneration, die durch den Faschismus undden Bürgerkrieg der Jahre 1943-1945 geprägtworden waren, aus dem aktiven Parteileben zu-rück. An ihre Stelle traten Angehörige der jünge-ren Generation, die in den sechziger und siebzi-ger Jahren vor allem durch die Auseinanderset-zung mit der extremen Linken politisch soziali-siert worden waren. Sie teilten zwar weitgehendnoch die (neo-)faschistische Ideologie, besaßenaber keine emotionale Bindung mehr an die RSIoder den Regimefaschismus und betrachteten da-her den MSI vor allem als einen antikommunisti-schen Kampfbund. Zu ihnen gehörte u. a. Gian-franco Fini, der Architekt des Transformations-prozesses der Jahre 1993-2002.

Der am 3. Januar 1952 in einer istrischen Flücht-lingsfamilie geborene Fini wuchs in Bologna ineinem kleinbürgerlichen Milieu auf. Sein Welt-bild wurde entscheidend vom Nationalismus undAntikommunismus des Elternhauses geprägt.Nach Auseinandersetzungen mit linksradikalenJugendlichen schloß er sich 1969 dem MSI an.Während seines Pädagogikstudiums in Rom

51 Partito de la Rifondatione comunista (PRC), der sichTeile von il Manifesto sowie andere linksradikaleGruppen anschlossen.

52 Gegenüber 1983 sank sein nationaler Stimmenanteilbei den Wahlen zur Kammer von 6,8 auf 5,9 Prozent,bei den Wahlen zum Senat von 7,3 auf 6,5 Prozent.Vgl. M. Corte (Hrsg.), sessant’anni di elezioni, op. cit.,S. 74-89.

1971-1975 machte er in der Jugendorganisationdes MSI, der „Fronte della Gioventù“ rasch Kar-riere. Dank der Förderung durch den Parteivor-sitzenden Almirante wurde er am 5. Juni 1977deren Nationalsekretär und damit Mitglied dernationalen Führungsgremien der Partei. Er unter-stützte den Kurs Almirantes, der ihn zu seinemKronprinzen machte. 1983 wurde er Mitglied derAbgeordnetenkammer, 1987 gelang ihm imWahlkreis Rom-Viterbo-Latina-Frosinone mit8,2 Prozent der Stimmen die Wiederwahl.53

Entscheidend für die weitere Entwicklung derPartei wurde der Ausgang der innerparteilichenAuseinandersetzungen zwischen Radikalen undKonservativen über den zukünftigen Kurs derPartei.54 Die Radikalen unter der Führung vonPino Rauti befürworteten eine „nazional-popola-re“ Alternative zum System, nicht nur eine poli-tische zu den Verfassungsparteien. Sie wolltenihr Ziel durch den populistischen Massenappell,nicht durch Parteibündnisse erreichen.55 Almi-rante und seine Anhänger verteidigten dagegendie traditionellen Positionen der Partei. Es wärefalsch, so argumentierten sie, vor dem Zeitgeistzu kapitulieren, da der Faschismus zeitlose Wer-te vertrete. Diese müsse die Partei gerade in dergegenwärtigen Situation offensiv propagieren.56

Während alle Ideologien und Überzeugungenwankten, biete allein der „fascismo del 2000“Halt.57 Da Almirante aus Gesundheitsgründennicht mehr für den Parteivorsitz kandidierte, aberdie Kontinuität des Parteikurses wahren wollte,ernannte er Fini am 6. September 1987 zu sei-nem Nachfolger. Dadurch verstärkten sich die

53 Vgl. Goffredo Locatelli/Daniele Martini, Duce Addio.La biografia di Gianfranco Fini, Milano1994. Emanue-le Pigni: Gianfranco Fini – Biografia in breve, S. 1-4,URL: http://cronologia.leonardo.it/storia/biografie/fi-ni.htm, 27.05.2008.

54 Vgl. Marco Tarchi, Dal MSI ad AN, op. cit. 1997, S.90 ff.

55 Vgl. Piero Ignazi, Postfascisti?, Dal Movimento socia-le italiano ad Alleanza nazionale, Bologna 1994, S. 71.

56 «La continuità con le nostre radici […] non ci può enon ci deve limitare ad un ruolo di testimonianza, cherifiutiamo in nome dell`adesione a principi e valori chenon sono storicizzabili perché universali». Zit. nach P.Iganzi, Postfascisti?, op. cit., S. 71.

57 Vgl. P. Ignazi, Postfascisti, op. cit., S. 71.

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innerparteilichen Auseinandersetzungen. Der Di-rektor des parteieigenen „Candido“, Giorgio Pi-sanò, iniierte eine heftige Kampagne gegen Fini,Giuseppe Tatarella, ein Verfechter der Verände-rung, gründete die Destra in movimento zu des-sen Unterstützung.58 Ihren Höhepunkt erreichtendie Auseinandersetzungen auf dem XV. Partei-tag in Sorrent im Dezember 1987. Bei denWahlen zum Parteivorsitz konnte sich Fini mit53,6 Prozent nur knapp gegenüber Rauti mit44,8 Prozent durchsetzen.59 Damit übernahmerstmals ein Repräsentant der Nachkriegsgenera-tion die Parteiführung.

2.8 Die Übergangsphase 1987-1991

Fini wollte die Partei einen und sie zu einer ent-scheidenden Kraft des politischen Lebens ma-chen. Er bekannte sich zum faschistischen Erbe,bemühte sich jedoch um eine programmatischeAnpassung an die veränderten Handlungsbedin-gungen. Da der Antikommunismus erheblich anMobilisationskraft verloren hatte, machte er dieThemen Immigration, Sicherheit, Arbeitslosig-keit und nationale Identität zum Schwerpunktseiner Agitation. Er erhoffte sich davon ähnlicheWahlerfolge wie die des französischen Front na-tional, mit dem er eine enge Zusammenarbeitanstrebte.60 Sein einwanderungsfeindlicher Kursstieß jedoch auf heftigen innerparteilichen Wi-derstand.61 Viele Konservative befürchteten eineerneute Isolation in der Öffentlichkeit, viele Ra-dikale einen Prestigeverlust unter den Linkswäh-lern und in der Dritten Welt.62 Fini kehrte daher

58 Vgl. E. Pigni, Gianfranco Fini – Biografia in breve,op.cit., S. 4.

59 Vgl. P. Ignazi, Il polo escluso, op.cit.,S. 244 f., fernerAlessandro Caprettini, La Nuova Destra, Palermo1995, S. 80 ff.

60 Vgl. E. Pigni, Gianfranco Fini – Biografia in breve,op.cit., S. 5.

61 Vgl. Roberto Chiarini, La tentazione della protesta an-ti-immigrati, in: Chiarini, Roberto/Maraffi, Marco(Hrsg.): La destra allo specchio: la cultura politica diAlleanza nazionale, Marsilio Editori, Venedig 2001, S.182.

62 Rauti argumentierte, der Grund der Immigration liegein der Ausbeutung der Dritten Welt durch den Kapita-lismus. Diese zwinge deren Einwohner zur Auswande-rung. Um sie zu stoppen, müsse deshalb der Kampf ge-gen das internationale Großkapital, insbesondere das

bald wieder zu den neofaschistischen Grundposi-tionen zurück.63 So erklärte er auf dem XVI. Par-teitag im Dezember 1990, eigentliche Gegner desMSI seien nicht der Kommunismus und Marxis-mus, sondern die Prinzipien von 1789. Die Parteiverlöre daher durch den Niedergang des Kommu-nismus nicht ihren historischen Auftrag. Sie müs-se vielmehr mehr denn je die Prinzipien von 1789und ihre Folgen bekämpfen. 64

Der Rückgriff auf die faschistischen Ideen zahltesich jedoch nicht aus. Bei den Europawahlen so-wie den Kommunalwahlen von 1989 verlor derMSI zahlreiche Wähler.65 Dafür wurde Fini ver-antwortlich gemacht. Auf dem XVI. Parteitagvom 11. bis 14. Januar 1990 unterlag er bei derWahl des Generalsekretärs seinem alten RivalenPino Rauti.66 Dieser propagierte eine antikapita-listische Alternative zum bestehenden System,um so desorientierte Linkswähler zu gewinnen.Bei Kommunal- und Regionalwahlen erlitt derMSI jedoch abermals erhebliche Stimmenverlus-te. Rauti mußte daher im Juni 1991 zurücktretenund Fini erneut die Führung überlassen.67 Wäh-rend der Legitimationskrise des Parteiensystems1992/93 wurde somit der MSI von einem Reprä-sentanten der Modernisierungskräfte geführt.

2.9. Die Krise des italienischen Parteiensys-tems und der Positionswandel des MSI

Ausgelöst wurde der Krise des Parteiensystemsdurch die Ermittlungen der Mailänder Staatsan-waltschaft gegen Politiker wegen des Verdachtsillegale Parteienfinanzierung (mani pulite) abFebruar 1992. Ihre Ursachen bildeten jedoch

anglo-amerikanische, verstärkt werden. Dieser erforde-re ein Bündnis mit den ausgebeuteten Ländern derDritten Welt gegen den kapitalistischen Westen. Mitseinem antikapitalitischen Dritte-Welt-Diskurs, der andie antiplutokratische Rhetorik Mussolinis erinnerte,konnte Rauti die Parteimehrheit für sich gewinnen.

63 Vgl. Corrado De Cesare: Il Fascista del duemila. Le ra-dici del camerata Gianfranco Fini, Mailand 1995.

64 Vgl. K. Peter Fritzsche: Vom Postkommunismus zumPostfaschismus? – Das Beispiel des Movimento Socia-le Italiano, in: Backes, U./Jesse; E. (Hrsg.): Jahrbuch Ex-tremismus und Demokratie, Bd. 3, Bonn 1991, S. 64.

65 Vgl. Piero Ignazi: Postfascisti? op.cit., S. 60 ff.66 Vgl. Piero Ignazi, Postfascisti? op.cit., S. 74f.67 Vgl. Piero Ignazi, Postfascisti? op.cit., S. 76.

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strukturelle Wandlungsprozesse.68 Ein zentralesElement dieses Strukturwandels war die Trans-formation des PCI in die PDS. Diese wurde vonden demokratischen Parteien als Koalitionspart-ner akzeptiert und ermöglichte so die Bildungvon Mitte-Links-Koalitionen unter Einschluß derEx-Kommunisten. Dadurch wurde ein demokra-tischer Machtwechsel zwischen der Rechten undder Linken denkbar.69 Ferner erhöhte sich die po-litische Bedeutung der gesellschaftlichen Kon-flikte, die bis dahin vom Systemkonflikt überla-gert worden waren: Arbeit-Kapital, Laizismus-Katholizismus, Zentrum-Peripherie, Nord-Süd.Koalitionen zwischen Katholiken und Laizisten,zwischen Zentralisten und Regionalisten, zwi-schen Wirtschaftsliberalen und Sozialprotektio-nisten. Koalitionsbildungen zwischen den bür-gerlichen Parteien wurden dadurch erheblichschwieriger, als in der Zeit des Systemkonflikts.Die Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts be-günstigte den Aufstieg der regionalistischenLega Nord zu einer ernstzunehmenden politi-schen Kraft. Wirtschafts- und sozialpolitischstand sie den Parteien der rechten Mitte nahe,aufgrund ihrer regionalistischen Zielsetzung bil-dete sie jedoch einen eigenen Pol im Parteien-system.70

Die Verwicklung zahlreicher Politiker der regie-renden Parteien, insbesondere der DC und derPSI in Korruptionsaffären diskreditierte diese inden Augen der Öffentlichkeit und delegitimierteso ihre Herrschaft. Bei den Parlamentswahlenvon 1992 konnten sie zwar ihre Position nochweitgehend behaupten, verloren danach aber ra-pide an Ansehen. 1993 zerfiel die DC in mehrereNachfolgeparteien, der PSI und die laizistischenParteien verschwanden in der Versenkung. Da-durch erweiterte sich erheblich der Handlungs-spielraum des MSI. Da er infolge seiner Isolationnicht in Bestechungsaffären verwickelt war,konnte er hoffen, die desorientierten Wähler desZentrums zu gewinnen und so zur Führungspar-

68 Vgl. Isabel Kneisler, Das italienische Parteiensystem,S. 92 ff.

69 Vgl. Zohlenhöfer, Das Parteiensystem Italiens, op.cit.,S. 286 ff.

70 Vgl. Elisabeth Fix, Italiens Parteiensystem im Wandel,op.cit., S. 115 ff.

tei des bürgerlichen Lagers aufzusteigen. DieGründung von neuen bürgerlichen Parteien bzw.die Bildung von bürgerlichen Wahlkoalitionenund die Einführung eines neuen Wahlrechts imApril 1993 drohten jedoch diese Hoffnung zuzerstören. Die neuen Parteien boten den bürgerli-chen Wählern demokratische Alternativen71, dasneue Wahlrecht benachteiligte Einzelparteien er-heblich.72

3. Die Alleanza Nazionale

3.1. Die Transformation des MSI

Angesichts der neuen politischen Lage besaß derMSI 1993/1994 nur noch die Wahl zwischen ei-ner Radikalisierung seiner Antisystemoppositionund einer Integration in das neu entstehende Par-teiensystem. Durch eine Radikalisierung konnteer hoffen, die Gegner der „Parteienherrschaft“ zugewinnen, riskierte aber eine Verstärkung seinerIsolation, durch eine Integration bot sich ihm da-gegen die Möglichkeit der demokratischen Legi-71 Die wichtigsten von diesen waren Forza Italia und der

Patto Segni, der gemeinsam mit der DC-Nachfolgepar-tei PPI die Wahlkoalition Patto per l’Italia bildete.Vgl. E. Fix, Italiens Parteiensystem, op.cit., S. 115 ff.;Ch. Jansen, Italien seit 1945, op.cit., S. 210 ff.

72 Das neue Wahlrecht bestand aus einer komplexen Mi-schung aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Bei natio-nalen Wahlen wurden nun 75 Prozent der Mandatenach dem Mehrheitswahlsystem und nur noch 25 Pro-zent der Mandate nach dem Verhältniswahlsystem ver-geben, bei Kommunalwahlen wurden die Bürgermeis-ter direkt nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahl-gängen gewählt, die Mandate jedoch weiterhin nachdem Verhältniswahlrecht verteilt. Das neue Wahlrechtbegünstige Großparteien und Wahlkoalitionen, da die-se unter den Bedingungen der Mehrheitswahl die bes-ten Erfolgsaussichten in den Wahlkreisen besaßen. Eswurde zu den Parlamentswahlen von 1994, 1996 und2001 angewendet. Vgl. Hartmut Ullrich, Reform desitalienischen Wahlsystems – Die Fata Morgana desEin-Mann-Wahlkreises als Regenerationsinstrumentder Demokratie, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris/GünterTrautmann/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Italien auf demWeg zur „Zweiten Republik“? Die politische Entwick-lung Italiens seit 1992, Frankfurt a.M. u. a. 1995,S. 123-149. Außerdem wurden in den Jahren 1993 bis1995 die Direktwahl der Bürgermeister sowie vier wei-tere neue Wahlsysteme für Kommunen unter sowie fürüber 15.000 Einwohnern, für die Provinzen und dieRegionen beschlossen. Vgl. Ch. Jansen, Italien seit1945, op.cit., S. 209.

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timation und Partizipation. Der MSI entschiedsich grundsätzlich für die Integration, verfolgtejedoch eine Doppelstrategie. Er attackierte einer-seits die regierenden Parteien als korrupt und in-kompetent, präsentierte sich aber andererseits als„saubere“ Alternative zu ihnen im Rahmen desdemokratischen Verfassungssystems. Er hoffteso, enttäuschte Wähler der Mitte zu gewinnenund koalitionsfähig zu werden, ohne seine tradi-tionellen Wähler zu verlieren. Um den traditio-nellen Zentrumswählern das Votum für den MSIpsychologisch zu erleichtern, schuf Fini auf An-raten des konservativen Politologen DomenicoFisichella73 im Juni 1993 gemeinsam mit einigenPersönlichkeiten der Zivilgesellschaft ein Wahl-kartell unter dem Namen Alleanza Nazionale(AN).74 Sie besaß keine eigene Rechtspersönlich-keit und keine eigene Organisation. Sie war eineleere Hülle, welche als Auffangbecken für bür-gerliche Gegner der „Parteienherrschaft“ dienensollte, die (noch) nicht bereit waren, den MSI zuwählen. Die Öffentlichkeit nahm jedoch kaumNotiz von ihr. Der erwartete Zustrom aus derzerfallenden Mitte blieb daher aus.75

Die erste Bewährungsprobe des neuen Samm-lungsprojekts bildeten die partiellen Bürgermeis-ter- und Kommunalwahlen vom Herbst 1993.Diese fanden zum ersten Mal unter den Bedin-gungen des neuen Wahlrechts statt. Der MSI prä-sentierte sich unter dem Signum MSI-AN imWahlkampf als „saubere“ Alternative zu den de-legitimierten Parteien des Zentrums sowie alsBollwerk gegen die Linke. Häufig gelang es sei-nen Vertretern, gemäßigte Kandidaten zu schla-gen. Dadurch förderte er die Polarisierung desParteienwettbewerbs, denn Teile der neuen Mitteverbündeten sich mit der Linken. In vielen Ge-meinden kam es so zu Duellen zwischen ihmund Mitte-Links-Bündnissen unter Führung derPDS. Bei diesen war er in 12 kleineren Städten

73 Vgl. Massimo Crosti, Domenico Fisichella. Il primatodella politica, Troina 2005.

74 Schon am 21. Januar 1993 hatte Fini das Projekt Al-leanza Nazionale in der Parteizeitung Il Secolo d’Ita-lia vorgestellt. Nach dem Vorbild der neogaullisti-schen Sammlungsbewegung RPR sollte sie alle bürger-lichen Gegner der partitocrazia in einer großen Sam-melpartei vereinen.

75 Vgl. Marco Tarchi, Dal MSI ad AN, op.cit., S. 129 ff.

erfolgreich.76 In den beiden größten Städten desLandes, Neapel und Rom, erlitt er jedoch eineknappe Niederlage. Im ersten Wahlgang konntenzwar in Rom Gianfranco Fini, der Parteivorsit-zende und in Neapel Alessandra Mussolini, eineEnkelin des Diktators, die Konkurrenten desZentrums schlagen, im zweiten Wahlgang unter-lagen sie jedoch mit 46,9 Prozent bzw. 44,4 Pro-zent der Wählerstimmen den Kandidaten vonMitte-Links-Bündnissen. Trotz der für ihn ex-trem günstigen Wahlsituation war es dem MSIsomit in beiden Großstädten nicht gelungen, dieMehrheit zu gewinnen. Die Vorbehalte vielerbürgerlicher Wähler gegen die Erben des Fa-schismus waren immer noch zu groß.

Um das Image des MSI zu verbessern, legte Finiam 11. Dezember 1993 an den Fosse Ardeatine,in denen im März 1944 italienische Geiseln vonder SS erschossen worden waren, einen Kranznieder und erwies so den Opfern der nazistischenRepression seine Referenz. Dies war eine Gestevon hoher Symbolkraft, denn die Fosse Ardeati-ne bildeten eine zentrale Gedenkstätte der antifa-schistischen Traditionspflege. Es war jedochgleichzeitig ein geschickter Schachzug, denn dieTäter waren Deutsche und die Opfer Italiener.An die Stelle des politisch-ideologischen Gegen-satzes Faschismus-Antifaschismus, auf dem dieantifaschistische Erinnerungskultur beruhte, pro-pagierte der MSI den nationalen Gegensatz Itali-en-Deutschland, der den ideologisch motiviertenBürgerkrieg von 1943/45 ausklammerte. So er-klärte denn auch Fini, er habe durch seine Gestedie “Rechte vom Haß des Bürgerkrieges“ befreit.Er wollte so den modernisierten Neo-Faschismusin die nationale Erinnerungskultur integrieren.77

Der nächste Schritt im Transformationsprozeßbildete am 22. Januar 1994 die Umwandlung derAllianza Nazionale in eine eigenständige Rechts-persönlichkeit. An ihr beteiligten sich außer Ver-tretern des MSI auch einige ehemalige Christde-mokraten und Rechtsliberale sowie Persönlich-keiten der Zivilgesellschaft. Ihr Vorsitzenderwurde Fini, sein Stellvertreter ein anderes füh-rendes MSI-Mitglied, Adolfo Urso. Die Organi-76 Vgl. P. Ignazi, Postfascisti?, op.cit., S. 93 f.77 Gianfranco Fini, Interview, in: Ideazione 2 (1995), H.

1, S. 76.

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sation übernahmen MSI-Funktionäre. Die ANwar daher personell und organisatorisch weitge-hend mit dem MSI identisch.78 Beide bildeten beiden Parlamentswahlen vom März und den Euro-pawahlen vom Juni 1994 gemeinsame Listen un-ter einem gemeinsamen Logo.79 De facto handel-te es sich dabei aber um offene Listen des MSI,auf denen auch unabhängige Persönlichkeitensowie ehemalige Aktivisten anderer Parteienkandidierten. Die AN bildete „Zirkel“, um ihreIdeen in der Wählerschaft zu verbreiten undSympathisanten an die Partei heranzuführen. Siewurden von MSI-Mitgliedern geführt und so aufdie Parteilinie eingeschworen. Obwohl sie zahl-reiche Delegierte auf den AN-Gründungskongreßvon Fiuggi entsandten, hatten sie keinen erkenn-baren Einfluß auf den Transformationsprozeß.

Unter den Zwängen des neuen Wahlrechtsschloß der MSI/AN ein Wahlbündnis mit derEnde 1993 von dem Medienunternehmer SilvioBerlusconi gegründeten wirtschaftsliberalenForza Italia (FI) unter dem Namen Pol del BuonGoverno. Die FI gehörte als Neugründung nichtzum „Verfassungsbogen“, d. h. den Gründungs-parteien der I. Republik und besaß daher gegen-über dem MSI keine Berührungsängste.80 BeideParteien stellten aber nur im Süden und im Zen-trum gemeinsame Kandidaten auf. Im Nordenverbündete sich die FI mit der Lega Nord, da siederen Wählerpotential dort wesentlich höher ein-schätzte als das des MSI. Ein landesweites Wahl-bündnis aller drei Parteien war wegen der staats-politischen Gegensätze zwischen dem unitari-schen MSI und der regionalistischen Lega Nord1994 noch nicht möglich. Der MSI trat daher imNorden unter dem Logo MSI/AN alleine an.

Durch die Wahlkoalition mit der FI optimierteder MSI/AN nicht nur seine Wahlchancen nachdem Mehrheitswahlsystem, sondern verstärkte78 Cf. Piero Ignazi, Alleanza nazionale, in: Ilvo

Diamanti/Renato Mannheimer, Milano a Roma. Guidaall’ Italia elettorale del 1994, Rom 1994, S. 38-54, hierS. 44.

79 Bereits am 29. Januar 1994 billigten die Delegiertendes MSI-Parteikongresses von Rom die Bildung ge-meinsamer Listen. Vgl. Marco Tarchi, Dal MSI adAN, op. cit., S. 129 f.

80 Vgl. E. Fix, Italiens Parteiensystem im Wandel, op.cit.,S. 190 ff.

auch seine demokratische Legitimation. ImWahlkampf vertrat er in der Wirtschaftspolitikneoliberale, in der Sozialpolitik sozialstaatliche,in der Debatte um die Staatsreform unitarische,in der Europapolitik integrationsfreundliche, inder Außenpolitik pro-amerikanische und in kul-turellen Fragen konservative Positionen. Vor al-lem aber profilierte er sich als Antikorruptions-partei. Dies zahlte sich bei den Wahlen aus. Ererhielt 13,5 Prozent der Stimmen nach dem Ver-hältniswahlrecht, 84 Mandate in der Kammerund 43 Mandate im Senat nach dem Mehrheits-wahlrecht. Gegenüber den Parlamentswahlenvon 1992 konnte er so seinen Stimmenanteilmehr als verdoppeln und seine parlamentarischeRepräsentation verdreifachen.81 Mit insgesamt107 Abgeordneten und 47 Senatoren wurde erhinter FI und PDS zur drittstärksten parlamenta-rischen Kraft.82

Gekrönt wurde die neue Integrations- und Bünd-nisstrategie durch den Eintritt in die Mit-te-Rechtsregierung Berlusconi.83 Dadurch warder MSI als dominierende Komponente der ANinnerhalb eines Jahres von einem isolierten Au-ßenseiter des Parteiensystems zur Regierungs-partei geworden. Damit erhöhte sich aber auchder Anpassungsdruck an das demokratische Ver-fassungssystem. Im September 1994 beschloßdaher die Parteiführung die Verschmelzung desMSI mit der AN. Diese erfolgte auf dem Partei-tag von Fiuggi vom 25. bis 29. Januar 1995. Erwar der letzte Parteitag des MSI (25./27.01) undder erste der AN (28./.29.01). Formal hörte damitder MSI nach fast fünfzig Jahren rechtlich auf zubestehen. De facto aber existierte er unter demneuen Namen weiter. Seine ehemaligen Mitglie-der bildeten die erdrückende Mehrheit der neuenPartei und die alte Parteielite sicherte sich überdie Organisationsstrukturen die Parteiführung.

81 Vgl. M. Corte (Hrsg.), 1946-2006. Sessant’anni di ele-zioni in Italia, Rom 2006, S. 103 ff.

82 Vgl. G. Pasquino, Der unerwartete Machtwechsel. Dieitalienischen Wahlen vom März 1994 und ihre Folgen,in: Politische Vierteljahresschrift, 35. Jg., 3/1994, S.385 ff.

83 In dieser stellte die AN fünf Minister. Nur einer von ih-nen, Giuseppe Tartarella, gehörte als ehemaliger Vize-generalsekretär des MSI zu den Altkadern der Partei.Fini trat nicht in das Kabinett ein.

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Neu hinzu kamen lediglich die Mitglieder derAN-Zirkel sowie einige ehemalige Politiker desZentrums, insbesondere der DC. Die AN über-nahm das MSI-Statut, erweitere es aber um eini-ge Artikel, die dem Vorsitzenden weitreichendeMachtbefugnisse gaben.84 Rechtlich trat sie dieNachfolge des MSI an und sicherte sich so des-sen Besitzstände. Organisatorisch und rechtlichbildete sie daher dessen Nachfolgepartei.85

Die Transformation des MSI wurde von den Par-teitagsdelegierten mit großer Mehrheit gebilligt.86

Nur der nationalrevolutionäre Flügel unter derFührung von Pino Rauti spaltete sich ab undgründete den Movimento Sociale-Fiamma Trico-lore (MS-FT), der jedoch zu keiner ernsthaftenKonkurrenz für die AN wurde, da er nur gerin-gen Rückhalt in der Wählerschaft fand.87 Finiverdankte seinen Erfolg von Fiuggi vor allemder Unterstützung der national-konservativenModernisierungskräfte. Diese befürworteten dieTransformation, verteidigten jedoch traditionelleideologische Positionen.88 Fini mußte diese da-her bei der programmatischen Ausrichtung derAN berücksichtigen.

Parallel zum Transformationsprozeß des MSIwandelten sich auch dessen Vorfeldorganisatio-nen. Die alte neofaschistische GewerkschaftCISNAL transformierte sich in die UGIL/UGL,84 So ernannte er den Generalsekretär (Koordinator) und

die Provinzsekretäre der Partei und konnte sie auch je-derzeit wieder abberufen. Damit kontrollierte er dieParteiorganisation.

85 Vgl. Marco Tarchi, Dal MSI ad AN, op.cit., S. 141 ff.Fini betonte ausdrücklich in seiner Parteitagsrede dieKontinuität von MSI-DN und AN. Vgl. Pensiamo l’Ita-lie. Il domani c’è gia – valori, idee e progetti per l’Al-leanza Nazionale. Tesi politiche dal Congresso diFiuggi, Januar 1995, S. 4.

86 Vgl. Petra Reiter-Mayer, Die Etablierung der AlleanzaNazionale im politischen System Italiens. Eine gesell-schaftsfähige Rechte oder Altbekanntes in neuen Klei-dern?, Hamburg 2006, S. 164 ff.

87 Sein Wähleranteil bei Parlamentswahlen sank von 1,6Prozent im Jahre 1996 auf 0,61 Prozent im Jahre 2006.Vgl. Marco Corte (Hrsg.), sessant’anni di elezioni inItalia, op. cit. , S. 126 ff. u. 207 ff.

88 Ein führender Vertreter dieser Kräfte war Marco Tre-maglia, ein ehemaliges Angehöriger der RSI-Milizenund MSI-Aktivist der ersten Stunde. Vgl.http://ww-w.alleanzanazionale.it/an_ti_segnala/I_ministri_di_an.htm. (13. Juni 2003).

die in das politische System integriert und legiti-miert wurde. Sie war einst die wichtigste Basisdes nationalrevolutionären Flügels.

3.2. Ideologie und Programmatik der AN

Fini war sich bewußt, daß die angestrebte Sys-temintegration nur erfolgreich sein würde, wennsich die Partei auch ideologisch und programma-tisch den neuen politischen Verhältnissen anpaß-te. Er bemühte sich daher auch um ihre inhaltli-che Transformation.89 Dabei stand er vor einerdoppelten Aufgabe. Einerseits mußte er den de-mokratischen Kräften im In- und Ausland, insbe-sondere in den USA und in Israel, beweisen, daßdie AN tatsächlich eine demokratische Partei sei,andererseits mußte er aber auf die ehemaligenMSI-Mitglieder und Stammwähler Rücksichtnehmen, die noch durch die traditionellen Über-zeugungen geprägt worden waren. Er vermieddaher einen offenen Bruch mit den neofaschisti-schen Ideen, welche die ideologische Grundlagedes MSI gebildet hatten und ersetzte sie statt des-sen schrittweise durch nationale, konservative,katholische und liberale Prinzipien und Werte.Die ideologische und programmatische Transfor-mation vollzog sich daher in Etappen. Begonnenwurde sie auf dem Parteitag von Fiuggi 1995,fortgeführt auf dem Parteitag von Verona 1998und dem Programmkongreß von Neapel 2001,abgeschlossen auf dem Parteitag von Bologna2002.

Zur inhaltlichen Vorbereitung des Parteitagesvon Fiuggi publizierte der Parteivorstand am 7.Dezember 1994 ein Thesenpapier, das dieGrundlage des Programms der AN werden sollte.Es wurde ausgiebig innerhalb der Partei disku-tiert und von den Delegierten des XVII. MSI-Parteitages mehrheitlich angenommen.90 Mit ei-

89 Vgl. zur Problematik der inhaltlichen TransformationGianfranco Baldini/Rinaldo Vignati: Dal MSI ad AN:una nuova cultura politica?, in: Polis X,1, 1996, S. 81-101; Marco Tarchi: The political culture of the Allean-za Nazionale: an analysis of the party’s programm do-cuments (1995-2002), in: Journal of Modern ItalianStudies, vol. 8, n. 2, 203, S. 135-181.

90 Pensiamo l’Italia. Il domani c’è già. Valori, idee e pro-getti per l’Alleanza Nazionale, Tesi politiche per ilXVII Congresso nazionale del MSI- DN, 7. Dezember1994.

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nigen Änderungen wurde es zum Grundsatzpro-gramm der AN.91

Die Transformation des MSI wurde mit dem Zu-sammenbruch der Ersten Republik begründet.Für diesen sei die „Parteienherrschaft“, d. h. dieDominanz der Verfassungsparteien verantwort-lich, die der MSI stets bekämpft habe. Damit seidie historische Phase der Rechten als Alternativezum System beendet und es beginne eine neuePhase, in der die Rechte sich aktiv an der Er-neuerung der Politik und der Neugründung desStaates beteiligen werde. Allerdings müsse dieAN als gleichberechtigter Akteur von den ande-ren Parteien anerkannt werden. In dem neuen po-litischen System dürfe es keine Feinde geben,welche zu vernichten seien, sondern Gegner, diees mit demokratischen Mitteln zu bekämpfengelte. Bei jeder Wahl müsse im Gegensatz zurErsten Republik ein demokratischer Machtwech-sel möglich sein. Mit dieser Begründung derTransformation vermied Fini eine Auseinander-setzung mit der neofaschistischen Vergangenheitder Partei. Ihre Antisystemopposition erschienhistorisch gerechtfertigt mit dem Kampf gegendie Parteienherrschaft, d. h. die Dominanz derVerfassungsparteien. Ihre Bereitschaft zur Syste-mintegration ergab sich aus der Erneuerung deritalienischen Politik, die durch den Zusammen-bruch der I. Republik möglich geworden sei. Derwahre Grund ihrer bisherigen Außenseiterrolle,ihre neofaschistische Ideologie und Programma-tik, blieb unerwähnt.

Fini bekannte sich zur Freiheit als oberstemWert, von der die Rechte ihre Konzeption desStaates, der Gesellschaft, der Wirtschaft und diePrinzipien ihres politischen Handels ableite, undverurteilte den Totalitarismus. Er vermied je-doch eine inhaltliche Auseinandersetzung mitdem Faschismus. Die Freiheit sei die Antithesedes Totalitarismus. Da sie die ideelle Grundlageder Rechten bilde, könne man diese auch nichtmit dem Faschismus identifizieren oder sie garunmittelbar von diesem herleiten. Die Rechte seikeine Tochter des Faschismus.

91 Pensiamo l’Italia. Il domani c`è gia – Valori, idee eprogetti per l’Alleanza Nazionale – Tesi politiche ap-provato dal Congresso di Fiuggi, Januar 1995.

Ihre Werte hätten bereits vor dem Faschismusexistiert, seien durch diesen hindurchgegangenund hätten ihn überlebt. Die Wurzeln der Rech-ten lägen in der italienischen Geschichte, vor,während und nach dem faschistischen Regime.

Statt sich inhaltlich mit dem Faschismus und da-mit mit den ideologischen Grundlagen des MSIauseinanderzusetzen, historisierte er ihn wie be-reits sein Vorgänger Almirante in den siebzigerJahren. Er sei das Produkt spezifischer histori-scher Umstände gewesen und sei mit dem Ver-schwinden dieser Umstände ebenfalls ver-schwunden. Fini historisierte aber auch den An-tifaschismus und erklärte damit den Gegensatzvon Faschismus-Antifaschismus als geschicht-lich überholt und damit für die Gegenwart be-deutungslos. Auf diese Weise vermied er eineAuseinandersetzung mit der neofaschistischenVergangenheit der Partei und ebnete ihr denWeg in das neuentstehende Parteiensystem, dennwenn der Gegensatz Faschismus-Antifaschismussich geschichtlich erledigt hatte, dann waren eineexplizite Distanzierung vom Faschismus und einBekenntnis zum antifaschistischen Verfassungs-konsens auch nicht notwendig.

Fini verurteilte allerdings bereits 1995 ausdrück-lich den Rassismus und Antisemitismus.92 1999besuchte er das ehemalige VernichtungslagerAuschwitz und im November 2003 die israeli-sche Gedenkstätte Yad Vashem für die ermorde-ten Juden Europas. Bei diesem Besuch bezeich-nete er den Faschismus als „Verkörperung desabsolut Bösen“ (male assoluto) und beklagte denmangelnden Widerstand der Italiener gegen die„schändlichen Rassengesetze“ des faschistischenRegimes.93 Bereits ein Jahr zuvor hatte er sichkritisch über Mussolini geäußert, den er noch

92 Pensiamo l’Italia, S. 14.93 Vgl. Il Secolo d’Italia vom 24. Nov. 2003. Aus Protest

gegen seine moralische Verurteilung des Faschismusbildete sich eine innerparteiliche Opposition um Fran-cesco Storace, dem damaligen Präsidenten der RegionLatium und späteren Gründer der Destra. AlessandraMussolini, die Enkelin des Diktators, verließ die Parteiund gründete für die Europawahlen 2004 die rechtsex-treme Alternativa Sociale, die jedoch nur ein Prozentder Stimmen erhielt und bald wieder verschwand. Vgl.zu den innerparteilichen Reaktionen La Repubblicavom 3. und 8. Dezember 2003.

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1994 als den größten Staatsmann des 20. Jahr-hunderts bezeichnet hatte.94

Statt zum Faschismus bekannte sich die AN inFiuggi zu den Werten der abendländischen Zivi-lisation und des Katholizismus, zur Freiheit undzur Demokratie. Zur theoretischen Begründungdieses Bekenntnisses berief sich Fini auf eineVielzahl von Denkern des 19. und 20. Jahrhun-derts, die nur geringe Gemeinsamkeiten besaßen.Der Spannungsbogen reichte von den Theoreti-kern des französischen Traditionalismus (deMaistre, Bonald, Maurras) über Vertreter der„konservativen Revolution“ (Carl Schmitt,Spengler), des Futurismus (Marinetti), des Na-tionalismus (d’Annunzio), des Elitismus(Pareto), des Faschismus (Gentile) sowie Neofa-schismus (Evola) bis hin zu Vordenkern des Li-beralismus (Croce) und des Marxismus (Grams-ci). Er rechtfertigte diesen Eklektizismus mitdem Argument, all diese Denker hätten die ita-lienische Kultur des 20. Jahrhunderts beeinflußtund gehörten damit zum geistigen Erbe der Nati-on. In der AN könne sich jeder auf denjenigenDenker berufen, dem er sich nahe fühle. Er müs-se lediglich die Demokratie sowohl als Methodeals auch als Wertsystem bejahen.95

Finis ideologischer Eklektizismus ergab sich ausdem Bestreben, einerseits die verschiedenenStrömungen der Partei zu integrieren, anderer-seits die Partei für neue Mitglieder aus anderenpolitischen Traditionen zu öffnen. Jede präziseideologische Aussage, jede ideologische Festle-gung hätte die Verwirklichung dieser doppeltenZielsetzung behindert. Eine Inhaltsanalyse desParteidiskurses zeigt jedoch, daß die zentralenWerte der AN die gleichen waren wie die desMSI: Nation, Staat, Ordnung, Autorität, Familie,Tradition, Solidarität. Die AN gab ihnen aber un-ter Rückgriff auf konservative, katholische, na-

94 Vgl. Galluzzo, Marco: Il vicepremier manda in soffitail Mussolini grande statista, in: Corriere della Sera,23.01.2002, S. 9, URL: http://archiviostorico.corrie-re.it/2002/gennaio/23/vicepremier_manda_soffita_Mussolini_grande_co_0_0 20123847.shtml, 07.05.2008.Zum Kontext dieser Erklärung vgl. Gerhard Feldbauer,Von Mussolini bis Fini. Die extreme Rechte in Italien,Berlin 1996, S. 180 ff.

95 Vgl.Pensiamo l’Italia, op.cit., S. 14. Fini, Vi presentoAN, op.cit., S. 82.

tionale und liberale Vorstellungen einen neuenInhalt und machte sie so mit der Demokratiekompatibel. Andere ideologische Elemente desFaschismus wie Kolonialismus, Imperialismusund Heroismus, die im MSI noch gepflegt wur-den, verschwanden völlig aus dem offiziellenParteidiskurs.96

Im Zentrum des Ideengebäudes der AN stand wiebeim MSI die Nation. Sie sei eine historisch ge-wordene, sprachlich-kulturelle, politisch-territo-riale Realität, „die ein von der Vergangenheitüber die Gegenwart in die Zukunft reichendesununterbrochenes Leben besitzt“97. Allerdingsmüsse sie ihr historisches Gedächtnis, das Zuge-hörigkeitsbewußtsein und die kulturelle Eigenartwiedererlangen. Die AN kombinierte so das Ab-stammungsprinzip mit dem Territorialprinzipund schloß damit die sprachlich-kulturellen Min-derheiten ein, auch wenn sich diese wie die Süd-tiroler mehrheitlich nicht der italienischen Nati-on zugehörig fühlen.

Eng verbunden mit der Nation sei die Demokra-tie. Sie garantiere die politischen Rechte desVolkes und habe sich bewährt. Ihre Werte undRegeln würden von der AN anerkannt und mitge-tragen. Sie müsse jedoch grundlegend reformiertwerden. Entsprechend dem französischen Repu-blikanismus verband die AN Nation und Demo-kratie zu einer Einheit im Nationalstaat. Nur indessen Rahmen könne sich die Volkssouveräni-tät verwirklichen. Er müsse stark sein, um seineBürger vor inneren und äußeren Gefahren schüt-zen zu können, er solle sich aber auf seine Kern-funktionen beschränken, damit sich die Zivilge-sellschaft frei entfalten könne. Wirtschaft undGesellschaft sollten von den Bürgern selbst orga-nisiert werden. Dabei sollten Vereine und Ver-bände eine zentrale Rolle spielen. Die AN propa-gierte somit den starken Staat, beschränkte ihnjedoch auf seine Hoheits- und Ordnungsfunktio-nen. Sie distanzierte sich so vom sozialistischenEtatismus, implizit aber auch vom faschistischenMacht- und Interventionsstaat. Den Korporatis-mus, den der MSI noch in den siebziger Jahrenals Alternative zu Kapitalismus und Kommunis-96 Reste davon fanden sie nur noch einige Zeit im Feuille-

ton der Parteizeitung il Secolo d’Italia. 97 Pensiamo l’Italia, S. 15.

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mus propagiert hatte, reduzierte sie auf das Ver-eins- und Verbandswesen. Ganz in der Traditionder MSI verteidigte sie jedoch die staatliche Ein-heit gegen den Separatismus der Lega Nord undengagierte sich statt dessen für eine Stärkung derregionalen und kommunalen Selbstverwaltung.Als Garant der staatlichen Einheit und der De-mokratie forderte sie die Direktwahl des Staats-präsidenten.

Wirtschaftspolitisch bekannte sich die AN zurMarktwirtschaft, befürwortete jedoch zum Aus-gleich regionaler Ungleichheiten staatliche Re-gelungen der Wettbewerbsfreiheit. Dies lag ein-deutig im Interesse ihres süditalienischenWählerklientels. Sozialpolitisch vertrat die ANsozialprotektionistische Thesen, um sich von ih-rem wirtschaftsliberalen Koalitionspartner ForzaItalia abzugrenzen. Sie begründete ihren Sozial-protektionismus mit der Pflicht zur Solidarität,die sich aus der nationalen Zugehörigkeit allerItaliener ergebe. Sie pflegt so ihr Image als so-ziale Rechte.

Europapolitisch befürwortete die AN die euro-päische Integration und damit die Übertragungnationaler Souveränitätsrechte auf europäischeInstitutionen. Fini kritisierte zu diesem Zeitpunktallerding noch die Währungsunion und forderteeine neue Aushandlung des Vertrages.98 Außen-politisch bekannte sich die AN wie bereits derMSI zur Atlantischen Allianz und zur Kooperati-on mit den Vereinigten Staaten als Grundlagender italienischen Außen- und Sicherheitspolitik.Sie forderte jedoch ebenfalls wie dieser die Re-vision des Vertrages von Osimo mit Jugoslawienvon 1975 und die Einführung der Zweisprachig-keit in Istrien.

Das Programm von Fiuggi bildete keinen radika-len Bruch mit der Programmatik des MSI, son-dern lediglich eine Etappe in deren Transforma-tionsprozeß. Die Partei hatte sich zwar ausdrück-lich zur Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratiebekannt und den Totalitarismus, Rassismus undAntisemitismus verurteilt, aber sich nicht kri-tisch mit der eigenen Vergangenheit auseinan-

98 Vgl. auch Gianfranco Fini, Tranquilla, alla fine vinceràFini. Interview von A. Padellaro mit Fini, in: L’Espres-so, 15. April 1994, S. 22-28.

dergesetzt. Da die Mehrheit ihrer Mitglieder ausdem MSI stammte, war dies auch nicht anders zuerwarten. Der Anspruch der AN, eine demokrati-sche Rechtspartei zu sein, stieß daher im In- undAusland eher auf Skepsis. Bei den Parlaments-wahlen 1996 konnte sie zwar ihren Stimmenan-teil nach der Verhältniswahl gegenüber 1994 um2,2 Prozent auf 15,7 Prozent vergrößern, aber sieblieb innerhalb der Mitte-Rechts-Koalition Polodelle Libertà weiterhin nur die zweitstärksteKraft hinter der Forza Italia mit über 20 Pro-zent.99 Bei den partiellen Regionalwahlen 1997verlor sie aber schon wieder Stimmen. Diesüberzeugte Fini von der Notwendigkeit, den pro-grammatischen Transformationsprozeß fortzu-setzen. Diesem Zwecke diente der Parteitag vonVerona vom 27.02. bis zum 01.03.1998. DieParteiführung hatte mit Bedacht einen Tagungs-ort gewählt, der in der Geschichte des Faschis-mus eine wichtige Rolle spielte. Hier hatte nachdem Zusammenbruch des faschistischen Regi-mes im Herbst 1943 der Partito fascista repubb-licano (PFR) die Carta di Verona beschlossen,welche die ideologisch-programmatische Grund-lage der RSI bildete. Im Kontrast zu dieser ver-kündete die AN ein antietatistisches Projekt fürItalien des Jahres 2000.100 Dessen Kernthese lau-tete, daß es nicht die Aufgabe des Staates sei, dieGesellschaft zu modernisieren, sondern daß erlediglich seinen Bürgern die Möglichkeit gebenmüsse, sich frei entfalten zu können. Mit dieserdistanzierte sich die AN erneut programmatischvom MSI.

In seiner Eingangsrede forderte Fini die Erneue-rung des „Systems Italien“ durch Privatisierungstaatlicher Unternehmen und eine Wirtschaftspo-litik, die vor allem die mittleren und kleinerenUnternehmen fördern solle. Er schärfte damitdas neoliberale Profil der Partei. Anschließendbekannte er sich noch einmal zu den in Fiuggiverkündeten Werten und befaßte sich mit demVerhältnis von Individuum und Nation. Die99 Der Polo delle Libertà hatte bei der Wahl zur Kammer

nach der Mehrheitswahl 40,2 Prozent, die Forza Italianach der Verhältniswahl 20,6 Prozent gewonnen. Vgl.Mario Corte (Hrsg.), Sessant’anni di elezioni in Italia,op.cit., S. 115-119.

100 Alleanza Nazionale: un progetto per l’Italia del Due-mila, Verona 1998.

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Rechte beider hätten den gleichen Stellenwertund müßten deshalb gleichermaßen respektiertwerden. Schließlich verteidigte er wie in Fiuggidie nationale Identität. Trotz der europäischenIntegration und der Globalisierung bilde sie wei-terhin die Grundlage der nationalen Existenz undbleibe neben der europäischen Identität bestehen.In der Sozialpolitik setzte er die Schwerpunkteauf die Familienpolitik, die Demographie, dasRentensystem, die Einwanderung, die Schuleund die Universitäten. In der anschließendenDiskussion unterstützte die Mehrheit Finis Posi-tionen. Fini war es damit gelungen, die Parteistärker in die rechte Mitte zu rücken und so auchfür gemäßigte Rechtswähler attraktiv zu machen.

Unmittelbar vor den Parlamentswahlen vom 13.Mai 2001 fand in Neapel Ende Februar ein Pro-grammkongreß statt. Auf ihm wurde ein Wahl-programm verabschiedet, das eine freie, einestarke und eine gerechte Regierung forderte.101

Die Regierung solle sich an der Freiheit des Ein-zelnen orientieren, die Bürokratie verringern unddie Prinzipien des Liberalismus vertreten.102 Zuden Prinzipien des Liberalismus zählte das Pro-gramm die Marktwirtschaft, die Subsidiaritätund die Grundsätze des Sozialstaates.

Der durch die Fortschreibung der Programmatikvon Fiuggi erhoffte Wahlerfolg blieb jedoch aus.Das Mitte-Rechts-Bündnis Casa della Libertàgewann zwar die Wahlen und bildete unter derFührung Berlusconis die Regierung, aber die ANhatte bei der Kammerwahl nach dem Verhältnis-wahlrecht nur 12,2 Prozent der Stimmen erhal-ten, das waren 2,5 Prozent weniger als 1996. Sieblieb damit innerhalb des bürgerlichen Wahl-bündnisses zwar die zweitstärkste Kraft nach derForza Italia mit 29,4 Prozent, aber sie hatte ge-genüber dieser erheblich an Gewicht verloren.Sie veranstaltete daher ein Jahr später im April2002 in Bologna ihren dritten Parteitag, um ih-ren Transformationsprozeß abzuschließen.

In dessen Mittelpunkt stand die Überarbeitungder Programmatik. Zu ihrer Vorbereitung hatte

101 Libero Forte Giusto. Il governo che voliamo. Secondaconferenza programmatica. Napoli 23-24-25 Febbraio-Mostra d’Oltremare 2001.

102 Programm di Napoli 2001, S. 2 ff.

die Parteiführung wie bereits für den Parteitagvon Fiuggi einen Programmentwurf publiziert,der in den Parteigliederungen diskutiert wurde.103

Er bildet die Grundlage des neuen Programms,das der Parteitag verabschiedete.104 Im Gegen-satz zum Parteitag von Fiuggi waren alle Mit-glieder stimmberechtigt und die Parteitagsdele-gierten wurden auf Provinzialkongressen ge-wählt. Dadurch wurden die neuen Parteimitglie-der in den innerparteilichen Meinungs- und Wil-lensbildungsprozeß eingebunden und der Einflußder ehemaligen MSI-Mitglieder zurückgedrängt.Von den Delegierten gehörte etwa die Hälfte derDestra Protagonista an, der Hausmacht Finis.

Fini betonte in seiner Eröffnungsrede die inhalt-liche Kontinuität der Partei. Die AN habe trotzihrer programmatischen Entwicklung seit ihremersten Parteitag an ihren Kernideen festgehalten.Sie sei eine Partei der Rechten, die als einzigepolitische Kraft auf dem rechten Spektrum desParteiensystems verankert sei. Sie werde nichtmehr länger durch die ideologischen Kontrover-sen der Vergangenheit behindert, sondern betei-lige sich als Regierungspartei aktiv an der Um-gestaltung des italienischen Staates.105 Anschlie-ßend stellte er das Regierungsprogramm vor.Neu in diesem war das stärkere Bekenntnis zureuropäischen Zusammenarbeit, die Betonung derzentralen Rolle (centralità) des Staates in der Ge-staltung der nationalen Politik, das Abrückenvom Neoliberalismus zugunsten einer neuen so-zialen Marktwirtschaft, die Bejahung des Föde-ralismus bei gleichzeitiger Betonung der natio-nalen Einheit.

Die AN befürwortete ein Europa der „Einheit inder Vielfalt“, eine Union von Nationalstaaten, inder die nationalen Interessen dazu beitragen, dasGesamtinteresse zu bestimmen. Die Union sollesich mit allen Aufgaben befassen, die sie besserals ihre einzelnen Mitglieder bewältigen könne:

103 Alleanza Nazionale, Vince la Patria. Nasce l’Europa,2° Congresso Nazionale, Bologna 4/7 aprile 2002. Zi-tiert als Programmentwurf von Bologna.

104 Pittaforma politico-programmatica del 2° Congressonazionale. Zitiert als politisches Programm.

105 Gianfranco Fini: Vince la Patria, nasce l’Europa. 2°Congresso Nazionale di Alleanza Nazionale, Bologna4. aprile 2002, discorso di apertura, S. 3.

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Außen- und Sicherheitspolititk, Währungsstabi-lität und Handelsregeln, Einwanderung undAsylrecht, Kampf gegen den Terrorismus und in-ternationale kriminelle Organisationen. Alle an-deren Aufgaben sollten den Nationalstaaten vor-behalten bleiben. Damit gab sie die antieuropäi-sche Haltung des MSI auf.106 Im Gegensatz zuden Programmen von Neapel und Verona plä-dierte die Partei jetzt für eine stärkere Rolle desStaates bei der Gestaltung gesellschaftlicher undsozialer Probleme. Italien brauche eine „neue so-ziale Marktwirtschaft“, in der der Staat Markt-verzerrungen korrigieren und für den sozialenAusgleich sorgen solle.107

Die AN akzeptierte nun auch die von der LegaNord geforderte „Devolution“, d. h. die Übertra-gung von staatlichen Kompetenzen an die Re-gionen, betonte jedoch gleichzeitig die nationaleEinheit, die durch einen starken Präsidenten undeinen Sonderstatus von Rom verkörpert werdenmüsse.108 Außerdem müsse es ein solidarischerFöderalismus sein, in dem die finanzstarken diefinanzschwachen Regionen unterstützen. Begrün-det wurde die Verbindung von Föderalismus undUnitarismus mit der These, die tausendjährigeIdentität der italienischen Nation sei gekenn-zeichnet durch die „Einheit in der Vielfalt“.109

Der Programmentwurf wurde sowohl im Plenumals auch in den getrennten Zusammenkünften derdrei Parteiströmungen diskutiert. Im Gegensatzzu Fiuggi gab es keine grundsätzliche Oppositi-on mehr. Die Delegierten aller drei Strömungenstimmten geschlossen für die Annahme des Pro-gramms. Damit hatte sich Fini erneut durchge-setzt. Er wurde per Akklamation in seinem Amtbestätigt. Die Partei hatte damit programmatischeinen weiteren Schritt in ihrem Transformations-prozeß getan und sich nach außen als geschlos-

106 Vgl. L`appello agli italiani, Bd. II, in: Vallauri,Carlo/Bevilacqua, Fernando (Hgg.): L´arcipelago de-mocratico, organizzazione e struttura dei partiti neglianni del centrismo (1949-1958), Rom 1981, S. 479.

107 Programmentwurf Bologna, S. 27-35, Piattaforma po-litco-programmatica, S. 9-11.

108 Programmentwurf Bologna, S. 79-83; Piattaforma poli-tico-programmatico, S. 25 ff.

109 Programmentwurf Bologna, S. 79; Piattaforma politi-co-programmatico, S. 25.

sene Kraft gezeigt. Eine personelle und organisa-torische Erneuerung fand jedoch nicht statt. Dieehemaligen MSI-Kader hatten daher die Parteiweiterhin fest im Grif

3.3 Die politische Praxis der AN

Die politische Praxis der AN entsprach der pro-grammatischen Gemengelage. Sie unterstützteals Regierungspartei in den Jahren 2001-2006den Kurs Berlusconis, bemühte sich jedoch umein eigenständiges Profil, um sich von ihren Ko-alitionspartnern, insbesondere der Forza Italiaund der Lega Nord, zu unterscheiden. Auf Drän-gen von Mirko Tremaglia, der in der 2. Regie-rung Berlusconi das Ressort für die Auslandsita-liener innehatte, verlieh diese 2001 das Wahl-recht an die im Ausland lebenden italienischenStaatsbürger und erfüllte damit eine alte Forde-rung des MSI.110 Dieser wollte dadurch die Bin-dung der Auslandsitaliener an ihre alte Heimatstärken und hoffte gleichzeitig so sein Stimmen-potential zu vergrößern. In der Einwanderungs-politik bekämpfte die AN gemeinsam mit derLega Nord die illegale Einwanderung und er-schwerte erheblich den Zuzug von Nicht-EU-Bürgern (Extra comunitari).111 Entsprechenddem französischen Vorbild forderte jedoch Fini2003 die Verleihung des kommunalen Wahl-rechts an legale Einwanderer, um sie so politischzu integrieren.112 Die Stabilität von Staat undGesellschaft war ihm wichtiger als die ethnisch-kulturelle Homogenität der Nation. Er folgte da-mit dem französischen Vorbild. In der Frage derStaatsrechtsreform ging die AN einen Kompro-miß mit der Lega Nord ein. Um deren Zustim-mung zu einer Stärkung der Exekutive, insbe-sondere der Stellung des Premierministers imVerfassungssystem zu erhalten, bejahte sie die

110 Vgl. Mozione approvata nel Congresso dell`Aquila(1952), in: Vallauri, /Bevilacqua, (Hgg.): L´arcipelagodemocratico, op.cit., S. 489.

111 Vgl. Ohne Autor: Immigrazione, la legge Bossi-Finipunto per punto, in: La Repubblica, 04.06.2002, URL:http://www.repubblica.it/online/politica/improntedue/scheda/scheda.html, 14.06.2008.

112 Vgl. Chiarini, Roberto: La tentazione della protesta an-ti-immigrati, in: Chiarini, Roberto/Maraffi, Marco(Hrsg.): La destra allo specchio: la cultura politica diAlleanza nazionale, Venedig 2001, S. 182.

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Aufnahme föderaler Elemente in die Staatsver-fassung und stimmte im Frühjahr 2005 für die„Devolution“, d. h. für die Übertragung vonstaatlichen Kompetenzen im Bereich des Ge-sundheitswesens, der Bildung und der Polizeiauf die Regionen sowie für die Umwandlung desSenats in eine quasiföderale Kammer.113 Als Ge-gengewicht zur Kompetenzerweiterung der Re-gionen beharrte sie jedoch auf einer Stärkungdes Präsidenten als Garant und Symbol der staat-lichen Einheit sowie eines Sonderstatus für dienationale Hauptstadt Rom.114 Sie kombinierte soin der Staatspolitik unitarische und föderale Ele-mente.

In der Europapolitik bejahte sie wie ihre Koaliti-onspartner die Wirtschafts- und Währungsuni-on115, die Fini noch 1994 kritisiert hatte116, undunterstützte in den Jahren 2002/2004 auch aktivden europäischen Verfassungsprozeß.117 Im Eu-ropäischen Parlament trat sie der Union für dasEuropa der Nationen bei, die das Prinzip der na-tionalstaatlichen Souveränität verteidigte, strebtejedoch die Mitgliedschaft in der Fraktion der Eu-ropäischen Volkspartei an. Auf Einladung vonNicolas Sarkozy nahm Fini am 30. Januar 2008am Europa-Konvent der UMP in Paris teil.118 ImGegensatz zur französischen Rechten befürwor-tete er jedoch den EU-Beitritt der Türkei sowieeine enge europäisch-amerikanische Partner-

113 Vgl. Roland Höhne, Italien: Verfassungsänderung alsModernisierungsstrategie, in: Bernd Rill (Hrsg.), Re-formfähigkeit und Reformstau. Ein europäischer Ver-gleich, München 2005, S. 41-54.

114 Vgl. Pittaforma politico-programmatico, S. 26. 115 Cf. Franz Turchi, Perché l’Euro, Alleanza Nazionale,

Delegazione di Alleanza Nazionale al Parlamento Eu-ropeo, Rom 2004.

116 Gianfranco Fini, Tranquilla, alla fine vincerà Fini. In-terview von A. Padellaro mit Fini, in: L’Espresso vom15. April 1994, S. 22-28.

117 Zur Unterstreichung seiner pro-europäischen Haltungnahm Fini als italienischer Regierungsvertreter am eu-ropäischen Verfassungskonvent teil und verfolgte dorteine integrationspolitische Linie. Er hielt jedoch amnationalen Souveränitätsprinzip fest. Vgl. CristianaMuscardini, La Convenzione. L’intervento in plenariadel Vicepresidente del Consiglio on. Gianfranco Fini,Brüssel 2002.

118 Unter den ausländischen Gästen befand sich auch AngelaMerkel als CDU-Vorsitzende. Cf. FAZ, 31.01.08, S. 3.

schaft.119 In der Außenpolitik unterstützte die ANden pro-amerikanischen Kurs Berlusconis. Sobefürwortete sie im zweiten Irakkrieg die Teil-nahme italienischer Truppen an der Besetzungdes Irak. Sie erhoffte sich davon die amerikani-sche Unterstützung bei dem Streben Italiensnach einem permanenten Sitz im UN-Sicher-heitsrat.

Die Integration der AN in das Parteiensystemund ihre Einbindung in die Mitte-Rechts-Koali-tionen Berlusconis veränderte das Denken undHandeln ihrer Elite. Konsensfähige Aussagenverdrängten im offiziellen Parteidiskurs ideolo-gische Kampfthemen, neofaschistische Ge-schichtsbilder verschwanden fast völlig aus derParteizeitung „Secolo d’Italia“. Die ideologischeDiskussion verlagerte sich aus der Partei in dasparteinahe Umfeld.120 Der Parteivorsitzende Finikümmerte sich wesentlich mehr um seine parla-mentarischen und gouvernementalen Aufgabensowie um die Pflege seines Images als demokra-tischer Politiker denn um die Parteibasis. Diesvergrößerte die Distanz zwischen Mitgliedern,Funktionsträgern und Führung. Im Sommer 2005kam es zum offenen Konflikt zwischen ihm undseinem Generalsekretär (Coordinatore) IgnazioLa Russa über den Parteikurs. In diesem konntesich Fini zwar durchsetzen, aber seine Autoritätwar seither beschädigt.

3.4 Die Entwicklung der Parteiorganisationund der Mitgliederschaft

Der MSI war zunächst ein Kampfbund ehemali-ger Parteigänger Mussolinis. Ab 1950 entwickel-te er sich jedoch rasch zu einer Massenpartei.121

119 Vgl.Gianfranco Fini, L’Europa che verrà, Rom 2003,S. 33.

120 Vgl. Marco Ferrazzoli (Hrsg.), Cos’è La Destra. Collo-qui con diciotto protagonisti della cultura italiana nonconformista, Rom 2001. Ferner Gennaro Malgieri, Unacerta idea della Destra, Rom 2004; Marcello Venezia-ni, La cultura della destra, Rom 2002.

121 Vgl. Marco Tarchi, Dal MSI ad AN. La prima appro-fondita analisi del maggior partito della destra italiana:organizzazione, strategie, rapporti con la società civile,Bologna, 1997, S. 161 ff.; Petra Reiter-Mayer, Die Eta-blierung der Alleanza Nazionale im politischen SystemItaliens. Eine gesellschaftsfähige Rechte oder Altbekann-tes in neuen Kleidern? Hamburg 2006, S. 171 ff.

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Seine Mitglieder kamen überwiegend aus denUnter- und unteren Mittelschichten (Arbeiter,Angestellte, Arbeitslose, Rentner, Studenten).122

Bis Ende der sechziger Jahre lag seine Führungin den Händen von Parteiführern, die sich auf re-gionale Netzwerke stützten. Ab 1969 wuchs derEinfluß von Parteiaktivisten und Parteifunktio-nären, die ihre Position ihrer Militanz oder ihrenÄmtern verdankten. In den Auseinandersetzun-gen um die Organisationsstruktur konnten sichdie Verfechter des traditionellen Organisations-modells durchsetzen.123

Die AN übernahm die Organisationsstruktur desMSI, stärkte jedoch die Position der Parteifüh-rung.124 Im Gegensatz zu den Nachfolgeparteiendes PCF wuchs ihre Mitgliederzahl seit Beginnder 90er Jahre ständig. Bis 2004 hatte sich diesevervierfacht, so daß sie zur mitgliederstärkstenPartei Italiens wurde.125 Noch weit mehr als derMSI war sie daher eine Massenpartei mit einem(für italienische Verhältnisse) effizienten Partei-apparat. Trotz gewisser Tendenzen zur Wand-lung in eine entideologisierte, professionalisierteWählerpartei, die sich vor allem an den Erfor-dernissen des Machterwerbs und des Machter-halts orientiert, bewahrte sie ihren Charakter alsMitgliederpartei. Die Parteiführung mußte daherweiterhin erhebliche Rücksicht auf die Parteiak-tivisten nehmen. Dies bremste den ideologischenund programmatischen Wandel erheblich.

Infolge des starken Zustroms neuer Mitgliederveränderte sich auch die geographische Vertei-lung der Mitgliederschaft. Während im MSI diemeisten Mitglieder im Süden (Kampanien, Apu-lien, Basilikata, Kalabrien, Sizilien) lebten, ver-lagerte sich in der AN der geographischeSchwerpunkt der Mitgliederschaft in die Mitte(Toskana, Marken, Umbrien, Latium, Abruzzen,

122 Vg. M. Tarchi, Dal MSI ad AN, op. cit., Schaubild 7.3,S. 185.

123 Vgl. M Tarchi, Dal MSI ad AN, op.cit., S. 25-157.124 Petra Reiter-Mayer, Die Etablierung der Alleanza Na-

zionale im politischen System Italiens. Eine gesell-schaftsfähige Rechte oder Altbekanntes in neuen Klei-dern? Hamburg 2006, S. 171 ff.

125 Vgl. den Beitrag von M. Morini zum MSI/AN in: Bar-di/Ignazi/Massari (Hgg.), I partiti italiani: iscritti, diri-genti, eletti, Milano 2007, S. 153 ff.

Molise). Im Norden nahm dagegen der relativeAnteil an der Mitgliederschaft infolge der Kon-kurrenz der Lega Nord leicht ab.126

3.5. Wählerschaft

Der MSI erhielt zwischen 1953 und 1992 bei na-tionalen Wahlen zwischen 4,4 Prozent und 6,1Prozent der Stimmen in der Kammer bzw. zwi-schen 4,8 Prozent (1968) und 6,6 Prozent derStimmen im Senat (1976). Lediglich nach demZusammenschluß mit den Monarchisten stiegsein Wähleranteil 1972 kurzfristig auf 8,7 bzw.auf 9,1 Prozent. Er belegte damit im Parteiensys-tem den fünften bzw. den vierten Platz.

Für ihn stimmten vor allem konservativ-nationa-listisch sowie radikalfaschistisch-antidemokra-tisch orientierte Wähler. Seine geographischenWählerhochburgen lagen im Süden südlich vonUmbrien sowie in den Grenzregionen des Nord-ostens (Friaul, Triest).127 Wahlsoziologisch warder MSI so vor allem eine süditalienische Mi-lieu- und Protestpartei, obwohl er stets einen ge-samtitalienischen Anspruch erhob.

Nach dem Zusammenbruch des alten Parteien-systems 1993 bemühte sich der MSI vor allemum die ehemaligen Wähler der Mitte, insbeson-dere der DC. Damit geriet er in direkte Konkur-renz mit den christlich-demokratischen Nachfol-geparteien und der Forza Italia. Bei den Parla-mentswahlen von 1994 erhielt er 13,5 Prozent.Bei den folgenden Parlamentswahlen von 1996stieg der Anteil der nun in der AN vereintenRechten auf 15,7 Prozent, fiel dann aber 2001auf 12,2 Prozent und stieg 2006 nur ganz leichtauf 12,34 Prozent.128 Der AN war es im Gegen-satz zur FI nicht gelungen, die Mehrheit der ehe-maligen Wähler der Mitte, insbesondere der DC,an sich zu binden.129 Gewählt wurde die AN vorallem von Unternehmern und Freiberuflern,Händlern, Handwerkern und anderen Selbständi-

126 Von 24,6 im Jahre 1987 auf 21,4 Prozent im Jahre1995. Vgl. M. Tarchi, Da MSI ad AN, op. cit., S. 181;P. Reiter-Mayer, Alleanza Nazionale, op. cit., S. 182.

127 Vgl. P. Ignazi. Il polo escluso, op.cit., S. 365 f.128 Vgl. ebda., 118, 133, 207.129 Vgl. P. Reiter-Mayer, Alleanza Nazionale, op. cit., S.

207, Tabelle 21.

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gen, Angestellten, Beamten, Lehrern, Studenten,leitenden Angestellten und Beschäftigen sowieausführenden Arbeitern und Angestellten im pri-vaten Sektor.130 Die AN war somit wahlsoziolo-gisch überwiegend eine Partei der bürgerlichenMittelschichten.131

Wahlgeographisch lagen die Hochburgen der ANim Süden und im Zentrum. Schwach schnitt siedagegen im Nordwesten und Nordosten ab.132

Ihre besten Ergebnisse erzielte sie nach demVerhältniswahlrecht 2001 in Lazium (20,4) undUmbrien (17,0), ihre schlechtesten in der Lom-bardei (8,7) und Venetien (8,5)133, 2006 ihre bes-ten Ergebnisse wiederum in Lazium 1 (19,8) und2 (17,21), und Umbrien (15,23) sowie in Friaul(15,46), ihre schlechtesten in der Lombardei 2(9,50) und in Trient-Südtirol (8,13).134 Sie wardamit im Gegensatz zum MSI auch wahlgeogra-phisch eine gesamtstaatliche Partei geworden,ihr Schwergewicht hatte sich vom Süden in dasZentrum verlagert.

Das Gros der MSI-Wählerschaft bestand aus Tra-ditionswählern, die sich aus sozialen und kultu-rellen Gründen mit dem MSI identifizierten. Diezweitgrößte Wählergruppe des MSI wurde vonProtestwählern gebildet, welche die „Parteien-herrschaft“ ablehnten. Nur wenige MSI-Wählergaben der Partei aus klientelistischen Motivenihre Stimme135, da diese als Antisystemparteikaum Interessen durchsetzen oder staatliche Res-sourcen verteilen konnte.

130 Vgl. Ebda., S. 213, Tabelle 26. 131 Vgl. Ebda., S. 214, Tabelle 27. 132 Vgl. Ebda., S. 215, Tabelle 28. Überdurchschnittliche

Ergebnisse erzielte sie nach dem Verhältniswahlrechtvor allem in Friaul-Julisch Venetien, Toskana, Umbri-en, Marken, Lazio, Abruzzen, Molise, Kampanien, Ka-labrien, Apulien, Sizilien und Sardinien, unterdurch-schnittlich vor allem in Hochburgen der FI (Piemont,Lombardei, Venetien, Trient, Sizilien), der Lega Nord(Lombardei, Venetien) der Linken (Ligurien, Emi-lia-Romagna) und der SVP (Trient-Südtirol). Vgl. M.Corte (Hrsg.), sessant’anni, op. cit., S. 115-247.

133 Vgl. Mario Corte (Hrsg.), sessant’anni, op. cit., S. 133-144.

134 Vgl. Ebda., S. 207-227. 135 Vgl. P. Ignazi, Il polo escluso, op.cit., S. 397 f.

Diese Wählertypologie veränderte hat sich seit1994 erheblich. Die Gruppe der Protestwählerverschwand, da die AN nun Regierungs- bzw.Systempartei war. An ihre Stelle traten häufigOpportunitäts- und Situationswähler, die auf-grund der jeweiligen Wahlsituation für die ANvotierten. Die Gruppe der klientelistischen Wäh-ler hatte dagegen stark zugenommen, denn alsRegierungs- und Systempartei konnte die ANnun auf allen politisch-administrativen EbenenInteressen durchsetzen und staatliche Ressourcenverteilen. Die Gruppe der Traditions- und Mei-nungswähler, die aus weltanschaulichen Grün-den für die AN stimmten, schrumpfte dagegen.Dieser Wandel der Wählertypologie festigte denPositionswechsel der Partei, denn eine Rückkehrzu systemoppositionellen Positionen hätte zumVerlust eines großen Teils der seit 1994 gewon-nen Wähler geführt.136

Die soziale Heterogenität ihrer Wählerschaftzwang die AN, verstärkt partikulare Interessen zuvertreten. Dadurch verlor ihre Programmatik anGeschlossenheit. Der offizielle Diskurs der ANbesaß daher nicht mehr die gleiche Eindeutigkeitwie die des MSI. Besonders die öffentlichen Äu-ßerungen des Parteivorsitzenden Fini waren häu-fig so allgemein gehalten, daß sie von sehr unter-schiedlichen Wählergruppen akzeptiert werdenkonnten. Die Veränderung der Wählertypologiehat somit ebenfalls die ideologische und pro-grammatische Transformation gefördert.

3.6. Stellung im politischen System

Die AN war im Gegensatz zum MSI fest in dasParteiensystem integriert. In diesem besetzte siedas rechte Spektrum. Als System- und Regie-rungspartei hatte sie jetzt ein Interesse an derVerteidigung der demokratischen Ordnung ge-gen rechte Systemgegner. So wehrte sie sich beiden Parlamentswahlen von 2006 gegen eine Ko-operation des rechten Wahlbündnisses Casa del-le Libertà mit der rechtsextremen Alternativa

136 Vgl. Marco Maraffi, Il partito, i militanti, gli elettori,in: Chiarini/Maraffi (Hrsg.), La destra allo specchio,op. cit., S. 118-137.

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Sociale.137 Die Integration in das Parteiensystemforderte jedoch ihren Preis.

Die Polarisierung der Wettbewerbsstruktur unddas Wahlrecht138 zwangen die AN zur Bildungvon Wahlkoalitionen mit den Parteien der rech-ten Mitte, insbesondere mit der Forza Italia un-ter der Führung von Silvio Berlusconi. Die FIbildete sowohl den wichtigsten Verbündeten,gleichzeitig aber auch die wichtigste Konkurren-tin um die Führung des bürgerlichen Lagers. ImKonkurrenzkampf beider Parteien gelang es derAN nicht, die Oberhand zu gewinnen. Sie erhieltin den Jahren 1996/2006 nur zwischen 12 und 15Prozent der Stimmen, die FI aber fast das Dop-pelte, d. h. zwischen 20 und 29 Prozent.139

Nach den verlorenen Wahlen von 2006 lancierteBerlusconi das Projekt einer großen Sammelpar-tei der bürgerlichen Kräfte. Da sich auf der Lin-ken bereits 2007 die gemäßigten Kräfte im Par-tito Democratico (PD) zusammengeschlossenhatten, besaßen die bürgerlichen Parteien unterden Bedingungen des von ihnen geändertenWahlrechts nur gemeinsam Machtchancen.140 In-nerhalb der AN befürworte zunächst aber nur derlinke Flügel, die Destra Sociale unter der Füh-rung von Alemanno, einen Zusammenschluß.Fini lehnte ihn dagegen strikt ab, da er sich inder Opposition als gemeinsamer Führer des bür-gerlichen Lagers profilieren wollte. Er wurde da-bei von seiner Hausmacht, der Destra Protago-nista, unterstützt. Schließlich befürwortete aberauch er den Zusammenschluß in der Hoffnung,

137 Die kurzlebige Alternativa Sociale war ein Wahlkartellvon drei rechtsextremen Splitterparteien unter der Füh-rung von Alessandra Mussolini. Bei den Wahlen zumEuropäischen Parlament vom Juni 2004 erhielt sie einProzent der Stimmen und damit ein Mandat, bei denParlamentswahlen von 2006 ging sie mit 0,67 Prozentder Stimmen leer aus. Vgl. für die EU-Wahlen La Re-pubblica vom 14. Juni 2004, S. 1; für die Wahlen zumAbgeordnetenhaus M. Corte (Hrsg.), Sessant’anni dielezioni in Italia, op. cit., S. 207.

138 Vgl. Anm. 76139 Vgl. M. Corte (Hrsg.), Sessant’anni, op.cit., S. 229.140 Durch Gesetz vom 21. Dezember 2005 wurde das ge-

mischte Wahlsystem durch ein Listenwahlsystem mitMehrheitsprämie abgelöst. Vgl. Mario Corte (Hrsg.),1946-2006. Sessant’anni di elezioni in Italia, op. cit.,S. 157. Die ersten Parlamentswahlen nach dem neuenWahlrecht fanden 2006 statt.

die gemeinsame Partei dank der organisatori-schen Ressourcen und der starken Mitglieder-schaft der AN beherrschen zu können. Für dieWahlen von 2008 bildeten zunächst AN und FIunter dem Namen Popolo della Libertà (PdL)erneut eine Wahlkoalition. Nach deren Wahlsiegtransformierte sie sich im März 2009 in eine Par-tei unter dem gleichen Namen.141 Fini wurde ne-ben Berlusconi gleichberechtigter Gründungs-präsident, übernahm aber keine Parteifunktion,sondern das Amt des Kammerpräsidenten. SeineHoffnung, die gemeinsame Partei mit Hilfe derehemaligen MSI- bzw. AN-Kader beherrschen zukönnen, erfüllten sich jedoch nicht. Er profiliertesich daher zunehmend gegenüber Berlusconi alsVerteidiger des Rechtsstaates und des parlamen-tarischen Systems in der Absicht, sich als perso-nelle Alternative zu diesem aufzubauen. ImApril 2010 beschuldigte er ihn, die Partei autori-tär zu führen und keine freie Diskussion zuzulas-sen. Am 29. Juli schloß ihn daraufhin der PdL-Vorstand aus der Partei aus und forderte seinenRücktritt als Präsident der Abgeordnetenkam-mer. Fini lehnte dies ab und gründete einen Tagspäter eine eigene Parlamentsfraktion unter demNamen Futuro et Libertà per l’Italia (FLi). Die-ser gehörten 32 Abgeordnete und 10 Senatorenan. Sie verblieben in der Regierungskoalition,verfolgten aber einen eigenständigen Kurs. Am14. Dezember 2011 stimmten sie gemeinsam mitden Oppositionsparteien der Mitte für das Miß-trauensvotum der Linken gegen Berlusconi.Nach seinem Ausschluß aus der PdL steuerteFini zielstrebig die Gründung einer eigenen Par-tei unter dem Namen Futuro e Libertà per l’Ita-lia (FLi) an. In seiner Rede von Mirabello ver-kündete er am 5. September 2010 deren wesent-liche Grundsätze und Ziele.142 Das Gründungs-komitee der neuen Partei publizierte am 25. Ok-tober 2010 ein Manifest, das einen ersten Pro-grammentwurf enthielt.143 Dieser wurde auf demersten nationalen Konvent von Futuro e Libertàam 6./7. November 2010 einer breiten Öffent-lichkeit präsentiert. Dort kündigte Fini auch den141 Der neuen bürgerlichen Sammelpartei schlossen sich

auch 12 Kleinstparteien bzw. Vereinigungen an. Vgl.La Republlica, 28.03.2009.

142 Vgl. La Repubblica, 6.09.2010.143 Manifesto d’ottobre. http://www.manifestodiottobre.it/

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Rückzug seiner Parteigänger aus der Regierungan und forderte Berlusconi zum Rücktritt auf,damit eine neue Mitte-Rechtsregierung unterEinschluß der christlich-demokratischen UDCgebildet werden könne.144 Am 15. Dezember2010 schloß er sich dem Polo della Nazione an,einem losen Zusammenschluß von oppositionel-len Formationen der rechten und linken Mitte.145

Am 17. November 2010 fand in Perugia die Grün-dungsversammlung, am 11./13. Februar 2011 inMailand der Gründungsparteitag der neuen Par-tei statt. Auf dem Gründungsparteitag wurde dasParteiprogramm angenommen und Fini zumVorsitzenden gewählt. Die neue Partei verstehtsich als eine liberal-konservative Rechtspartei,deren zentralen Ziele die Verteidigung der Frei-heit, des Rechtsstaates, der Legalität, der staatli-chen Institutionen und der Demokratie sind. Da-neben fordert sie wie bereits vorher die AN denSchutz der Familie, die Wahrung der staatlichenEinheit, die Erhaltung der Solidarität und die Er-neuerung des Landes.146

Kurz nach der Gründung kam es zu heftigen in-nerparteilichen Auseinandersetzungen über denkünftigen Parteikurs. Fini forderte einen kom-promißlosen Kampf gegen Berlusconi und seineAnhänger. Ein Bündnis mit der Linken lehnte erzwar ab, schloß eine taktische Zusammenarbeitmit ihr wie beim Mißtrauensvotum vom 14. De-zember 2010 zum Sturze Berlusconis oder beider Änderung des Wahlrechts jedoch nicht aus.Gegen seinen kompromißlosen Konfrontations-kurs rebellierten zahlreiche konservative Partei-mitglieder. Auch sie wollten Berlusconi stürzen,aber auf keinen Fall mit der Linken zusammen-arbeiten. Unmittelbar nach dem Gründungskon-greß von Mailand verließen sie die Partei, unterihnen zahlreiche Mitglieder der FLI-Fraktionen.Letztere verloren dadurch ihren Fraktionsstatus.Der Versuch Finis, Berlusconi gemeinsam mitder Linken zu stürzen, ist daher vorläufig ge-scheitert. Seine Chance, dies bei vorgezogenen

144 Vgl. La Repubblica, 8.09.2010.145 Alleanza per l’Italia, Movimento per l’Autonomia,

Unione di Centro, Liberal Democratici. Am 25. Januar2011 wurde der Polo della Nazione in Nuovo Polo perl’Italia umbenannt.

146 Vgl. Secolo d’Italia, 15.02.2011.

Neuwahlen zu erreichen, gering. Laut Umfragenkönnte die FLI maximal mit 3 bis 5 Prozent derStimmen rechnen. Das würde zum Einzug in dasParlament reichen, zu mehr aber auch nicht.Trotzdem bleibt sie eine Alternative zum PDL,da diese ähnlich wie die DC in der Endphase derI. Republik in Korruptionsaffären und Klientel-wirtschaft versinkt. Offen bleibt die Frage, ob imitalienischen Parteiensystem genügend Platz füreine große liberal-konservative rechtsstaatlicheRechte ist. Die Geschichte des italienischen Par-teiensystems seit 1946 stimmt skeptisch.

4. Fazit

Die Transformation des neofaschistischen MSIin die nationalkonservative AN war das Ergebniseines über sechzigjährigen Anpassungs- und In-tegrationsprozesses, in dessen Verlauf sich diePartei zunächst nur rein formal den Handlungs-bedingungen der italienischen Nachkriegsdemo-kratie anpaßte, dann passiv in sie einfügte undschließlich in den Jahren 1993/95 zu einem akti-ven Akteur des neuen Parteiensystems wurde.Dieser Anpassungs- und Integrationsprozeß be-ruhte auf der Einsicht, daß der MSI nur Macht-und Einflußchancen gewinnen konnte, wenn ersich an die Spielregeln des demokratischen Ver-fassungsstaates hielt. Gebremst wurde er langeZeit durch das zähe Festhalten an neofaschisti-schen Vorstellungen und Zielen. Die Partei wardaher im Parteiensystem der I. Republik isoliert.Mit einem konstanten Wählerpotential von etwa5 Prozent konnte sie sich jedoch am rechtenRand des Parteiensystems behaupten.

Die grundlegenden Veränderungen seiner Hand-lungsbedingungen Ende der achtziger, Anfangder neunziger Jahre stellten den MSI vor dieWahl zwischen einer erneuten Radikalisierungseiner bisherigen Antisystemopposition und ei-ner Integration in das neu entstehende Parteien-system. Nach heftigen internen Auseinanderset-zungen entschied er sich unter der Führung einesRepräsentanten der jüngeren Parteigeneration,des Parteivorsitzenden Gianfranco Fini, zur Inte-gration. Mit Rücksicht auf die politisch durchdie neofaschistische Subkultur sozialistierten

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Aufsätze Roland Höhne – Parteientransformation in Italien – Die nationale Rechte zwischen Tradition und Anpassung MIP 2011 17. Jhrg.

Mitglieder und Wähler erfolgte diese nur schritt-weise und blieb unvollständig.

Die 1995 gegründete AN war in vielerlei Hin-sicht die Nachfolgepartei des MSI. Sie war dahernur bedingt eine demokratische Rechtspartei.Dank des Bündnisses mit der FI und anderenParteien der rechten Mitte gelangen ihr jedochdie demokratische Legitimation und der Aufstiegzur Regierungspartei. Sie verfehlte jedoch ihrZiel, zur stärksten Kraft des bürgerlichen Lagerszu werden. Es wuchs daher ihre Bereitschaft,sich mit der Forza Italia und anderen Parteiender rechten Mitte in einer neuen bürgerlichenSammelpartei zu vereinen. Ähnlich wie die fran-zösischen Neo-Gaullisten hoffte sie, diese dankihrer stärkeren Verwurzelung in der Mitglied-schaft und ihren organisatorischen Ressourcenunter ihre Kontrolle zu bringen. Dies ist ihr bis-her nicht gelungen. Vielmehr wurde sie in das„System Berlusconi“ integriert. Dies veranlaßteden führenden Protagonisten des Transformati-onsprozesses, Gianfranco Fini, sich von diesemmehr und mehr zu distanzieren und seine eigenePartei, die Futuro e Libertà per l’Italia zu grün-den. Die Mehrheit der ehemaligen Mitglieder derAlleanza Nazionale folgte ihm aber nicht, son-dern verblieb in der PdL. Dies zeigt die Grenzendes einst von ihm erfolgreich vorangetriebenenWandels des MSI auf. Allerdings ist es zu früh,um ein definitives Urteil zu fällen.

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MIP 2011 17. Jhrg. Jan Oelbermann – Automatischer Verlust der Parteimitgliedschaft für verurteilte Kriminelle [...] Aufgespießt

„Aufgespießt“

Automatischer Verlust der Partei-mitgliedschaft für verurteilte Kri-minelle – Sinn und Unsinn einersolchen Regelung

Jan Oelbermann1

Im Parteiengesetz (PartG) gibt es in § 10 Abs. 1Satz 4 die Regelung, dass derjenige seine Mit-gliedschaft in einer politischen Partei automa-tisch verliert, der zu einer Freiheitsstrafe vonmindestens einem Jahr verurteilt wird. Wörtlichheißt es in der Norm: „Personen, die infolgeRichterspruchs die Wählbarkeit oder das Wahl-recht nicht besitzen, können nicht Mitglieder ei-ner Partei sein.“ Seine „Wählbarkeit“ verliertman nach § 45 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB),wenn man wegen eines Verbrechens zu einerFreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verur-teilt wird. 2 Dabei ist es unerheblich, ob die Frei-heitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Inder einschlägigen rechtswissenschaftlichen Lite-ratur wird dies nicht in Zweifel gezogen. DerWortlaut des Gesetzes ist dafür zu eindeutig.Man verliert seine Mitgliedschaft bei einer ent-sprechenden Verurteilung „automatisch“. DieVerurteilung stellt zudem einen „absoluten Hin-derungsgrund“ für eine Aufnahme in die Parteidar.3

Soviel die Theorie. Es stellen sich jedoch zweiFragen, wenn man diese Regelung auf Sinn und

1 Der Verfasser ist Rechtsanwalt in Berlin, dessen Pro-motion zum Thema „Wahlrecht und Strafe“ an derUniversität Bremen kurz vor dem Abschluss steht.

2 § 45 Abs. 1 StGB: „Wer wegen eines Verbrechens zuFreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteiltwird, verliert für die Dauer von fünf Jahren die Fähig-keit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öf-fentlichen Wahlen zu erlangen.“

3 Vgl. z.B. Ipsen, Parteiengesetz, § 10 Rn. 9; Trautmann,Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, S. 213;Morlok, Bundesrecht, § 10 PartG Rn. 7.

Unsinn hin näher betrachtet. Zum einem, wieund ob die Parteien von den Verurteilungen ihrerParteimitglieder, deren Mitgliedschaft erloschenist, überhaupt erfahren. Zum anderen die Fragenach dem „warum“, insbesondere wenn manüberlegt, dass Straftäter auch resozialisiert wer-den sollen.

Zur ersten Frage. Die Parteien erfahren nicht da-von, wenn ein Parteimitglied verurteilt wird, je-denfalls werden sie weder von der Staatsanwalt-schaft noch von den Gerichten davon unterrich-tet. In der „Anordnung über Mittelungen inStrafsachen“ (MiStra), in der die Informations-pflichten der Gerichte an Behörden geregeltsind, findet sich keine Regelung zur Unterrich-tung politischer Parteien. Möglich ist es natür-lich, dass die Parteien auf anderem Wege Kennt-nis davon erlangen, oder dass das verurteilteMitglied selbst die Partei informiert. Davonkann aber nicht ausgegangen werden.

Nicht bekannt ist, wie oft im Jahr Parteimitglie-der zu entsprechenden Strafen verurteilt werden,es muss jedenfalls davon ausgegangen werden,dass die Betroffenen faktisch Parteimitgliederbleiben, obwohl ihre Mitgliedschaft per Gesetzerloschen ist. Da die Parteien keine Kenntnisvon der Verurteilung erlangen, erheben sie wei-ter Mitgliedsgebühren und laden das (vermeintli-che) Mitglied weiter zu Parteiveranstaltungenein, auf denen sie dann ihr Stimmrecht ausübenkönnen. In Unkenntnis der entsprechenden Re-gelung stehen die Parteien auch mit (vermeintli-chen) Parteimitgliedern im Justizvollzug in Kon-takt ohne die Konsequenz der Nichtmitglied-schaft umzusetzen. Die Grünen haben in den80er und 90er Jahren sogar „informelle Ortsver-bände“ in bayerischen Justizvollzugsanstaltenunterhalten. Zum 31.12.1990 waren gar 8,4 %der bayerischen Grünen Insassen in Justizvoll-zugsanstalten. Die informellen Ortsverbändekonnten ihr Stimmrecht bei Parteiveranstaltun-gen über eine Delegierte wahrnehmen.4 Auchheute engagieren sich etwa noch die niedersäch-sischen Grünen im Justizvollzug, in dem sie in

4 Handbuch zur Statistik der Parlamente und Parteien,Bd. 12, Teilband IV, Tabelle I.A.1, S. 995, sowie In-formationen der ehemaligen Strafvollzugsreferentinder bayerischen Grünen vom 03.02.2010.

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Aufgespießt Jan Oelbermann – Automatischer Verlust der Parteimitgliedschaft für verurteilte Kriminelle [...] MIP 2011 17. Jhrg.

der Justizvollzugsanstalt Kassel eine Knast-Gruppe organisieren.5

Die zweite Frage, die nach dem Sinn des Gan-zen, ist schwieriger zu beantworten. Historischgesehen stellt dies ein Teil des eigentlich abge-schafften, weil resozialisierungsfeindlichen, Eh-renstrafrechts dar. Das Ehrenstrafrecht gab esschon im Mittelalter, damals wurde zum Bei-spiel durch Brandmarkungen gekennzeichnet,wer ein Verbrechen begangen hat. Vom Ehren-strafrecht hat sich der deutsche Gesetzgeber mitder „großen Strafrechtsreform“ der 50er und60er Jahre verabschiedet, weil die aus der De-mütigung folgende Verbitterung des Verurteiltendiesem und der Gesellschaft mehr schadet alsnützt. Mit der Strafe sollte dem Verurteilten seit-dem nicht mehr die „Ehre“ entzogen werden.Hinter dem Ehrenstrafrecht stand der Gedanke,dass man durch die Tat erwiesen habe, nicht ehr-bar genug oder „politisch unwürdig“ zu sein, umetwa Mitglied einer Partei zu sein. Die Ehren-strafe wurde mit dem „bürgerlichen Tod“ gleich-gesetzt. Man hat sich zudem nicht zuletzt für de-ren Abschaffung entschieden, weil der ihr zu-grunde liegende Begriff der „Ehre“ zumindestfür eine strafrechtliche Verurteilung und den da-mit verbunden Eingriff in die Rechte des verur-teilten Bürgers zu unbestimmt ist. Einen Kon-sens darüber, was „ehrenhaft“ und was „uneh-renhaft“ ist, dürfte heutzutage kaum noch her-stellbar sein.

Die demokratischen Parteien in Deutschland ha-ben alle mehr oder weniger ausgeprägt das Ziel,möglichst Bürger aus allen gesellschaftlichenSchichten zu repräsentieren und damit „Volks-partei“ zu sein. Keine Partei wird von sich ausbehaupten an Neu-Mitglieder ein bestimmtesMindestmaß an „Ehre“ vorauszusetzen. Es wirdkein Mindestmaß an sozialer Geltung vorausge-setzt, nicht zuletzt da soziale Geltung allzu oftmit Fragen der sozialen Schicht und damit desfinanziellen Hintergrunds gleichgesetzt wird.

Ein weiterer Grund für die Regelung im Partei-engesetz, der im Gegensatz zum ersten nicht völ-lig abwegig ist, ist, dass nur Parteimitglied sein

5 Vgl. Bild-Zeitung vom 25.09.2009 zum „Kannibalenvon Rotenburg“ bei den „Knast-Grünen“.

soll, wer tatsächlich auch in ein öffentliches Amtgewählt werden kann. Danach mache es keinenSinn Parteimitglied zu sein, wenn man eh nichtin ein Amt gewählt werden könne.6 Tatsächlichdürften aber einer Mehrzahl der Parteimitgliederkeine Ambitionen auf ein öffentliches Amt nach-gesagt werden, so dass man mit diesem Argu-ment auch „Karteileichen“ von der Mitglied-schaft in politischen Parteien ausschließen könn-te, da diese ja ebenfalls offensichtlich kein öf-fentliches Amt anstreben. Bei dieser Argumenta-tion steht zudem die Ansicht im Vordergrund,dass es die primäre Aufgabe von Parteien sei, anparlamentarischen Wahlen teilzunehmen. Es istjedoch nicht die primäre Aufgabe von Parteienan Wahlen teilzunehmen. Eine mindest ebensowichtige Aufgabe der Parteien ist es an der„Willensbildung des Volkes“ mitzuwirken (sosieht es auch § 1 Abs. 2 PartG und das Bundes-verfassungsgericht7). Dies geschieht nicht nur imParlament (und Talkshows), sondern in Fußgän-gerzonen, Kneipen, Familien, auf der Arbeit,Versammlungen und eben auch in Justizvoll-zugsanstalten. Dafür ist es nicht erforderlich,wählbar zu sein. Die Schwäche des o.g. Argu-ments lässt sich auch daran erkennen, dass auchMinderjährige und Ausländer Mitglied in deut-schen politischen Parteien sein können, die eben-falls nicht die Möglichkeit haben in ein deut-sches Parlament gewählt zu werden.8

Wißmann bezeichnet die Regelung, weil ihn diebeiden genannten Argumente nicht überzeugen,als eine zusätzliche strafrechtsbegleitende Sank-tion, die gegen die einzelnen Parteimitgliederwie gegen die Partei als Ganzes wirkt.9 Eine„strafrechtsbegleitende Sanktion“ stellt eine Ne-benfolge dar, weil auf sie die Strafzumessungs-erwägungen nicht anwendbar sind. Das Gerichtdarf also nicht eine niedrigere Strafe verhängen,weil der Verurteilte die Mitgliedschaft in derPartei per Gesetz verliert.10 Auch eine Nebenfol-

6 Vgl. Ipsen, Parteiengesetz, § 10 Rn. 9.7 BVerfGE 85, 264, 284.8 So auch Wißmann, in: Kersten/Rixen, PartG, § 10 Rn.

19.9 Wißmann, in: Kersten/Rixen, PartG, § 10 Rn. 19.10 Zur Einordnung der Rechtsnatur vgl. Nelles JZ 1991,

17 ff. m.w.N.

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MIP 2011 17. Jhrg. Jan Oelbermann – Automatischer Verlust der Parteimitgliedschaft für verurteilte Kriminelle [...] Aufgespießt

ge muss allerdings darauf zu untersuchen sein,ob diese geeignet ist, einen der Strafzwecke zufördern. Nach dem Bundesverfassungsgericht,das sich in dieser bibliotheksfüllenden Fragenicht festlegen will, sind zumindest Schuldaus-gleich, Prävention, Resozialisierung des Täters,Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht,Aspekte einer angemessenen Strafsanktion.11 Esfällt jedoch schwer, den Verlust der Parteimit-gliedschaft unter einen dieser Punkte zu subsu-mieren. Wenn die abgeurteilte Tat nicht mit derParteimitgliedschaft in Verbindung steht, fallendie meisten der oben genannten Aspekte aus.Die Resozialisierung des Täters dürfte zudemdurch den Verlust der Parteimitgliedschaft eherbehindert, als gefördert werden. Daher scheint esoffensichtlich, dass mit der Regelung des Partei-engesetzes Ziele verfolgt werden, die in das 19.Jahrhundert gehören, und die damals als die„Reinhaltung des öffentlichen Lebens“ bezeich-net wurden.

Die Mehrheit der fünf etablierten Parteien hältdie Regelung danach auch für unpraktikabel. ImRahmen der Nachforschungen für die Promotiondes Verfassers äußerten sich sowohl die SPD,die Grünen als auch die Linke kritisch. Man kön-ne sich nicht erinnern die Regelung jemals ange-wendet zu haben. Zudem sei die Mitgliedschaftin einer Partei durch das Grundgesetz geschützt,dies könne nicht durch die „Hintertür“ ausgehe-belt werden.12 Die CDU hat auf entsprechende,wiederholte Anfragen nicht reagiert. Der Justizi-ar der FDP-Bundestagsfraktion verteidigte dieRegelung in einem Telefonat im Mai 2010 alserforderlich und sinnvoll, ohne das Erfordernisoder den Sinn näher belegen zu können.

Zum jetzigen Zeitpunkt wird die Regelung des§ 10 Abs. 1 Satz 4 PartG ignoriert. Die Parteienkönnen den Ausschluss per Gesetz nicht faktischvollziehen, weil sie von dem Ausschluss keine

11 BVerfGE 45, 187, 253 f.; zum Stand der Diskussionum die Strafzwecke vgl. Hassemer, Warum Strafe seinmuss, m.w.N.

12 Zusammenfassung der Stellungnahmen der SPD (vom23.03.2010 – Referat I/ Rechtsstelle), der Grünen (vom26.03.2010 – der Organisatorischen Bundesgeschäfts-führerin) und der Linken (vom 24.03.2010 – MdB U.Jelpke).

Kenntnis erlangen. Dies ist ein unbefriedigenderZustand, der aber weder die Wissenschaft nochdie Parteien bisher gestört hat. Zwei Ansätzegibt es, diesen zu lösen. Die naheliegende, ver-fassungsrechtlich gebotene und vom Verfasserpräferierte Möglichkeit wäre die Streichung derRegelung des § 10 Abs. 1 Satz 4 PartG. Die an-dere Möglichkeit wäre es eine Informations-pflicht für die Gerichte bei einer Verurteilung ei-nes Parteimitglieds an die betreffende Partei zuschaffen. Dann müsste aber das Gericht zumeinen Kenntnis von der Parteimitgliedschaft ha-ben und zum anderen stellt sich die Frage, obdas Gericht im Hinblick auf den Datenschutzderart sensible Fragen an eine Partei überhauptweitergeben darf.

Die Parteien werden wahrscheinlich erst dannauf eine Änderung der Regelung hinwirken,wenn sie ein vermeintliches Mitglied nach 20Jahren auf die Herausgabe der zu Unrecht ge-zahlten Mitgliedergebühren der letzten 20 Jahreverklagt. Straftäter sind halt aus offensichtlichenpopulistischen Gründen nicht die Bevölkerungs-schicht, für die sich Parteien öffentlich engagie-ren wollen.

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Aufgespießt Rati Bregadze – Manche postsowjetischen Besonderheiten der Parteimitgliedschaft MIP 2011 17. Jhrg.

Manche postsowjetischen Beson-derheiten der Parteimitgliedschaft

Rati Bregadze, LL.M.1

Einführung

Die Schule, in der aus einem politisch interes-sierten Bürger ein Politiker ausgebildet wird,heißt Partei. Wird dort den Mitgliedern Demo-kratie beigebracht, dann könnte davon ausgegan-gen werden, dass im Falle der Machterlangungder praktizierte Führungsstil auch auf den Staatübertragen wird. Wenn eine politische Parteinach dem Führerprinzip organisiert ist und dieMitglieder eine untergeordnete Rolle spielen,dann sind auch bei der Staatsführung mit großerWahrscheinlichkeit autoritäre Methoden zu er-warten. Nach deutschem Recht und in der politi-schen Realität sind solche Probleme nicht vongroßer Bedeutung, aber in postsowjetischenTransformationsstaaten, die sich die Annäherungan die EU zum Ziel gesetzt haben, sind mehreremerkwürdige und mit dem demokratischen Ver-ständnis einer Partei unvereinbare Besonderhei-ten zu finden. Deren Darstellung und Analysesoll im Folgenden am Beispiel zweier Länder er-folgen: der Ukraine, in der nach der Wahl desneuen Präsidenten Janukovich das Ziel des Bei-tritts zur Nato nicht mehr auf der Tagesordnungsteht, in der aber die europäische Integrationweiterhin Priorität hat2, und Georgiens, das Mit-glied sowohl der EU als auch der NATO werdenwill.

Pflicht zur Abstimmung für Parteikandidatenund ihrer Unterstützung bei den Wahlen

Eine merkwürdige und besonders bemerkens-werte Bestimmung, nach der die Mitglieder beiWahlen für die Parteikandidaten abstimmen

1 Der Verfasser ist Doktorand an der Juristischen Fakul-tät der Universität Hamburg.

2 Wilfred Jilge, Zur außenpolitischen Orientierung desneuen ukrainischen Präsidenten und der Partei der Re-gionen, Ukraine Analysen Nr.70, 16.03.2010, S. 2 ff.

müssen, enthält die Satzung der ukrainischenPartei Batkivshina.3 Allgemein kann davon aus-gegangen werden, dass die Mitglieder bei denWahlen der eigenen Partei ihre Stimme geben.Ob es aber eine Pflicht sein darf, ist eine andereFrage, die eher zu verneinen ist. Nach der er-wähnten Regelung verstößt das Mitglied gegendie Satzung, wenn es eine andere politischeGruppierung wählt, was den Grund für einenParteiausschluss liefert. Es stellt sich die Frage,wie ermittelt werden soll, ob ein Mitglied seinerPflicht nachgekommen ist oder nicht. Eine Mög-lichkeit könnte z.B. darin bestehen, dass derWähler in der Wahlkabine ein Foto von demWahlzettel, auf dem die betreffende Partei ange-kreuzt ist, aufnimmt und später als Nachweis beiden entsprechenden Organen vorlegt. Das wäreein eindeutiger Verstoß gegen den Grundsatz dergeheimen Wahl und ist daher unzulässig. Es istzu betonen, dass solche Methoden bei denWahlen in den Ländern der neuen postsowjeti-schen Demokratien dennoch existieren. Insbe-sondere dann, wenn die Wähler ihre Stimmennach einer finanziellen Leistung der Partei abge-ben. Dieses Vorgehen gehört zur Schattenseiteder politischen Praxis und ist – hinsichtlich derGewährleistung freier Wahlen – eindeutig zuverbieten. Die Verpflichtung des Parteimitglieds,bei Wahlen für die Kandidaten der eigenen Par-tei abzustimmen, ist auch ein Verstoß gegen denGrundsatz der freien Wahl, denn trotz bestehen-den Wahlgeheimnisses ist ein Parteimitglied alsWähler in seiner Entscheidungsfreiheit wegendieser Verpflichtung beeinträchtigt. Nicht zuübersehen ist, dass nicht jedes Mitglied dieseWahlgrundsätze kennt, was aus Sicht der politi-schen Bildung der Bürger, die ebenfalls zu denAufgaben der politischen Parteien gehört, mise-rabel ist. So eine Regelung ist ferner ein Beispieldafür, welche gravierenden Probleme in der poli-tischen Kultur bestehen, und zeigt die Erforder-lichkeit der rechtlichen Regulierung. Es verdeut-licht auch, wie der kundgegebene politische Wil-le und Realität und Arbeitsmethoden in manchenFällen voneinander abweichen. Die „Legitimie-rung“ von solch unannehmbaren Verstößen ge-gen die Wahlrechtsgrundsätze wird auch die Par-

3 Statut Batkivshina Art. 3.6.

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MIP 2011 17. Jhrg. Rati Bregadze – Manche postsowjetischen Besonderheiten der Parteimitgliedschaft Aufgespießt

tei unglaubwürdig machen, weil es nur schwerzu glauben ist, dass eine politische Vereinigung,die selber die Grundsätze der freien und gehei-men Wahl missachtet, sich im Fall der Machter-langung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeiteinsetzen wird.

Zu erwähnen ist auch die Verpflichtung des Mit-glieds der ukrainischen „Partei der Regionen“zur aktiven Teilnahme an Wahlen und einer Un-terstützung der Parteikandidaten. Da das Wort„abstimmen“ nicht erwähnt ist, kann die Unter-stützung auch als ein Appell ohne Rechtsfolgenverstanden werden. Grundsätzlich wäre aber dieVermeidung von solchen Bestimmungen emp-fehlenswert, da sie von Mitgliedern als Auffor-derung und Pflicht wahrgenommen werden kön-nen. Die Parteien haben auch Sorge dafür zu tra-gen, dass die Prinzipien der freiheitlich demo-kratischen Grundordnung nicht verletzt werdenund von Maßnahmen abzusehen, sobald sieauch nur indirekt eine Gefahr darstellen.

Pflicht zur finanziellen Unterstützung

Eine weitere Verpflichtung, nach der die Mit-glieder die Partei über die normalen Beiträgehinaus finanziell zu unterstützen haben, enthälterneut die Satzung der Batkivshina.4 Dabeibleibt ungeklärt, was konkret unter einer finan-ziellen Unterstützung verstanden werden kann.Spenden sind zulässig, aber freiwillig. Nach die-ser Bestimmung könnte der Vorstand ein Mit-glied auffordern, in einer „schwierigen Zeit“eine konkrete Summe für Parteizwecke zur Ver-fügung zu stellen. Wenn ein Mitglied dieser Ver-pflichtung nicht nachkommt, können Ordnungs-maßnahmen bis hin zum Ausschluss verhängtwerden. Zu erwähnen ist aber, dass der Betroffe-ne wegen der Unbestimmtheit der Regelungnicht in der Lage ist, sich genaue Kenntnisseüber seine Verpflichtungen zu verschaffen. Die-se Regelung verleiht der Parteiführung die Kom-petenz zu einer zwangsweisen Erhebung vonSpenden und schwächt dadurch den Mitglieder-schutz. Überdies vermag so eine Norm auch in-direkt die Praxis der „gekauften sicherenStellen“ in den Kandidatenlisten zu „legalisie-

4 Statut „Batkivshina“ Art. 3.6.

ren“. Dies könnte auch potentielle wohlhabendeMitglieder von einem Beitritt abschrecken, wennsie damit rechnen müssen, dass sie irgendwannsatzungsgemäß, aber unfreiwillig gegenüber derPartei außer den Mitgliederbeiträgen noch ande-re finanzielle Leistungen erbringen müssen.

Die Problematik der Mindestzahl der Mitglie-der

Schon Aristoteles hat sich gefragt, wie groß eineStadt sein soll. Er sagte, zehn Einwohner sind zuwenig, zehntausend schon zu viel. Die Fragenach der Zahl der Zugehörigen eines sozialenGebildes ist ein problematisches Feld und be-schäftigt die Jurisprudenz von Anfang an. DasParteienrecht stellt in dieser Hinsicht keinenAusnahmefall dar.

Im Unterschied zum deutschen Parteiengesetzlegt das Organgesetz über die politischen Verei-nigungen der Bürger Georgiens die konkreteMindestzahl der Mitglieder fest, die für die Re-gistrierung der Partei erforderlich ist. Die Zahlist auf 1000 angesetzt.5 Die Entscheidung desGesetzgebers scheint ein begrüßenswerter Schrittzu sein, denn damit sind Willkürentscheidungenüber das Vorliegen der Parteieigenschaft ausge-schlossen. Darüber hinaus wird allgemeineRechtsklarheit geschaffen.

Ob die gesetzliche Mindestzahl zu hoch oder zuniedrig ist, kann diskutiert werden, aber in die-sem Kontext ist zu erwähnen, dass bisher dieseFrage sowohl im Schrifttum als auch in derRechtsprechung in Georgien nicht problemati-siert wurde.

Schwierigkeiten können sich mit Blick auf dieÜberprüfung der Mitgliederzahl ergeben. Eineklare Vorgehensweise ist in der GesetzgebungGeorgiens nicht zu finden. Die Partei muss dasMinisterium für Justiz nur über Satzungsände-rungen benachrichtigen und entsprechende Un-terlagen einreichen.6 Theoretisch kann eineÜberprüfung nur anhand der erlangten Mitglie-

5 Gesetz über politische Vereinigungen der Bürger Art.22 Punkt C.

6 Gesetz über politische Vereinigungen der Bürger Ge-orgiens Art. 24 Abs. 1.

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Aufgespießt Rati Bregadze – Manche postsowjetischen Besonderheiten der Parteimitgliedschaft MIP 2011 17. Jhrg.

derbeiträge erfolgen, weil diese im Rechen-schaftsbericht veröffentlicht werden müssen.Aber aus taktischer Sicht könnte die Partei,wenn die Mitgliederzahl niedrig ist, auf Mitglie-derbeiträge verzichten und damit eine Überprüf-barkeit der wahren Zahl der Parteimitglieder ver-hindern. Auf diese Weise wird theoretisch auchdas Bestehen von Parteien mit weniger Mitglie-dern, als für die Registrierung notwendig, er-möglicht. Dies widerspricht wiederum dem Zieldes Gesetzes, denn um eine politische Partei zusein und ihre Funktionen ausüben zu können,braucht eine Vereinigung eine gewisse Mitglie-derzahl. Wenn diese Grundlage wegfällt, dannsollten auch die daran anknüpfenden Privilegiennicht mehr bestehen.

Der ukrainische Gesetzgeber setzt keine Min-destzahl der Mitglieder für das Bestehen einerPartei voraus und braucht dementsprechend auchkeinen späteren Kontrollmechanismus. Für dieGründung und Registrierung sind allerdings dieUnterschriften von 10.000 wahlberechtigten Un-terstützern erforderlich.7 Wie viele Mitgliederdann eine Organisation braucht, um eine Parteizu sein, ist fraglich.

Einerseits ist in Bezug auf Georgien zu sagen,dass durch die gesetzliche Mindestzahl dieGründung von unseriösen Parteien verhindertwerden kann, aber andererseits fördert das Feh-len nachgelagerter Kontrollinstanzen womöglichungewollt die Entwicklung von „Einmannpartei-en“. Überdies kann diese Voraussetzung der Par-teieigenschaft zu quasi „gekauften“ Mitglied-schaften auf Zeit führen, weil die Personen, diefür die Durchsetzung der eigenen Ziele eine „ei-gene“ politische Partei brauchen und unter Zeit-druck stehen, mit allen möglichen Mitteln versu-chen, die nötige Zahl der Mitglieder zu sam-meln, was in manchen Fällen unter Betrachtungder bitteren Realität des Parteilebens in Georgienauch die Zwangsmitgliedschaft nicht ausschließt.

Um das zu vermeiden, könnte entweder die Er-setzung der Mitglieder in der gesetzlichen Rege-lung nach ukrainischem Beispiel durch Unter-stützer hilfreich sein. Eine andere Option wäre

7 PartG der Ukraine Art. 10 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2Punkt 3.

die Schaffung einer realen Kontrollmöglichkeitder Mitgliederzahl. Die letzte Variante könntedurch die gesetzliche Verpflichtung der Parteien,in gewisser Periodizität das Ministerium für Jus-tiz neben den Satzungsänderungen auch überden aktuellen Stand der Mitgliederzahlen zu in-formieren, verwirklicht werden.

Die Partei und ein ausgeschlossenes Mitglied

Wenn der Ausschluss mit dem politischen To-desurteil verglichen wird, schließt sich daraneine Frage an, welche die Menschheit seit Ewig-keiten beschäftigt: Was geschieht nach dem„Tod“? Falls ein ehemaliges Mitglied weiter po-litisch aktiv bleiben will, kann es einer anderenpolitischen Partei bzw. einer politischen Vereini-gung beitreten, parteilos bleiben oder zusammenmit Gleichgesinnten eine neue Partei bzw. politi-sche Vereinigung gründen u.s.w. Die Alternati-ven sind eindeutig vorhanden. Aber was passiert,wenn der Betroffene nichts anderes will, als dieWiederherstellung seiner Rechte als Mitglied inder Partei, aus der er ausgeschlossen wurde?Parteiengesetze sagen im Regelfall nichts übereinen solchen Fall. Die Wahrscheinlichkeit, dassjemand von demselben Organ, das ihn aus derMitgliederliste entfernt hat, sofort bei einer ent-sprechenden Willensbekundung wieder als Mit-glied aufgenommen wird, ist naturgemäß sehrgering. Ein Versuch kann immer unternommenwerden, aber in der Regel werden dadurch so-wohl die darüber entscheidenden Organe alsauch die antragstellende Person nur Zeit verlie-ren.

Zwei ukrainische Parteien stellen in dieser Hin-sicht eine Ausnahme dar. Die Satzung der „Par-tei der Regionen“ besagt, dass die Person, wel-che aus der Partei ausgeschlossen wurde, nachallgemeinen Grundsätzen wieder aufgenommenwerden kann.8 Diese Regelung kann als Verbotvon zusätzlichen Voraussetzungen für den zuvorausgeschlossenen Bewerber und als Diskriminie-rungsverbot verstanden werden. Damit sind aberdie rechtlichen Voraussetzungen gemeint. Inwie-weit die Vergangenheit in der Entscheidung überdie Aufnahme berücksichtigt wird oder nicht,

8 Satzung Partei der Regionen Art. 3.10.

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MIP 2011 17. Jhrg. Rati Bregadze – Manche postsowjetischen Besonderheiten der Parteimitgliedschaft Aufgespießt

kann nicht von rechtlichen Normen beeinflusstwerden. Die Satzung der Partei „Unsere Ukrai-ne“ ist noch einen Schritt weiter gegangen undhat dem hinzugefügt, dass die aus der Partei aus-geschlossene Person ein Jahr nach dem Aus-schluss wieder aufgenommen werden darf.9 Ei-nerseits ist es aus praktischer Sicht eine vernünf-tige Regelung, denn wenn ein Mitglied aus derPartei ausgeschlossen wird, muss eine bestimmteZeit vergehen, damit das Ziel der Ordnungsmaß-nahme – nämlich die Isolierung von anderenMitgliedern – erreicht werden kann, aber ande-rerseits könnte so eine Regelung die Partei selbstin eine schwierige Position bringen. Wenn z.B.der Grund des Ausschlusses nach fünf Monatenentfallen ist, die Person ihre Mitgliedschaft wie-derherstellen will und eine hohe Beliebtheit inder Gesellschaft und Professionalität hat, die derPartei nur zugute kommen kann, ist die politi-sche Partei nicht in der Lage, den Bewerber auf-zunehmen. Dementsprechend ist diese Norm so-wohl existenzberechtigt als auch verfeinerungs-bedürftig. Um die Interessen der Partei zu be-rücksichtigen, wäre es empfehlenswert, eineAusnahmemöglichkeit vorzusehen, nach der inAnbetracht des Interesses der Gesamtpartei dieParteiorgane ein ausgeschlossenes Mitglied er-neut auch vor Ablauf der einjährigen Sperrfristaufnehmen können.

Fazit

Die dargestellten Fragen aus dem ParteienrechtGeorgiens und der Ukraine zeigen deutlich, dassder negative Einfluss der sowjetischen Zeit imRecht der postsowjetischen Länder noch tief ver-wurzelt ist. Eine Erklärung dafür könnte die Un-durchsichtigkeit des Eisernen Vorhangs auch inder Rechtswissenschaft sein. Allein ein nachWesten gerichteter Blick der Erneuerer, ohneentsprechende Kenntnisse und Erfahrungen, istkeine ausreichende Voraussetzung für den er-folgreichen Aufbau politischer Parteien nach de-mokratischen Grundsätzen. Der Wunsch nachErneuerung ist sichtbar. Dafür spricht alleinschon der ungewöhnliche Versuch, das weiterepolitische Schicksal eines ehemaligen Mitglieds

9 Statut Unsere Ukraine Art. 4.11.9.

nach dem Ausschluss rechtlich zu regulieren.Andererseits ist auch eine Tendenz der Partei-führungen klar vorhanden, die gesetzlich einge-räumten Freiheiten zur Durchsetzung ihrer eige-nen politischen Interessen ohne Berücksichti-gung der Meinung der Mitglieder auszunutzen

Die Stärkung der Stellung der Parteimitglieder,sowohl gesetzlich als auch durch die Satzungender Parteien selbst, würde einen positiven Bei-trag zur Überwindung von Stereotypen (z.B.,dass die ganze Partei einzelnen führenden Perso-nen unterworfen ist) leisten und dadurch eine po-litische Kultur westlicher Prägung entwickeln.Es wäre auch ein angemessenes Mittel zur Über-windung der Vertrauenskrise der Bürger, da Ver-trauen nur durch entsprechende respektvolle Be-handlung der Mitglieder von Parteien entstehenkann.10 Die Parteien müssen in die Lage versetztwerden, in einem demokratisch strukturiertenVerfahren den Prozess der Meinungs- und Wil-lensbildung des Volkes zu den Organen der ver-fassten Staatlichkeit zu ermöglichen. Nur aufdiese Weise können die hier skizzierten tragiko-mischen Besonderheiten des postsowjetischenRechts endlich Rechtsgeschichte werden.

10 Weber Nicole, 11. Internationales ParteienrechtlichesSymposium vom 13. bis 14. November in Hagen. Ta-gungsbericht, in: MIP 1998, S. 68 (74).

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Aufgespießt Sebastian Roßner – Überraschende Wirkungen des Wahlrechts MIP 2011 17. Jhrg.

Überraschende Wirkungen desWahlrechts

– Zur verfassungsrechtlichen Bedeutungder faktischen Effekte von Sperrklauseln –

Dr. Sebastian Roßner, M.A.1

Das kirgisische Exempel

Die Weltöffentlichkeit hat im September undOktober 2010 nicht eben gebannt nach Kirgisiengeschaut, um den dortigen Parlamentswahl-kampf zu verfolgen. Zumindest das Ergebnisaber hätte einige Aufmerksamkeit verdient, wieein genauerer Blick zeigt: Von den knapp 3 Mil-lionen Wahlberechtigten haben 55,9 % den Wegzu den Wahlurnen gefunden. Ihre Stimmen ver-schafften fünf Parteien Sitze im Parlament vonBischkek. Wahlsiegerin wurde die Partei Ata-Schurt des wenige Monate zuvor gestürzten Prä-sidenten Bakijew mit 8,89 % der Stimmen2. Denzweiten Platz erreichte die SozialdemokratischePartei Kirgisiens mit 8,03 % der Stimmen. Wei-tere drei Parteien, deren Stimmanteile zwischen5,6 und 7,74 % rangierten, konnten ebenfallsAbgeordnete entsenden. Damit haben 37,5 % derabgegebenen Stimmen über die Sitzverteilung inder Volksvertretung entschieden; 62,5 % derStimmen hingegen blieben ohne direkten Ein-fluß. Die siegreiche Ata-Schurt erhielt so mitknapp 9 % der Stimmen 28 der 120 Parlaments-mandate, also nahezu ein Viertel der Sitze. Diesedeutliche Verzerrung der Sitzverteilung ist nichtauf dubiose Wahl- und Auszählungspraktikenzurückzuführen – die Wahlbeobachter der OSZEberichteten vielmehr von einer freien und demo-

1 Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter amLehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie undRechtssoziologie an der Heinrich-Heine-UniversitätDüsseldorf.

2 Wahlergebnisse nach http://www.gusnews.net/?s=wahlen+kirgisistan&x=0&y=0 sowie nach http://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_Kirgisistan_2010, beiderecherchiert am 8. März 2011.

kratischen Wahl3 – sondern auf die Anwendungder 5 %-Sperrklausel nach deutschem Vorbild:Tatsächlich entfielen annähernd zwei Drittel derStimmen auf Parteien, die unterhalb der 5 %-Schwelle blieben.

Faktische Wirkungen von Sperrklauseln

Die kirgisischen Wahlergebnisse bieten Anlaß,die faktischen Wirkungen der Sperrklausel zubetrachten.

Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Die Ab-schätzung der tatsächlichen Wirkungen einesRechtssatzes für die Zukunft ist mit den Schwie-rigkeiten der Prognose behaftet: Atypisches Ver-halten der Normanwender – so wie es die kirgi-sischen Wähler gezeigt haben – mag unwahr-scheinlich sein, kann aber nicht ausgeschlossenwerden. Es können also ausgesprochen überra-schende Effekte einer Norm auftreten. DieFlucht in die Vergangenheit hilft ebenfalls nurwenig: Die Wirkung von Sperrklauseln läßt sichauch für historische Wahlergebnisse nicht exaktbestimmen, denn dies erforderte den Vergleichdes historischen Wahlergebnisses mit einem hy-pothetischen Wahlergebnis, wie es unter der je-weils zu testenden anderen Rechtslage zustande-gekommen wäre. Die Ermittlung verschiedenerSitzverteilungen für eine gegebene Stimmvertei-lung durch bloßes Herein- oder Herausrechnender Sperrklausel läßt hingegen unberücksichtigt,daß Wähler unter Geltung einer Sperrklauselmöglicherweise anders abstimmen als sie diesohne Sperrklausel getan hätten.

Damit ist bereits die psychische Vorwirkung vonSperrklauseln als eine ihrer faktischen Wirkun-gen angesprochen: Die Einschätzung der Wählerüber die Wahlaussichten gewinnt im Zusammen-hang mit kleinen Parteien wesentliche Bedeu-tung. Da die Anhänger einer 5,5 %-Partei vonein-ander nicht sicher wissen, kommt der Effekt des„Ich will meine Stimme nicht verschenken“ zumTragen. Dies kann zu einer Wahlentscheidungdes Wählers nicht gemäß seiner eigentlichenPräferenz, sondern für eine andere, als aussichts-reicher eingeschätzte Partei führen. Es handelt

3 http://orf.at/stories/2019281/, recherchiert am 8. März2011.

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sich also um eine wenig beachtete Erscheinungs-form der sogenannten „Leihstimme“. Die psy-chische Vorwirkung stellt also eine Art Sperr-klausel im Kopfe des Wählers dar, der bereitsseine Wahlentscheidung dem Sitzverteilungssys-tem und dem vermuteten Verhalten der anderenWähler anpaßt. Dadurch wird die nach der Wahlauftretende Verzerrung im Verhältnis von abgege-benen Stimmen zu verteilten Parlamentssitzen4

gemindert: Die Tendenz der psychischen Vor-wirkung geht dahin, nur noch Parteien zu wäh-len, welche die Sperrklausel überwinden. DerEffekt ist nachweisbar, aber im Einzelnenschwer zu quantifizieren. Immerhin gibt es zudieser schwierigen Materie Untersuchungen un-erschrockener Politikwissenschaftler5.

Das kirgisische Beispiel weist allerdings auf diefür das Auftreten der psychischen Vorwirkungnotwendigen Lernprozesse der Wähler hin. Denndie wahltaktische Berücksichtigung von Sperr-klauseln erfordert zuvor eine Einschätzung derErfolgsaussichten bestimmter politischer Forma-tionen. Solche Einschätzungen bilden sich beimWähler kurzfristig vermutlich auch über demo-skopische Erhebungen, langfristig und dauerhaftaber wohl nur über die Erfahrung mehrererWahlen. Insgesamt ist die psychische Vorwir-kung von Sperrklauseln mutmaßlich also ein Ef-fekt, der als Ergebnis einer gewissen histori-schen Entwicklung und damit nur in hinreichendreifen politischen Systemen auftritt. Die Ge-schichte des Parteiensystems der BundesrepublikDeutschland kann hier als Beispiel dienen: NachEnde der fünfziger Jahre eingetretenen Verfesti-gung haben es nur die Grünen geschafft, sich auseigener Kraft als neue Partei auf Bundesebene zuetablieren6.

Neben die psychische Vorwirkung tritt die be-kannte wahlrechtsmechanische Wirkung vonSperrklauseln: Stimmen, die auf Wahlvorschlägeentfallen, welche weniger als die von der jeweili-

4 Dazu sogleich.5 Zu Untersuchungen in dieser Richtung Schoen, H.:

Wahlsysteme (2005) S. 5876 Die PDS bzw. Die Linke konnte dagegen in den neuen

Bundesländern auf die von der SED übernommene,weit ausgebaute Organisation zurückgreifen und bildetdaher einen Sonderfall.

gen Sperrklausel geforderten abgegebenen gülti-gen Stimmen auf sich vereinen können, beein-flussen die Zusammensetzung des Parlamentsnicht direkt, das heißt, sie üben keine positiveMandatsverschaffungsmacht aus. Es kommt alsozu einer Verzerrung im Verhältnis von abgege-benen Stimmen zu verteilten Parlamentssitzen.„Erfolglose“ Stimmen beeinflussen die Sitzver-teilung im Parlament nur noch indirekt über dieAnhebung der Gesamtheit der abgegebenenStimmen. Sie machen also lediglich das Über-springen der Sperrklausel für andere Wahlvor-schläge schwerer.

Die geschilderten Effekte erzeugen wiederumverstärkende Folgewirkungen. Am wichtigstenist wohl die Beachtung einer Partei in den Mas-senmedien, die sich als eine entscheidende Vor-aussetzung für politischen Erfolg vor allem andem Kriterium „Vertretung im Parlament“ ent-scheidet, wie ein Blick in die Nachrichtensen-dungen, politischen Magazine oder die Wahlbe-richterstattung zeigt. Daneben treten auch frag-würdige rechtliche Vorteile wie die Mindestbe-günstigungsklausel aus § 5 IV 1 PartG7 für mitFraktionsstärke im Bundestag vertretene oder dieumfangreiche Finanzierung politischer Stiftun-gen, die stets eng mit Bundestagsparteien verwo-ben sind.

Rechtliche Maßstäbe

Die Wahlrechtsgleichheit nach Art. 38 I 1 GG istder sich aufdrängende Maßstab für Sperrklau-seln. Auf die Unterschiede zwischen der langjäh-rigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts einerseits und der neueren Rechtsprechungdes Zweiten Senates sowie der Ansicht einesgroßen Teiles der Literatur andererseits bezüg-lich der Konstruktion der Wahlrechtsgleichheit8

braucht hier nicht näher eingegangen zu werden;jedenfalls soll die Wahlrechtsgleichheit striktund formal anzuwenden sein und die Zählwert-gleichheit sowie die Erfolgswertgleichheit derStimmen beinhalten. Diese beiden Begriffe las-sen sich zusammenführen im Begriff der glei-

7 Vgl. Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 5Rn. 10 m.w.N.

8 Eine Wende markiert hier BVerfGE 99, 1 (7 ff.).

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chen Mandatsverschaffungsmacht. Anders for-muliert: Alle gültigen Stimmen sollen den glei-chen Einfluß auf die Zusammensetzung des Par-laments haben9. Dies ist – wie gezeigt – unterGeltung einer Sperrklausel nicht der Fall.

Die Parteiengleichheit nach Art. 21 I GG formu-liert den Grundsatz gleicher Wettbewerbschan-cen der politischen Parteien. Sie soll ebenfallsstrikt und formal zu verstehen sein10. Wie ge-zeigt markiert der Einzug ins Parlament einewichtige Schwelle des Erfolges politischer Par-teien. Der Blick auf die Parteien erweitert dabeidie Perspektive gegenüber der Wahlrechtsgleich-heit: Neben der Verzerrung des wichtigen, aberzeitlich punktuellen Wahlereignisses geht es hierum die langfristige Beeinflussung der Wettbe-werbschancen von Organisationen, die kontinu-ierlich die politische Willensbildung des Volkesbeeinflussen wollen und sollen.

Hinzu tritt als weiterer Maßstab die Freiheit derWahl, die wiederum durch Art. 38 I 1 GG ge-schützt ist. Diese soll inhaltlich die Stimmabga-be vor Zwang oder sonstiger unzulässiger Beein-trächtigung bewahren11. Faßt man die Freiheitder Wahl als Optimierungsgebot auf in Richtungeiner möglichst präferenztreue Wahlentschei-dungen unterstützenden wahlrechtlichen Rege-lung, dann ist die Freiheit der Wahl durch dieoben geschilderte psychische Wirkung beein-trächtigt, die den Anhänger einer kleinen, von ei-ner Sperrklausel bedrohten Partei tendentiell da-von abhält, gemäß seiner eigentlichen politi-schen Präferenz zu wählen.

Zu einer Rechtfertigung von Sperrklauseln

Die Wahlrechtsgrundsätze wie die Parteien-gleichheit sind vorbehaltlos gewährt. Die Recht-fertigung einer Einschränkung kann also nurdurch Kollision mit anderem Verfassungsrechtgeschehen. Es ist dann „praktische Konkordanz“12

9 Vgl. Morlok, M.: in: Dreier GG, Art. 38 (2006)Rn. 94 ff. m.w.N.

10 BVerfGE 24, 300 (340 f.); 44, 125 (146) ; 85, 264(297).

11 So etwa BVerfGE 95, 335 (350).12 Hesse, K.: Verfassungsrecht (1995) Rn. 72. Zur Ein-

schränkung der Wahlrechtsgrundsätze BVerfGE 95,

herzustellen, um beiden Positionen zur mög-lichsten Entfaltung zu verhelfen. Der Gesetzge-ber hat somit keine freie Auswahl unter dendenkbaren Zwecken einer Einschränkung, son-dern ist an die vom Grundgesetz genannten Zwe-cke gebunden. Insoweit liegt keine Besonderheitvor.

Bezüglich wahlrechtlicher Entscheidungen desGesetzgebers betont das Bundesverfassungsge-richt seit einiger Zeit aber auch eine gesteigertePflicht des Gesetzgebers, die Prognosen, auf de-nen seine Ausgestaltung des Wahlrechts beruht,zu überprüfen und gegebenenfalls das Wahlrechtanzupassen13. Damit etabliert das Gericht für denGesetzgeber die bemerkenswerte Pflicht, stetsaufs Neue eine Realanalyse durchzuführen undbezieht sich dabei auf die herkömmlicherweisezur Rechtfertigung von Sperrklauseln angeführtezentrale Figur der Verhinderung einer Zersplitte-rung des Parlaments und der damit bewirkten Si-cherung seiner Arbeitsfähigkeit. Anders formu-liert: Die errichteten Überprüfungspflichten be-ziehen sich auf die Aspekte der Geeignetheit undErforderlichkeit von Sperrklauseln14. Sie lassenaber die Gegengründe einer Sperrklausel empi-risch unscharf, die innerhalb des etablierten Prü-fungsschemas für Eingriffe in Grundrechte (oder– wie hier – in grundrechtsgleiche Rechte) in derPrüfung der Angemessenheit einer Maßnahmeverarbeitet würden. Die Rechtfertigung einesEingriffes in die Wahlrechtsgrundsätze (wieauch in die Parteiengleichheit) muß aber auchdie eingangs skizzierten faktischen Auswirkun-gen von Sperrklauseln mit ihrem tatsächlichenGewicht zu berücksichtigen versuchen, um zueiner vollständigen Abwägung zu gelangen. Dievom Bundesverfassungsgericht geforderte Real-analyse des Gesetzgebers ist daher entsprechendauszudehnen.

335 (403).13 So zuletzt 2 BvK 1/07 Abs. 108 ff., Urteil vom 13. Fe-

bruar 2008; ebenso bereits BVerfGE 107, 286 (292 f.).14 Ausdrücklich 2 BvK 1/07 Abs. 110, Urteil vom 13. Fe-

bruar 2008.

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MIP 2011 17. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Parteienrecht im Spiegel derRechtsprechung

1. Grundlagen zum Parteienrecht

Das BAG1 trat der Auffassung des LAG Schles-wig-Holstein2 entgegen, wonach der Aufruf desBetriebsrates zur Teilnahme an einem konkretenVolksentscheid eine nach dem Betriebsverfas-sungsgesetz unzulässige parteipolitische Betäti-gung sei. Mit einem bloßen Aufruf zur Teilnah-me an bevorstehenden Wahlen und Abstimmun-gen trete der Betriebsrat weder für noch gegeneine politische Partei ein. Des Weiteren gab dasBAG in diesem Zusammenhang seine bisherigeRechtsprechung zum Umgang mit dem Verstoßeines Betriebsrates gegen das Verbot der partei-politischen Betätigung auf. Dem Arbeitgeber ste-he kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch aufUnterlassung der parteipolitischen Tätigkeit ge-gen den Betriebsrat mehr zu, sondern nur nochein Feststellungsanspruch gefolgt von demRecht, den Betriebsrat aufzulösen. Dies ergebesich aus Wortlaut und Systematik der §§ 23 und74 BetrVG, sowie aus dem Umstand, dass derBetriebsrat vermögenslos ist und ein Unterlas-sungsanspruch mangels Möglichkeit der Andro-hung und Festsetzung von Zwangsgeld dahernicht vollstreckbar wäre.

Das BVerwG3 entschied aufgrund der Tatsa-chenfeststellungen der Vorinstanz4, nach denentatsächliche Anhaltspunkte dafür gegeben waren,dass Teile der Partei „Die Linke“ verfassungs-feindliche Bestrebungen verfolgten, über die Be-obachtung eines Parteimitgliedes durch den Ver-fassungsschutz aufgrund öffentlich zugänglicherQuellen. Abweichend von der Vorinstanz stelltedes BVerwG klar, dass auch die Beobachtungmittels allgemein zugänglicher Quellen einer Er-

1 Beschluss vom 17.03.2010 – 7 ABR 95/08, in: NJW2010, 3322 ff.

2 Beschluss vom 30.09.2008 – 2 TaBV 25/08; sieheauch MIP 2008/2009, 15. Jhg., S. 91.

3 Urteil vom 21.07.2010 – 6 C 22/09, in: DVBl. 2010,1370 ff.

4 OVG Münster, Urteil vom 13.02.2009 – 16 A 845/08,in: DVBl. 2009, 922ff.

mächtigungsgrundlage bedürfe, da durch dassystematische Sammeln und Auswerten dieserInformationen ein zusätzlicher Aussagewert ent-stehe. Eine solche Ermächtigungsgrundlage fin-de sich in § 8 des Bundesverfassungsschutzge-setzes. Anhaltspunkte dafür, dass einzelne Teileder Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgen,rechtfertige die Beobachtung der Gesamtpartei.Gerade die innere Zerrissenheit einer Partei undFlügelkämpfe machten eine Überwachung erfor-derlich, um feststellen zu können, in welcheRichtung sich die Partei letztlich bewege. In die-sem Zusammenhang sei auch die Beobachtungvon Personen zulässig, die nicht der verfassungs-feindlichen Gruppe der Partei angehören, da esausreiche, wenn diese die verfassungsfeindlichenZiele auch nur unbewusst durch das Fördern derGesamtpartei unterstützen. Das BVerwG trat derAuffassung der Vorinstanz entgegen, dass einesolche Beobachtung das freie Mandat verletze.Die Vorschriften des Bundesverfassungsschutz-gesetzes seien vielmehr eine zulässige Beschrän-kung des freien Mandates und des Parteienprivi-legs. Auch sei durch die Beobachtung mittels le-diglich öffentlich zugänglicher Quellen und ohneheimliche Überwachung der Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit gewahrt und die Überwachungrechtmäßig.

Demgegenüber hatte sich das VG Saarlouis5 mitder Feststellungsklage eines Mitgliedes der Par-tei „Die Linke“ zu beschäftigen, über welches le-diglich im Zuge der Beobachtung der Parteidurch den Verfassungsschutz Daten erhobenwurden. Es wies die Klage als unzulässig ab. DieErhebung der personenbezogenen Daten vermö-ge nicht ein feststellungsbedürftiges Rechtsver-hältnis zwischen dem Parteimitglied und demVerfassungsschutz zu begründen, da hier in ers-ter Linie die Partei beobachtet wurde und dieDaten über die Mitglieder nur als Reflex gesam-melt würden. Eine Partei könne nicht beobachtetwerden, ohne dass ihre Mitglieder ebenfalls er-fasst werden. Aus demselben Grund habe dasParteimitglied auch kein qualifiziertes Interessein Form eines Rehabilitierungsinteresses an derFeststellung der Rechtswidrigkeit der Überwa-

5 Urteil vom 08.07.2010 – 6 K 214/08, online veröffent-licht bei BeckRS 2010, 51175.

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chungsmaßnahmen. Insoweit sein Name in denSachakten über die Partei auftauche, sei darinkeine diskriminierende Wirkung zu sehen. ImÜbrigen könne das Parteimitglied die Löschungseiner Daten mittels einer Verpflichtungsklage,notfalls in Form einer Stufenklage, verfolgen, sodass die Klage auf Feststellung der Rechtswid-rigkeit der Sammlung der Daten subsidiär unddamit unzulässig sei.

Das BVerwG6 entschied über die Frage, ob dieMitgliedschaft in einer extremistischen, abernicht verbotenen Partei zur UnzuverlässigkeitiSd Waffengesetzes führt. Die Vorinstanz7 hattedies verneint und dazu ausgeführt, dass die Re-gelvermutung zur Unzuverlässigkeit des § 5Abs. 2 Nr. 2 b) WaffenG, wonach jemand alsunzuverlässig zum Besitz von Waffen gilt, wenner Mitglied in einer Partei war, welche vom Bun-desverfassungsgericht verboten wurde, der Rege-lung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffenG, nach der be-reits allgemein das Streben gegen die verfas-sungsmäßige Ordnung zur Unzuverlässigkeitführt, vorgehe und einen Rückgriff auf diese all-gemeine Regelung verbiete. Dies folge aus demParteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 GG, welchesumgangen würde, wenn ein Parteimitglied we-gen seiner Tätigkeit in einer nicht verbotenenPartei als unzuverlässig iSd WaffenG eingestuftwerde. Mangels Rückgriffmöglichkeit auf dieallgemeinere Regelung des § 5 Abs. 2 Nr. 3WaffenG und da die Partei noch nicht verboten,also kein Tatbestand der Unzuverlässigkeitsver-mutung erfüllt war, erachtete die Vorinstanz dasParteimitglied für zuverlässig im waffenrechtli-chen Sinne. Dieser Auslegung des Verhältnissesvon § 5 Abs. 2 Nr. 2 b) zu Nr. 3 WaffenG erteil-te das BVerwG eine Absage und stellte klar,dass beide Normen unterschiedliche Tatbeständeregelten und nebeneinander anwendbar seien.Dies folge unter anderem aus dem Schutzzweckder Norm des § 5 WaffenG. Die Regelvermu-tung für eine Unzuverlässigkeit zum Besitz vonWaffen diene dem Interesse der Öffentlichkeit

6 Urteil vom 30.09.2009 – 6 C 29/08, in: NVwZ-RR2010, 225 ff.

7 BayVwGH, Urteil vom 26.05.2008 – 21 BV 07.586,online veröffentlicht bei juris, siehe auch MIP2008/2009, 15. Jhg., S. 90.

daran, den Waffenbesitz nur bei Personen hinzu-nehmen, die in jeder Hinsicht ordnungsgemäßund verantwortungsbewusst mit der Waffe um-gehen. Falls eine Person der Regelvermutungdes § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffenG unterfalle, weil esBestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ord-nung verfolge, so ändere es an der Unzuverläs-sigkeit dieser Person nichts, wenn sie dies imRahmen ihrer Tätigkeit für eine nicht verbotenePartei mache. Darin liege auch keine Umgehungdes Parteienprivilegs. Vielmehr entstünde an-dersherum ein Nachteil für die Allgemeinheit,wenn sich eine unzuverlässige Person im Schat-ten der Partei verstecken könne. Durch dieseAuslegung werde das Parteienprivileg auch nichtausgehebelt. Dieses schütze in erster Linie dieParteiorganisation und durch die Annahme einerwaffenrechtlichen Unzuverlässigkeit eines Par-teimitgliedes werde die von Art. 21 GG ge-schützte Mitwirkung der Parteien an der politi-schen Willensbildung nicht in rechtserheblicherWeise beeinträchtigt.

Das BVerwG8 stellte noch einmal klar, dass § 3ParteiG den politischen Parteien und ihren Ge-bietsverbänden der jeweils höchsten Stufe fürsämtliche Gerichtsverfahren die Parteifähigkeiteinräumt, ohne zugleich die durch andere Vor-schriften, wie bspw. § 61 Nr. 2 VwGO, bereitsgesicherte Beteiligtenfähigkeit niederer Gebiets-verbände auszuschließen.

Das VG Gelsenkirchen9 hatte verschiedeneAuflagen, welche der NPD NRW für einen Auf-zug gemacht wurden, hinsichtlich ihrer Recht-mäßigkeit zu bewerten. In diesem Zusammen-hang stellte es insbesondere fest, dass in Über-einstimmung mit der strafrechtlichen Rechtspre-chung Aussagen wie „Deutschland den Deut-schen“ regelmäßig selbst dann keinen Angriffauf die Menschenwürde der in der BRD woh-nenden Ausländer darstelle, wenn sie im Kon-text mit der weiteren Aussage “Ausländer raus“stünden und daher das Verbot dieser Äußerungrechtswidrig sei. Auch solche Äußerungen könn-ten zur politischen Meinungskundgabe gehören,8 Beschluss vom 10.08.2010 – 6 B 16/10, online veröf-

fentlicht bei juris. 9 Urteil vom 18.05.2010 – 14 K 5459/08, online veröf-

fentlicht bei juris.

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die zu verbieten, wegen der von Art. 5 GG ge-schützten Meinungsfreiheit und des Parteienpri-vilegs des Art. 21 GG nur unter hohen Anforde-rungen möglich sei. Überschreite weiter die zuerwartende Meinungsäußerung nicht die Schwel-le der Strafbarkeit, seien beschränkende Verfü-gungen nur dann verfassungsrechtlich unbedenk-lich, wenn sich die prognostizierte Gefahr nichtaus dem Inhalt der Äußerung sondern aus derArt und Weise der Durchführung der Versamm-lung ergebe, wie beispielsweise aggressives undprovokatives, die Bürger einschüchterndes, einKlima der Gewaltbereitschaft erzeugendes Ver-halten. Ein solches liege nicht bereits in dem ge-meinsamen lauten Skandieren von Parolen, dadies eine versammlungstypische Ausdrucksformsei. Das massenhafte Schwenken von Fahnen seihingegen grundsätzlich geeignet einen martiali-schen Eindruck bei Dritten zu erzeugen und kön-ne durch Auflagen beschränkt werden. In dem zuentscheidenden Fall war die dahingehende Be-schränkung jedoch ebenfalls rechtswidrig, da sieanlässlich einer angekündigten Teilnehmerzahlvon zehn Personen nicht geboten gewesen sei.Auch das pauschale Verbot „nationalsozialisti-sches Propagandajargon“ zu verwenden, sei zuunbestimmt und damit rechtswidrig.

Das OLG München10 stellte fest, dass der Inhaltdes Wahlplakates der NPD für die Wahl zumBayrischen Landtag am 28.09.2008, auf dem un-ter der Überschrift „Guten Heimflug!“ ausländi-sche Mitbürger auf einem „fliegenden Teppich“abgebildet waren, nicht als Volksverhetzungstrafbar sei, da in dieser Aussage keine Auffor-derung an andere enthalten sei, gegen die darge-stellten Personengruppen bestimmte Maßnah-men zu ergreifen. Soweit die Personen auf demPlakat mit dümmlichem Gesichtsausdruck abge-bildet wurden, komme diesem Umstand übereine gewisse Abwertung hinaus kein strafrecht-lich relevantes, unfriedliches Gepräge zu.

Das LG Düsseldorf11 stellte fest, dass unwahreTatsachenbehauptungen in der Regel auch im po-litischen Meinungskampf keinen Schutz genießen10 Beschluss vom 09.02.2010 – 5 St RR (II) 9/10, in:

NJW 2010, 2150 ff.11 Urteil vom 05.05.2010 – 12 O 111/10, online veröf-

fentlicht bei juris.

und folglich gegen diese ein Unterlassungsan-spruch bestehe. In Anlehnung an die Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichtes12 führte esweiter aus, dass sich demgegenüber ein überVorgänge von öffentlichem Interesse Äußerndersolange auf die Berichterstattung durch die Me-dien verlassen und diese verbreiten dürfe, wiedie Berichterstattung nicht erkennbar überholtoder widerrufen sei. Insofern sei der Äußerndeinsbesondere im politischen Meinungskampf zuWahlkampfzeiten nicht gehalten, eigene Erkun-dungen zur Überprüfung von Presseberichten an-zustellen. Eine weitergehende Sorgfaltspflichthinsichtlich der Recherche bestehe nur, soweit essich um Tatsachenbehauptungen aus dem eige-nen Erfahrungs- und Kontrollbereich des Äu-ßernden handele.

Das OLG Schleswig-Holstein13 hatte über dasBegehren des Bundesverbandes der Freien Wäh-ler „Freie Wähler Deutschland“ zu entscheiden,der von dem Verein „Freie Wähler Nordver-band“ Unterlassung der Verwendung des Na-mensbestandteils „Freie Wähler“ verlangte. DasGericht verneinte den Unterlassungsanspruch. Esführte dazu aus, dass zumindest im jetzigen Sta-dium des Entwicklungsprozesses der FreienWähler die Bezeichnung „Freie Wähler“ nochkeinem namensrechtlichen Schutz im Sinne des§ 12 BGB unterliege. Insoweit fehle es der Be-zeichnung „Freie Wähler“ sowohl an notwendi-ger Unterscheidungskraft als auch an überregio-naler Verkehrsgeltung. Die streitige Bezeich-nung sei als Gattungsbezeichnung für Vereini-gungen von Personen einzustufen, welche nichtparteipolitisch gebunden seien und sich gleich-wohl durch die Ausübung des aktiven und passi-ven Wahlrechts am politischen Leben beteiligenwollten. Auch liege in dem Namensbestandteilkeine namensrechtlich geschützte einprägsameNeubildung, da die Bezeichnung keine Rück-schlüsse auf die gemeinsamen Interessen derMitglieder zulasse, sondern nur darauf, dass sieparteipolitisch nicht gebunden seien. An derVerkehrsgeltung des Namens mangele es weiter

12 BVerfG, Beschluß vom 09.10.1991 – 1 BvR 1555/88,in: NJW 1992, 1439 ff.

13 Urteil vom 22.10.2010 – 17 U 14/10, online veröffent-licht bei juris.

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deshalb, weil der Bundesverband nicht alle Or-ganisationen zusammenfasse, die sich die Be-zeichnung „Freie Wähler“ auf die Fahnen ge-schrieben hätten, die Bezeichnung mithin nichtalleine ihm als Namensträger zuzuordnen sei.Aus gleichem Grund sei auch eine für den Unter-lassungsanspruch notwendige Verwechselungs-gefahr bzw. Zuordnungsverwirrung ausgeschlos-sen. Durch den Namensbestandteil „Freie Wäh-ler“ in „Freie Wähler Nordverband“ könne nichtauf eine fälschliche Zugehörigkeit des Nordver-bandes zum Bundesverband geschlossen werden.Weiter stelle der Beklagte durch die Bezeich-nung „Nordverband“ ausreichend klar, dass essich bei ihm nicht um den Bundesverband han-dele.

Das VG Gelsenkirchen14 setzte sich mit derFrage auseinander, ob die mehrjährige Beurlau-bungszeit einer Studienrätin zum Zwecke derAusübung des Amtes der Landesvorsitzenden ei-ner Partei ruhegehaltsfähig iSd § 6 BeamtenVGist. Es verneinte dies, da die Beurlaubung wederdienstlichen Interessen noch öffentlichen Belan-gen diene. Wann ein Urlaub öffentlichen Belan-gen diene, entscheide sich bei einer beruflichenTätigkeit für eine privatrechtlich verfasste Orga-nisation maßgeblich danach, ob sich die Übertra-gung der Verantwortung des privaten Arbeitge-bers für die Versorgung seiner Angestellten aufdie öffentliche Hand rechtfertige. Dies sei nurder Fall, wenn bei der Tätigkeit die Zwecke desAllgemeinwohls die daneben verfolgten privatenZielsetzungen überwiegen. Hinsichtlich des Am-tes einer Parteivorsitzenden lägen diese Voraus-setzungen nicht vor. Die Stellung der Parteienals tragender Teil der Demokratie bedeute nicht,dass auch die Tätigkeit des Vorstandes als über-wiegend am Allgemeinwohl orientiert anzusehensei. Vielmehr stehe die Durchsetzung eigenerpolitischer Ziele und Interessen im Vordergrund.

Das Bundesparteigericht der CDU15 gab derAnfechtung einer Vorstandswahl in einem Orts-verband statt. Der Wahl lag eine in dem betroffe-nen Ortsverband und anderen wohl gängige Pra-14 Urteil vom 07.10.2010 – 3 K 1496/07, online veröf-

fentlicht bei juris. 15 Beschluss vom 23.11.2010 – CDU-BPG 3/2010, un-

veröffentlicht.

xis der Parteimitglieder zugrunde, vor den jewei-ligen Vorstandswahlen den Ortsverband gezieltzu wechseln, um so an möglichst vielen Vor-standswahlen mitzuwirken (sog. „fliegende Orts-vereine“). Die so entstandenen – kurzfristigen –Mitgliedschaften in dem Ortsverband verstießenüberwiegend gegen (für alle Parteien typische)Bestimmungen der Satzung, wie beispielsweise,dass das Mitglied in dem Gebiet des Ortsverban-des, in welchem es Mitglied ist, ortsansässig seinmuss. Die derart satzungswidrig zugewiesenenMitglieder hatten in einem für das Abstim-mungsergebnis relevanten Umfang an der ange-fochtenen Wahl teilgenommen, so dass das Ge-richt die Wahl für unwirksam erklärte. Es stelltein diesem Zusammenhang klar, dass die sat-zungsrechtlich geregelte Mitgliedschaft des Par-teimitglieds in den verschiedenen Organisations-stufen und örtlichen Verbänden eine wesentlicheVoraussetzung für die manipulationsfreie Wil-lensbildung in der Partei sei. Sehe eine Satzungeine Abweichungsmöglichkeit für das Ortsprin-zip vor, sei dies zwar nicht zu beanstanden, un-terliege aber der sorgfältigen inhaltlichen Prü-fung durch den Vorstand. Dies war im vorliegen-den Fall nicht geschehen. Das Gericht betonte,dass der Wunsch von Parteimitgliedern, denOrtsverband zu wechseln, um dort an Wahlenteilzunehmen, ernsthaft kein Grund sein könne,einem solchen Antrag stattzugeben.

Antje Sadowski

2. Chancengleichheit

Grundsätzlich kann die Rechtslage bei der Ver-gabe öffentlicher Räume an politische Parteienangesichts der umfangreichen Rechtsprechungzu diesem Thema als in vielen Punkten geklärtbetrachtet werden, weshalb seit geraumer ZeitGegenstand von Rechtstreitigkeiten vor allemTatsachenfragen, namentlich die Vergabepraxisoder – von den Trägern öffentlicher Einrichtun-gen vorgetragene und von den Antragstellern be-strittene – Kapazitätsprobleme sind. Letzterewerden rechtlich stets im Sinne des Prioritäts-prinzips – wer zuerst kommt, mahlt zuerst – ge-löst. In tatsächlicher Hinsicht wirft die Fragenach dem Ersten mitunter allerdings Beweis-

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schwierigkeiten auf. Hinzu kommt häufig dieStreitfrage, inwieweit die Nutzung der vorhan-denen Räumlichkeiten durch den Ersten aucheine Nutzung durch den Zweiten hindert.

Letztere Tatsachenfrage spielte auch in demeinstweiligen Rechtsschutzverfahren vor demOVG Berlin-Brandenburg16 die entscheidendeRolle. Das OVG bestätigte den vorinstanzlichenBeschluss des VG Berlin17 und wertete die Ver-weigerung der Überlassung einer kommunalenEinrichtung an eine politische Partei aus Grün-den fehlender personaler Ressourcen zur Betreu-ung der Bühnen- und Veranstaltungstechnik alsnicht stichhaltig belegt. Ausweislich des Veran-staltungskalenders konnten bei einer vergleich-baren Auslastung der Räumlichkeiten ähnlichaufwändige Veranstaltungen im Einklang mitden Arbeitszeiten und den Regelaufgaben desangestellten Bühnentechnikers bereits in derVergangenheit organisiert werden und sind auchzukünftig weiter geplant. Auch wenn es sich beider streitgegenständlichen Veranstaltung um denFestakt anlässlich einer Verschmelzung zweierpolitischer Parteien handelt, ist dieser – wie dasOVG zu Recht feststellt – dem Bereich derdurch Art. 21 GG geschützten Öffentlichkeitsar-beit politischer Parteien zuzuordnen. Dass essich um den Festakt anlässlich der Verschmel-zung von NPD und DVU handelt, kann rechtlichnicht anders beurteilt werden.

Vorwiegend um Fragen der Kapazitätserschöp-fung wurde auch in einem einstweiligen Rechts-schutzverfahren vor dem VG Bayreuth18 und inzweiter Instanz vor dem VGH Bayern19 gestrit-ten. Die NPD hatte vor dem VG die zweitätigeÜberlassung des Hegelsaals der Konzert- undKongresshalle Bamberg für die Durchführungeines Bundesparteitages erstritten. Vor dem Hin-tergrund der als gefestigt zu bezeichnendenRechtsprechung im Allgemeinen, gerade aber

16 Beschluss vom 13.01.2011 – OVG 3 S 2.11, onlineveröffentlicht bei juris.

17 Beschluss vom 07.01.2011 – 2 L 177.10, nicht veröf-fentlicht.

18 Beschluss vom 22.03.2010 – B 3 E 10/73, online ver-öffentlicht bei juris.

19 Beschluss vom 29.04.2010 – 4 CE 10/835, online ver-öffentlicht bei juris.

auch des VG Bayreuth und des VGH Bayern inkonkreten Rechtsstreitigkeiten zwischen derNPD und dem Träger der Konzert- und Kon-gresshalle Bamberg im Besonderen20, bot derFall rechtlich kaum Neues. Überraschend war le-diglich die rechtliche Wertung der Stadt Bam-berg, die offenbar von dem reinen Zeitablaufzwischen dem letzten schriftlichen Anfordernder Raumüberlassung am 23.11.2009 mit derAnkündigung, im Fall der Nichtgewährung umverwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nachzu-suchen, und der Stellung des Antrags nach § 123VwGO „erst“ am 28.01.2010 auf einen „An-spruchsverzicht“ geschlossen hat. In der Annah-me, die NPD halte nicht mehr an ihrem Überlas-sungsbegehren fest, sei deshalb mit einem Drit-ten am 28.01.2010 telefonisch eine Option aufÜberlassung des Hegelsaals vereinbart und die-sem am 02.02.2010 ein Vertragsformular über-sandt worden. Infolgedessen sei ein schuldrecht-licher Anspruch eines Dritten entstanden, derdem Nutzungsbegehren der NPD entgegenstehe.Unstreitig kam es aber jedenfalls nicht vor Zu-gang des Antrags der NPD nach § 123 VwGObeim Antragsgegner zu einem wirksamen Ver-tragsschluss mit dem Dritten. Weder der ledig-lich unterstellte, nicht aber durch Tatsachen ge-stützte Anspruchsverzicht, noch der verspäteteVertragsschluss mit einem Dritten sind bei derPrüfung eines Anspruchs auf Überlassung öf-fentlicher Einrichtungen allerdings rechtlich be-achtlich.

Bereits im Vorjahr hatte die NPD in einem einst-weiligen Rechtsschutzverfahren die Überlassungöffentlicher Räume zur Durchführung einesBundesparteitages, damals in Berlin, erstritten21.

20 VG Bayreuth, Beschluss vom 30.08.2007 – B 2 E07.773; Beschwerdeentscheidung des VGH Bayern,Beschluss vom 14.09.2007 – 4 CE 07.229 7; VG Bay-reuth, Beschluss vom 31.12.2007 – B 2 E 07.1119 (on-line veröffentlicht bei juris), und Einstellungsbeschlussvom 17.01.2008 – B 2 V 07.1275; VG Bayreuth, Be-schluss vom 02.01.2008 – B 2 E 07.1288; Beschwer-deentscheidung des VGH Bayern, Beschluss vom14.01.2008 – 4 CE 08.60 (online veröffentlicht bei ju-ris); VG Bayreuth, Beschluss vom 17.03.2008 – B 2 E08.144; Beschwerdeentscheidung des VGH Bayern,Beschluss vom 13.06.2008 – 4 CE 08.726 (online ver-öffentlicht bei juris).

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

Mit diesem Fall hatte sich das VG Berlin22 nunerneut zu befassen. Das Bezirksamt Reinicken-dorf (Berlin) war durch verwaltungsgerichtlicheEilentscheidung dazu verpflichtet worden, derNPD zur Durchführung ihres Bundesparteitagesam 4. und 5. April 2009 den Ernst-Reuter-Saalim Rathaus Reinickendorf zu den für die Verga-be von Räumen üblichen Bedingungen zur Ver-fügung zu stellen. Daraufhin gestattete das Be-zirksamt Reinickendorf der NPD die Nutzungdes „Ernst-Reuter-Saal ohne Foyer“ und stelltedie Bewilligung unter einen Widerrufsvorbehalt,unter anderem für den Fall, dass „von der Nutze-rin oder von Teilnehmern der VeranstaltungGründe gesetzt werden, aufgrund derer eineÜberlassung der Objekte nicht erfolgt wäre“. Diefolgende Aufzählung solcher Gründe zielt imKern darauf, das Vertreten und Äußern bestimm-ter politischer Meinungen mit dem Widerruf derErlaubnis zu sanktionieren. Weiterhin sollte einWiderruf erfolgen können, wenn „konkrete An-haltspunkte dafür vorliegen, dass im Zusammen-hang mit der Veranstaltung die öffentliche Si-cherheit oder Ordnung gefährdet ist (z.B. durchGegenveranstaltungen).“ Die dagegen gerichteteKlage der NPD auf Feststellung der Rechtswid-rigkeit des Bescheides des Bezirksamtes Reini-ckendorf sowohl wegen der Nichtüberlassungdes Foyers als auch wegen der beigefügten Ne-benbestimmungen hatte Erfolg. Als Grund fürdie Nichtüberlassung des Foyers berief sich dasBezirksamt darauf, die NPD habe die Überlas-sung des Foyers des Ernst-Reuter-Saales nichtbeantragt. Tatsächlich hatte die NPD ausdrück-lich lediglich in einem erfolglos gebliebenen(ersten) Antrag auf Überlassung des Fonta-ne-Hauses geschildert, dass sie „vor dem Ein-gangsbereich des Saales Platz für die Aufstel-lung verschiedener Präsentationsstände sowiedie Nutzung der Publikumsgarderobe“ benötige.In dem anschließenden (zweiten) Antrag auf

21 S. VG Berlin, Beschluss vom 31.03.2009 – 2 L 38.09,und die Beschwerdeentscheidung des OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2009 – 3 S 36.09,beide online veröffentlicht bei juris. Dazu auch A. Bä-cker, Spiegel der Rechtsprechung – Chancengleichheit,in: MIP 2010, 118 (119).

22 Urteil vom 16.07.2010 – 2 K 93.09, online veröffent-licht bei juris.

Überlassung entweder des Ernst-Reuter-Saalesoder des Fontane-Hauses zu jeweils anderen Ter-minen, nahm sie allerdings ausdrücklich auf denursprünglich gestellten (ersten) Antrag Bezug.Zu Recht nahm das VG Berlin an, dass der An-trag auf Überlassung nur dahingehend ausgelegtwerden konnte, dass gewünscht war, auch dasFoyer des Veranstaltungsortes mitzubenutzen.Es gab auch keine Gründe, die gegen eine Über-lassung des Foyers sprachen, weshalb die Nicht-überlassung des Foyers rechtswidrig war. DiesesSchicksal der Rechtswidrigkeit teilen auch dieder Nutzungserlaubnis beigefügten Nebenbe-stimmungen, und zwar gleich in dreifacher Hin-sicht. Zum Ersten waren die Nebenbestimmun-gen schon verwaltungsverfahrensrechtlich unzu-lässig. Danach können einem VerwaltungsaktNebenbestimmungen beigefügt werden, um si-cherzustellen, dass die gesetzlichen Vorausset-zungen für die Überlassung erfüllt werden. Diegesetzlichen Voraussetzungen waren aber bereitserfüllt. Stattdessen sollten die Nebenbestimmun-gen den Fortbestand dieser Voraussetzungen si-chern. Zum Zweiten dienten die Nebenbestim-mungen ihrem Inhalt nach dazu, eine dement-sprechende neue Vergabepraxis durchzusetzen,die aber – wie auch in dem einstweiligen Rechts-schutzverfahren festgestellt – auf sog „Altfälle“,also bereits gestellte Nutzungsanträge, keine An-wendung finden kann. Zum Dritten bescheinigtedas VG Berlin dieser beabsichtigten Änderungder Vergabepraxis – ausdrücklich in Abkehr vonder bisherigen gegenteiligen Auffassung – einenVerstoß gegen Verfassungsrecht: „Die für dieZukunft beabsichtigte Vergabepraxis, nicht ver-botene Parteien wegen der erwähnten Meinungs-kundgaben unterhalb der Strafbarkeitsschwellevom Zugang zu öffentlichen Räumen auszu-schließen, verletzt Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG. Sielässt sich auch nicht mit der Verfassungsbindungdes Beklagten rechtfertigen. Vielmehr entsprichtes gerade der Bindung des Beklagten an Art. 21Abs. 2 Satz 2 GG, vor einem Parteiverbot nichtnach politischen Meinungen zu differenzieren,sofern diese nicht die Schwelle der Strafbarkeiterreichen.“

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MIP 2011 17. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Auch die „Bürgerbewegung Pro Deutschland“konnte vor dem VG Berlin23 und in zweiter In-stanz vor dem OVG Berlin-Brandenburg24

einen Anspruch auf Überlassung eines Sitzungs-saales im Rathaus Berlin-Schöneberg zur Durch-führung ihres Bundesparteitages durchsetzen. Esentsprach bisheriger Verwaltungspraxis, dieRäumlichkeiten auch politischen Parteien zurVerfügung zu stellen. Auch in diesem Fall konn-te die erst nach Eingang des Antrags „mit sofor-tiger Wirkung“ beschlossene Änderung der Nut-zungs- und Entgeltordnung dem Anspruch derPartei auf Bescheidung ihres Antrags nach der„alten“ Rechtslage nicht entgegengehalten wer-den. „Mit sofortiger Wirkung“ dürfen dann ebennur die ab dem Zeitpunkt des Erlasses eingehen-den Anträge nach der neuen Vergabepraxis be-handelt werden.

Die Frage der „Ortsansässigkeit“ einer politi-schen Partei spielt bei der Vergabe öffentlicherEinrichtungen immer häufiger eine Rolle25. Soauch in dem einstweiligen Rechtsschutzverfah-ren vor dem VG Halle (Saale)26 und in zweiterInstanz vor dem OVG Sachsen-Anhalt27. Offen-bar avanciert der Hinweis auf das Fehlen einesortsansässigen Gebietsverbands der politischenPartei zu einem gern genutzten Argument derTräger gemeindlicher Einrichtungen zur Begrün-dung der Antragsablehnung. Weil die Vergabe-praxis gegenüber politischen Parteien allein aufVeranstaltungen mit regionalem Charakter be-schränkt sei, wurde seitens der Träger der öffent-lichen Einrichtungen ein Anspruch auf Überlas-sung einer gemeindlichen Einrichtung verneint.Ob § 5 PartG, wonach alle politischen Parteiengleich zu behandeln sind, einer solchen Vergabe-praxis rechtlich entgegensteht, blieb in derRechtsprechung des OVG Saarlouis zuletzt noch

23 Beschluss vom 01.06.2010 – 2 L 72.10, nicht veröf-fentlicht.

24 Beschluss vom 28.06.2010 – 3 S 40/40, in: NVwZ-RR2010, 765 ff.

25 S. dazu bereits A. Bäcker, Spiegel der Rechtsprechung– Chancengleichheit, in MIP 2010, S. 118 f.

26 Beschluss vom 26.10.2010 – 6 B 207/10, nicht veröf-fentlicht.

27 Beschluss vom 05.11.2010 – 4 M 221/10, online ver-öffentlicht bei juris.

offen, da jedenfalls nach der – letztlich relevan-ten – tatsächlichen Vergabepraxis die fraglichenRäumlichkeiten auch für „überregionale“ Veran-staltungen zur Verfügung gestellt wurden28. Soverhielt es sich zwar auch in dem vor dem VGHalle (Saale) und dem OVG Sachsen-Anhalt ge-führten Rechtsstreit. Nichtsdestotrotz enthieltensich die entscheidenden Gerichte hier nicht einerrechtlichen Beurteilung einer solchen Vergabe-praxis: Es sah in dem Kriterium der „Ortsansäs-sigkeit“ keinen sachlichen Grund für eine Diffe-renzierung zwischen den Parteien und damiteinen Verstoß gegen den in § 5 PartG einfach-rechtlich ausgestalteten Grundsatz der Chancen-gleichheit politischer Parteien.

Eine geplante und letztlich nicht durchgeführteWahlkampfveranstaltung des NPD-Kreisverban-des Wetterau anlässlich der bevorstehenden Bür-germeisterwahl in Büdingen beschäftigte dasVG Gießen zweimal. Der unterlegene Bürger-meisterkandidat der NPD versuchte in zwei iso-lierten Prozesskostenhilfeverfahren vergeblich,die Übernahme der Gerichtskosten und die Bei-ordnung eines Rechtsanwaltes für eine Wahlan-fechtungsklage29 und im Anschluss daran füreine Fortsetzungsfeststellungklage30 zu errei-chen. Dorn im Auge des unterlegenen Bürger-meisterkandidaten war, dass die Stadt für dieÜberlassung der Willi-Zinnkann-Halle in Büdin-gen von dem antragstellenden NPD-Kreisver-band Wetterau eine Kaution in Höhe von10.000€ verlangt hatte, obwohl nach dem gelten-den Satzungsrecht lediglich die Möglichkeit be-stand, eine Kaution bis zu einer Höhe von 800€festzusetzen. Allerdings wehrte sich nicht derbetroffene NPD-Kreisverband Wetterau dage-gen, sondern der unterlegene Bürgermeisterkan-didat und dies auch nicht vor der Wahl, sonderndanach, weshalb letztlich beiden isolierten Pro-zesskostenhilfeanträgen kein Erfolg beschiedenwar. In der in einem Prozesskostenhilfeverfahren28 So etwa OVG Saarlouis, in: NVwZ-RR 2009, S. 533 ff.29 VG Gießen, Beschluss vom 21.04.2010 – 8 K

267/10.GI, in: HGZ 2010, S. 192-193 (Leitsatz undGründe), in: DÖV 2010, 616 (Leitsatz).

30 S. Pressemitteilung des VG Gießen vom 11.08.2010,online veröffentlicht im Pressearchiv 2010 des VGGießen, http://www.vg-giessen.justiz.hessen.de, zuletztaufgerufen am 25.02.2011.

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

gebotenen summarischen Prüfung, ob die beab-sichtigte Klage hinreichend Aussicht auf Erfolghat, kam das VG Gießen in beiden Verfahren zudem Ergebnis, dass dies nicht der Fall ist. Diemit einem Wahlanfechtungsverfahren angestreb-te Wiederholung der Wahl setzt nach § 50 Nr. 2KWG Hessen voraus, dass im WahlverfahrenUnregelmäßigkeiten oder strafbare oder gegendie guten Sitten verstoßende Handlungen vorge-kommen sind, die das Wahlergebnis beeinflus-sen und bei denen nach den Umständen des Ein-zelfalls eine nach der Lebenserfahrung konkreteMöglichkeit besteht, dass sie auf das Ergebnisvon entscheidendem Einfluss gewesen sein kön-nen. Dies kann bei einem „lediglich“ überhöhtenKautionsverlangen nicht angenommen werden.Zudem wies das VG Gießen darauf hin, dassEntscheidungen und Maßnahmen, die sich nichtunmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen,auch im Vorfeld einer Wahl hätten in einemeinstweiligen Rechtsschutzverfahren vor demVerwaltungsgericht angegriffen werden können.Es wäre für den unterlegenen NPD-Bürgermeis-terkandidaten sicher hilfreich gewesen, wenndieser Hinweis um die Information ergänzt wor-den wäre, dass sich diese Möglichkeit selbstver-ständlich nur dem in einem solchen VerfahrenPassivlegitimierten, hier also dem NPD-Kreis-verband Wetterau, geboten hätte. Aus diesemGrunde war auch der zweite Prozesskostenhil-feantrag des Bürgermeisterkandidaten abzuleh-nen. Da er nicht in eigenen Rechten betroffen ist,hatte die Klage auf Feststellung der Rechtswid-rigkeit der Kautionsfestsetzung keine Aussichtauf Erfolg.

Zu den Evergreens gerichtlicher Auseinanderset-zungen scheinen auch die Girokonten-Fälle zugehören. Dass die wesentlichen Rechtsfragen desAnspruchs auf Einrichtung, auf Weiterführungoder der Kündigung von Girokonten politischerParteien sowie die Prozessführungsbefugnis alsgeklärt zu betrachten sind, hat nun auch dasBVerwG31 explizit feststellen müssen, als eseine Beschwerde gegen die Nichtzulassung derRevision gegen ein Urteil des OVG NRW32 zu-rückwies. Nach bereits herrschender höchstge-

31 Beschluss vom 10.08.2010 – 6 B 16/10, online veröf-fentlicht bei juris.

richtlicher Rechtsprechung ist die Beteiligungs-fähigkeit niederer Gebietsverbände politischerParteien in verwaltungsgerichtlichen Verfahren(§ 61 Nr. 2 VwGO) als Erweiterung der in § 3PartG geregelten Parteifähigkeit der Gesamtpar-tei und der Gebietsverbände der jeweils höchstenStufe zu verstehen und tritt als prozessuale Mög-lichkeit hinzu. Weiter ergibt sich bereits aus derRechtsprechung des BVerwG, dass „ein Trägeröffentlicher Gewalt dem gegen ihn gerichtetenGleichbehandlungsanspruch aus § 5 PartG nichtentgegenhalten kann, die betreffende Partei kön-ne sich Ersatz für die einer anderen Partei ge-währte, ihr hingegen vorenthaltene öffentlicheLeistung bei einem - privaten - Dritten beschaf-fen“. Zudem hat der BGH bereits entschieden,dass insbesondere eine Parteiuntergliederungnicht auf die (Mit-)Benutzung eines anderweitigeingerichteten Kontos einer anderen Parteiglie-derung verwiesen werden kann33. Auch ist dergegen einen Träger öffentlicher Gewalt „gerich-tete Anspruch auf Gleichbehandlung nicht des-halb ausgeschlossen [..], weil der KreisverbandOberhausen der Klägerin [NPD, Anm. d. Verf.]in einem früheren Zeitpunkt einen Dritten aufdie Gewährung einer entsprechenden Leistunghätte in Anspruch nehmen können, dies abernicht getan hat.“

Mit gleichlautenden Fragen hatte sich auch dasVG Gießen34 zu befassen und sie in vorgenann-tem Sinne beantwortet. Ebenso hat das OVGSchleswig35 in einem einstweiligen Rechts-schutzverfahren einen Anspruch einer politi-schen Partei, hier der DVU, auf (vorläufige) Zur-verfügungstellung eines Kontos durch eine Spar-kasse, die als Anstalt des öffentlichen Rechts imBereich staatlicher Daseinsvorsorge Teil dervollziehenden Gewalt ist, zu Recht und im Ein-

32 Urteil vom 14.12.2009 – 16 A 1822/07, nicht veröf-fentlicht.

33 Unter Hinweis auf BGHZ 154, 146 (152) für ein Treu-handkonto, und auf BGH, Urteil vom 02.12.2003 – XIZR 397/02, in: NJW 2004, 1031 (1032).

34 Urteil vom 14.07.2010 – 8 K 69/09.GI, online veröf-fentlicht bei juris.

35 Beschluss vom 26.01.2010 – 2 MB 28/09, online ver-öffentlicht bei juris. S. hierzu auch die Anmerkung vonEric Neiseke, jurisPR-BKR 10/2010 Anm. 4, onlineveröffentlicht bei juris.

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MIP 2011 17. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

klang mit der gefestigten Rechtsprechung bejaht.Auch das VG Münster36 hat aus den gleichenGründen zugunsten der NPD entschieden.

Ein nächstes Feld der anhaltend streitbehaftetenSachverhalte ist das der Wahlsichtwerbung poli-tischer Parteien im öffentlichen Straßenraum.Darüber, dass grundsätzlich, jedenfalls in Wahl-kampfzeiten37, ein Anspruch auf Erlaubnisertei-lung besteht, herrscht noch Einigkeit. Anlass zuRechtsstreitigkeiten gibt regelmäßig aber dieAusübung des den Behörden eingeräumten Er-messens bei der Entscheidung darüber, in wel-cher Weise dem verfassungsrechtlichen Gebotauf Wahlsichtwerbung in einem für die Selbst-darstellung der jeweiligen Partei notwendigenund angemessenen Umfang Rechnung zu tragenist. Anerkanntermaßen ist die Behörde nicht ge-hindert, neben der durch Art. 21 Abs. 1 GG, § 5PartG gewährleisteten (nach der Bedeutung derParteien abgestuften) Chancengleichheit auchandere öffentliche Belange, wie etwa die Ge-währleistung der Verkehrssicherheit, die Wah-rung des Ortsbildes, die Vermeidung von Ver-schmutzungen des Straßenraums, in die Abwä-gung einzustellen. In diesen Fragen gehen dieAnsichten der politischen Parteien und der fürdie Erlaubniserteilung zuständigen Behördenmitunter weit auseinander. Dabei wurde in ei-nem Verfahren zur Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung der Klage gegen eine Ord-nungsverfügung vor dem VG Köln38 schon um

36 Urteil vom 30.04.2010 – 1 K 993/08, online veröffent-licht bei juris.

37 Die Rechtsprechung konkretisiert den Begriff Wahl-kampfzeit unterschiedlich. Vertreten wird, dass es sichum einen Zeitraum von vier Wochen vor dem Wahlter-min handelt (z.B. OVG Saarlouis, in: NVwZ-RR 1999,218ff.) oder auch sechs Wochen (z.B. VG Gelsenkir-chen, in: VD 2009, 284ff.) oder drei Monate (so VGKöln, in: Städte- und Gemeinderat 2009, S. 34f., undjetzt auch VerfGH Saarland, Urteil vom 01.07.2010 –Lv 4/09, in: NVwZ-RR 2010, S. 785f.). Dass eine Pla-katierung 9 Monate vor einer Landtagswahl jedenfallsaußerhalb der Wahlkampfzeiten erfolgt und einegleichwohl beantragte und erteilte Sondernutzungser-laubnis in diesem Fall eine Gebührenpflicht auslöst,entschied das VG Meiningen, Urteil vom 24.06.2010– 8 K 677/08 Me, in: ThürVBl. 2010, S. 236 f.

38 Beschluss vom 04.05.2010 – 18 L 589/10, online ver-öffentlicht bei juris.

das die Ermessensausübung einschränkende Sat-zungsrecht der Stadt Hückeswagen gestritten.Durch die Ordnungsverfügung wurde der politi-schen Partei aufgegeben, ihre im öffentlichenVerkehrsraum an Lichtmasten angebrachten Pla-kate zu entfernen. Nach § 4 Abs. 4 der Satzungzur Verfahrensregelung der Wahlsichtwerbungim öffentlichen Verkehrsraum vom 06.01.2010ist es politischen Parteien untersagt, Wahlsicht-werbung durch direkten Anschlag von Plakatta-feln an Licht- und Strommasten, Telefonmasten,Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen,Brückengeländern, Fahrgastunterständen, sowiean Bäumen und Zäunen im öffentlichen Ver-kehrsraum anzubringen. Das VG Köln hatte le-diglich eine summarische Prüfung der Erfolgs-aussichten in der Hauptsache vorzunehmen unddabei Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Sat-zungsbestimmung. Weil den Parteien eine ange-messene und wirksame Wahlwerbung zu ermög-lichen und dabei auch der Grundsatz der Chan-cengleichheit zu beachten ist, ist die vollständigeUntersagung von Wahlsichtwerbung an Gegen-ständen im öffentlichen Straßenraum, die nichtauf selbst tragenden Gegenständen wie etwaDreiecksständern angebracht ist, aus zwei Grün-den bedenklich: Zum einen stellt sich die Frage,ob damit noch eine wirksame Wahlwerbung er-möglicht wird, zum anderen, ob damit hinrei-chend die Chancengleichheit gerade kleinerer(auch weniger finanzkräftiger) Parteien gewahrtbleibt. Das VG Köln überlies die abschließendeKlärung dieser Frage dem Hauptsacheverfahren,gab dem Antrag auf Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung der Klage gegen die Ord-nungsverfügung. Weil die Stadt allerdings diePlakate bereits abgenommen hatte, wurde sie ge-mäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO dazu verpflich-tet, die Plakate wieder anzubringen. Die hierge-gen gerichtete Beschwerde der Stadt wies dasOVG NRW39 als unbegründet zurück.

Um einer (kleinen) politischen Partei „eine ange-messene Teilhabe am Wahlkampf zu ermögli-chen“ hat das VG Gelsenkirchen40 im Wege der

39 Beschluss vom 06.05.2010 – 11 B 563/10, online ver-öffentlicht bei juris.

40 Beschluss vom 30.03.2010 – 14 L 295/10, online ver-öffentlicht bei juris.

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

einstweiligen Anordnung entschieden, dass einerPartei das Plakatieren in bislang seitens der Stadtnicht für die Wahlsichtwerbung freigegebenenStraßenzügen erlaubt wurde. Durch Ratsbe-schluss war Wahlsichtwerbung für die Landtags-wahl in Nordrhein-Westfalen nicht im gesamtenStadtgebiet, sondern nur auf bestimmten Stra-ßenzügen zugelassen worden, ohne dass einezahlenmäßige Begrenzung der Wahlplakate odereine weitere Regelung hinsichtlich der Aufstell-orte vorgesehen war. Darin sah das VG Gelsen-kirchen einen Verstoß gegen den Chancengleich-heitsgrundsatz. „Dadurch wird hier ein tatsächli-ches Prioritätsprinzip etabliert, welches diejeni-gen Parteien bevorzugt, die als schnellste undam umfassendsten in der Lage sind, möglicheWerbestandorte zu besetzen. Ein Ausweichenauf andere Standorte ist aufgrund der Begren-zung nicht möglich. Dies führt entweder zu einerunangemessenen Drängelei der Parteien vor denWahlen im Streben nach den begehrtesten Stell-plätzen, oder sogar während des gesamten Wahl-kampfes zu einem 'Verdrängungswettbewerb'durch rechtlich zumindest zweifelhaftes 'Über-plakatieren'. In beiden Fällen würden die finanz-stärkeren Parteien, die in der Lage sind schnellund umfassend die vorhandenen Werberäume zubesetzen, klar im Vorteil sein, so dass den 'klei-neren' Parteien kein angemessener Raum zurSelbstdarstellung im Wahlkampf verbliebe.“41

Unter anderem Fragen unzulässiger Wahlsicht-werbung waren auch Gegenstand einer Klagevor dem VG Dresden42, gerichtet auf Feststel-lung der Ungültigkeit der Neuwahl (§ 48 Abs. 2Satz 2 SächsGemO) eines hauptamtlichen Bür-germeisters einer Gemeinde im Landkreis Baut-zen. Das VG Dresden wies die Klage des bei derWahl unterlegenen Bürgermeisterkandidaten derSPD als unbegründet ab, weil die Wahl nicht aufeiner Verletzung wesentlicher Wahlvorschriftenoder einer gesetzeswidrigen Wahlbeeinflussungim Sinne von § 27 Abs. 1 Nr. 1 und 2 KomWGSachsen beruhe. Gerügt hatte der Kläger zumErsten, dass einer der Mitbewerber am Wahltag

41 VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 30.03.2010 – 14 L295/10, online veröffentlicht bei juris, Rn. 21.

42 Urteil vom 29.04.2009 – 4 K 1333/08, online veröf-fentlicht bei juris.

unmittelbar vor dem Zugang zum Wahllokal, ge-nauer in einer Entfernung von 25 Schritten biszur Grundstücksgrenze des Wahlgebäudes, un-zulässige Wahlpropaganda durch Plakatierungbetrieben habe. Tatsächlich betrug der Abstandzwischen dem Lichtmast, an dem sich das Plakatbefand, und der Eingangstür des Gebäudes je-denfalls 70m. Danach befand sich das umstritte-ne Wahlplakat nicht in dem maßgeblichen Sperr-bereich nach § 17 Abs. 2 KomWG Sachsen,nach dem während der Wahlzeit in und an demGebäude, in dem sich der Wahlraum befindet,sowie unmittelbar vor dem Zugang zu dem Ge-bäude jede Beeinflussung der Wähler durchWort, Ton, Schrift oder Bild verboten ist. Eineverbotene Wählerbeeinflussung im Sinne des §17 Abs. 2 KomWG Sachsen „unmittelbar vordem Zugang zu dem Gebäude“ kommt nachherrschender Ansicht erst in Betracht, wenn einfreizuhaltender Bereich von 10-20m bis zumEingang in das Wahlgebäude unterschrittenwird. Zum Zweiten rügte der Kläger, dass dieGemeinde nicht gegen eine Verletzung ihrer Pla-katierungsvorschriften über die Höchstzahl vonWahlplakaten durch den politischen Gegner ein-geschritten sei. Allerdings sah das Gericht auchdarin keine Wahlbeeinflussung durch die Ge-meinde, weil wegen der überzähligen Plakate einAnspruch auf Erteilung einer Sondernutzungser-laubnis bestand. Zum Dritten rügte der Kläger,dass die Überlassung eines gemeindlichenGrundstücks für eine Wahlveranstaltung einespolitischen Gegners einen Verstoß gegen dieNeutralitätspflicht der Gemeinde darstellt. Je-doch hatten weder der Kläger noch ein andererKandidat einen Antrag auf Nutzung dieses (odereines anderen) Platzes für denselben Zweck ge-stellt und es gab auch keine Anhaltspunkte da-für, dass die Gemeinde eine Überlassung ver-wehrt hätte. Zum Vierten rügte der Kläger, dassder CDU-Bürgermeisterkandidat in seinem Inter-netauftritt das amtliche Wappen der Gemeindeverwendete. Tatsächlich war das gemeindlicheWappen nicht etwa auf der Startseite abgebildet,sondern nur auf drei von insgesamt zwanzig Un-terseiten der Homepage. Die Art der Verwen-dung des Wappens lies weder auf eine – ange-maßte – amtliche Funktion des Verwenders,noch eine amtliche Unterstützung schließen. Ins-

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besondere ermöglicht die Gemeinde generelleine Nutzung des Wappens durch Dritte, die mitder Nutzung eine gewisse Ortsverbundenheitund Identifikation mit der Gemeinde zum Aus-druck zu bringen möchten. Fünftens rügte derKläger, das sein Gegenkandidat sich als „DiplomVerwaltungs-Betriebswirt (VWA)“ bezeichnetund durch die eigenmächtige Verwendung desZusatzes „Diplom“ einen akademischen Gradvorgetäuscht habe, der für eine größere Zahl vonWählern durchaus als Qualifikationsmerkmal ei-nes Bürgermeisters von Bedeutung sein könne.Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Ab-schlussbezeichnung der Sächsischen Verwal-tungs- und Wirtschafts-Akademie, die nach derim Freistaat Sachsen geltenden Rechtslage Di-plome als staatliche Abschlussbezeichnungenverleihen dürfen. Insgesamt war der Klage damitunbegründet. Auch der Antrag auf Zulassung derBerufung gegen dieses Urteil vor dem OVGBautzen43 wurde abgelehnt.

Erfolg war dagegen einer Wahlanfechtungsklagevor dem VG Dresden44 beschieden. Die Ober-bürgermeisterwahl der Großen Kreisstadt Bi-schofswerda wurde für ungültig erklärt. Das VGhielt an seiner bisherigen Rechtsprechung fest,wonach die Verwendung des „Logos“ einerStadt in einer Wahlwerbung keine gesetzwidrigeWählerbeeinflussung darstellt, wenn die Ver-wendung des „Logos“ Dritten gestattet ist. Dasals „Angebot des Tages“ im Internet und aufWahlflyern geäußerte Wahlversprechen, im Falleeiner Wiederwahl für jede erhaltene Stimme 1€für die Vereine der Stadt zu spenden, verstößtnach Ansicht des Gerichts allerdings gegen denGrundsatz der Freiheit der Wahl und stellt einegesetzwidrige – wenn auch nicht strafbare –Wahlbeeinflussung dar.

Die Abgrenzung zulässiger Öffentlichkeitsarbeitder Regierung von unzulässiger Wahlbeeinflus-sung war Gegenstand eines Organstreitverfah-rens vor dem VerfGH Saarland45. Die Grenz-

43 Beschluss vom 19.04.2010 – 4 A 410/09, online veröf-fentlicht bei juris.

44 Urteil vom 09.09.2009 – 4 K 1713/08, in: LKV 2009,S. 573 ff.

45 Urteil vom 01.07.2010 – Lv 4/09, in: NVwZ-RR 2010,S. 785 f.

ziehung nahm das Gericht in erster Linie anhanddes Zeitraumes vor, innerhalb dessen die Regie-rung des Saarlandes sich ihrer mit Haushaltsmit-teln betriebenen „Öffentlichkeitsarbeit“ durchArbeits-, Leistungs- oder Erfolgsberichte wid-mete. In der sog. „Vorwahlzeit“ gewinnen solcheVeröffentlichungen in aller Regel den Charakterparteiischer Werbemittel in der Wahlauseinan-dersetzung, in die einzugreifen der Regierungverfassungsrechtlich versagt ist46. Anders als esdas BVerfG für den Beginn der „Vorwahlzeit“bei Bundestagswahlen entschieden hat47, kannnach Ansicht des Gerichts allerdings als Orien-tierungspunkt nicht die Bekanntmachung desWahltermins im Amtsblatt dienen. Dies bergedie Gefahr, dass sehr lange Zeiträume entstehen,in denen das Gebot der Neutralität des Staatesim Wahlkampf und der Grundsatz der Chancen-gleichheit bei Wahlen der – grundsätzlich aberzulässigen und auch im Interesse der Rückkop-pelung an das Volk notwendigen – Öffentlich-keitsarbeit der Regierung äußerste Zurückhal-tung abverlangen. Für die Landtagswahl 2009hätte es sich danach um einen Zeitraum von fast10 Monaten gehandelt. Zudem darf nach Ansichtdes Gerichts „der Zeitraum der Vorwahlzeitnicht - wie dies beim Anknüpfen an den Tag derBekanntmachung des Wahltermins der Fall ist -von der Regierung beeinflusst werden können“.Anknüpfend an den Wahltag wurde ein Zeitraumvon drei Monaten als angemessen erachtet. InAnwendung dieses Kriteriums hat die Regierungdes Saarlandes durch die Publikation der Bro-schüre "Saarland - aber sicher", durch die Veröf-fentlichung einer Anzeigenserie "Der Minister-präsident informiert" und durch einen Brief desMinisterpräsidenten des Saarlandes, der den Ge-haltsabrechnungen der Beschäftigten des Landesbeigefügt war, unzulässigerweise werbend in denWahlkampf eingegriffen.

Mit amtlichen Äußerungen kann allerdings nichtnur im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangmit Wahlen, sondern auch darüber hinaus dieGrenze zu einer zulässigen Öffentlichkeitarbeit

46 VerfGH Saarland, in: NVwZ-RR 2010, S. 785, unterHinweis auf BVerfGE 44, 125 (152).

47 S. BVerfGE 44, 125 (153).

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überschritten werden. So hat das VG Gera48 dieBefugnis eines Oberbürgermeisters verneint, inamtlicher Eigenschaft im Rahmen der "Öffentli-chen Bekanntmachungen" einer Großstadt dazuaufzurufen, gegen eine angemeldete Demonstra-tion zu protestieren. Bei der Veranstaltung, ge-gen die sich der Aufruf richtete, handelte es sichum eine auch musikalische Darbietungen umfas-sende Veranstaltung des NPD-KreisverbandesGera mit dem Titel „8. Rock für Deutschland“und unter dem Motto „Deutsches Geld für deut-sche Ausgaben, raus aus dem Euro!“. In seinerEigenschaft als Amtsträger hat der Oberbürger-meister in der Zeitung „Kommunaler Anzeigerfür die Otto-Dix-Stadt Gera“ unter der Rubrik„Öffentliche Bekanntmachungen der Stadt Gera“mit seinem Aufruf den Eindruck erweckt, eshandele sich dem Inhalt nach um einen Blocka-deaufruf, der auf eine Erschwerung des Zugangszum Veranstaltungsort zielt. Dabei handelt essich nach Ansicht des VG Gera um eine amtli-che Äußerung eines Hoheitsträgers mit Ein-griffsqualität, die nur dann gerechtfertigt seinkann, wenn sich der Hoheitsträger im Rahmender ihm zugewiesenen Aufgaben bewegt und inder Form das Sachlichkeitsgebot wahrt. Dies er-fordere es, „dass mitgeteilte Tatsachen zutref-fend wiedergegeben werden und Werturteilenicht auf sachfremden Erwägungen beruhen undden sachlich gebotenen Rahmen nicht über-schreiten sowie auf einem im Wesentlichen zu-treffenden und zumindest sachgerecht und ver-tretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen“49.Dies bezweifelte das VG Gera hinsichtlich der indem Aufruf geäußerten Ansicht des Oberbürger-meisters, dass Gera sich „zum Pilgerort von Na-zis“ entwickelt, zu einem „Ort, an dem sie sichausbreiten und einrichten“. Zudem war der Auf-ruf insgesamt nicht geeignet, das Bild einer neu-tralen Verwaltung zu zeichnen.

Dr. Alexandra Bäcker

48 Beschluss vom 06.07.2010 – 2 E 465/10 Ge, in:ThürVBl. 2010, S. 234 ff.

49 VG Gera, in: ThürVBl. 2010, S. 234 (235); zustim-mend Beatrice Lederer, jurisPR-ITR 20/2010 Anm. 6,online veröffentlicht bei juris, Gliederungspunkt C.

3. Parteienfinanzierung

Das OVG Berlin-Brandenburg50 hat die Beru-fung gegen ein Urteil des VerwaltungsgerichtsBerlin vom 20. Mai 2008 nicht zugelassen. ImAusgangsverfahren hatte das VG Berlin die Kla-ge gegen einen Rückforderungsbescheid staatli-cher Parteienfinanzierung nach fehlerhaftem Re-chenschaftsbericht abgewiesen. Dabei ging essubstantiell darum, dass nur ein materieller Re-chenschaftsbericht Grundlage für die staatlicheParteienfinanzierung sein kann, ferner um dieFrage, ob Sach-, Werk- und Dienstleistungen,die von Parteimitgliedern üblicherweise unent-geltlich außerhalb des Geschäftsbetriebes zurVerfügung gestellt werden, als Spende einzuord-nen sind, sowie um die Behandlung von sog.Aufwandsspenden.

Das OVG hat die Nichtzulassung der Berufungim Wesentlichen damit begründet, dass die pau-schale Darlegung, „es gehe um parteienrechtli-che Probleme, die höchstrichterlich nicht geklärtseien und zu denen unterschiedliche Meinungenim Schrifttum vertreten würden“, keine beachtli-che Grundsatzrüge darstelle. Der Zulassungs-grund der grundsätzlichen Bedeutung der Sache(§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) setze deutlich mehrvoraus.

Das VG Berlin51 hatte sich mit der Rückforde-rung staatlicher Parteienfinanzierung gegenüberder FDP wegen rechtswidriger Spenden des da-maligen nordrhein-westfälischen FDP-Landes-vorsitzenden Jürgen W. Möllemann zu beschäf-tigen.

Die Bundestagsverwaltung erließ im Juli 2009einen Strafbescheid gegen die FDP in Höhe von3.463.148,79 Mio. Euro. Im Zeitraum von 1996bis 2002 hatte der nordrhein-westfälische Lan-desverband der FDP von Möllemann herrühren-de Bar- und Sachspenden angenommen bzw. esunterlassen, die Spenden im Rechenschaftsbe-richt zu veröffentlichen. Für die streitbefangenenSachverhalte findet die Rechtslage des Parteien-

50 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.06.2010– 3 N 107.08.

51 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09.

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gesetzes 1994, geändert durch das Siebte Ände-rungsgesetz 1999, Anwendung.

Zwischen den Parteien war streitig, ob die ParteiSpenden rechtswidrig erlangt hat (§§ 23a Abs. 2,25 Abs. 1 und 3 PartG 1994). Bei den Beträgenhandelte es sich zweifellos um Spenden. Diesemusste die Partei erlangt, d.h. sie angenommenhaben. Objektiv setzt die Spendenannahme vor-aus, dass die Spende in die Verfügungsbefugniseines – aufgrund des Organisationsrechts derPartei oder infolge parteiinterner Bestellung –für die Parteifinanzen Verantwortlichen undZeichnungsberechtigten gelangt52. Subjektiv ver-langt die Annahme den Willen, die Spende alssolche, nämlich als Zuwendung für Parteizwe-cke, entgegenzunehmen53. Herr Möllemann hatdie Beträge an den für die Parteifinanzen Verant-wortlichen und Zeichnungsberechtigten, den da-maligen Landesschatzmeister der Partei und spä-teren Hauptgeschäftsführer Herrn Hans-JoachimKuhl, herausgegeben. Der Landesverband hat diefraglichen Geldbeträge mithin zu Parteizweckenerlangt.

Diese Spenden müssten rechtswidrig sein. Diesist u.a. gemäß § 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Alt. 1PartG 1994 der Fall, wenn die Spende im Ein-zelfall mehr als 1.000 DM (500 EUR) beträgtund deren Spender nicht feststellbar ist. Das Ge-richt hat, mit Hinweis auf die Rechtsprechungdes Bundesverwaltungsgerichts54, erklärt, dass esfür die Feststellbarkeit des Spenders auf die Um-stände im Zeitpunkt der Annahme der Spendeankomme55. Schon bei der Annahme der Spendemüsse Klarheit über die Person des Spenders be-stehen oder zumindest durch einfache Rückfrageherstellbar sein. Nur so sei zu gewährleisten,dass die Person, die die Partei mit einer Spendeunterstützt habe, zutreffend benannt werden kön-ne. Sinn und Zweck des § 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5PartG 1994 ist, der verfassungsrechtlich gebote-nen Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit zudienen, auch durch frühzeitige Transparenz im52 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, Rn.

37 mit Hinweis auf BVerwGE 126, 254 ff. Rn. 88, 92.53 BVerwGE 126, 254 ff, Rn. 88.54 BVerwGE 126, 254 ff. Rn. 89 ff.55 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, Rn.

40.

innerparteilichen Bereich. Diese innerparteilicheTransparenz kommt zugleich dem Schutz derverfassungsrechtlich verlangten innerparteilichenDemokratie zugute.

Das Gericht stellt fest: „die 'Feststellbarkeit' imSinne von § 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 PartG 1994bestimmt sich deshalb nach der Kenntnis derPartei“56. Dabei sei maßgeblich auf die Kenntnisder Personen abzustellen, die auf Grund des Or-ganisationsrechts der Partei oder infolge ihrerparteiinternen Bestellung befugt seien, Spendenentgegenzunehmen, zu verwalten und zu ver-wenden. Das Wissen dieser Personen müsse sichdie Partei zurechnen lassen. Dabei könne es aberentgegen einiger Ansichten im Schrifttum57,nicht auf die Kenntnis aller Mitglieder des Par-teivorstandes ankommen, auch wenn diese nachdem Parteiengesetz i.V.m. den Satzungen für dieRechenschaftslegung verantwortlich seien. Beider Spendenannahme, als alles entscheidendenZeitpunkt für die Feststellbarkeit des Spenders,seien regelmäßig nicht alle verantwortlichen Per-sonen zugegen.

Die von Möllemann an Kuhl, dem damaligenSchatzmeister der Partei und späteren Hauptge-schäftsführer, ausgehändigten Beträge wurdenauf Weisung Möllemanns in Kleinbeträge ge-stückelt und unter Verwendung falscher Spen-derbezeichnungen bzw. unter Verwendung von„Strohmännern“ als Spenden entgegen genom-men und für die FDP verbucht. Da es sich umfür Finanzangelegenheiten zuständige Personender Partei handelte, könnte zunächst einmal eineWissenszurechnung greifen und damit der wahreSpender für die Partei feststellbar sein.

Das VG Berlin hat die Rechtsprechung hier zuRecht weiterentwickelt. Eine Wissenszurech-nung scheide ausnahmsweise dann aus, „wennder Spender und die zur Entgegennahme einerSpende befugte Person (Wissensvertreter) beider Spendenannahme kollusiv zum Nachteil desTransparenz- und Publizitätsgebotes handeln, in-

56 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, Rn.42.

57 So Battis/Kersten, JZ 2008, 655 (659); Kersten, in:Kersten/Rixen (Hrsg.), PartG, 2009, § 25 Rn. 99; Jo-chum, in: Ipsen, PartG, 2008; § 25 Rn. 34.

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

dem sie verabreden, dass der oder die Wissens-vertreter ihr Wissen über die Person des Spen-ders tatsächlich nicht weitergeben werden, umPartei und Öffentlichkeit über dessen Identitätdauerhaft im Unklaren zu lassen“58. Nur durcheine derartige Gesetzesanwendung könne mandem auf Wahrung des Transparenzgebotes ge-richteten Sinn und Zweck des § 25 Abs. 1 S. 2Nr. 5 PartG 1994 gerecht werden und verhin-dern, dass „Einflüsse Dritter auf den Willensbil-dungsprozess der Partei begründet werden, dienur bestimmten Führungspersonen bekannt sindund deren Herrschaftsansprüche stärken“59.

Bei den von Möllemann an Kuhl ausgehändigtenBeträgen hat es sich mithin um die Spenden ei-nes für die Partei nicht feststellbaren Spendersgehandelt. Das Wissen der zum Nachteil derPartei handelnden Personen (Möllemann undKuhl) um die Person des Spenders könne derPartei nicht zugerechnet werden.

Die Annahme von Spenden eines für die Parteinicht feststellbaren Spenders ist gemäß § 25Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 PartG 1994 unzulässig. Der-artige Spenden hätten unverzüglich an den Präsi-denten des Deutschen Bundestages weitergeleitetwerden müssen. Ferner wurden diese Barspen-den auch nicht im Rechenschaftsbericht der be-treffenden Kalenderjahre veröffentlicht.

Die Partei habe auch schuldhaft gehandelt. Auchwenn der Wortlaut des § 23a Abs. 1 Satz 1PartG 1994 ausdrücklich kein Verschulden vor-aussetzt, so sei bei verfassungskonformer Ausle-gung ein schuldhaftes Verhalten zu fordern60.

Zu Recht habe der Präsident des Bundestagesdaher den Verstoß gegen dieses Verbot mit einerStrafzahlung in Höhe des Zweifachen des rechts-widrig erlangten Betrages geahndet und zudem

58 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, Rn.43 unter Hinweis auf Saliger, Parteiengesetz und Straf-recht, 2005, S. 112 f.

59 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, Rn.41 und 43 unter Hinweis auf die Rechtsprechung desBVerwG E 126, 254 ff, Rn. 91 m.w.N.

60 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, Rn.60 unter Hinweis auf das Urteil der Kammer vom 15.Mai 2009 – VG 2 A 39.09 – zur Regelung des § 31bPartG 2002; sowie BVerwGE 126, 254 ff, Rn. 95.

die Abführung der angenommenen Spenden vonder FDP gefordert.

Ebenso sei erwiesen, dass Möllemann im Bun-destagswahlkampf 1998 und im Landtagswahl-kampf 2000 Wahlkampfaktionen des Landesver-bandes sowie Dienste seines Wahlkampfmana-gers im Wahlkampf 2000 bezahlt habe. Dabeihabe es sich um Sachspenden gehandelt, die ent-gegen den Vorschriften des Parteiengesetzesnicht im Rechenschaftsbericht der Partei veröf-fentlicht worden seien. Diese Verstöße rechtfer-tigten die vom Präsidenten des Bundestages ver-hängte Strafzahlung in Höhe des Zweifachen dernicht veröffentlichten Beträge.

Die Kammer hat gegen das Urteil die Berufungund die Sprungrevision zugelassen.

Auch in einem anderen Verfahren bestätigte dasVG Berlin61 die Rechtmäßigkeit eines Beschei-des des Präsidenten des Deutschen Bundestages,demzufolge die Partei DIE LINKE wegen einesVerstoßes gegen das Parteiengesetz eine Sankti-on in Höhe von 292.045,82 Euro zahlen muss.Die im Juni 2007 durch Verschmelzung vonLinkspartei.PDS und WASG entstandene ParteiDIE LINKE hatte es unterlassen, eine von derLinkspartei.PDS zugunsten der WASG im Land-tagswahlkampf Rheinland-Pfalz 2006 in Formvon Wahlkampfaufwendungen geleistete Zah-lung in Höhe von 146.022,91 Euro in dem dieWASG betreffenden Teil des Rechenschaftsbe-richts für das Jahr 2006 aufzuführen.

Gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 PartG sind Spendenan eine Partei oder einen oder mehrere ihrer Ge-bietsverbände, deren Gesamtwert in einem Ka-lenderjahr (Rechnungsjahr) 10.000 Euro über-steigt, unter Angabe des Namens und der An-schrift des Spenders sowie der Gesamthöhe derSpende im Rechenschaftsbericht zu verzeichnen.Spenden i.S.d. Parteiengesetzes gehören zu denEinnahmen einer Partei (§ 26 Abs. 1 Satz 1PartG), wozu jede der Partei zufließende Geld-oder geldwerte Leistung zählt, dabei kann es sichauch um die Befreiung von einer bestehendenVerbindlichkeit sowie die Übernahme von Ver-anstaltungen und Maßnahmen durch Dritte han-deln. Die Partei muss allerdings wesentlichen61 VG Berlin, Urteil vom 14. Januar 2010 – 2 K 118/08.

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MIP 2011 17. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Einfluss auf die Art der Verwendung des Zuge-dachten haben62. Allein der objektive Nutzen be-gründet keine Zurechnung an die begünstigtePartei. „Erst das Einräumen einer alleinigen Dis-positionsbefugnis oder jedenfalls Mitgestal-tungsmöglichkeit führt zu einer Zurechnung alsSpende. Fehlt es an einer solchen effektiven Ein-wirkungsmöglichkeit, liegt lediglich eine Paral-lelaktion zugunsten der Partei durch einen ihrnahestehenden Bürger vor“63.

Bei einer geldwerten Zuwendung muss nebendas objektive Element einer Bereicherung beimZuwendungsempfänger auch das subjektive Ele-ment eines Bereicherungswillens beim Zuwen-dungsgeber treten. Bei der Beurteilung der sub-jektiven Zuwendungsabsicht ist auf die objektiveSachlage abzustellen und nicht auf die Bekun-dungen der Beteiligten.

Die Linkspartei.PDS hat mit den von ihr finan-zierten Wahlkampfmaßnahmen im Rahmen desLandtagswahlkampfes Rheinland-Pfalz im Jahre2006 Wahlkampf für die WASG gemacht undfür die Wahl der WASG geworben. Die Links-partei.PDS hat an diesen Landtagswahlen nichtmit einer eigenen Liste teilgenommen. Die Tat-sache, dass Mitglieder der Linkspartei.PDS aufder Liste der WASG kandidiert haben, rechtferti-ge nicht die Annahme, dass es sich auch um eineListe der Linkspartei.PDS handelte. Im wahl-rechtlichen Sinne gab es keine Kandidaten derLinkspartei.PDS64. Auch sei der Schriftzug derLinkspartei.PDS weder in den Anzeigen, nochauf den Plakaten vorhanden. Die WASG verfüg-te auch über effektive Einwirkungsmöglichkei-ten in Bezug auf sie begünstigende Wahlkampf-maßnahmen. Da eine Bereicherung bei derWASG gegeben ist und ein Zuwendungswillebei der Linkspartei.PDS zweifellos zu bejahenist, lag eine Spende vor.

Diese Spende ist nicht den Vorschriften des § 25Abs. 3 Satz 1 PartG entsprechend veröffentlicht

62 VG Berlin, Urteil vom 14. Januar 2010 – 2 K 118/08,Rn. 18.

63 VG Berlin, Urteil vom 14. Januar 2010 – 2 K 118/08,Rn. 18 m.w.N.

64 VG Berlin, Urteil vom 14. Januar 2010 – 2 K 118/08,Rn. 20 unter Hinweis auf BVerfGE 24, 260 (267).

worden. Die Partei Die Linke war seit der Ver-schmelzung der Linkspartei.PDS und der WASGim Juni 2007 Rechtsnachfolgerin dieser beidenParteien und mithin verpflichtet, über die Her-kunft und die Verwendung der Mittel sowie überdas Vermögen der Parteien zum Ende des Kalen-derjahres Rechenschaft zu geben. Da Ende 2006die Linkspartei.PDS und die WASG noch alsrechtlich selbstständige Parteien bestanden, wares aus Transparenzgründen geboten, eine ge-trennte Rechnung auszuweisen. Mithin hätte diePartei Die Linke die von der Linkspartei.PDS andie WASG im Landtagswahlkampf Rheinland-Pfalz 2006 in Form von Wahlkampfmaßnahmengeleistete Spende in Höhe von 146.022,91 Eurobei der Einnahmenrechnung für die WASG (§ 24Abs. 4, § 26 Abs. 1 Satz 2 PartG) und den Nut-zen dieser Einnahme bei der Ausgabenrechnungfür die WASG (§ 24 Abs. 5, § 26a Abs. 1 Satz 1PartG) angeben müssen. In der Ausgabenrech-nung für die Linkspartei.PDS hätte die Spendean die WASG ebenfalls aufgeführt werden müs-sen. Es handele sich dabei nicht, wie von derKlägerin vorgetragen, um eine unzulässige„Doppelbuchung“. Das Parteienrecht sei daraufausgelegt, die tatsächlichen wirtschaftlichenVerhältnisse im Rechenschaftsbericht zutreffenddarzustellen. Die parteienrechtlichen Vorschrif-ten zur Rechnungslegung seien im Lichte desverfassungsrechtlichen Transparenz- und Publi-zitätsgebotes zu verstehen. Danach solle derWähler von der Herkunft der Mittel einer ParteiKenntnis erlangen und die innerparteiliche De-mokratie gesichert werden. Unter diesem Ge-sichtspunkt hätte die „Doppelbuchung“ ohneweiteres mit dem Zusatz, dass es sich um eineSpende der Linkspartei.PDS an die WASG han-dele, kenntlich gemacht werden können oder garmüssen.

Der Verstoß führte gemäß § 31c Abs. 1 Satz 2PartG dazu, dass eine Sanktion in Höhe desZweifachen des nicht im Rechenschaftsberichtveröffentlichten Betrages festzusetzen war. DieKammer hat gegen das Urteil die Berufung unddie Sprungrevision zugelassen.

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

Das VG Berlin65 hat sich zudem erneut mit denstaatlichen Zuwendungen an die NPD auseinan-dersetzen müssen.

Die Bundestagsverwaltung hatte gegen die NPDwegen festgestellter Unrichtigkeiten in den Re-chenschaftsberichten 2004-2007 einen Rückfor-derungsbescheid in Höhe von 33.000 Euro erlas-sen. Die zuständige 2. Kammer des VG Berlinbestätigte die von der Bundestagsverwaltung ge-rügten Verstöße gegen das parteienrechtlicheTransparenzgebot. Die NPD habe es unterlassen,Einnahmen aus Veranstaltungen der Kreisver-bände Jena und Gera in Höhe von insgesamt16.603,79 Euro für die Jahre 2004-2007 in denjeweiligen Rechenschaftsberichten auszuweisen.In den Jahren 2004-2006 habe die Partei dieseEinnahmen direkt mit den Ausgaben verrechnet,was nach dem Parteiengesetz unzulässig sei. ImJahr 2007 seien Einnahmen unerwähnt geblie-ben, weil der Bundesvorstand der NPD bei derAbfassung des Rechenschaftsberichtes Zahlenaus Excel-Tabellen nicht eingefügt habe. DieFehler seien der Klägerin auch vorzuwerfen, wasdie Festsetzung einer Sanktion rechtfertige.

Wegen der grundsätzlich bedeutsamen Frage, obdie Vorschrift des § 31b Parteiengesetz Ver-schulden (Vorsatz und Fahrlässigkeit) erfordert,hat die Kammer die Berufung und die Sprungre-vision zugelassen.

Das FG München66 hat sich mit der Haftung fürAufwandsspenden an eine politische Partei aus-einandergesetzt. Der Landesverband einer Parteiwurde wegen unrechtmäßig ausgestellten Spen-denbescheinigungen in Anspruch genommen.Nach § 10b Abs. 4 Satz 2 EStG haftet für dieentgangene Steuer, wer vorsätzlich oder grobfahrlässig eine unrichtige Spendenbestätigungausstellt. Eine Spendenbescheinigung ist dannunrichtig, wenn der Inhalt nicht der objektivenSach- und Rechtslage entspricht.

Sogenannte Aufwandsspenden können steuerlichals reguläre Spende zu berücksichtigen sein, so-fern beim Spender nachweislich eine tatsächli-che Vermögensminderung eintritt. Die Spende65 VG Berlin, Urteil vom 3. Dezember 2010 – 2 K

108.10, nicht veröffentlicht.66 FG München – 6 K 3583/07 in: EFG 2009, 1823 ff.

liegt allerdings noch nicht darin, dass der Spen-der Aufwendungen für den Spendenempfängertätigt. Zunächst einmal entsteht ein zivilrechtli-cher Anspruch des Spenders auf Ersatz seinerAufwendungen (§ 670 BGB)67. Die eigentlicheSpende liegt erst im anschließenden Verzicht aufdiesen Anspruch68. Es liegt mithin keine Sach-sondern eine Geldspende vor. Denn erst der Ver-zicht bewirkt den endgültigen Vermögensabflussbeim Spender und eine entsprechende Bereiche-rung beim Spendenempfänger. Notwendige Vor-aussetzung einer Aufwandsspende ist damit einzivilrechtlich wirksamer Verzicht. Zivilrechtlichwirksam wird eine Verzichtserklärung, wenn siedem Schatzmeister zugeht69. Die Spendenbe-scheinigung ist dem Spender mithin für das Jahrdes Zugangs der Verzichtserklärung beimSchatzmeister auszustellen. Geschieht dies nicht,liegt ein wesentlicher Fehler vor, der Grundlagefür eine Haftunginanspruchnahme gemäß § 10bAbs. 4 Satz 2 EStG i.V.m. § 191 Abs. 1 AO seinkann.

Voraussetzung für die Haftung ist ferner Vorsatzoder grobe Fahrlässigkeit der für die Partei dieSpendenbescheinigung ausstellenden Person. Imzu entscheidenden Fall lag zumindestens Fahr-lässigkeit vor, da den Verantwortlichen die Be-deutung des Zeitpunktes des Verzichtes durchein Rundschreiben bekannt sein musste.

Die vom FG München vorgenommene Abwä-gung aller erkennbaren tatsächlichen Gesichts-punkte des Streitfalles ergab, dass aus steuerli-cher Sicht nicht von ernsthaften Verzichtserklä-rungen ausgegangen werden konnte. Das Gerichtnimmt eine umfangreiche Aufzählung von Um-ständen vor, die gegen die ernsthafte, einemFremdvergleich standhaltende Vereinbarung vonAufwandsersatzansprüchen mit anschließenderVerzichtserklärung sprechen70.

67 FG München – 6 K 3583/07 in: EFG 2009, 1823 ff.unter Hinweis auf BT-Drucks. 13/888 Seite 13.

68 Siehe auch VG Berlin, Urteil vom 20.05.2008 – 2 A28.07, Rn. 53.

69 FG München – 6 K 3583/07 in: EFG 2009, 1823 ff.unter Hinweis auf BGH, in: NJW 2000, 276.

70 FG München – 6 K 3583/07 in: EFG 2009, 1823 ff.Rn. 56, 94, 105.

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Die eingereichte Nichtzulassungsbeschwerdewurde vom BFH mit Beschluss vom 16. März2010 als unzulässig verworfen71.

Der EuGH hat mit Urteil vom 6. Oktober 200972

festgestellt, dass Art. 4 I und II der SechstenRichtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriftender Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern –Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitli-che steuerpflichtige Bemessungsgrundlage – da-hingehend auszulegen ist, dass Tätigkeiten derAußenwerbung der Unterorganisation einer poli-tischen Partei eines Mitgliedstaates nicht alswirtschaftliche Tätigkeit anzusehen sei.

Organisationen, die wirtschaftliche Tätigkeitenerbringen, sind zum Abzug der dabei anfallen-den Mehrwertsteuer berechtigt. Diesen Abzugwollte die Kärntner Landesorganisation der SPÖfür verschiedene Aktivitäten im Bereich der Au-ßenwerbung geltend machen. Durch diese Tätig-keiten entfalte die SPÖ eine nach außen gerich-tete Tätigkeit im Rahmen der Verwirklichung ih-rer politischen Ziele, die die Verbreitung ihrerAnschauungen als politische Organisationbezwecke. Im Einzelfall bestehe die Tätigkeitder SPÖ darin, u.a. über die Landesorganisationzur politischen Willensbildung beizutragen, uman der Ausübung politischer Macht teilzuhaben.Bei dieser Ausübung nehme die SPÖ nicht an ei-nem Markt teil. Daher könne die fragliche Tätig-keit keine „wirtschaftliche Tätigkeit“ i.S. derSechsten Mehrwertsteuerrichtlinie sein.

Dr. Heike Merten

4. Parteien und Parlamentsrecht

In einem Beschluss stellte das BVerfG73 klar,dass die Steuerfreiheit der Pauschale für man-datsbedingte Aufwendungen verfassungsmäßigist, denn sie beinhaltet keine willkürliche Un-gleichbehandlung gegenüber der Werbungskos-tenpauschale für Arbeitnehmer gem. § 9a Satz 1Nr. 1 EStG.

71 BFH Beschluss vom 16. März 2010 – X B 131/09.72 EuGH, in EuZW 2009, 868 ff.73 Beschluss vom 26.07.2010 – Az. 2 BvR 2227/08, in:

NVwZ 2010, 1429 f.

Der BayVerfGH74 entschied über die Wahrungder Proportionalität bei der Ausschussbesetzung.Gegenstand des Verfahrens war der Antrag derOppositionsfraktionen in einem Organstreit zurFeststellung der Verfassungswidrigkeit einesLandtagsbeschlusses zur Besetzung der Land-tagsausschüsse. Gemäß dieses Beschlusses aufGrundlage des Saint-Laguë/Schepers-Berech-nungsverfahrens (§ 25 II GOLT, LT-Drs. 16/51)hält die CSU genau die Hälfte der Mandate inAusschüssen mit 16, 20 und 22 Mitgliedern, ob-wohl sie weniger als die Hälfte der Landtags-mandate stellt. Die Entscheidung läuft auf eineAbwägung der Parlamentsautonomie und desSelbstorganisationsrechts des Parlaments (Art.20 BV) mit den Grundsätzen der Spiegelbild-lichkeit der Ausschussbesetzungen gegenüberdem Landtagsplenum hinaus. Der BayVerfGHerklärt die Anträge der antragstellenden Fraktio-nen für unbegründet. Das Selbstorganisations-recht umfasst danach zwar nicht das Recht desParlaments, Ausschussmandate willkürlich zuzu-weisen, aber sehr wohl, unter mehreren aner-kannten, die Chancengleichheit der Fraktionenwahrenden Sitzzuteilungsverfahren frei zu ent-scheiden. Vom Selbstorganisationsrecht weiter-hin abgedeckte Entscheidungsgesichtspunktesind die Arbeitsfähigkeit und somit die Größeder Ausschüsse unter gleichzeitiger Beachtungdes Gebots, dass jede Fraktion ein angemessenesRecht zur Mitwirkung haben muss. Es fällt, sodas Gericht, in das Selbstorganisationsrecht desParlaments, die Ausschussgrößen weitgehendfrei zu wählen. Auch wenn sich Verzerrungsef-fekte bei Größen von 16, 20 und 22 Abgeordne-ten ergäben, wäre dies alleine nicht zu beanstan-den. Wenn Pattsituationen bei ungeraden Aus-schussgrößen nicht auftreten, obliegt es dem Par-lament, dies zu berücksichtigen und die verfas-sungsnähere Sitzverteilung zu wählen. Das Ge-richt moniert dies zwar; nach seiner Auffassungkommt es jedoch hier nicht darauf an. Zu be-rücksichtigen sind auch die Mehrheitsverhältnis-se im Landtag (Art. 16a BV). Danach haltenCSU und FDP eine Mehrheit von 57,8% derStimmen im Landtag, die in den Ausschüssen

74 Entscheidung vom 26.11.2009 – Az. Vf. 32-IVa-09,in: NvwZ-RR 2010, 209 ff.

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

mit 9 von 16 Stimmen angemessen wiedergege-ben werde. Abgestellt wird also auf das Gegen-über von Regierungskoalition und Opposition;dabei wird auf das parlamentarische Regierungs-system rekurriert. Beachtlich sind die Sondervo-ten: eines will den Grundsatz des Gegenübersvon Regierung und Opposition (Art. 16a BV) ge-stärkt sehen und nur noch hierauf bei der Sitzzu-teilung abstellen, das andere Sondervotum stellthingegen auf die Kräfteverhältnisse nach Frak-tionen ab und hält daher die vorgenommeneAusschussbesetzung für verfassungswidrig. DieArgumente hierfür sind beachtlich; insbesonderekönnen sie sich auf die Rechtsprechung desBVerfG zur Problematik „Spiegelbildlichkeit“stützen. Ob sie an der Besonderheit des Art. 16aBV vorbeikommen, erscheint dennoch fraglich,weil zweifelhaft ist, ob Art. 38 GG über das Ho-mogenitätsgebot in Art. 28 GG zwingend vor-aussetzt, dass die Spiegelbildlichkeit der Aus-schussmandate ohne Rücksicht auf aktuelleMehrheitsverhältnisse im Parlament erreichtwird. Zu folgen ist der die Entscheidung tragen-den Auffassung: der Landtag hat, bei Verände-rung politischer Konstellationen oder Lockerungder Koalition (getrenntes Stimmverhalten) überungerade Ausschusssitze zu entscheiden.

Der VerfGH Berlin75 entschied über das Rechtdes Abgeordneten, gemäß Art. 45 II BerlVerfAkten der Verwaltung – nicht: der Regierung –einzusehen und konkretisierte diese relativ neueAusprägung des Abgeordnetenstatus der Öffent-lichkeit. Im Zuge der Privatisierung der landesei-genen Berliner Wasserbetriebe verlangte ein Ab-geordneter Akteneinsicht bei den Senatsverwal-tungen für Finanzen sowie für Wirtschaft undTechnologie. Gewährt wurde ihm die Aktenein-sicht nur teilweise, mit Blick auf Geheimhal-tungsinteressen der betroffenen Investoren undDritter. Der VerfGH Berlin verpflichtete unterBerufung auf Art. 45 II BerlVerf die Senatsver-waltungen zu umfassendem Zugang zu den Ak-ten. Geheimhaltungsinteressen seien nicht pau-schal, sondern detailliert und einzelfallbezogenzu begründen; als Ausnahmen seien sie eng zuhandhaben. – Die hier erkennbare Stärkung der

75 Urteil vom 14.07.2010 – Az. 57/08, in: DVBl. 2010,966 ff.

Abgeordnetenrechte ist, wegen der Spezifika desArt. 45 II BerlVerf, nicht unmittelbar auf denStatus des Abgeordneten gemäß Art. 38 I GG zuübertragen. Allerdings zeigt die Entscheidung,wie bedeutend Informations- und Auskunftsrech-te des Abgeordneten im Umfeld politisch sensi-bler Entscheidungen geworden sind und dass ge-rade die entscheidenden Informationen Gefahrlaufen, mit einem Geheimhaltungsinteresse ver-sehen zu werden. Sofern Akteneinsicht nichtschon gemäß IFG möglich ist, ist zu überlegen,ob ein entsprechendes Ersuchen im Lichte desArt. 38 I GG zu behandeln ist und, sofern es je-denfalls substantiiert und nicht mit klassischenAuskunftsrechten verfolgbar ist, nicht aus demAbgeordnetenstatus der Öffentlichkeit selbst fol-gen könnte. Über das klassische Fragerecht, nachdem der Abgeordnete auf die Bereitstellung vonInformationen aus der Verwaltung durch die Re-gierung angewiesen ist, geht ein solches inquisi-torisches Recht, welches nach Bundesverfas-sungsrecht allein dem Untersuchungsausschusszukommt, sicherlich weit hinaus; zu bedenkensind auch Gesichtspunkte der Gewaltenteilung.Allerdings liegt im Berliner Modell ein beden-kenswerter Ansatz, der auch in anderen, ostdeut-schen Nachwendeverfassungen verfolgt wird.

Der VerfGH Sachsen76 hat sich mit der Reich-weite des Fragerechts des Abgeordneten ausein-andergesetzt. Hintergrund waren Fragen an denMinisterpräsidenten, Stanislaw Tillich, zu De-tails seines privaten Lebenslaufs vor dem Zu-sammenbruch der DDR 1989. Abzuwägen warhier das Fragerecht des Abgeordneten mit denPersönlichkeitsrechten des Ministerpräsidenten.Der VerfGH kommt zu dem Ergebnis, dass dasFragerecht zwar umfassend ist, jedoch seineGrenzen in der informationellen Selbstbestim-mung des Ministerpräsidenten finden. Diesesprivate Grundrecht müsse mit dem Fragerechtabgewogen werden, und beiden müssen best-möglich zur Geltung gebracht werden. Dahermuss sich aus der Antwort ergeben, dass einesolche Abwägung vorgenommen wurde. Nichtzulässig ist hingegen die pauschale Ablehnungeiner Antwort. Gleichwohl ist die Entscheidung

76 Urteil vom 20.04.2010 – Az. Vf. 54-I-09, veröffent-licht bei juris.

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im Ergebnis aus Sicht des Abgeordneten eherdünn: er hat letztlich nur einen Anspruch auf ab-wägungsfehlerfreie Entscheidung, nicht hinge-gen auf eine umfassende Antwort. Hieran ist zukritisieren, dass dies vor dem Hintergrund desöffentlichen Interesses an den Biographien vonRegierungsmitgliedern in einem Unrechtsstaatund ihrem Status als öffentlicher Person eineschwache Entscheidung ist. Jedenfalls erhöhtdieses öffentliche Interesse das in die Abwägungeingehende Interesse einer umfassenden undsachlich richtigen Antwort, welches zentralerGrundsatz des Abgeordnetenstatus ist.

Der VGH Bayern77 entschied abschließend übereinen Sonderfall des Spiegelbildlichkeitsprinzipsbei der Ausschussbesetzung eines Kreistages.Die klagende SPD-Fraktion hatte durch einenÜbertritt ein Mitglied hinzugewonnen, die Grü-nen-Fraktion hatte hingegen ein Mitglied verlo-ren. Rechnerisch verschob sich dadurch dieMandatszuteilung für die Ausschussbesetzung.Im Anschluss an seine Rechtsprechung (BayVBl.1993, 81; 2000, 661) hielt der Bayerische Ver-waltungsgerichtshof den Fraktionswechsel imvorliegenden Fall für eine Neuzuteilung der Aus-schussmandate für unbeachtlich. Es hätte einerAbkehr von bisherigen wesentlichen Positionenund Wählergruppen und eine Hinwendung zuneuen Positionen und Milieus bedurft. DerKreisrat war allerdings weiterhin Grünen-Mit-glied und trat – trotz Beitritts zur SPD-Fraktion– nicht in die SPD ein. Erwiesen war, dass hiereine taktische Ausschussgemeinschaft gebildetwerden sollte, um die die Zahl der Ausschuss-mandate für SPD und Grüne insgesamt zu erhö-hen. Die Entscheidung ist nicht völlig unbedenk-lich. Politisch-taktische Erwägungen sind grund-sätzlich nicht der Überprüfung durch die Gerich-te anheim gestellt (so Sondervotum Lüb-be-Wolff, BVerfGE 114, 121, 182 ff.). Dies giltumso mehr, da gemäß Art. 27 II 5 BayLKrO Zu-sammenschlüsse von Kreisräten zulässig sindund der Wortlaut dieser Norm keine Einschrän-kungen vorsieht, die aber der BayVGH dahinge-hend einschränkend auslegt, dass sich nur Frakti-onslose zu Zählgemeinschaften zusammen-

77 Beschluss vom 28.09.2009 – Az. 4 ZB 09.858, in:BayVBl. 2010, 248 f.

schließen können (BayVBl. 2004, 432). Vor die-sem Hintergrund ist die Einschränkung jedochverständlich: große Fraktionen sollen nicht durchZählgemeinschaften in den Ausschüssen er-drückende Mehrheiten gegen kleinere erzeugen.Dieses telos hätte hier zur Nachvollziehbarkeitder Entscheidung durch Verweis auf Art. 38 I,28 I 1 GG betont werden können.

Das OVG Koblenz78 entschied über die Beteili-gungsfähigkeit einer Stadtratsfraktion im Ver-waltungsprozess, die auf Grund der Neuwahl desStadtrates zum Zeitpunkt der mündlichen Ver-handlung vor dem Verwaltungsgericht nichtmehr im Rat vertreten war. In der Berufung rügtesie, dass das Verwaltungsgericht die Beteili-gungsfähigkeit wegen des Grundsatzes der Dis-kontinuität verneint und ihre Klage gegen einenBeschluss des Rates kurz vor Ablauf der Wahl-periode als unzulässig abgewiesen hatte. DieEntscheidung ist problematisch. Ein formalesVerständnis der Diskontinuität müsste dazu füh-ren, dass alle Fraktionen ihre Beteiligungsfähig-keit im Verwaltungsprozess verlören – auch die-jenigen, die in die Vertretungskörperschaft zu-rückgewählt werden. Die Entscheidung läuft fer-ner auf eine Rechtsschutzverweigerung für sol-che Fraktionen hinaus, die zwar im Kommunal-verfassungsstreit möglicherweise begründeteAnträge stellen, aber nicht mehr in die Vertre-tungskörperschaft zurückgewählt werden. EinAbstellen auf den Zeitpunkt der Statusrechtsver-letzung – nämlich innerhalb der besagten Wahl-periode – würde dem demokratiesensiblen Cha-rakter des Kommunalverfassungsstreits gerech-ter, nicht zuletzt in Hinblick auf BVerfGE 4, 144.

Das VG Bremen79 entschied über die Problema-tik der Fraktionsmindestgrößen in kommunalenVertretungskörperschaften. Von dem Fraktions-status hängt unter anderem der Zugang zu öf-fentlichen Mitteln und Räumlichkeiten ab. In derStadtverordnetenversammlung der Stadt Bremer-haven sind seit der Wahl 2007 bei 48 Stadtver-ordneten mit je drei Mandaten „Die Linke“,

78 Beschluss vom 04.02.2010 – Az. 2 A 11246/09, in:NvwZ-RR 2010, 448 (Leitsatz), in: AS RP-SL 38, 297ff. (Leitsatz und Gründe).

79 Urteil vom 05.03.2010 – Az. 1 K 1937/07, veröffent-licht bei juris.

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DVU und „Bürger in Wut“ vertreten. Die Stadt-verordnetenversammlung beschloss eine Frakti-onsmindestgrenze von vier Stadtverordneten.Der Fall wirft eine Reihe von Rechtsfragen auf,die auch übergreifend von Belang sind. Im Be-reich der Zulässigkeit knüpft das VG Bremen anbekannte Maßstäbe der Rechtsprechung an. Mit-glieder einer Vertreterversammlung können ih-ren vermeintlichen Fraktionsstatus mit einerFeststellungsklage klären lassen und sind beidessen Verweigerung durch die Vertretungskör-perschaft klagebefugt (Rn. 15 f.). Die Klage derPartei „Die Linke“ wurde als unbegründet abge-wiesen. Die Festlegung der Fraktionsmindest-größe sei von der Geschäftsordnungsautonomiegedeckt, die ein weites Ermessen der Vertre-tungskörperschaft bedinge. Unter Rekurs auf diePraxis früherer Wahlperioden führt das Gerichtsachliche Gründe an, die die Ungleichbehand-lung der Gruppierungen innerhalb der Körper-schaft trügen (Rn. 20 ff.). Dabei würdigt das Ge-richt jedoch nicht, dass es auf konkrete sachlicheGründe ankommt, die in der laufenden Wahlpe-riode begründet liegen. Annähernd 10% als Gren-ze für den Fraktionsstatus sind massiv rechtferti-gungsbedürftig. Die Schwelle dieser Rechtferti-gung hat das Gericht hier zu niedrig angesetzt.Die Berufung vor dem OVG Bremen80 stütztsich in problematischer Weise auf die zuneh-mende Ausdifferenzierung und Zersplitterungdes politischen Systems: bei der Zuteilung vonAusschussmandaten müsse die Arbeitsfähigkeitder Ausschüsse gewährleistet sein, was dafürspreche, nur bedeutenden Organteilen der Ver-tretung qua Fraktionsstatus ein Mitwirkungs-recht hieran zuzusprechen. Das bedeutet, dassGruppen ohne Fraktionsstatus im Extremfall aufein Grundmandat beschränkt, jedenfalls aber vonder Ausschusssitzzuteilung ausgeschlossen blei-ben. Die finanzielle Versorgung der Gruppenohne Fraktionsstatus sei nicht über die Frakti-onsmindeststärke, sondern womöglich über dieEntschädigung der Ratsmitglieder zu regeln.

Marcus Hahn-Lorber

80 Urteil vom 20.04.2010 – Az. 1 A 192/08, veröffent-licht bei juris.

5. Wahlrecht

Das BVerfG81 hat in einer Entscheidung bekräf-tigt, dass sich eine erhobene Wahlprüfungsbe-schwerde mit Ablauf der Legislaturperiode erle-digt. Die Beschwerdeführerin hielt ihre Be-schwerde gegen den Wahlprüfungsbeschluss desBundestags aufrecht, nachdem sich bereits der17. Deutsche Bundestag konstituiert hatte.Zweck der Wahlprüfungsbeschwerde ist es, diegesetzmäßige Zusammensetzung eines Parla-ments durchzusetzen. Wenn aber eine Legisla-turperiode bereits abgelaufen ist, kann eine Ent-scheidung des BVerfG keine Wirkungen mehrentfalten, da der neu konstituierte Bundestag vonFehlern bei der Wahl zum vorangegangenen Par-lament nicht tangiert wird. Eine Überprüfung derWahl nach Ablauf der Legislaturperiode kannnur dann erforderlich sein, wenn etwaige Fehlereine über den Einzelfall hinausgehende Bedeu-tung haben, die ein öffentliches Interesse an derKlärung dieser Zweifelsfrage begründet. Als sol-che konnte hier die Vereinbarkeit der §§ 7 III 2i.V.m. 6 IV 5 BWahlG mit dem Grundsatz derWahlgleichheit aus Art. 38 I 1 GG gesehen wer-den, die von allgemeinem öffentlichen Interesseauch für künftige Wahlen ist. Allerdings erübrig-te sich eine Bewertung dieser Rechtsfrage durchdas BVerfG, weil es bereits im Urteil zum soge-nannten negativen Stimmgewicht82 abschließenddazu Stellung genommen hat. Ein besonderes öf-fentliches Interesse, das der Erledigung derWahlprüfungsbeschwerde entgegensteht, exis-tierte hier also nicht.

Das BVerfG83 erklärte eine Verfassungsbe-schwerde gegen das Urteil des OVG Mecklen-burg-Vorpommern84 mangels rügefähigen Rechtsfür unzulässig. Der Beschwerdeführer sah darin,dass sein Wahlvorschlag mangels Einhaltungvon § 61 I und III KWahlG MV nicht zugelassenwurde, eine Verletzung seines passiven Wahl-rechts und den Grundsätzen der allgemeinen und

81 Beschluss vom 25.02.2010 – 2 BvC 6/07, veröffent-licht bei juris.

82 BVerfGE 121, 266.83 Beschluss vom 10.11.2010 – 2 BvR 1946/10, veröf-

fentlicht bei juris.84 Beschluss vom 22.07.2010 – unveröffentlicht.

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gleichen Wahl. Das BVerfG lehnte die Be-schwerdebefugnis ab. Der subjektivrechtlicheSchutz des Landeswahlrechts ist abschließenddurch die Länder gewährleistet. Eine Verletzungdes Art. 19 IV GG aufgrund einer Versagung derBerufung durch das OVG Mecklenburg-Vor-pommern bestand ebenfalls nicht. Das BVerfGkann nicht in die Entscheidungshoheit der für dieWahlprüfung zuständigen Landesgerichte ein-greifen, diese sind selbst an Art. 19 IV GG ge-bunden.

Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Ableh-nung eines Antrags auf Ungültigerklärung derKreistagswahl in Würzburg am 2.3.2008 nahmdas BVerfG85 nicht zur Entscheidung an. Anlassder Beschwerde war, dass durch eine Listenver-bindung von FDP und ÖDP letztere Partei einenSitz mehr erhielt als wenn sie die Verbindungnicht eingegangen wäre. Der Beschwerdeführer,Mitglied der Partei Die Republikaner, sah darineine verfassungswidrige Ungleichbehandlung.Das BVerfG erkannte kein rügefähiges Recht,denn das Demokratieprinzip aus Art. 20 I GG istkein Recht im Sinne von Art. 93 I Nr. 4 a GG, §90 I BVerfGG. Weiter steht dem Beschwerde-führer nicht Art. 38 I 1 GG zur Seite, da sich die-ser nicht auf Wahlen und Abstimmungen aufLandesebene erstreckt und eine analoge Anwen-dung mit Rücksicht auf die selbständigen Ver-fassungsräume von Bund und Ländern ausschei-det. Darüber hinaus enthält Art. 28 I 2 GG, derdie Wahlrechtsgrundsätze auf Landeswahlenüberträgt, lediglich ein objektivrechtliches Ver-fassungsgebot, das nicht mit einer Verfassungs-beschwerde eingeklagt werden kann. Der subjek-tivrechtliche Schutz des Wahlrechts ist durch dieLänder abschließend geregelt und daher vor denVerwaltungsgerichten des Landes einzuklagen.

Damit bestätigte das BVerfG seine vorangegan-gene Rechtsprechung86 zu einer gleich gelagertenVerfassungsbeschwerde bezogen auf eine Kom-munalwahl in Sachsen-Anhalt.

85 Beschluss vom 26.10.2010 – 2 BvR 1913/09, veröf-fentlicht bei juris.

86 Entscheidung vom 11.05.2010 – 2 BvR 511/10, veröf-fentlicht bei juris.

Ebenso behandelte das BVerfG87 eine Verfas-sungsbeschwerde nach erfolglosen Wahlprü-fungsbeschwerden gegen die Landtagswahl 2009in Schleswig-Holstein. Die Beschwerdeführerwurden auch hier auf den Rechtsschutz vor denLandesgerichten verwiesen.

Eine Wahlprüfungsbeschwerde ließ das BVerfG88

nicht zu, weil nicht die nach § 26 III 2 EuWG er-forderlichen 100 Wahlberechtigten beigetretensind. Mit der strikten Befolgung dieser Formvor-schrift hält das BVerfG an seiner bisherigenRechtsprechung fest.

Das BVerwG89 hatte darüber zu entscheiden, obgemeinsame Wahlvorschläge mehrerer Fraktio-nen zur Besetzung der Ausschüsse der Gemein-devertretung zulässig sind. Folge des gemeinsa-men Wahlvorschlags war im zugrundeliegendenSachverhalt, dass eine andere Fraktion in denAusschüssen weniger Sitze erhielt als dies derFall gewesen wäre, wenn jede Fraktion einen ei-genen Vorschlag eingereicht hätte. Dies verstößtnach Ansicht des BVerwG gegen die durch Art.28 I 2 GG auf die Gemeinden übertragenenGrundsätze der Demokratie und Volkssouveräni-tät aus Art. 20 I und II GG. Zur Klärung der Fra-ge nach der Zulässigkeit eines gemeinsamenWahlvorschlags waren der Spiegelbildlichkeits-grundsatz und das Mehrheitsprinzips in prakti-sche Konkordanz zu setzen. Das BVerwG hieltsich mit der Anwendung dieser Maßstäbe an dieRechtsprechung des BVerfG90 zum Bundesrecht,wonach jeder Ausschuss ein verkleinertes Ab-bild des Plenums darstellen muss. Damit soll ge-währleistet werden, dass jedes Mitglied des Ver-tretungsorgans gleichberechtigt mitwirken kannund die Erfolgswertgleichheit der Wählerstim-men eingehalten wird. Es soll auch in den Aus-schüssen die Entscheidung der Wähler und nichterst ein aus Koalitionsvereinbarungen folgendesStärkeverhältnis der Parteien repräsentiert wer-den. Zwar ist die Gemeindevertretung kein Par-lament sondern ein Organ einer Selbstverwal-

87 NVwZ-RR 2010, S. 945.88 Beschluss vom 18.10.2010 – 2 BvC 3/10, veröffent-

licht bei juris.89 NVwZ 2010, S. 834.90 BVerfGE 80, 188 ff. – Wüppesahl.

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tungskörperschaft, doch die Übertragung derVolkssouveränität und Demokratie auf die Ebe-ne der Gemeinden durch Art. 28 I 2 GG bedeu-tet, dass durch die Gemeindevertretung die Bür-ger vertreten werden. Das Mehrheitsprinzip alskollidierender Belang vermag nach Auffassungdes BVerwG einen gemeinsamen Vorschlag derFraktionen nicht zu rechtfertigen, denn eine sta-bile Mehrheitsbildung kann auch auf anderem,die Legitimationskette der Ausschussbesetzungweniger beeinträchtigendem Weg erzielt werden.Gemeinsame Wahlvorschläge von Fraktionenfür die Wahl zur Besetzung der Ausschüsse sinddamit auch in Gemeindevertretungen unzulässig.

Anders fiel die Bewertung des BVerwG91 einesgemeinsamen Wahlvorschlags von CDU undGrünen für die Wahl der ehrenamtlichen Mit-glieder des Gemeindevorstands in Hessen aus.Im Gegensatz zu einem Ausschuss92 ist der Ge-meindevorstand kein Vertretungsorgan der Bür-ger. Er ist kein aus der Gemeindevertretung ab-geleitetes Gremium, das bei der Erfüllung vonAufgaben des Plenums mitwirkt. Daraus folgt,dass der aus Art. 28 I 2 GG i.V.m. 20 I, II GGabgeleitete Spiegelbildlichkeitsgrundsatz nichtanwendbar und folglich nicht verletzt ist. Auf-grund der Tatsache, dass der Gemeindevorstandder Verwaltungstätigkeit zuzuordnen ist, verletztder gemeinsame Wahlvorschlag auch nicht dieChancengleichheit der Wahl. Die Vorschriftender HessGO lassen sich nicht so auslegen, dassder Gemeindevorstand nach dem Stärkeverhält-nis der Fraktionen besetzt werden muss. Der ein-gereichte Vorschlag war damit zulässig.

Bezogen auf die Landtagswahl 2009 in Schles-wig-Holstein ergingen zwei bedeutsame Ent-scheidungen des LVerfG SH93. Im Verfahrender Normenkontrolle94 stellte das Verfassungsge-richt die Unvereinbarkeit des aktuellen LWahlGSH mit der schleswig-holsteinischen Verfassungfest. Nach bestehender Rechtslage – genauerdurch das Zusammenspiel von § 1 I 2 und II, § 3

91 NVwZ-RR 2010, S. 818.92 So die Grundlage im Urteil des BVerwG vom

9.12.2009, NVwZ 2010, S. 834.93 NordÖR 2010, S. 401, und NordÖR 2010, S. 389.94 NordÖR 2010, S. 389.

V und § 16 LWahlG – besteht die Möglichkeit,dass die Regelparlamentsgröße von 69 Abgeord-neten erheblich überschritten wird. Die Verfas-sungsvorgabe des Art. 10 II 1 und 2 LVerf SHwird damit verfehlt. Gleichzeitig können auf-grund der Deckelung der zu vergebenden Aus-gleichmandate in § 3 V 3 LWahlG SH unge-deckte Mehrsitze entstehen. Eine nur begrenzteVergabe von Ausgleichsmandaten beeinträchtigtden Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 ILVerf SH und Art. 10 II 5 LVerf SH. LetztereNorm verlangt für den Fall des Entstehens vonÜberhangmandaten die Vergabe von Ausgleichs-mandaten, ohne dafür eine zahlenmäßige Be-grenzung zu nennen. Die Verzerrung der Er-folgsgleichheit der Stimmen durch die Decke-lung der Ausgleichsmandate kann nur durch„zwingende Gründe“ gerechtfertigt werden. We-der die Einhaltung der Sollgröße des Landtagesin Art. 10 II LVerf SH noch die Stärkung derFunktionsfähigkeit des Parlaments können dafürherangezogen werden. Nicht die Deckelung derAusgleichsmandate sondern das geltende Wahl-recht, das das Anfallen einer großen Zahl vonÜberhangmandaten ermöglicht, ist der Ursprungfür eine erheblichen Zuwachs an Landtagssitzenüber die Sollgröße hinaus. Angesichts der zahl-reichen anderen Mittel zur Verhinderung einesAnstiegs der Sitzzahl im Parlament hielt dasLVerfG SH die Deckelung der Zahl der Aus-gleichsmandate für ein weder geeignetes nocherforderliches Mittel, um der Vorgabe des Art.10 II 1 und 2 LVerf SH gerecht zu werden. Gera-de weil die Zahl von Überhangmandaten bei denletzten Wahlen erheblich angestiegen ist, darfumso weniger die Zahl der Ausgleichsmandatebegrenzt werden, weil so die Verzerrung desStimmengleichgewichts in großem Maße beste-hen bliebe. Diese Verfassungswidrigkeit desLWahlG SH muss der Landesgesetzgeber nachAnordnung des LVerfG SH bis zum 31.05.2011ausräumen. Das LVerfG SH gab außerdem dengegen die Gültigkeit der Landtagswahl 2009 er-hobenen Wahlprüfungsbeschwerden95 statt. Dieim Wege der Normenkontrolle festgestellte Ver-fassungswidrigkeit des LWahlG SH wirkte sichals mandatsrelevanter Wahlfehler aus. Zum

95 NordÖR 2010, S. 401.

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einen wurde die Sollzahl der Abgeordnetenman-date um 26 Sitze überschritten und damit dieZielvorgabe des Art. 10 II LVerf SH missachtet.Zum anderen erhielt die CDU drei nicht durchAusgleichsmandate gedeckte Sitze. Tatsächlichbenötigte sie daher 14.870,91 Stimmen proLandtagsmandat während die LINKE für einenParlamentssitz 19.152,80 Stimmen erzielenmusste. Diese Diskrepanz geht über die mathe-matisch unvermeidliche Ungleichheit der benö-tigten Stimmen pro Mandat weit hinaus undstellt eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheitaus Art. 3 I LVerf SH und Art. 10 II 5 LVerf SHdar. Das Gericht stellte nicht die Ungültigkeitder Wahl fest, sondern ordnete wegen derGrundlage des verfassungswidrigen LWahlG SHNeuwahlen bis zum 30.09.2012 an.

Eine Popularklage, die sich gegen die Sitzvertei-lung nach dem d`Hondtschen Höchstzahlverfah-ren bei Gemeinde- und Landkreiswahlen richte-te, erklärte der BayVerfGH96 für unzulässig. DerVerfassungsgerichtshof hatte zuvor bereits fest-gestellt, dass es sich bei dem Verfahren nachd`Hondt um ein gerechtes Berechnungssystemhandele, das nicht gegen den Grundsatz derWahlgleichheit verstoße97. Ein grundlegenderWandel der Lebensverhältnisse oder der allge-meinen Rechtsauffassung ist seit diesen Ent-scheidungen nicht zu verzeichnen, sodass hierkein Fall der ausnahmsweise zulässigen Wieder-holung vorlag.

Der BayVerfGH98 hatte die Gültigkeit der Wahlzum Bayerischen Landtag 2008 zu beurteilen.Durch die Wahlprüfungsbeschwerde wurde dieDurchführung des Wahlvorgangs beanstandet,weil laut Beschwerdeführer die Kandidatenauf-stellung der CSU nicht gem. § 17 PartG geheimerfolgte. Der BayVerfGH arbeitete heraus, dassbezüglich der Geheimheit an die innerparteilicheKandidatenaufstellung geringere Anforderungenzu stellen sind, als dies für die Wahl von Volks-vertretungen erforderlich ist. Die Kandidatenauf-stellung ist zwar wesentlicher Vorbereitungsaktder staatlichen Wahl und muss daher einem

96 BayVBl 2010, S. 140.97 BayVBl. 1961, S.116); BayVBl. 1992, S. 397.98 BayVBl. 2010, S. 172.

Kernbestand an Verfahrensgrundsätzen99 genü-gen, um die demokratische Legitimationskettenicht zu unterbrechen. Doch ist die innerparteili-che Wahl eine wesentliche Handlungsform derParteien zur Erreichung ihrer Ziele und unterfälltdaher auch der Parteienfreiheit aus Art. 21 I GG.Das Gebot der Geheimheit aus § 17 PartG wurdenach Ansicht des BayVerfGH jedenfalls nichtdadurch verletzt, dass es den Abstimmendenmöglich war, in die Stimmzettel der Nachbarneinzusehen. Eine ausreichende Geheimheit wäreauch durch eine entsprechende Körperhaltungherzustellen gewesen. Einen Wahlfehler konntedas Gericht nicht erkennen und hielt daher dieWahlprüfungsbeschwerde für unbegründet.

Im Rahmen einer weiteren Wahlprüfungsbe-schwerde zur Landtagswahl 2008 hatte der Bay-VerfGH100 erneut zu überprüfen, ob die 5%-Sperrklausel des Art. 14 IV BV gegen höherran-giges Verfassungsrecht verstößt. Er bestätigteseine vorige Entscheidung101, indem er für denunterschiedlichen Erfolgswert der abgegebenenStimmen einen tauglichen zwingenden Grund inder Handlungs- und Entscheidungsfreiheit desParlamentes erkannte.

Der StGH Bremen102 erklärte im Rahmen einerNormenkontrolle die sogenannte „BremischeReihung“ für verfassungsgemäß. Bei diesem von§ 7 VI BremWG vorgeschriebenen Verfahrenwerden innerhalb eines Wahlvorschlags zu-nächst die nach Listenwahl zu vergebenden Sitzeund danach erst für die Bewerber mit den höchs-ten Personenstimmenzahlen zugeteilt. EinenVerstoß gegen das Gebot der Normenklarheitaus Art. 28 I 1 GG, Art. 65 I BremLV verneinteder StGH mit dem Hinweis darauf, dass § 7 VIBremWG das übliche Maß der Ungewissheit deseinzelnen Wählers über alle anderen Stimmennicht übersteigt. Auch eine Verletzung der Un-mittelbarkeit der Wahl aus Art. 75 I BremLVstellte er nicht fest. Diese fordert nicht, dass sichdie vom Wähler mit seiner Stimmabgabe beab-

99 BVerfGE 89, 243 (251 f.).100 BayVBl. 2010, S. 531.101 BayVBl. 2007, S. 13.102 Urteil vom 08.04.2010 – St 3/09, in: NordÖR 2010,

198 ff.

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sichtigte Einwirkung auf die personelle Zusam-mensetzung des Parlaments tatsächlich genausoentfaltet. Eine Wahl ist erst dann nicht mehr un-mittelbar, wenn die Stimmabgabe sich willkür-lich oder nicht erkennbar auswirkt. Weiter be-achtet die Vorschrift des § 7 VI BremWG auchdas aus der Wahlrechtsgleichheit folgende Gebotder Folgerichtigkeit, das eine kohärente Ausge-staltung des Wahlsystems durch den Gesetzge-ber verlangt. Zuletzt ist auch der allgemeineGrundsatz der Wahlrechtsgleichheit aus Art. 75 IBremLV gewahrt, weil die in § 7 VI BremWGgewählte Vergabereihenfolge nicht zu einermangelnden Auswirkung der Personenstimmenauf das Wahlergebnis führt.

Das VerfG Brandenburg103 hat eine bezüglichder Landtagswahl 2009 erhobene Wahlprüfungs-beschwerde als unzulässig abgewiesen, weil dasBeitrittserfordernis aus § 59 I BbgVerfGG von100 Wahlberechtigten nicht eingehalten wurde.Die Norm sei als Hürde für den Rechtsschutz inWahlsachen verfassungsmäßig, denn die Wahl-prüfungsbeschwerde diene nur dem Schutz desobjektiven Wahlrechts.

Eine weitere Wahlprüfungsbeschwerde verwarfdas VerfG Brandenburg104, weil kein mandats-relevanter Wahlfehler substantiiert dargelegtwurde. Die bloße Behauptung, bei der Wahl sei-en gefaltete Wahlzettel ausgegeben worden, ließdas Gericht als taugliche Darlegung eines Wahl-fehlers nicht ausreichen.

Das OVG Greifswald105 hat entschieden, dassein amtierender Bürgermeister bei einer Bewer-bung um Wiederwahl die Wahrnehmung seinesAmtes nicht mit Wahlwerbung für sich verbin-den darf. Grundsätzlich ist der Inhaber des Am-tes nicht daran gehindert, im gleichen UmfangWerbung wie seine Konkurrenten für sich zu be-treiben. Auch Öffentlichkeitsarbeit in Wahrneh-mung seiner Amtsstellung ist dem Bewerber imVorfeld der Wahl nicht untersagt, sofern sich dieInformationstätigkeit auf neutrale Hinweise be-

103 Beschluss vom 17.06.2010 – VfGBbg 24/10, veröf-fentlicht bei juris.

104 Beschluss vom 19.08.2010 – VfGBbg 25/10, veröf-fentlicht bei juris.

105 NVwZ-RR 2010, S. 778.

schränkt106. Im vom OVG Greifswald zu ent-scheidenden Fall hatte der amtierende Bürger-meister in einer von ihm geleiteten Sitzung derGemeindevertretung vor der Wahl darauf hinge-wiesen, dass die Wahllokale mit Bussen zu errei-chen seien, für die Fahrtkosten wolle er „aus ei-gener Tasche“ aufkommen. Ein solches „Wahl-geschenk“, so das Gericht, sei zwar als solchesnicht zu beanstanden. Unzulässig ist aber, dassder Wahlbewerber dieses Versprechen in seineramtlichen Stellung als Bürgermeister abgab unddamit gegen die ihm obliegende Neutralitäts-pflicht verstieß. Dabei ist unbeachtlich, ob eineWählerbeeinflussung durch diese Aussage vomWahlbewerber beabsichtigt war, entscheidend istdas objektive Verständnis des adressierten Wäh-lerkreises. Damit bestätigt das OVG die voran-gegangene Entscheidung des VG Greifswald107,welches eine Unregelmäßigkeit in der Vorberei-tung der Bürgermeisterwahl gem. §§ 44 Nr. 2,71 I Nr. 2 KWahlG MV gesehen hatte.

Ebenfalls mit der Frage nach einer unzulässigenWählerbeeinflussung bei der Bürgermeisterwahlhatte sich das SächsOVG108 zu befassen. In derVorinstanz beanstandete es das VG Dresden109

nicht als Wahlfehler im Sinne des § 27 Abs. 1Nr. 1 und 2 SächsKomWG, dass der amtierendeBürgermeister auf Unterseiten seiner privatenHomepage das Gemeindewappen eingestellt unddie Berufsbezeichnung „Diplom Verwaltungs-Betriebswirt (VWA)“ statt der korrekten Formu-lierung „Verwaltungs-Betriebswirt (VWA)“ ver-wandt hatte. Diese Ansicht bestätigte das Sächs-OVG. Das alleinige Einbinden des Gemeinde-wappens auf der Homepage des wiedergewähl-ten Bürgermeisters vermittle noch nicht den Ein-druck, der Inhalt der Homepage sei eine amtlicheVerlautbarung oder stünde in Bezug zu amtli-chem Handeln der Gemeinde. Tatsächlich wardas Wappen nur auf drei von insgesamt zwanzigUnterseiten und gerade nicht der Startseite zu se-hen. Ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot

106 BVerwGE 104, 223.107 Urteil vom 17.11.2009 - 2 A 927/09 VG HGW, unver-

öffentlicht.108 SächsVBl. 2010, S. 193.109 Urteil vom 29.04.2009 – 4 K 1333/08, unveröffent-

licht.

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MIP 2011 17. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

durch den wiedergewählten Bürgermeister konn-te das SächsOVG daher nicht erkennen. Eben-falls sah das Gericht keine unzulässige Wahlbe-einflussung im Sinne des § 27 Abs. 1 Nr. 2SächsKomWG durch die Verwendung des Zu-satzes „Diplom“. Eine Wahlbeeinflussung um-fasst alle Umstände, die bei objektivem Ver-ständnis geeignet sind, unmittelbar auf die Wahl-entscheidung einzuwirken. Der Bewerber hatnicht über den Erhalt eines Studienabschlussesgetäuscht, sondern dessen Bezeichnung verfehlt.Dies lässt jegliche Erheblichkeit für ein Einwir-ken auf die Willensbildung der Wähler vermis-sen.

Das OVG Magdeburg110 stellte klar, dass dasWahlprüfungsverfahren nach § 50 SachsAn-hKWG kein Vorverfahren im Sinne von § 162 II2 VwGO ist. Zur Begründung führte das Gerichtaus, dass mit dem Wahlprüfungsverfahren nichtdie Überprüfung einer bereits getroffenen be-hördlichen Entscheidung, sondern die erstmaligeBefassung der Behörde mit der Frage über dieGültigkeit der Wahl erzielt werden soll.

Das OVG NRW111 setzte sich mit den Voraus-setzungen der Klagebefugnis bei einer Wahlprü-fungsbeschwerde gem. § 39 KWahlG NRW aus-einander. Danach sind nur vier Gruppen klage-befugt: Wahlberechtigte, Leitungen solcher Par-teien und Wählergruppen, die an der Wahl teil-genommen haben, die Aufsichtsbehörde und ge-wählte Vertreter. Der Kläger gehörte nicht zudiesem Kreis, außerdem konnte er sein Ziel nichtmit der Wahlprüfungsbeschwerde erreichen.Diese gewährt nämlich keinen Anspruch aufGültigerklärung einer Wahl112 sondern nur einensolchen auf objektive Wahlprüfung. Mit der Ver-sagung dieses Rechtsschutzes wird nicht dieÜberwachung einer möglichen Wahlmanipulati-on ausgeschaltet, da die Aufsichtsbehörde, ge-bunden an Recht und Gesetz, nach § 41 I 2KWahlG NRW gegen den Ratsbeschluss Klageüber die Gültigkeit der Wahl erheben kann.

110 NVwZ-RR 2010, S. 621.111 Beschluss vom 5.11.2010 – 15 A 860/10, veröffent-

licht bei juris, DVBl. 2011, S. 123 (Leitsatz).112 So aber zuvor das VG Minden, Urteil vom 24.02.2010

– 3 K 3343/09, veröffentlicht bei juris.

In der vorangegangenen Instanz hielt das VGMinden113 die Klage hingegen für zulässig undbeschäftigte sich schwerpunktmäßig mit der Fra-ge, ob die nach 18 Uhr verschlossenen Türen ei-nes Wahllokals einen Wahlfehler darstellen. Esarbeitete heraus, dass durch den Ausschluss derÖffentlichkeit bei der Öffnung der Wahlurne derGrundsatz aus § 24 I 1 KWahlG NRW verletztist, weil es für die einzelnen Schritte bei der Er-mittlung des Wahlergebnisses keine kontrollie-renden Zeugen gab. Allerdings konnte das Ge-richt keine Anhaltspunkte für eine Manipulati-onshandlung an den Stimmzetteln – veranlasstdurch den zeitweiligen Ausschluss der Öffent-lichkeit – erkennen. Damit verneinte es die nach§ 40 I b KWahlG NRW erforderliche Kausalitätdes Wahlfehlers.

Gegenstand eines Urteils des VG Gelsenkir-chen114 war die Prüfung der Klagebefugnis eineswahlberechtigten Bürgers, der sich mit einer An-fechtungsklage gegen die Wahlprüfungsentschei-dung des Rates bezüglich einer Oberbürgermeis-terwahl wandte. Das Gericht verneinte eine Kla-gebefugnis aus § 42 II VwGO. Der Beschlussdes Rates im Sinne des § 40 I d KWahlG stelltzwar einen Verwaltungsakt dar, dieser richtetsich aber nicht an den Kläger, sodass er keineVerletzung in eigenen Rechten geltend machenkann. Ein solches subjektives Recht gewährtauch nicht § 39 I KWahlG NRW, mit dem ledig-lich die objektive Überprüfung der Wahl erzieltwerden kann. Schließlich begründet auch § 41KWahlG NRW keine Klagebefugnis sondernsetzt sie voraus.

Das VG Trier115 beschäftigte sich mit der Zuläs-sigkeit eines Einspruchs im Kommunalwahlver-fahren. Zwar hielt es die Einlegung des Ein-spruchs vor Fristbeginn nach § 48 S. 1 KWG RPfür ordnungsgemäß, weil sie unmittelbar nachder Wahl bis zur Bekanntmachung des Wahler-gebnisses stattfand und danach noch aufrechter-halten wurde. Allerdings fehlte dem Kläger einRechtsschutzinteresse, nachdem das Ratsmit-

113 Urteil vom 24.02.2010 – 3 K 3343/09, veröffentlichtbei juris.

114 Städte- und Gemeinderat 2010, S. 33.115 LKRZ 2010, S. 78.

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Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2011 17. Jhrg.

glied, auf dessen Wahlergebnis sich der Ein-spruch des Klägers bezog, auf sein Mandat ver-zichtet hatte. Damit kann das Klageziel, eineVerpflichtung zur Ungültigkeitserklärung desWahlergebnisses für diese Peron zu erreichen,keine gestaltende Wirkung mehr entfalten.

Das VG Düsseldorf116 überprüfte das gem. §§33 II, 46 a VI 1 KWahlG NRW anzuwendendeSitzzuteilungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers auf die Vereinbarkeit mit demGrundsatz der Gleichheit der Wahl aus § 36 I 2GO NRW. Dieser besagt für das gem. §§ 46 a III1, VI 1, 33 II KWahlG NRW geltende Wahlsys-tem, dass die Stimme jedes Wahlberechtigtengrundsätzlich den gleichen Zähl- und Erfolgs-wert haben muss. Bei der Verhältniswahl ver-langt die Erfolgswertgleichheit dabei aber nicht,so das VG Düsseldorf, dass sich nach der Wahlein exakt verhältnismäßiger Stimmerfolg in derSitzverteilung abgezeichnet haben muss, da denbruchteilsmäßigen Stimmenanteilen ganzzahligeSitze zuzuteilen sind. Es kann daher mathema-tisch nicht umgangen werden, dass bei diesemVorgang geringe Abweichungen entstehen. Kei-nes der bekannten Berechnungsverfahren ver-mag eine absolute Erfolgsgleichheit herzustellen.So konnte das Gericht auch bei der durch denEinspruch gerügten Wahl der Bezirksvertretung2009 keine Verletzung der Erfolgswertgleichheitder Stimmen feststellen.

Das VG Aachen117 erklärte § 61 V 2, 3 KWahlONRW wegen Verstoßes gegen höherrangigesRecht für rechtswidrig und daher nichtig. Nachdieser Norm sollen bei der Sitzverteilungsbe-rechnung gem. § 33 III KWahlG NRW diejeni-gen Parteien und Wählergruppen unberücksich-tigt bleiben, die bei einer Berechnung aus-schließlich nach § 33 II KWahlG NRW auf derGrundlage der regulären Sitzzahl des Rates nichtmindestens einen Sitz erhielten. Die Regelungdes § 61 V 2, 3 KWahlO ist mit § 33 IIIKWahlG NRW nicht vereinbar, weil sie demdort enthaltenen Berechnungsverfahren zuwiderläuft. Sinn der Vergabe von Ausgleichsmandaten

116 NWVBl. 2010, S. 405.117 Urteil vom 27.05.2010 – 4 K 125/10, veröffentlicht bei

juris.

ist es, die durch Überhangmandate entstandeneErfolgswertverzerrung des Stimmenverhältnisseswieder auszugleichen. Um diesen Zweck zu ver-folgen, müssen aber alle Parteien oder Wähler-gruppen berücksichtigt werden und nicht nurdiejenigen, die die Hürde von mindestens einemSitz bei regulärer Berechnung überwinden. Einweiterer Grund für die Rechtswidrigkeit des § 61V 2, 3 KWahlO liegt darin begründet, dass dieNorm nicht von der Ermächtigung in § 51 IKWahlG NRW gedeckt ist. Darin existiert keineausdrückliche Befugnis des Innenministers, sitz-zuteilungsrelevante Regelungen per Rechtsver-ordnung zu treffen. Zulässig sind lediglich dasKWahlG NRW ausführende, nicht abänderndeVorschriften. Eine wesentliche Veränderung derSitzzuteilung nimmt § 61 V 2, 3 KWahlO NRWaber vor. Diese vom Gericht aufgezeigte Rechts-widrigkeit wirkte sich bei der Wahl zum Aache-ner Stadtrat 2009 aus, weshalb das VG Aachendie Neufeststellung des Wahlergebnisses anord-nete.

Hana Kühr

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MIP 2011 17. Jhrg. Rezensionen

Rezensionen

Theresia Anna Gelberg: Das Parteiverbots-verfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG am Beispieldes NPD-Verbotsverfahrens, Universitätsver-lag Osnabrück 2009, 310 S., ISBN 978-3-89971-6, 38,90 €.

Politische Parteien im Sinne des Art. 21 desGrundgesetzes erfüllen grundsätzlich alle Merk-male einer Vereinigung im Sinne des Art. 9Abs. 1 GG. Nach Art. 21 Abs. 2 GG können po-litische Parteien im Gegensatz zu anderen Verei-nigungen jedoch ausschließlich vom Bundesver-fassungsgericht verboten werden. Entsprechenddieser verfassungsrechtlichen Vorgabe fallen po-litische Parteien gemäß § 2 Nr. 1 VereinsG nichtunter den Begriff des Vereins und damit aus demRegelungszugriff des Vereinsgesetzes hinaus. Indiesem Zusammenhang spricht auch das Bun-desverfassungsgericht vom sogenannten Partei-enprivileg.

Das Verbot verfassungswidriger Parteien stellteine verfassungsunmittelbare Schranke der Par-teifreiheit dar. Zur Rechtfertigung dieser Ein-schränkungsmöglichkeit wird die „wehrhafteDemokratie“ angeführt. „Keine Freiheit für dieFeinde der Freiheit“. Die verfassungsrechtlicheVerankerung eines Parteiverbotsverfahrens istaber keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, son-dern eher die Ausnahme. Das Verfahren weistdaher besondere Eigenheiten auf und hat ange-sichts der Rechtsprechung des EGMR eine neueAkzentuierung erhalten. Das Parteiverbotsver-fahren gegen die NPD, hätte, wenn es nicht ge-scheitert wäre, hier sicherlich zu einer Weiter-entwicklung der Verbotsvoraussetzungen beige-tragen. Das gescheiterte Verfahren hat aber ge-zeigt, dass die Auswirkungen des Einsatzes vonsog. V-Leuten im Zusammenhang mit derDurchführung eines Parteiverbotsverfahrensnicht hinreichend geklärt sind.

Die Autorin hat sich dieser Aufgabe gestellt unddas Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2GG unter Berücksichtigung der Erfahrungen mitdem gescheiterten NPD-Verfahren aufgearbeitet.Die Arbeit gliedert sich im Wesentlichen nachdem klassischen Prüfungsaufbau eines Parteiver-

botsverfahrens, wobei zunächst immer die recht-lichen Grundlagen betrachtet werden und im An-schluss daran ein vertiefter Blick auf das NPD-Verbotsverfahren geworfen wird. Kapitel 1 wid-met sich dem Antrag, Kapitel 2 dem Vorverfah-ren, Kapitel 3 dem Hauptverfahren und Kapitel 4der Entscheidung und ihren Rechtsfolgen.

Das Buch bietet einen guten und umfassendenÜberblick über den Stand der Diskussion um dasverfassungsrechtlich verankerte Parteiverbots-verfahren. Berücksichtigt wird neben der V-Mann-Problematik auch die Rechtsprechung desEGMR, so dass alle wesentlichen Gesichtspunk-te aufgearbeitet werden.

Dr. Heike Merten

Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): Die Bundestags-wahl 2009, Analysen der Wahl-, Parteien-,Kommunikations- und Regierungsforschung,VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesba-den 2010, 407 S., ISBN 978-3-531-17476-1,34,95 €.

I. Die Bundestagswahl 2009 ist bereits hinläng-lich in der Tagespresse und politischen Bericht-erstattung beleuchtet worden. Wer allerdingseine umfassende, wissenschaftliche Analyse die-ses Wahlereignisses sucht, der ist auf den He-gel’schen Satz verwiesen, wonach „ die wahreGestalt, in welcher die Wahrheit existiert, alleindas wissenschaftliche System derselben sein(kann)“. Diesem Anspruch wird der von Karl-Rudolf Korte herausgegebene Sammelband, indem namhafte Autoren die jüngste Bundestags-wahl aus den Blickwinkeln verschiedener Fakul-täten untersuchen, gerecht. Das Buch ist bei allerDetailfreude klar strukturiert und die Beiträgeder Autoren ergänzen sich in zahlreichen Aspek-ten. Dabei ist das Werk nicht nur inhaltlich, son-dern auch sprachlich anspruchsvoll und bietetsomit auch dem Studenten die Möglichkeit, sei-nen eigenen wissenschaftlichen Wortschatz an-hand des aktuellen Beispiels fortzubilden.

II. In seiner Einleitung ordnet Korte die Bundes-tagswahl 2009 in den durch die vorhergehendeGroße Koalition und die Weltwirtschaftskrisegeprägten Kontext ein. Der Herausgeber weist

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auf die besondere Konstellation hin, dass dieKandidaten dieser Wahl das Kunststück voll-bringen mussten, der allgemeinen Krisenstim-mung durch die Suggestion von Sicherheit zubegegnen, obschon die Bewerber um das Kanz-leramt letztlich doch sämtlich auf unsicherer In-formationsbasis operierten. Ferner hebt Kortevier Besonderheiten der Wahl 2009 hervor, diein den Einzelbeiträgen weiter thematisiert wer-den. Dies sind: (1) die schleppende Wählermobi-lisierung, (2) eine besonders konsensuale Aus-einandersetzung zwischen den Spitzenkandida-ten Merkel und Steinmeier bei (3) gleichzeitigerVerstetigung des Fünf-Parteien-Systems und (4)die rekordverdächtig niedrige Wahlbeteiligung.Hier lässt sich bereits eine Marschrichtung desvorliegenden Werkes absehen. Die Bundestags-wahl 2009 wird aus den Blickwinkeln der vertre-tenen analytischen Disziplinen auf ihren Aus-nahmecharakter untersucht.

III. Den Ausnahmecharakter der Wahl 2009 be-stätigen etwa Matthias Jung, Yvonne Schrothund Andrea Wolf, die sich auf Erhebungen derForschungsgemeinschaft Wahlen stützen, mitdem Befund, dass entgegen den allgemeinen Er-wartungen eine „klassische Zweierkoalition“ inder Wahl obsiegte. Die Erklärung für den tat-sächlichen Wahlausgang suchen die Autoren ineiner inhaltlichen Neuausrichtung der CDU –Stichwort: „Sozialdemokratisierung“ der Union– und der Dominanz der Kanzlerin in der öffent-lichen Wahrnehmung. Im Anschluss an eine de-taillierte numerische Analyse des Wahlergebnis-ses, die die kleinen Parteien als eigentliche „Ge-winner“ identifiziert, widmen sich die Autorenden Sozialstrukturen der Wählerschaft. Nebendem Befund, dass – im Gegensatz zur Wahl2005 – in diesem Wahlzyklus bedeutende Unter-schiede im Wahlverhalten bei den Geschlechternbestanden, werden die Wahlergebnisse 2009 fer-ner im Hinblick auf Altersstrukturen und Bil-dungsabhängigkeit untersucht. Dass die Wahl2009 eine besondere Charakteristik zu verzeich-nen habe, zeigt Thorsten Faas anhand der Wahl-beteiligung auf. Im Wahljahr 2009 waren dieParteiprofile wegen der vorhergehenden Koaliti-on von SPD und CDU/CSU weniger ausdiffe-renziert, was im Gegenzug aber in folgenden

Wahlen auf einen Anstieg der Beteiligung hoffenlasse. Das Kapitel Wahlforschung lässt somitkaum Fragen unbeantwortet.

IV. Aus dem Lager der Parteienforschung wirdnicht nur die Parteiensituation in Deutschland er-hellt, sondern auch ein Blick auf das Ausland ge-wagt. So beschäftigt sich ein Beitrag von UlrichEith mit dem Übergangscharakter der Wahl2009 und spezifischen Fragen des politischenWettbewerbs. Anschließend wirft Ton Nijhuisden Blick über die deutsche Grenze hinaus undgeht der Frage des Parteienwettbewerbs in denNiederlanden nach. Dieser Marschroute folgendbeleuchtet sodann Ludger Helms den Parteien-wettbewerb in Österreich. Schließlich hebt Lo-thar Probst den Exkurs auf die europäische Ebe-ne und resümiert, dass das deutsche Parteiensys-tem derzeit keinem grundlegenden Wandeldurch den Einfluss des europäischen Auslandsunterliege, sondern einen Prozess des partiellenWandels – besonders im Hinblick auf die Rolleder Sozialdemokratie – durchlaufe.

V. Mit interessanten Erkenntnissen kann insbe-sondere das Ressort der Kommunikationsfor-schung aufwarten. Ein besonderes Augenmerkwird hier auf das in der Wahl 2009 verstärkt ge-nutzt Community-Building über das Internet ge-legt, das Klaus Kamps als Ergänzung traditionel-ler Wahlkampfstrategien sieht. Hagen Albersidentifiziert in seinem Beitrag auch eine gewisseEigendynamik in der Parteilandschaft, technolo-gische Neuerungen zu nutzen.

VI. Unter dem Arbeitstitel „Parteienwettbewerbdurch kalkulierte Demobilisierung“ eröffnet An-dreas Blätte den Teil zur Regierungsforschung.Hier wird ein spannender, weil unvermindert ak-tueller Themenbereich erschlossen. Der Autorargumentiert, dass Große Koalitionen die Aus-nahme bleiben sollten, um den demokratischenWettbewerb mit der Integrationsmöglichkeit füralternative Konzepte zu erhalten. Eine Ein-schränkung wird allerdings für die Wahlsituation2009 gemacht, da spezifische strategische Ent-scheidungen ebenfalls Einfluss auf die Intensitätdes Wettbewerbs nähmen. Die Verknüpfung vonWettbewerb und Demobilisierung wird die For-schung und Praxis sicherlich noch lange be-

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MIP 2011 17. Jhrg. Rezensionen

schäftigen. Wichtig im Hinblick auf den Aus-nahmecharakter der Bundestagswahl 2009 istauch das Thema der „Dreier-Bündnisse“. NikoSwitek untersucht die Implikationen der wich-tigsten, auch 2009 im Mittelpunkt der Aufmerk-samkeit stehenden politischen Farbkombinatio-nen, stellt die besondere Rolle der jeweiligenParteispitze heraus und deutet auf die wesentli-che Rolle der GRÜNEN im Kontext von Dreier-Bündnissen hin.

Fazit: Dem wissenschaftlichen Interesse an derBundestagswahl 2009 wird mit diesem Werk einwichtiges Kompendium zur Verfügung gestellt.Besonders positiv zu vermerken ist die stringen-te Platzierung der Beiträge, die jeweils Vorher-gehendes aufgreifen und fortführen. Die Autorenstellen hochaktuelle Themen vor und scheuendie anspruchsvolle und kritische Auseinanderset-zung mit dem aktuellen Forschungsbestandnicht. Dem an der Bundestagswahl 2009 interes-sierten Leser sei empfohlen, in dieser randvollenFundgrube gründlich zu stöbern.

Géraldine Haase

Arne Krumbholz: Finanzierung und Rech-nungslegung der politischen Parteien und de-ren Umfeld, Nomos, Baden-Baden 2010, 405S., ISBN 978-3-8329-5161-0, 59 €.

Das Buch von Arne Krumbholz ist die erste um-fassende wissenschaftliche Ausarbeitung zurRechnungslegung der politischen Parteien undderen Umfeld. Das Rechnungslegungssystem derpolitischen Parteien folgt einer eigenen von derVerfassung und in deren Ausgestaltung vom Par-teiengesetz vorgegebenen Logik. Dabei spielenbetriebswirtschaftliche Gesichtspunkte eine do-minierende Rolle und müssen mit juristischenGesichtspunkten in Einklang gebracht werden.

Die Arbeit wendet sich nach einer kurzen Einlei-tung zur Klärung der begrifflichen Grundlagender Entwicklung der Parteienfinanzierung inDeutschland zu. Die aktuelle Ausgestaltung derParteienfinanzierung wird, gegliedert nach nicht-staatlicher und staatlicher Finanzierung, ausführ-lich aufgearbeitet. Dem folgt der Kernbereichder Arbeit: die Rechnungslegung. Krumbholz

gibt zunächst eine Definition der für die Rech-nungslegung relevanten Grundbegriffe, wie z.B.Einnahmen und Ausgaben. Es folgt eine Über-sicht der Zwecke der verschiedenen Rechnungs-stile. Nach diesen sehr hilfreichen Grundlegun-gen wird die Rechnungslegung der Parteien imDetail betrachtet. Das nachfolgende Kapitel setztsich mit den Kontroll- und Sanktionsmöglichkei-ten nach dem Parteiengesetz auseinander. DieArbeit schließt mit einer Zusammenfassung undeinem Ausblick.

Krumbholz kommt der große Verdienst zu, dieRechnungslegung der Parteien sehr übersichtlichund umfassend bearbeitet zu haben. Er hat dieVorschriften des Parteiengesetzes zur Rech-nungslegung dargestellt, die ihnen innewohnen-den Probleme behandelt und die Einwirkungendes Handelsrechts auf die Rechnungslegung derParteien und die hieraus resultierenden Problemeaufgearbeitet. Er macht Definitionsmängel undsprachliche Ungenauigkeiten der verwendetenBegriffe aus und fordert eine Anpassung an diein der Betriebswirtschaftslehre und im Handels-recht verwendeten Begriffsinhalte.

Der Autor hat das aus der verfassungsrechtlichenVerpflichtung der Parteien, über die Herkunftund Verwendung ihrer Mittel Auskunft zu ge-ben, die richtige Schlussfolgerung gezogen undauch das politische Umfeld der Parteien in denBlick genommen. Krumbholz untersucht daherauch die Rechnungslegung der Abgeordneten,der Parlamentsfraktionen, der parteinahen Stif-tungen und der Jugendorganisationen. Er stuftdie Rechnungslegungsvorschriften des Umfeldesder Parteien als sehr mangelhaft und zersplittertein und verlangt eine Vereinheitlichung undKlarstellung.

Das Buch von Krumbholz gibt viele hilfreicheAnregungen für Wissenschaft und Praxis. Fürden Gesetzgeber ist es eine unverzichtbare Lek-türe und große Hilfestellung für eine erneuteÜberarbeitung der Rechnungslegungsvorschrif-ten des Parteiengesetzes.

Dr. Heike Merten

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Rezensionen MIP 2011 17. Jhrg.

Hans Meyer: Die Zukunft des Bundestags-wahlrechts. Zwischen Unverstand, obiter dic-ta, Interessenkalkül und Verfassungsverstoß,Nomos, Baden-Baden 2009, 114 S., ISBN 978-3-832-96144-2, 32 €.

Allein der Untertitel der kurzen Monographievon Meyer lässt auf erfrischend-kritische und an-regende Lektüre zu einer umstrittenen Thematikdes Verfassungsrechts hoffen – auch angesichtsfrüherer pointierter Beiträge Meyers zu Reform-problemen im Verfassungsrecht, zuletzt der Fö-deralismusreform. Der hoffende Leser wird nichtenttäuscht; der polemisch-kräftige Schreibstildes Autors mag allerdings auch den einen oderanderen stören – der scharfsinnigen Fokussie-rung des Themas tut dies keinen Abbruch.

In seiner Entscheidung zur Verfassungswidrig-keit des negativen Stimmgewichts (BVerfGE121, 266) hatte das Bundesverfassungsgerichtden durch §§ 7 III; 6 IV, V 2 BWahlG ausgelös-ten Effekt beanstandet, dass durch eine Reduzie-rung von Zweitstimmen für eine Landesliste ineinem bestimmten Bundesland in diesem LandÜberhangmandate entstehen können, die letzt-lich nicht ausgeglichen werden. Dieser Effekt istderzeit systemimmanent. Die Bundestagswahlwurde noch nach diesen Regeln durchgeführt.Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, das Wahl-recht bis Juni 2011 anzupassen.

Meyer beleuchtet den aktuellen Schwebezustandim Licht der Entwicklung des Bundestagswahl-rechts (S. 36 ff., 66 ff.). Zutreffender Ansatz-punkt ist die Eliminierung des negativen Stimm-gewichts (S. 68), die mit sogenannten „internenÜberhangmandaten“, also Verschiebungen zwi-schen den Landeslisten ein und derselben Partei,zusammenhängen. Sie werden bei der Oberver-teilung gemäß §§ 7 III 2, 6 IV, V BWahlG nichtabgezogen, so dass die Möglichkeit besteht, dassmit sinkendem Gesamtanteil der Zweitstimmendie Überhangmandate zunehmen. Zutreffendgeht Meyer davon aus, dass es zwei Alternativengibt: die von ihm sowie in konzeptionellen Vor-arbeiten von Bündnis 90/Die Grünen entworfeneEliminierung der Überhangmandate oder dieAufspaltung der Landeslisten ohne länderüber-greifende Oberverteilung. Der zweite Weg ist

die von der CDU/CSU favorisierte Lösung alsstrukturell von Überhangmandaten begünstigteFraktion.

Letzteres Modell, das zur Bundestagswahl 1953angewandt wurde, hätte Schwächen: die Auf-spaltung des Wahlvolks entgegen Art. 38 GG(„Vertreter des ganzen Volkes“) und des unitari-schen Charakters des Bundestages und die not-wendige Zuweisung von Sitzkontingenten an dieLänder ohne Rücksicht auf die jeweilige Wahl-beteiligung und absolute Stimmenzahl (S. 70 f.).Problematisch ist ferner die Ausgestaltung derSperrklausel – ohne bundesweit verbundene Lis-ten fehlt ihr ein rechtlicher Bezugspunkt; reineLandessperrklauseln verfehlen den Zweck derVerhinderung einer Zersplitterung des Parla-ments. Taktische Effekte liefen Gefahr, Wahler-gebnisse zu verzerren: Die Länder würden zu„Laboren“ des Stimmensplittings: Erststimmen-wähler der CDU in Baden-Württemberg könntender FDP ihre nutzlosen Zweitstimmen „schen-ken“ und so das Gesamtergebnis verzerren(„doppeltes Stimmgewicht“, S. 71 f., 76 ff.).Meyer ist zu folgen, wenn er bei den Überhang-mandaten als Grundproblem der Wahlrechts-gleichheit ansetzt (S. 75). Angesichts der Flexi-bilisierung und Ausweitung des Parteienspek-trums auf nunmehr fünf, nicht scharf zwischen„klein“ und „groß“ zu unterscheidenden Partei-en, erscheint das Sondervotum in BVerfGE 95,335, 367 (375 f.) in neuem Licht (S. 78 f.). Mitdem Vorschlag der CDU/CSU wäre zu erwarten,dass externe Überhangmandate entstünden – je-des Bundesland, in dem der Zweitstimmenanteileiner in den Wahlkreisen verankerten Partei ab-sinkt, würde unausgeglichene Überhangmandateprovozieren (S. 82 f.).

Meyers Lösung (S. 95) ist angesichts vorhande-ner Vorarbeiten zur Behebung des negativenStimmgewichts und eine Ausgleichsmandatsre-gelung (kritisch S. 90 ff.) nicht zwingend: er ar-gumentiert für ein Einstimmenwahlsystem mitbeachtlichen Argumenten. Der zusammenfassen-de Entwurf der Reform des BWahlG (S. 112 ff.)bündelt diese Gedankenführung und bereichertohne Zweifel die verfassungspolitische Diskussi-on. Der Entwurf strafft die redaktionell fragli-chen §§ 6, 7 BWahlG auch sprachlich (S. 113).

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MIP 2011 17. Jhrg. Rezensionen

Gleichwohl: der Meyersche Vorschlag ist weit-reichend, und es stellt sich die Frage, ob nichtein schonenderer Eingriff eine angemessene Re-form des Wahlrechts herbeiführen könnte, näm-lich durch die Beseitigung des Zusammenwir-kens von §§ 6 V, 7 III BWahlG. Der EntwurfMeyers hingegen schlägt sogar etwa in § 8 vor,Wahlkreissitze unbesetzt zu lassen. Vorzugswür-dig wäre allerdings, es bei einem „chirurgischenEingriff“ zu belassen und sich auf die Einbezie-hung landesinterner Überhangmandate in denGesamtlistenausgleich entsprechend Pukelsheimund anderen zu konzentrieren.

Marcus Hahn-Lorber

Jürgen Mittag/ Janosch Steuwer: PolitischeParteien in der EU, UTB-Verlag, Stuttgart2010, 314 S., ISBN 978-3-8252-3305-1, 18,90 €.

Die Autoren haben es sich zur Aufgabe gemacht,die in den europäischen Integrationsprozess im-mer stärker eingebunden politischen Parteien nä-her zu analysieren. Dabei hatten auch sie sichzunächst dem Problem zu stellen, was genau un-ter den politischen Parteien in der EU zu verste-hen ist. Seitens der wissenschaftlichen For-schung werden darunter sehr unterschiedlicheSachverhalte subsumiert. Die Autoren haben da-her folgerichtig zunächst den Forschungsgegen-stand klargestellt und für ihre Untersuchung zwi-schen drei verschiedenen Akteurskreisen undHandlungsebenen unterschieden: politischenParteien auf europäischer Ebene, Fraktionen desEuropäischen Parlamentes und europäisiertennationalen Parteien. Diese drei Dimensionen be-handeln die Autoren zunächst weitgehend ge-trennt voneinander. Die Besonderheiten der je-weiligen Akteure werden sowohl in empirischerals auch in analytischer Hinsicht herausgearbei-tet. Im Zentrum der Arbeit stehen aber eindeutigdie europäischen Parteien, was sich auch darinwiederspiegelt, dass sich vier der neun Kapitelallein diesen Akteuren widmen.

Im ersten Kapitel des Buches wird ein erster Zu-gang eröffnet, der alle drei Dimensionen in denGrundzügen anspricht. Im zweiten Kapitel wirdein Forschungsüberblick zum Thema gegeben.

In den folgenden vier Kapiteln werden dann dieeuropäischen politischen Parteien aus unter-schiedlichen Perspektiven eingehend untersucht.So wird zunächst die historische Entwicklungnachgezeichnet, danach die Struktur und demfolgend die Funktionen der europäischen Partei-en dargestellt. Im sechsten Kapitel folgt danneine Detailbetrachtung der einzelnen europäi-schen Parteien. Kapitel sieben wendet sich derzweiten Dimension zu. Die Fraktionen des Euro-päischen Parlamentes stehen hier im Focus derBetrachtung. Allgemeine Strukturen, Arbeits-weisen aber vor allem auch die Willensbildungs-prozesse der Fraktionen werden untersucht. Dasachte Kapitel des Buches wendet sich der drittenDimension der Parteiaktivitäten zu, der Europäi-sierung der nationalen Parteien. Am Schluss ei-nes Kapitels gibt es Hinweise zur weiterführen-den Literatur. Das Buch endet mit einem Fazit,in dem die drei Dimensionen zusammengeführtwerden und Perspektiven für weiterführendeAnalysen eröffnet werden.

Das Buch gibt einen guten Überblick über denbreit gefächerten Themenbereich der „politi-schen Parteien in der EU“. Sehr gelungen ist da-bei die Aufgliederung in die drei Dimensionen,die das komplexe Themenfeld so sehr übersicht-lich hält.

Die Autoren räumen im abschließenden Fazitein, dass eindeutige und messbare Kriterien zurBeschreibung eines europäischen Parteiensys-tems nicht ausgemacht werden konnten. Nachder Untersuchung der drei Dimensionen konntenaber zumindestens zentrale Merkmale konturiertwerden, die prägende Wirkung für die Interakti-onsstrukturen der Parteien in der EU entfalten.Kennzeichnend für das Beziehungsgeflecht sei-en, neben den klassischen, im europäischenRaum aber nur begrenzt wirksamen, ideolo-gisch-programmatischen Differenzierungsme-chanismen, die organisatorische Pluralität derbeteiligten Akteure und die spezifischen Bedin-gungen eines nicht hierarchisch strukturiertenMehrebenensystems.

Dr. Heike Merten

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Philipp Neuhaus: Parteifusionen und -abspal-tungen, Studien zur Rechtswissenschaft,Band 254, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2010,188 S., ISBN 978-3-8300-5287-6, 78 €.

Mit seiner Arbeit greift Philipp Neuhaus einThema auf, das – wiewohl praxisrelevant – inder Rechtswissenschaft bislang eher stiefmütter-lich behandelt wurde. In der Vergangenheit gabes durchaus Vereinigungen und auch Abspaltun-gen politischer Parteien. Aber erst mit dem Ver-einigungsprozess von Linkspartei und WASGrichtete sich das Augenmerk auf die sich bei ei-ner Fusion politischer Parteien stellendenRechtsfragen. Im Zuge der kritischen Aufmerk-samkeit, welche die Kandidatur von Bewerbernder Linkspartei und der WASG auf einer ge-meinsamen Liste bei der Bundestagswahl 2005erfuhr, standen auch die Fusionsbestrebungenbeider Parteien unter skeptischer Beobachtung.Aus Anlass der bis dahin als ungeklärt zu be-zeichnenden rechtlichen Rahmenbedingungeneiner Parteifusion beauftragte die LinksparteiProf. Dr. Martin Morlok mit der Erstellung einesRechtsgutachtens zu den Möglichkeiten und Fol-gen der Fusion beider Parteien. Die so durch dieFusion von Linkspartei und WASG angestoßenerechtswissenschaftliche Diskussion greift Neu-haus auf und erweitert in seiner Dissertation denBlick auf das organisatorische Pendant: die Ab-spaltung.

Nach einer kurzen Einführung, in der Anlass undGang der Untersuchung dargelegt werden, be-fasst sich Neuhaus im zweiten und deutlich um-fangreichsten Teil seiner Dissertation mit derParteifusion. Dabei setzt er sich auch intensivmit dem Rechtsgutachten Morloks auseinander,geht in einigen Punkten d'accord, kommt mitun-ter zu abweichenden Ergebnissen, greift aberauch mit einzelnen Fragestellungen über die dortbehandelten rechtlichen Probleme einer Parteifu-sion hinaus.

Grundsätzlich sieht Neuhaus die sog. Fusions-freiheit als das Recht der Parteien zur Ver-schmelzung mit anderen Parteien in der durchArt. 21 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Grün-dungsfreiheit verankert. Flankenschutz erhält dieFusionsfreiheit dabei durch die Chancengleich-heit politischer Parteien, die es gebietet, dass

eine Partei infolge der Verschmelzung nicht be-nachteiligt, auf der anderen Seite aber auch nichtbevorteilt wird.

Im Kern wird vertieft den Möglichkeiten undrechtlichen Rahmenbedingungen der Fusiondurch Einzelrechtsübertragung nach den Vor-schriften des BGB und der Verschmelzung nachUmwandlungsrecht nachgegangen. Damit be-schränkt sich Neuhaus auf die Fusionsformen,die bei der Verschmelzung von Linkspartei undWASG zur Diskussion standen. Der von Neu-haus angesprochene weitere, grundsätzlich gang-bare Weg einer Fusion, nämlich die Eingliede-rung als Zweigverein, wird lediglich am Beispielder Fusion der FDP im Zuge der Wiedervereini-gung aufgezeigt. Auf die spannende Frage, unterwelchen Voraussetzungen – zivil- und parteien-rechtlich – eine solche Fusion vollzogen werdenkann, bleibt Neuhaus eine Antwort bedauerli-cherweise schuldig. Dieses Thema hätte durch-aus eine vertiefte Erörterung verdient.

Die als praktikabel in Betracht gezogenen Fusi-onsformen – nämlich die Einzelrechtsübertra-gung und die Verschmelzung nach Umwand-lungsrecht – werden von Neuhaus im Detail nä-her beleuchtet und in ihren jeweiligen Voraus-setzungen und verfahrensrechtlichen Anforde-rungen instruktiv entfaltet. Nicht gänzlich über-zeugend gerät dabei die getrennte Erörterung derbeiden Fusionsmöglichkeiten zunächst für dieals rechtfähige und erst im Anschluss daran fürdie als nichtrechtsfähige Vereine organisiertenParteien. Für die Verschmelzung nach Umwand-lungsrecht nimmt Neuhaus ergänzend ohnehinnur zur Frage der analogen Anwendbarkeit desUmwandlungsgesetzes auf nichtrechtsfähigeVereine Stellung. Die rechtlichen Rahmenbedin-gungen einer Fusion durch Einzelrechtsübertra-gung nach den Vorschriften des BGB sind fürrechtsfähige und nichtrechtsfähige Vereine weit-gehend dieselben. Die wenigen Abweichungenoder zusätzlichen Erwägungen hätten daher fürden auf einen Gesamtüberblick hoffenden Leserbesser im jeweiligen Diskussionszusammenhangaufgearbeitet werden können.

Am Ende des Abschnitts zu den rechtlichenRahmenbedingungen der Fusion richtet Neuhausden Blick auf die problematische Frage der

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Übertragbarkeit des sog. „politischen Vermö-gens“ einer Partei. Gemeint sind die in Abhän-gigkeit von den bisherigen Wahlerfolgen erwor-benen Positionen, mit denen rechtliche und tat-sächliche Vorteile verbunden sind. Zu denken isthier etwa an den Ist-Bestand des sog. Wähler-stimmenkontos, der mitbestimmend für die Be-rechnung des staatlichen Parteienfinanzierungs-anspruchs ist, aber auch an die Erleichterungenbei der Einreichung von Wahlvorschlägen, diebisher erfolgreichen Parteien zugutekommen,oder die Reihung auf den Stimmzetteln bei künf-tigen Wahlen. Zutreffend folgert Neuhaus ausder verfassungsrechtlichen Gewährleistung derFusionsfreiheit auch die grundsätzliche Nachfol-gefähigkeit dieses politischen Vermögens der fu-sionierenden Parteien. Es ist wohl nur einersprachlichen Ungenauigkeit geschuldet, wennNeuhaus diesen Abschnitt mit der – uneinge-schränkten – Feststellung schließt, die verfas-sungsrechtliche Fusionsfreiheit sei dergestalt zuverstehen, dass auch ohne einfachgesetzlicheRechtsgrundlage das „politische Vermögen“ derübertragenden Partei auf die übernehmende Par-tei übergeht. In dem folgenden Abschnitt, dersich mit den Folgen der Fusion befasst, unter-sucht Neuhaus unter anderem die wahl- und par-teienfinanzierungsrechtlichen Auswirkungen ei-ner Fusion im Detail und plädiert dort – zuRecht – für einen Übergang des politischen Ver-mögens lediglich in dem Umfang wie die fusio-nierte Partei dadurch keine im Verhältnis zu an-deren Parteien chancengleichheitswidrigen Vor-teile erlangt.

Auch im Übrigen finden sich hin und wiederkleinere Inkonsistenzen, die das Lesevergnügentrüben. So benennt Neuhaus noch zu Beginn desAbschnitts zu den rechtlichen Rahmenbedingun-gen zum einen die innerparteiliche Demokratie(Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) und zum anderen diekollidierenden rechtlich geschützten InteressenDritter, insbesondere der (Alt-)Gläubiger derParteien, als Schranken der verfassungsrechtlichgewährleisteten Fusionsfreiheit. Zum Ende desAbschnitts greift Neuhaus das Thema erneut auf,benennt hier aber lediglich die innerparteilicheDemokratie und – zunächst überraschend – dieWahlrechtsgrundsätze als Grenzen.

Hier geht Neuhaus dann dem interessanten Pro-blem sog. Scheinfusionen nach, die lediglichdem Ziel der Umgehung der wahlrechtlichenSperrklausel dienen. Dieses Problem löst Neu-haus unter Rückgriff auf § 2 Abs. 1 PartG, in-dem er den durch eine Scheinfusion entstande-nen Parteien die Parteieigenschaft nicht zuer-kennt: ihnen fehle es an der Bereitschaft, „dau-ernd oder für längere Zeit“ auf die politischeWillensbildung Einfluss zu nehmen und zudementhalte das Kriterium der Ernsthaftigkeit dieserZielsetzung eine Missbrauchsgrenze, die in die-sem Falle überschritten sei.

Insbesondere die Dauerhaftigkeit des Zusam-menschlusses spielte aber bereits im Rahmen derbegrifflichen Präzisierung des Untersuchungsge-genstandes zu Beginn der Arbeit eine Rolle: ver-standen im Sinne einer Negativabgrenzung vonsonstigen Parteienkooperationen, die von vorn-herein auf eine zeitlich begrenzte Zusammenar-beit angelegt sind. Namentlich zur Abgrenzungvon Listenverbindungen, Wahlabsprachen und-allianzen, Fraktionsgemeinschaften und Koali-tionen – nicht aber Scheinfusionen – wird geradedie „Dauerhaftigkeit“ von Neuhaus als zentralesBegriffsmerkmal einer Parteifusion hervorgeho-ben, allerdings ohne diese Begriffsbestimmungan dieser Stelle rechtlich zu untermauern. Bereitshier hätte der Rekurs auf den Parteibegriff des§ 2 PartG fruchtbar gemacht werden können.

Im dritten Teil seiner Arbeit wendet sich Neu-haus auf knapp 19 Seiten dem Thema der Partei-abspaltungen zu, wovon sieben Seiten einer his-torischen Bestandsaufnahme der Parteiabspal-tungen in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland gewidmet sind. Dass die Auseinan-dersetzung mit den rechtlichen Voraussetzungenund Folgen von Parteiabspaltungen nicht mehrRaum beansprucht, mag auf den ersten Blicküberraschen, erklärt sich aber durch die vonNeuhaus vorgenommene Begriffsbestimmung.Er versteht unter Parteiabspaltung lediglich die„Neugründung einer politischen Partei durchmehrere natürliche Personen, die aus einer be-reits bestehenden Partei ausgeschieden sind, wo-bei die ursprüngliche Partei bestehen bleibt“. Dievon Neuhaus als „Parteispaltung“ bezeichneteAuflösung der Ursprungspartei bei gleichzeiti-

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gem Entstehen neuer Gruppierungen mit Partei-status war damit per definitionem nicht Untersu-chungsgegenstand. Eine umwandlungsrechtlicheAbspaltung kommt in der vorgezeichneten Kon-stellation schon aus tatsächlichen Gründen nichtin Betracht und bedurfte deshalb keiner Erörte-rung. Keine Antwort gibt Neuhaus auf die – al-lerdings von ihm auch nicht aufgeworfene – Fra-ge, wie in diesem Zusammenhang der nach demParteiengesetz mögliche Ausschluss eines kom-pletten Gebietsverbandes aus einer Partei einzu-ordnen ist und ob – als actus contrarius – dieMöglichkeit des Austritts eines Gebietsverban-des etwa durch Beschluss besteht. Unter welchenVoraussetzungen und mit welchen Folgen sichParteien von ihren Untergliederungen oder Un-tergliederungen von ihren Parteien trennen kön-nen, ist ein unerforschtes Feld, dessen Erschlie-ßung ein lohnendes Unterfangen gewesen wäre.Die knappe Darstellung der Voraussetzungenund Folgen einer Parteigründung, auf die sichNeuhaus beschränkt, ist demgegenüber wenig er-hellend.

Insgesamt kann das Buch die Erwartungen, diesein Titel weckt, nicht zur Gänze erfüllen. Phil-ipp Neuhaus führt mit der vorgelegten Disserta-tion zwar einige und durchaus auch wesentlicheRechtsfragen, die sich im Zusammenhang mitParteifusionen und -abspaltungen stellen, durch-dachten und praktikablen Lösungen zu. DieHoffnung auf eine vollständige und umfassendeAufarbeitung aller rechtlichen Möglichkeitenvon Parteifusionen und -abspaltungen wird aller-dings enttäuscht.

Dr. Alexandra Bäcker

Dieter Nohlen/ Philip Stöver (eds.): Electionsin Europe. A Data Handbook, Nomos, Baden-Baden 2010, 2070 S., ISBN 978-3-832-95609-7,169 €.

Das von Dieter Nohlen und Philip Stöver her-ausgegebene englischsprachige Sammelwerk istdas Ergebnis eines durch die DFG gefördertenForschungsprojekts zur systematischen Zusam-menstellung der Ergebnisse von Parlamentswah-len in Europa. Es bildet den Abschluss einer

vierteiligen Reihe von bisher bei Oxford Univer-sity Press erschienenen Bänden von Nohlen u.a.: Elections in Africa, 1999; Elections in Asiaand the Pacific, 2001; Elections in the Americas,2005. Es knüpft auch insgesamt an eine jahr-zehntelange empirische und verfassungsrechtli-che Forschungsarbeit an der Universität Heidel-berg zum Themenfeld Wahlen und Wahlsystemean. Die Zusammenstellung der Wahldaten decktalle im engeren Sinne europäischen, souveränenStaaten einschließlich Russlands ab. Einleitenderläutert Dieter Nohlen Wahlen und Wahlsyste-me sowie ihre grundlegende Bedeutung für dieLegitimation von Herrschaft und für die Ausge-staltung demokratischer Verfassungen (S. 1 -68).Fruchtbar für die Politik- und Rechtswissen-schaft ist dabei der schon in der Einleitung doku-mentierte, breite vergleichende Ansatz. Nohlenskizziert die Funktion, die Praxis, aber auch denMissbrauch von Wahlen anhand weltweit recher-chierter Beispiele. Für detailliertere empirischeAussagen, auch als verstärkende Grundlage, istauf die drei Vorgängerbände zu verweisen. Un-verzichtbar für die juristische Arbeit am Wahl-recht ist die durch die Politikwissenschaft er-schlossene Kenntnis von Wahlsystemen und ih-rer technischen Besonderheiten (S. 31, 55 ff.).Das Einleitungskapitel erinnert daran, dass nor-mativ-prinzipielle Aussagen wie das Gleich-heitsgebot des Wahlrechts für sich genommenfolgenlos sind. Sie entfalten Leben erst durchihre Beziehung zum Wahlsystem und zu seinerhistorischen Praxis. Erst die Konturen einesWahlsystems ermöglichen es, das Wahlsysteman externen Prämissen – Erwartungen an eineWahl unter dem Gesichtspunkt ihrer Legitimati-onsfunktion – zu messen. Die in der Einleitungniedergelegten empirischen Erkenntnisse liefern,einmal einer normativen Bewertung unterzogen,somit auch mittelbar rechtsvergleichendes Mate-rial. Die gleichwohl lange Einleitung rundet diereine Datensammlung des Hauptteils zweckmä-ßig und gewinnbringend ab.

Die Datensammlung wird durch beide Herausge-ber einleitend erläutert (S. 69 ff.). Sie beschränktsich auf die nationale Ebene, berücksichtigt alsonicht Regional- und Kommunalwahlen. Wozweite Parlamentskammern vorhanden sind,

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werden sie mitbehandelt; die Einführung klassi-fiziert sie (S. 74 ff.). Gegebenenfalls werdenWahlen zu direkt gewählten Staatsoberhäupternund Volksentscheiden (S. 108 f., für die SchweizS. 1901 ff.) mit aufgenommen. Sinnvollerweiseschickt die Einführung vergleichendes Datenma-terial, etwa zur Verbreiterung und Inklusion derWählerschaft (S. 79 f.) und zur Proportionalitätdes Wahlsystems (S. 98 ff.), vorweg. Das Ge-wicht liegt auf der Datensystematisierung.

Die Länderberichte beginnen mit Albanien aufS. 125 ff. Den insgesamt 45 Länderstatistikenwerden jeweils Berichte über Praxis und Rechtder Wahlen und Abstimmungen auf nationalerEbene vorangestellt, was die Vorstellungskraftüber das jeweilige Wahlsystem erhöht und dieQualität dieses Nachschlagewerks ausmacht.Hier werden auch mögliche Zweifel an demokra-tischen Standards der Wahlen mit Quellen offen-gelegt; Beispiel ist Weißrussland (S. 240 ff.).Aufschlussreich für die Kontinuität der jeweili-gen politischen Systeme ist auch, dass die Häu-figkeit der Wahlteilnahme für die einzelnen Par-teien aufgeschlüsselt wird. Daraus ergibt sichetwa, dass die SPD zwischen 1871 und 2005 an38 Wahlen teilgenommen hat (S. 767). Ähnli-che, weniger offensichtliche Daten werden soauch für weniger durchdrungene politische Sys-teme offen gelegt.

Der Nachtrag zu Parlamentswahlen im Jahr 2009(S. 2047 ff.) schließt dieses umfassende Werkmit einem aktuellen Stand. Nohlen und Stöverhaben umfassend die Praxis und den Verlauf dereuropäischen Wahlen von der französischen Re-volution bis 2009 aufgearbeitet, der für die Dis-ziplinen Recht, Politikwissenschaft und Ge-schichte von höchstem Interesse ist.

Marcus Hahn-Lorber

Nadja Paul: Die Rundfunkbeteiligungen poli-tischer Parteien - Eine Untersuchung aus ver-fassungsrechtlicher Sicht, Nomos, Baden-Ba-den 2010, 173 S., ISBN 383-2-95453-8, 44 €.

„Die Rundfunkbeteiligungen politischer Partei-en. Eine Untersuchung aus verfassungsrechtli-cher Sicht“ von Nadja Paul befaßt sich mit dem

dauerhaft aktuellen Problem der Verschränkungvon politischer und publizistischer Macht. DiePointe des konkreten Themas allerdings ist dieZusammenfassung politischen und publizisti-schen Einflusses bei einer politischen Partei, ei-ner privaten Einrichtung also. Anlaß der Unter-suchung war offenbar die Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts vom März 2008 zumHessischen Privatrundfunkgesetz (BVerfGE121, 30 ff.). Die Untersuchung von Paul will denverfassungsrechtlichen Rahmen für die Regelungvon Rundfunkbeteiligungen politischer Parteienabstecken, durchaus in kritischer Absicht gegen-über der genannten Entscheidung des BVerfG.Eine Besonderheit der Arbeit ist die Einbezie-hung von Erkenntnissen aus weiteren wissen-schaftlichen Disziplinen, so der Geschichtswis-senschaft und den Medienwissenschaften. Leiderwird – wie die Autorin auch zu Beginn des Wer-kes ankündigt – das wichtige Problem der Ge-setzgebungszuständigkeit für die Rundfunkbetei-ligungen politischer Parteien (Landeskompetenz,falls Rundfunkrecht betroffen, Bundeskompe-tenz, falls Parteienrecht betroffen) nicht behan-delt.

Nach einem kurzen Abschnitt, der sich Begriffs-bestimmungen widmet, geht die Untersuchungauf die empirischen und normativen Rahmenbe-dingungen des zentralen Problems der Rund-funkbeteiligungen politischer Parteien ein. Zu-nächst beschreibt Paul in löblicher Knappheitdie Rolle der Massenmedien bei der Formierungvon öffentlichen Meinungen. Wesentliche Er-kenntnis ist, daß es nicht in relevantem Umfangzu unmittelbarem Kontakt zwischen dem Souve-rän „Volk“ und seinen Repräsentanten kommt:Die Tätigkeit der Massenmedien erst erzeugtdiesen Kontakt; sie stellt aber zugleich einen Fil-ter dar, der einzelnes hervorhebt, Vieles verein-facht und damit von den Akteuren in den Mas-senmedien für unwesentlich Gehaltenes unter-drückt und insgesamt ein eigenes Bild erzeugt.Medienberichterstattung werde so zu einem Er-klärungsfaktor für politisches und besondersauch Wahlverhalten. Der Paul‘schen Schilde-rung wäre noch hinzuzufügen die Problematikmedialer Eigeninteressen, die nicht immer dermedieninternen Logik (Orientierung an Ein-

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schaltquoten, Zwänge sogenannter „Formate“etc.) entspringen, sondern auch medienunabhän-gig sein können, wie politische oder externewirtschaftliche Interessen. Hier liegt auch derSchnittpunkt zu der Frage der Medienbeteiligungpolitischer Parteien, die als zentrale politischeAkteure starke medienexterne Interessen verfol-gen.

Es schließt sich eine historische Einordnung undein Bestandsaufnahme der Medienbeteiligungender SPD an – vor allem diese Partei besitzt innennenswertem Umfang Medienunternehmen.Wichtige Ergebnisse dieses Abschnitts sind dieEntwicklung von Rundfunkbeteiligungen derPartei aus den traditionellen Verlagsbeteiligun-gen heraus, die sich als Folge der allgemeinenAusweitung von verlegerischer Tätigkeit in denRundfunk ergeben hat und die meist geringenAnteile an Rundfunksendern, welche die SPDüber ihre Beteiligungsgesellschaften hält. Aller-dings bestehen punktuell große Minderheitsbe-teiligungen, so vor allem in Nordrhein-Westfa-len.

Nachdem so der Rahmen des Faktischen abge-steckt wurde, geht die Untersuchung auf die ein-fachgesetzlichen Bestimmungen zu Rundfunkbe-teiligungen politischer Parteien ein. Zunächstwird das Parteiengesetz in den Mittelpunkt ge-rückt, das in dieser Hinsicht vor allem Offenle-gungspflichten vorsieht. Allerdings gibt es – dar-auf macht Paul aufmerksam – Lücken, die beimehrfach gestuften Beteiligungen entstehen kön-nen: Aus § 24 Abs. 7 Nr. 1 S. 1 PartG, §§ 271Abs. 1; 285 Nr. 11 HGB iVm §§ 16 Abs. 2 undAbs. 4 AktG ergibt sich, dass mehrfach gestufteBeteiligungen nicht im Rechenschaftsbericht derPartei auftauchen müssen, falls das Unterneh-men mit unmittelbarer Parteibeteiligung auf dieweiteren zwischengeschalteten Unternehmenkeinen beherrschenden Einfluß hat. Dieser istnach der gesetzlichen Vermutung aus § 17 Abs.2 AktG bei Mehrheitsbeteiligungen gegeben.Wird die Kette der Mehrheitsbeteiligungen ein-mal durchbrochen, so tauchen die „dahinterlie-genden“ Beteiligungen regelmäßig nicht im Re-chenschaftsbericht der Partei auf. Dies habe dazugeführt, daß im Rechenschaftsbericht der SPD

von 2006 ihre Rundfunkbeteiligungen nicht auf-tauchten.

In einem nächsten Schritt werden die landes-rundfunkrechtlichen Bestimmungen beschrieben.Wesentliche Gemeinsamkeit ist, bei wichtigenUnterschieden im Detail, das Verbot des unmit-telbaren Betreibens von Rundfunksendern durchParteien oder durch von Parteien abhängige Ge-sellschaften. Teilweise sind darüberhinaus alledirekten Beteiligungen von Parteien verboten.Als gemeinsamer Nenner aller verschärfendenNormen, die faktisch nur die SPD betreffen,wird die politische Urheberschaft von CDU,CSU und FDP herausgearbeitet.

Dann kommt die Untersuchung zu ihrem zentra-len Untersuchungsgegenstand, der Entscheidungdes BVerfG zum Hessischen Privatrundfunkge-setz. Diese wird zunächst dargestellt, dann wer-den Fragen formuliert, welche die Entscheidungoffen gelassen oder in verschärfter Form aufge-worfen hat. Zwei Komplexe macht Paul dabeiaus: Die Sonderdogmatik zur Rundfunkfreiheitals einer dienenden Freiheit, die das Gericht inder Entscheidung nominell aufrechterhalte, inder Sache aber kaum noch zur Geltung gelangenlasse und die Rechtsposition der politischen Par-teien, welche einerseits Rundfunkfreiheit genös-sen, für die andererseits aber zugleich wegen ih-rer Staatsnähe aber Beschränkungen ihrer Betäti-gung im Bereich des Rundfunks zulässig seien.

Im Folgenden konzentriert sich die Arbeit aufeine Erörterung dieser Fragen. Zunächst wird dieRechtsprechung und Dogmatik des Bundesver-fassungsgerichts zur Rundfunkfreiheit in ihrerhistorischen Entwicklung und einschließlich derKritik in der Literatur dargestellt. Anschließendbegründet Paul die auch auch von ihr vertreteneAuffassung einer „herkömmlich“ subjektiv-rechtlichen Auffassung der Rundfunkfreiheit.Dieser Ansicht mag man generell zustimmen, oballerdings die Rundfunkfreiheit ohne weiteresein originäres Recht auf Rundfunkbetrieb ver-mittelt, ist wohl noch nicht abschließend geklärt.Auch mag man der grundsätzlichen Auffassungdes Gerichts zuneigen, die Verfassung habe mit

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der Rundfunkfreiheit nicht lediglich das Glückder Rundfunktreibenden im Sinne1.

Des weiteren kommt die Arbeit in einer ausführ-lichen Analyse zu dem Ergebnis, daß politischeParteien grundrechtsberechtigt seien und diesauch für die Rundfunkfreiheit gelte. Die Diskus-sion gilt dann der Frage, in welcher Art und mitwelchen Rechtfertigungen die Rundfunkfreiheitfür die Parteien beschränkt werden könne. Paulwendet sich in diesem Zusammenhang gegen dieHeranziehung des Topos' der Staatsfreiheit desRundfunks und dies mit beachtlichen Argumen-ten: Zwar gebe es eine faktische personelle Ver-flechtung von Staat und Parteien, jedoch geheinnerhalb der Parteien der Willensbildungspro-zeß von der Parteibasis aus, wie es das Grundge-setz in Art. 21 Abs. 1 S. 3 vorschreibt. Dies spre-che gegen ein Zurechnung der Parteien zumstaatlichen Bereich, sondern – wie das Bundes-verfassungsgericht auch stets betont – für eineVerortung im gesellschaftlichen Bereich. Aucherteilt Paul Vorstellungen, der Rundfunk könnein politischen Dingen überparteilich sein, als un-realistisch eine Absage. Dem ist insgesamt zuzu-stimmen.

Gemessen an der Rundfunkfreiheit sei eine kapi-tal- oder stimmrechtsmäßige Begrenzung derRundfunkbeteiligung politischer Parteien unver-hältnismäßig. Dies ergebe sich aus der Existenzmilderer Mittel wie Offenlegungsvorschriften.Zudem stellten derartige Regelungen einen Ein-griff in die Chancengleichheit der Parteien dar.Paul begründet ihre Ansicht sorgfältig, aller-dings bleibt der Einwand teilweise unausge-räumt, aufgrund des besonderen Einflusses desRundfunks auf die politische Willensbildungkomme es auch auf ein gewisses Maß an Bin-nenpluralität innerhalb der einzelnen Sender an.Weiterhin mag man die gleiche Wirksamkeitvon Offenlegungsvorschriften im Vergleich zuBeteiligungsbeschränkungen bezweifeln.

Insgesamt stellt „Rundfunkbeteiligungen politi-scher Parteien“ eine gründlich gearbeitete, gut

1 Vgl. Lange/ Roßner: Freiheit – Gleichheit – Fernseh-duell. Zum Teilnahmeanspruch politischer Parteien anFernsehduellen, in: MIP 2003, S. 32 ff. für den Be-reich der Gleichbehandlung politischer Parteien.

lesbare und lesenswerte Abhandlung über einwichtiges Einzelproblem des Parteien- wie desRundfunkrechts dar.

Dr. Sebastian Roßner, M.A.

Helmar Schöne: Alltag im Parlament – Parla-mentskultur in Theorie und Empirie, Nomos,Baden-Baden 2010, 420 S., ISBN 978-3-8329-5306-5 , 59 €.

Helmar Schöne hat sich mit „Alltag im Parla-ment“ an ein Projekt herangewagt, das als unge-wöhnlich gelten darf: Statt die in den Politikwis-senschaften dominierende Makroperspektive beider Analyse von politischen Institutionen einzu-nehmen, begibt sich Schöne in die Rolle des teil-nehmenden Beobachters, der sich der alltägli-chen Abläufe und informellen Regeln des parla-mentarischen Geschehens annimmt. Der Verfas-ser nimmt also eine Mikroanalyse vor, die vomKonzept der Politischen Kultur theoretisch ange-leitet wird. Da Schöne die Erforschung der Poli-tischen Kultur in einem umfassenden Sinne be-treiben will – also auch unreflektierte Hand-lungs- und Denkmuster, Sprache, Symbole undRituale einbeziehen möchte – wird er zum Eth-nologen, der den bisher schlecht erforschtenStamm der Parlamentarier, besonders seine All-tagspraxis untersuchen möchte. Für ein solchesVorhaben muss der Forscher notwendig am Le-ben des Stammes teilhaben. Diese Möglichkeithatte Schöne im Rahmen eines Projekts derDeutschen Forschungsgemeinschaft, währenddessen er Zugang zu den üblicherweise hinterverschlossenen Türen tagenden Gremien desPlenums und der Fraktionen des Deutschen Bun-destages sowie des Sächsischen Landtages hatte.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Das ers-te Kapitel beschäftigt sich mit dem Konzept derPolitischen Kultur sowie den Erträgen der Parla-mentarismusforschung zum Thema der Parla-mentarischen Kultur und versucht, ein Modellvon Parlamentskultur zu erstellen. Diese konsti-tuiere sich ebenso sehr aus den Vorstellungenund dem Alltagswissen der parlamentarischenAkteure wie auch aus ihren alltäglichen Prakti-ken und Verhaltensweisen. Die Wirklichkeit der

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Parlamentsarbeit werde also aus Wissensbestän-den und Einstellungen ebenso wie aus Handlun-gen konstruiert. Die Handlungen können dabeiauf der Herstellungsebene formelle oder infor-melle sein. Daneben stehe die Darstellungsebe-ne, auf welcher symbolisch gehandelt werde, daes hier um die Inszenierung politischer Entschei-dungen für die Öffentlichkeit gehe. Daraus ge-winnt Schöne ein Bündel von Fragen, welchesdie Untersuchung im Weiteren leiten soll. Dabeilassen sich vier Felder unterscheiden: Wahrneh-mungen der Abgeordneten von Parlament undparlamentarische Arbeit; Alltagsarbeit in Parla-ment und Gremien; Techniken der Abgeordnetenzur Selbstdarstellung und Durchsetzung politi-scher Ziele; verschiedene Schwerpunkte der par-lamentarischen Arbeit unterschiedlicher Abge-ordnetengruppen (Dauer der Parlamentszugehö-rigkeit, Fraktionszugehörigkeit, Führungsfunk-tionen).

Das zweite Kapitel widmet sich methodischenProblemen und begründet die Kombination qua-litativer Interviews mit der beobachtenden Teil-nahme sowie die Auswahl der Stichprobe (Deut-scher Bundestag, Sächsischer Landtag). Die me-thodologischen Ausführungen, insbesondere zurteilnehmenden Beobachtung, geben dabei aucheinen Einblick in die bisweilen mühsame Praxisder Forscher, so etwa, wenn vom „Müdigkeitsbi-as“ der Beobachter von Gremiensitzungen dieRede ist, der dazu führe, dass die Beobachtungs-protokolle zum Ende mehrstündiger Sitzungenhin immer dünner und lückenhafter werden.Aufschlussreich sind auch die Ausführungen zurteilweise EDV-gestützten Auswertung des insge-samt 4200 Seiten starken Interviewmaterials.

Im dritten Kapitel, das sich den Wissensbestän-den und Vorstellungen der Abgeordneten vonder Parlamentsarbeit widmet, wird zunächst derzeitliche Rahmen der Abgeordnetentätigkeit dar-gestellt. Erwartungsgemäß dominieren in beidenuntersuchten Parlamenten Gremientermine dieArbeit der Parlamentarier. Die recht hohe Detail-schärfe der Studie fördert aber auch interessanteUnterschiede zu Tage: So ist, anders als im Bun-destag, im Sächsischen Landtag die Öffentlich-keitsarbeit weitgehend den Fraktionsführungenvorbehalten. Dies mag damit zusammenhängen,

daß – wie Schöne ausführt – die Landtagsabge-ordneten nur Mittel für einen Mitarbeiter erhal-ten und diesen meist in ihrem Wahlkreisbüroeinsetzen. Für das Büro im Landtag bleiben da-her meist nur der Abgeordnete selbst und dieFraktionsmitarbeiter. Interessant ist, daß die zeit-liche Dominanz der Gremientätigkeit sich offen-bar auch in der Wahrnehmung der Abgeordnetenvom Parlament widerspiegelt: Das Parlamentwerde als Arbeitsplatz wahrgenommen, an demdie Abgeordneten spezifische Aufgaben zu erle-digen haben, die sich aus einer hochgradig ar-beitsteiligen Organisation ergeben, welche vorallem der Verabschiedung von Gesetzen dient.Die interne Funktionslogik des Parlaments alsGesetzgebungsmaschine dominiere dabei gegen-über anderen, symbolischen oder kommunikati-ven Aufgaben des Parlaments. Stark empfundenwerde von Abgeordneten, als Folge der arbeits-teiligen Organisation, der thematische Speziali-sierungsdruck. Ideologische Orientierungenscheinen dagegen von geringerer Bedeutung zusein. Dazu passe auch, daß die eigene Fraktionvor allem als Ort teilweise intensiver persönli-cher Konkurrenz wahrgenommen wird und nichtals homogene Gruppe politisch Gleichgesinnter.

Aus dem vierten Kapitel, welches sich mit denVerhaltensweisen im Parlamentsalltag auseinan-dersetzt, sei als ein Ergebnis hervorgehoben,dass innerhalb der Gremien, deren Arbeit unter-sucht wurde, die Sachkunde des Abgeordnetenfür seine politische Durchsetzungsfähigkeit einewesentlich größere Rolle zu spielen scheine, alsbisher angenommen. Damit korrespondiere auchdie große Sorgfalt, welche auch von Oppositi-onsfraktionen wegen des Öffentlichkeitsbezugesetwa auf die Formulierung von Gesetzgebungs-vorschlägen verwendet werde, obwohl sie wegender Mehrheitsverhältnisse ohnedies ohne Aus-sicht auf Erfolg sind. Auch die Kontaktnetze derParlamentarier gehen, so Schöne, von ihrer fach-politischen Spezialisierung aus. Ein weitererwichtiger Ertrag des vierten Kapitels ist die Be-schreibung und Analyse von Techniken derMehrheitsfindung innerhalb von Gremien. Ein-drucksvoll wird beschrieben, welch enormer Ge-sprächsaufwand getrieben wird, um im Wegedes Kompromisses eine konsens- oder jedenfalls

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mehrheitsfähige Position zu finden. Als ein letz-tes von vielen Ergebnissen aus dem vierten Ka-pitel sei auf die Bedeutung der parlamentari-schen Arbeitskreise der Mehrheitsfraktionen fürdie Abstimmung mit der Regierung hingewie-sen: Ein guter Kontakt mit dem einschlägigenArbeitskreis lohne sich für den Minister bei derDurchführung politischer Vorhaben. Dafür kom-me es nicht zuletzt auf eine transparente Tätig-keit des Ministeriums an. Die parlamentarischenArbeitskreise erfüllten so die Funktion eines In-strumentes zur Feinkontrolle der Regierungsar-beit.

Das fünfte und letzte Kapitel schließlich nimmtdie parlamentarischen Arbeitskreise und Arbeits-gruppen unter genaue Beobachtung. Es wird ein-geleitet mit einer lesenswerten Beschreibung derEntwicklung und gegenwärtigen Struktur sowieder Arbeitsorganisation dieser Gremien in denverschiedenen Fraktionen. Wichtig ist der Hin-weis Schönes auf die große politische Bedeutungder Arbeitskreise, die daraus resultiere, dass diejeweilige Fraktion sich im Regelfall die Haltungdes Arbeitskreises zu bestimmten Sachfragen zueigen mache. Diese Bedeutung der Arbeitskreisetritt noch deutlicher hervor, wenn man sich be-wusst mache, dass es die Regierungsmehrheit inden parlamentarischen Ausschüssen in aller Re-gel vermeiden wird, die innerhalb der eigenenReihen hergestellten Kompromisse wieder auf-zuschnüren.

In seinem Fazit schließlich bringt Schöne dievielfältigen Einzelergebnisse seiner Arbeit aufden Begriff der „fragmentierten Expertenkultur“.In einer Expertenkultur kann es angesichts dergewaltigen Themenvielfalt parlamentarischerTätigkeit für einzelne Sachgebiete nur wenigeExperten geben. Die Ausdifferenzierung ver-schiedener Politikfelder führe, so Schöne, zu ei-ner arbeitsteiligen Organisation von Parlamentund Fraktionen, in der alle Parlamentarier Ver-antwortung für einzelne Politikbereiche tragen.Insbesondere die Fraktionen seien daher auf dieKompetenz und Motivation ihrer einzelnen Mit-glieder angewiesen. Die komplexe Massenge-sellschaft führt demnach innerhalb der Parla-mente zu einem Bedeutungsgewinn des einzel-nen Abgeordneten.

„Alltag im Parlament“ besticht insgesamt durchdie große Fülle interessanter Detailbeobachtun-gen, die dem Leser ein plastisches Bild parla-mentarischer Arbeit vermittelt. Die Einzelergeb-nisse bleiben jedoch nicht vereinzelt, sondernwerden geordnet, in einen Zusammenhang ge-bracht und so für die Entdeckung von Regelnparlamentarischer Tätigkeit fruchtbar gemacht.Die Begrenzung auf zwei untersuchte Parlamen-te stellt dabei allerdings eine mögliche Ein-schränkung der Verallgemeinerungsfähigkeit dergewonnenen Erkenntnisse dar, deren Ausmaßohne weitere Untersuchungen gleichen Zu-schnitts schwer zu beurteilen ist. Dennoch,Schönes Werk ist äußerst lesenswert und in wei-ten Teilen – für eine Habilitationsschrift nichtunbedingt typisch – auch mit Vergnügen zu le-sen.

Dr. Sebastian Roßner, M.A.

Ulrich Sieberer: Parlamente als Wahlorgane- Parlamentarische Wahlbefugnisse und ihreNutzung in 25 europäischen Demokratien,Nomos, Baden-Baden 2010, 326 S., ISBN 978-3-8329-5250-1, 39 €.

Im Mittelpunkt der politikwissenschaftlichenDissertation von Ulrich Sieberer steht die Wahl-funktion von Parlamenten. Hier wiederum bildetdie wichtigste Wahl, nämlich diejenige der Re-gierung, das Zentrum. Das Buch untersucht dieWahlfunktion von Parlamenten in einem Ver-gleich über 25 europäischen Staaten, die demTypus der parlamentarischen Demokratie ange-hören.

Zunächst steckt Sieberer in der Einleitung und inTeil I seines Buches den theoretischen Rahmender Arbeit ab. Er geht dabei von drei Anforderun-gen aus, die ein solcher Rahmen erfüllen müsse:Akteurszentriertheit, Einbindung des Parlamentsin ein Modell des gesamten politischen Entschei-dungsprozesses sowie Berücksichtigung der zen-tralen Rolle der politischen Parteien und damit derinnerparlamentarischen Konfliktlinien zwischenRegierungs- und Oppositionsparteien.

Diese Forderungen sieht Sieberer am besten er-füllt durch die Wahl eines delegationstheoreti-

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schen Ansatzes innerhalb des rational choice In-stitutionalismus. Dahinter steht die grundlegendeÜberlegung, daß die Bedeutung eines Parlamentssich nicht nur und auch nicht in erster Linie ander unmittelbaren Einflußnahme auf sachpoliti-sche Fragen – etwa über Gesetzgebung – ablesenlasse, sondern vielmehr die Auswahl und Kon-trolle des politischen Personals, insbesondere derRegierung, durch das Parlament einen wesentli-chen Einfluß auf die Politikgestaltung vermitte-le. Die Regierung erscheint als „Agentin“ des„Prinzipals“ Parlament oder, schlicht juristischformuliert, als dessen Vertreter. Daneben dele-gieren Parlamente auch Befugnisse an weitereAmtsträger in „Schrankeninstitutionen“, etwaVerfassungsgerichte, Rechnungshöfe oderStaatsoberhäupter. Zusammenfassend faßt Sie-berer Parlamente in parlamentarischen Demo-kratien als Machtverteilungszentren auf.

Entscheidende Faktoren des über Wahlen durchdas Parlament zu verteilenden Einflusses sinddann die Möglichkeiten der ex ante Auswahl undin geringerem Maße der ex post Kontrolle vonAmtsträgern. Damit werden die Art der Bestel-lung von Amtsträgern und die daraus ggfs. resul-tierenden Möglichkeiten der ex post Beeinflus-sung zu wesentlichen Größen. Durch die Wahlder Regierung hat das Parlament die Chance,eine Übereinstimmung der Regierungspräferen-zen mit der eigenen politischen Präferenz herzu-stellen. Allerdings hängt die Größe dieser Chan-ce von den Wahlregeln ab: So können etwa Vor-schlagsrechte außerparlamentarischer Akteure,typischerweise des Staatsoberhauptes, die Ent-scheidungsspielräume des Parlaments wesentlicheinengen und zu einem geringeren Maß an Prä-ferenzübereinstimmung führen.

Sieberer arbeitet daneben die mögliche Bedeu-tung der Wahl von Amtsträgern in den Schran-keninstitutionen als Mittel der Beschränkung derEntscheidungsspielräume von Regierungen her-aus. Das Maß der Beschränkung hängt wiederumvon den verfügbaren Machtressourcen und denPräferenzen im Verhältnis zur Regierung ab.

Einen wesentlichen Teil der Grundlage seinerweiteren Untersuchung legt Sieberer im drittenKapitel der Untersuchung: Mit der zulässigen

Kandidatenzahl, dem Nominierungsrecht, der füreine Wahl erforderlichen Mehrheit und dem ver-wendeten Abstimmungsmodus werden vier Va-riablen eingeführt, die sich auf die formellen Re-geln beziehen, nach welchen eine Wahl abläuftund welche die Wahlfreiheit des Parlaments be-stimmen.

Die Effekte der Variablen auf die Wahl werdenin räumlichen Modellen durchgespielt. Erwar-tungsgemäß fallen die Ergebnisse dieser Erwä-gungen aus: So hat die nominierungsberechtigteInstanz einen größeren Einfluß auf das Wahler-gebnis, falls nur ein Kandidat entweder bestätigtoder abgelehnt werden kann im Vergleich zu ei-ner Auswahlmöglichkeit des Parlaments untermehreren Kandidaten. Auch scheint es nahelie-gend, daß das Erfordernis einer qualifiziertenMehrheit eher zu Blockadesituationen führt alsgeringere Mehrheitsanforderungen. Immerhinführt die Modellierung aber zu einer Überprüf-barkeit der inneren Konsistenz der getroffenenAnnahmen und stellt insofern einen deutlichenFortschritt gegenüber einer rein intuitiven Aus-sage oder auch einem informed guess dar.

Allerdings macht die Anwendung formaler Mo-delle meist auch die Unterstellung vereinfachen-der Annahmen notwendig, welche die Erklä-rungsreichweite des Modells einschränkt. Soauch hier: So werden die Akteure etwa als reinpolicy-motiviert modelliert, was vermutlicheeine ebenso unvermeidbare wie unzutreffendeAnnahme darstellt. Auf diese Schwierigkeit unddie Möglichkeiten einer Remedur geht Siebererauch ein (ausführlich zu Beginn von Teil III).Problematisch ist weiterhin – wie Sieberer auchzugesteht – die Reduktion des Politikraums aufeine Dimension: Diese Vereinfachung ist wohlbei der Wahl von Zentralbankchefs oder Rech-nungshofmitgliedern vertretbar. Für die Beschi-ckung von Verfassungsgerichten oder die Wahlvon Regierungsmitgliedern steht diese Annahmeaber im Gegensatz zur multidimensionalen Tä-tigkeit dieser Organe und mag auch die vom Par-lament getroffene tatsächlich Wahlentscheidungnicht mehr hinreichend erfassen. Problematischerscheint weiterhin die Entscheidung, Wahlenals einmaliges Spiel mit nicht strategischem Ab-stimmungsverhalten zu modellieren: Gerade im

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Falle von Wahlen dem Erfordernis qualifizierterMehrheiten kommt die erforderliche Mehrheitmutmaßlich nicht selten als Ergebnis eines Kom-promisses zustande, der (informale) Zusagenüber das Verhalten der Akteure bei zukünftigenWahlen oder Sachentscheidungen enthält.

Da die verwendeten räumlichen Modelle sichnicht zu einem einheitlichen Modell zusammen-führen lassen, bildet Sieberer in einem nächstenSchritt aufgrund theoretischer Überlegungen dreiIndizes, in denen die Variablen nach festen Re-geln miteinander verknüpft werden. Der erste In-dex „Parlamentarische Wahlfreiheit“ (PW) ver-knüpft die Variablen Kandidatenzahl und Nomi-nierungsrecht und soll angeben, in welchemMaße das Parlament seine Präferenz bei der je-weiligen Wahl verwirklichen kann. Die beidenweiteren Indizes „Regierungsbeschränkung I“und „Regierungsbeschränkung II“(RB I, II) be-schreiben, welche Gruppen innerhalb des Parla-ments den Wahlausgang beeinflussen. Die Re-gierung wird umso stärker beschränkt, je größerder Einfluß der Oppositionsfraktionen oder derMinderheiten innerhalb der Regierungsfraktio-nen ist. In den Indizes RB I und II werden dieVariablen Wahlmodus und Mehrheitserfordernisverknüpft.

Im folgenden Teil II werden die Werte der dreiIndizes für 25 europäische Staaten und jeweilssieben betrachtete Ämter (Regierungschef, Fach-minister, Staatsoberhaupt, Verfassungsrichter,Zentralbankpräsident, Rechnungshofpräsident,Ombudsmänner) errechnet. Zunächst begründetSieberer die Auswahl der Fälle und Ämter (Ka-pitel 4). Dann wird der wichtige Bereich der Re-gierungswahl eingehend untersucht (Kapitel 5).Sieberer zeigt zuerst, daß Parlamente die von ih-nen gewählte Regierung entweder ex ante übereinen starken Einfluß bei der Regierungsbildungoder ex post über die realistische Drohung einerAbberufung kontrollieren. Dann werden die par-lamentarischen Befugnisse in den Kontext derKoalitionsforschung gestellt. Hier plädiert Sie-berer dafür, künftig die von ihm untersuchten in-stitutionellen Variablen wie Wahlmodus, Nomi-nierungsrechte oder Mehrheitserfordernisse zuberücksichtigen.

Das sechste Kapitel wendet sich den von Parla-ment gewählten externen Amtsträgern und dendurch sie bewirkten Beschränkungen der Regie-rung zu. Für die ausgewählten 25 europäischenStaaten werden, neben den parlamentarischenBefugnissen zu ex ante Auswahl und zur ex postKontrolle, die Machtressourcen der externenAmtsträger wie ihre Motivation untersucht, dieseRessourcen zur Beschränkung der Regierungeinzusetzen. Die beiden Dimensionen der parla-mentarischen Befugnisse stellen sich als vonein-ander unabhängig dar. Interessant ist, daß auchMachtressourcen der externen Amtsträger undder Anreiz zu ihrem Gebrauch im Sinne einerEinschränkung der Regierung empirisch vonein-ander unabhängig sind. Will man also die Rolledieser externen Amtsträger untersuchen, mußneben den jeweiligen Ressourcen auch die An-reizdimension einbezogen werden. Für die Mes-sung der häufig untersuchten Machtressourcengreift Sieberer auf die Vorarbeiten anderer For-scher zurück. Dabei aber fällt dem deutschenVerfassungsrechtler auf, daß etwa der französi-sche Conseil constitutionnel auf einer Skala von0 bis 1 einen Wert von 0,72 erhält, das deutscheBundesverfassungsgericht hingegen nur auf 0,53kommt. Dies erstaunt bereits wegen des fehlen-den Verfassungsbeschwerdeverfahrens in Frank-reich, das in Deutschland klar die dominierendeVerfahrensart darstellt und dem Verfassungsge-richt Gelegenheit zur Entscheidung in einergroßen Vielzahl von Fällen gibt. Für ein Gericht,das ja stets an Anträge gebunden ist, liegt darineine entscheidende Machtressource. Noch skep-tischer macht ein Blick in die Fußnoten: Der ver-wendete Index für die Verfassungsgerichte vonIshiyama Smithey/ Ishiyama stammt aus demJahr 2000, ergänzt im Jahr 2007. Zu diesemZeitpunkt, also vor der französischen Verfas-sungsreform vom 23. Juli 2008, hatte derConseil constitutionnel nur eine Kompetenz zurpräventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeitvon noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen undkonnte nur von bestimmten Staatsorganen ange-rufen werden. Mittlerweile ist zwar eine ArtVorlageverfahren für die Fachgerichte mit rechtrestriktiven Voraussetzungen eingeführt worden,gleichwohl sind die Kompetenzen des Conseilgegenüber dem Bundesverfassungsgericht deut-

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lich geringer. Die gerade entgegengesetzte Ein-stufung der beiden Gerichte in dem verwendetenIndex erzeugt einen gewissen Zweifel an derVerläßlichkeit der Zahlen insgesamt und damitauch an den darauf basierenden Ergebnissen.Zwar stach hier nur ein Einzelfall dem Rezen-senten in Auge, dennoch mag sich dahinter einsystematisches Problem verbergen: Eventuellmuß daher bei der Erstellung solcher Zahlenwer-ke, die internationale und oft aus Sicht des je-weiligen Forscher auch fachfremde Zusammen-hänge betreffen, ein Verfahren gewählt werden,das Kenner der jeweiligen Einzelmaterie einbe-zieht. Im Rahmen einer Dissertation ist ein der-artiges Programm aber nicht zu bewältigen.

Einen weiteren Beitrag zu einer differenziertenBetrachtung der Macht der Parlamente leistet dassiebte Kapitel, in dem für Westeuropa die Unab-hängigkeit der parlamentarischen Machtdimen-sionen Gesetzgebung, Wahl und Kontrolle nach-gewiesen wird. Das heißt, es ist wenig hilfreich,von mächtigen oder weniger mächtigen Parla-menten zu sprechen, sondern es ist zu fragen, inwelcher Hinsicht ein Parlament mächtig ist. Da-mit kann Sieberer eine wichtige Forschungsfragefür die Zukunft formulieren: Wie müssen die be-teiligten Institutionen konzipiert werden, um De-legationsverluste zwischen Parlament und Re-gierung zu minimieren? Eine Antwort auf dieseFrage müßte – so Sieberer – Verfahrensergebnis-se messen. Derartige output-orientierte Messun-gen existieren jedoch gegenwärtig noch nicht.

Der mit dem achten Kapitel beginnende Teil IIIder Arbeit schließlich beschäftigt sich mit demkonkreten Wahlverhalten parlamentarischer Ak-teure. Das achte Kapitel versucht, ein Erklä-rungsmodell des Wahlverhaltens der Parteien imParlament zu entwickeln, das ein räumliches Po-litikmodell mit nicht-räumlichen Kandidatenei-genschaften kombiniert. Für dieses Modell wer-de dann empirisch überprüfbare Hypothesen for-muliert. Diese Überprüfung der Hypothesen ge-schieht dann im zehnten Kapitel, nachdem zuvorim neunten Kapitel ein deskriptiver Überblicküber die Wahlen von Amtsträgern in externenSchrankeninstitutionen erfolgte. Sieberer stelltfest, daß die ideologische Distanz einer politi-schen Partei zu einem Kandidaten wesentlichen

Einfluß auf ihr Wahlverhalten hat. Auch die Ge-samtzustimmung zu einem Kandidaten wird vonideologischen Variablen bestimmt. Diese Befun-de überraschen nicht, eher schon der Umstand,daß eine ideologische Polarisierung innerhalbdes Parlaments positiv mit der Gesamtzustim-mung für die Kandidaten zusammenhängt. DerStatus als Amtsinhaber beeinflußt als nicht-räumliche Variable die parlamentarische Zustim-mung positiv. Auch die Variablen des Wettbe-werbskontextes (Regierungsbeteiligung der un-tersuchten Partei, Gegenkandidaten, parlamenta-rischer Rückhalt der Regierung) beeinflussen dasWahlverhalten systematisch. Ein – nicht gänz-lich überraschendes – Ergebnis ist die grundsätz-liche Anwendbarkeit eines räumlichen Politik-modells nach dem links-rechts Schema nicht nurim Bereich der Gesetzgebung, sondern auch imBereich der Wahlen. Auch in diesem Kapitelliegt die Stärke vor allem in der Differenziertheitder Analyse. So zeigt die Arbeit etwa, daß kon-sensuale Wahlentscheidungen durchaus als inter-essengeleitetes Verhalten von miteinander imWettbewerb stehenden Akteuren verstandenwerden können.

Insgesamt eröffnet die Untersuchung einen ge-naueren Blick auf die Bedeutung der parlamenta-rischen Wahlbefugnisse, indem sie die Wahlmitsamt ihren vielfältigen Randbedingungen alseinen Modus einer interessengeleiteten Macht-verteilung begreift, mit deren Hilfe Parlamentewirksam Politik steuern können.

Dr. Sebastian Roßner, M.A.

Henrik Steglich: Rechtsaußenparteien inDeutschland. Bedingungen ihres Erfolgs undScheiterns, Vandenhoeck & Ruprecht, Göt-tingen 2010, 457 S., ISBN 978-3-525-36915-9,63,95 €.

Die politikwissenschaftliche Forschung zurechtsextremistischen bzw. rechtspopulistischenParteien in Deutschland hat eine Vielzahl vonMonographien, Sammelbänden und Zeitschrif-tenartikeln hervorgebracht. Dies ist insofern be-merkenswert, da derartige Parteien im internatio-nalen Vergleich elektoral und organisatorisch

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eher als schwach zu bezeichnen sind. Die deut-sche Vergangenheit, insbesondere natürlich dasfatale Wirken der Nationalsozialisten vor und imZweiten Weltkrieg, mag für diese enorme wis-senschaftliche Aufmerksamkeit ursächlich sein.Die Fülle von Arbeiten zu den aktuellen Formendes Rechtsextremismus und Rechtspopulismusin Deutschland teilt sich in zwei große Blöcke:Einerseits werden die angebotsseitigen Faktorenihres Erfolges bzw. Misserfolges in Augenscheingenommen, insbesondere in Form von deskripti-ven Darstellungen der Geschichte, Organisationund Programmatik derartiger Parteien. Anderer-seits wird insbesondere von der empirischenWahlforschung die Nachfrageseite analysiert,vor allem die individuellen und kontextbezoge-nen Determinanten des Wahlverhaltens zuguns-ten von NPD, DVU, Republikanern und anderen,kurzlebigeren Formationen.

Angesichts der Plethora von wissenschaftlichenAnalysen ist erstaunlich, dass Darstellungen, diedie Angebots- und Nachfrageseite des Erfolgsvon rechtsextremistischen und rechtspopulisti-schen Parteien in Deutschland zusammenbrin-gen, sehr rar gesät sind. Henrik Steglich hat sichin seiner 2009 an der Technischen UniversitätDresden angenommenen Dissertation genau die-ser Forschungslücke gewidmet und sie mit der inder Rechtsextremismusforschung noch nichtsehr weit verbreiteten Forschung zu politischenGelegenheitsstrukturen, die den Erfolg derartigerParteien darüber hinaus beeinflussen, verbunden.Entstanden ist ein voluminöses Werk, das me-thodisch versiert die Trias von Angebot, Nach-frage und Gelegenheitsstrukturen in ihrer Wir-kung auf den Erfolg bzw. den Misserfolg vonRechtsaußenparteien untersucht.

Die Arbeit Steglichs steht methodisch in der Tra-dition der „Qualitative Comparative Analysis“(QCA) nach Ragin, wobei er sich konkret des„fuzzy set“-Ansatzes bedient. Er analysiert dasAbschneiden der jeweils erfolgreichsten Rechts-außenpartei bei 57 Landtagswahlen im Untersu-chungszeitraum von 1990 bis 2005 in Abhängig-keit von sieben Einflussgrößen: der Aktualitätvon Wahlkampfthemen der extremen Rechten,den ökonomischen Rahmenbedingungen, derVerankerung der etablierten Parteien, der Wett-

bewerbssituation im jeweiligen Parteiensystem,der organisatorischen Stärke der Rechtsaußen-parteien, der Intensität des von ihnen geführtenWahlkampfs und des ideologischen Profils die-ser Parteien. In seinen Analysen stellt Steglichfest, dass die Aktualität von Wahlkampfthemender Rechtsaußenparteien die einzige notwendige,aber keineswegs hinreichende Bedingung für de-ren Erfolg darstellt. Vielmehr identifiziert er fünfspezifische Kombinationen von bis zu vier dersieben Einflussgrößen, die als hinreichende Be-dingung für den Erfolg von Rechtsaußenparteiengelten können. Ein Beispiel soll seine Vorge-hensweise illustrieren: Die QCA ergibt etwa,dass die extreme Rechte erfolgreich ist, wennihre Wahlkampfthemen auf Resonanz stoßen,die etablierten Parteien schwach verankert sindund sie eine sehr aufwendige Kampagne führen,selbst wenn die jeweilige Partei nur über schwa-che Organisationsstrukturen verfügt. Diese Kon-stellation hat sich etwa im Fall des Erfolgs derDVU bei der Landtagswahl 1998 in Sachsen-An-halt realisiert.

Henrik Steglich gelingt es mit seiner Dissertati-on, eine wichtige Forschungslücke in der politik-wissenschaftlichen Analyse des Erfolgs vonRechtsaußenparteien zu schließen. Mit einemsehr originellen Ansatz beleuchtet er die Interak-tionen zwischen angebots- und nachfrageseitigenErfolgsbedingungen sowie politischen Gelegen-heitsstrukturen. Trotz der methodisch versiertenHerangehensweise gelingt es Steglich, seine Er-gebnisse stets verständlich zu präsentieren unddurch Rekurs auf konkrete Beispiele zu illustrie-ren.

Dr. Tim Spier

Melanie Werner: Gesetzesrecht und Sat-zungsrecht bei der Kandidatenaufstellung po-litischer Parteien. Probleme des Vorschlags-rechts nach BWG und EuWG, Universitäts-verlag Osnabrück bei V&R unipress, Berlin2010, 289 S., ISBN 978-3-89971-628-3, 34,90 €

Die Kandidatenaufstellung der politischen Par-teien für staatliche Wahlen ist eine wichtigeSchnittstelle zwischen der Parteiautonomie ei-

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nerseits und den verfassungsrechtlichen Anfor-derungen an eine demokratisch legitimiertestaatliche Wahl andererseits. Dennoch überlässtdas Parteiengesetz in § 17 die Ausgestaltung desVerfahrens in weiten Teilen den Parteisatzungenund gibt ausdrücklich lediglich eine geheimeWahl der Kandidaten vor. Weitere Vorgaben fürdas Verfahren finden sich nur noch in §§ 21BWahlG und § 10 EuWG. De facto ist aber mitden Vorentscheidungen in den Parteien bereitsfestgelegt, welche Personen überhaupt erst wähl-bar sind, denn Wahlvorschläge von parteilosenBürgern sind angesichts der Hürde des § 20 IIIBWahlG verschwindend gering. Die innerpartei-liche Kandidatenkür ist damit eine zentrale Vor-bereitungshandlung für staatliche Wahlen. Ausdiesem Grund müssen bereits in diesem Stadiumgrundlegende demokratische Regeln eingehaltenwerden, damit die demokratische Legitimations-kette der anschließenden öffentlichen Wahl nichtunterbrochen wird. Es stellt sich daher die Frage,inwieweit die durch § 17 PartG eröffnete Sat-zungsfreiheit der Parteien tatsächlich verfas-sungs- und gesetzeskonform ausgeübt wurde,dies insbesondere mit Blick auf die durch dieVerfassung aufgestellten Anforderungen an einedemokratische Wahl. Zu überprüfen sind Ver-fahrensvorschriften, die die einzelnen Parteienerlassen haben, um den Vorgang der Wahl ausihrer Sicht ökonomisch und effektiv zu gestal-ten. Diese Frage bildet den Kern der Arbeit vonWerner. Damit liefert sie einen wertvollen Bei-trag zu einem bislang nur wenig bearbeitetenFeld des Parteienrechts. Eine umfassende Analy-se zu allen satzungsrechtlichen Regelungen derKandidatenaufstellung im Zusammenhang hat esnoch nicht gegeben.

Die Abhandlung kann in zwei grundlegende Tei-le gegliedert werden. Der erste ist als rechtlicheund tatsächliche Grundlagenermittlung zu ver-stehen, die Analyse einer Konformität von Sat-zungsrecht der Parteien mit höherrangigemRecht erfolgt in einem zweiten Schritt. Wernerarbeitet zunächst heraus, welche AnforderungenVerfassungs- und einfaches Recht an das Ver-fahren der Kandidatenaufstellung innerhalb derParteien stellen. Sie nimmt ausführlich zurReichweite der Parteienfreiheit aus Art. 21 I 1

GG und den Wahlrechtsgrundsätzen aus Art. 38I 1 GG Stellung, sodann erläutert sie die Konkre-tisierungen der §§ 21 III BWahlG und 10 IIIEuWG. Auch die staatliche Rechtsprechungwird zur Ermittlung der Anforderungen an dieKandidatenaufstellung bemüht, eine Beleuch-tung der Entscheidungen der Parteischiedsge-richte findet jedoch nicht statt. Diese Darstellungbleibt überwiegend abstrakt, es fehlt ein direkterBezug zu den möglichen Details der Kandida-tenaufstellung. Im darauffolgenden Schritt wirdden gesetzlichen Forderungen die tatsächlicheAusgestaltung in den Satzungen der im Bundes-tag in Fraktionsstärke vertretenen Parteien ge-genübergestellt. Durch Betrachtung der Bundes-sowie relevanten Landessatzungen gelingt Wer-ner eine genaue und sehr umfangreiche empiri-sche Ermittlung dessen, was CDU, CSU, SPD,Die Grünen, FDP und die Linke für die parteiin-terne Kandidatenwahl festgesetzt haben. Dabeitreten Regelungen über Frauenquoten, Quorenfür Kandidatenvorschläge, Vorstellungsrechteder Bewerber und alternierende Bewerberauf-stellungen zutage, die zum Teil auch in einenhistorischen Kontext gestellt werden. Zum Ab-schluss jedes parteibezogenen Abschnitts nimmtWerner eine Synopse zum geltenden Gesetzes-recht vor. Damit erhält der Leser einen umfängli-chen Überblick über die grundlegenden rechtli-chen Maßstäbe für die Überprüfung der Kandi-datenaufstellung einerseits und die satzungsmä-ßige Umsetzung der Parteien andererseits. Aller-dings ist die Lektüre der reinen Darstellung, diefast die Hälfte des Buches ausmacht, rechtschwerfällig. Der Wunsch des Lesers nach einerwertenden Stellungnahme zu den Parteisatzun-gen bleibt zunächst unerfüllt.

Diese erwartet den Leser erst im zweiten Teil derArbeit, in dem Werner die Konformität der so-eben dargestellten Satzungsbestimmungen mithöherrangigem Recht überprüft. Mit dem unbe-schränkten Vorschlagsrecht gem. §§ 21 III 2, 3BWahlG und 10 III 2, 3 EuWG seien beispiels-weise die Festlegung einer Frauenquote, dasVerfahren der Blockwahl und die Forderung vonQuoren für Personalvorschläge nicht vereinbar,was in zumindest dieser plakativen Form bestrit-ten werden kann. Die verfassungsrechtliche Ana-

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lyse der satzungsmäßigen Ausprägungen derKandidatenwahl fällt sehr knapp aus. Das magaus dem Anliegen Werners resultieren, im An-schluss die §§ 21 III 2 und 3 BWahlG, 10 III 2und 3 EuWG selbst einer verfassungsrechtlichenKontrolle zu unterziehen. Ihrer Ansicht nach be-schränken diese Vorschriften die Parteienfreiheitaus Art. 21 I 2 GG in unverhältnismäßiger Wei-se, weil sie den Parteien zu strikte Vorgaben fürdas Verfahren der Kandidatenaufstellung aufer-legen. Das habe zur Folge, dass die Verfahrens-bestimmungen der Parteien, die nun gegen ver-fassungswidriges höherrangiges Recht versto-ßen, rechtmäßig sind, da die Nichtigkeit der §§21 III 2, 3 BWahlG und 10 III 2, 3 EuWG ipsoiure und ex tunc eintrete. Die Begründung dieserAussage bleibt dabei verborgen, ebenso leuchtetder komplizierte Argumentationsgang nicht aufAnhieb ein. Werner beendet ihre Ausführungenmit einer kurzen Darstellung der verfahrens-rechtlichen Instrumente, die zur Verfügung ste-hen, um die Einhaltung der gesetzlichen Vor-schriften bei der Kandidatenaufstellung zu über-prüfen.

Verdienst dieses Werkes ist es, in übersichtlicherund umfangreicher Form eine tatsächliche Auf-nahme der Kandidatenaufstellung auf Gesetzes-und Satzungsebene abzubilden. In dieser Formist eine gründliche Darstellung bisher noch nichterfolgt und verdient Anerkennung. Sicherlich er-fordert die Problematik der Kandidatenaufstel-lung wegen der Überschneidung von Wahl- undParteienrecht innerhalb der Norm des § 17 PartGeinen genauen Überblick über die verfassungs-rechtlichen Maßstäbe, die bei der Kontrolle derKandidatenaufstellung anzulegen sind; erst dannerhält man ein Instrument zur Begutachtung dereinzelnen Parteisatzungen. Allerdings ist dieseGrundlage im Vergleich zum wesentlichen Teilder Arbeit, nämlich die tiefgehende Analyse desSatzungsrechtes, zu ausschweifend geraten. Dasschlägt sich auch in dem Aufbau der eigentli-chen rechtlichen Bewertung nieder, denn dort istdie Autorin gezwungen, erneut auf die bereitsgrundsätzlich dargestellten Voraussetzungen zu-rückzugreifen. Trotz dieser Schwierigkeiten ge-lingt es Werner, die rechtliche Einhegung derKandidatenaufstellung strukturiert darzustellen

und notwendige Überprüfungsmaßstäbe aus Ver-fassungs- und einfachem Recht zu kondensieren.

Hana Kühr

Stefan Zotti: Politische Parteien auf europäi-scher Ebene - Grundzüge der politischen undrechtlichen Entwicklung des europäischenParteiensystems, Nomos, Baden-Baden 2010,113 S., ISBN 978-3-8329-5647-9, 19,90 €.

Das Buch von Stefan Zotti basiert auf einer ander Donau-Universität Krems vorgelegten Ab-schlussarbeit des Post-Graduate EuropastudiumsEuropean Advanced Studies (EURAS). Der Au-tor hat einen auch im Bezug auf das Thema in-teressanten Hintergrund: Zotti ist promovierterTheologe, studierte European Studies an der Do-nau-Universität Krems, war zuvor parlamentari-scher Mitarbeiter und ist seit 2010 Mitglied desKabinetts von EU-Kommissar Johannes Hahn.

„Politische Parteien sind ein essenzieller Be-standteil der modernen Demokratie und aus die-ser kaum wegzudenken“, wie der Autor treffendzu Beginn seiner Einleitung feststellt. Seit demVertrag von Maastricht mit seinem Art. 138aund den Regelungen über politische Parteien undderen Finanzierung auf europäischer Ebene inder Verordnung vom 4. November 2001 sind dieRegelungen über politische Parteien auch auf eu-ropäischer Ebene zum integralen Bestandteil deseuropäischen Demokratiekonzeptes geworden.

Nach einer kurzen Einleitung wird im zweitenKapitel der Studie die Entstehungsgeschichte dereuropäischen Parteien nachgezeichnet, die beider Gründung der EGKS ansetzt. Zwangsläufigwird hier auch eine im europäischen Kontextschwierige Klärung des Begriffs der politischenParteien vorgenommen, die an den Funktionen,die Parteien in politischen Systemen zu erfüllenhaben, ansetzt und die Besonderheiten des politi-schen Systems der EU beachtet. Das dritte Kapi-tel widmet sich der primärrechtlichen Veranke-rung der politischen Parteien. Die entsprechen-den Artikel im EUV und AEUV werden von ih-rer Entstehung, über ihre Weiterentwicklung bishin zu ihrer heutigen Ausformulierung analy-siert.

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Rezensionen MIP 2011 17. Jhrg.

Die Verordnung über die Regelung für politischeParteien auf europäischer Ebene und ihre Finan-zierung vom 4. November 2003, wird auf derGrundlage der damaligen vertraglichen Grundla-ge im vierten Kapitel dargestellt. Die Diskussionum die Verordnung wird unter Darstellung derpolitischen Hintergründe nachgezeichnet. DieDarstellung und Analyse der im Jahre 2007 er-folgten Überarbeitung der Verordnung bildet denAbschluss dieses Kapitels. Im fünften und letz-ten Kapitel wirft der Autor dann die Frage auf,ob „politische Parteien auf europäischer Ebeneim Rahmen der geltenden europäischen Rege-lungen zu einem Motor der Integration und derDemokratisierung der EU werden“.

Die Studie von Zotti hat den großen Verdienst,eine übersichtliche und gute Darstellung der Ent-wicklung der politischen Parteien auf europäi-scher Ebene zu bieten. Der unkundige Leser fin-det hier auf gut 100 Seiten schnell einen aktuel-len Überblick über die rechtlichen Rahmenbe-dingungen für politische Parteien auf europäi-scher Ebene, untermauert mit, für das weitereVerständnis nützlichen, politischen Hintergrund-informationen, zur Entstehungsgeschichte undWeiterentwicklung der Normen.

Über eine Bestandsaufnahme geht die Studie al-lerdings nicht hinaus. Der informierte Leser fin-det im abschließenden fünften Kapitel des Bu-ches keine neuen Erkenntnisse über die Entwick-lung der europäischen politischen Parteien oderdie Entwicklung der diese betreffenden Normen.Auch hier wird das in der Literatur intensiv Dis-kutierte gut und übersichtlich zusammengetra-gen, geht aber nicht darüber hinaus. Die in derArbeit verwendete Literatur ist recht übersicht-lich. Es überrascht ein wenig, dass auch der rechtumfangreiche, gute und einschlägige Sammel-bandbeitrag der ebenfalls aus Österreich stam-menden Autoren Eberhard und Lachmayer2 kei-ne Berücksichtigung gefunden hat.

Dr. Heike Merten2 Harald Eberhard/ Konrad Lachmayer, Europäische po-

litische Parteien und deren Finanzierung als Aspekt deseuropäischen Demokratisierungsprozesses, in: GerritManssen (Hrsg.), Die Finanzierung von politischenParteien in Europa, 2007, 215 – 253.

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MIP 2011 17. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

Rechtsprechungsübersicht

1. Grundlagen zum Parteienrecht

VfGH Wien, Urteil vom 03.12.2009 – W I-6/09, in: ÖJZ 2010, S. 285 (Wahlanfechtungen der OÖLandtagswahl und Gemeinderatswahl der Stadt Steyr, NVP).

BVerwG, Urteil vom 21.07.2010 – 6 C 22/09, in: DVBl. 2010, S. 1370 (Beobachtung eines Abge-ordneten durch den Verfassungsschutz des Bundes war rechtmäßig).

BVerwG, Urteil vom 30.09.2009 – 6 C 29/08, in: NVwZ-RR 2010, S. 225-227 (Unzuverlässig imSinne des Waffengesetzes ist auch derjenige, der verfassungsfeindliche Bestrebungen im Rahmender Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen politischen Partei verfolgt).

BVerwG, Beschluss vom 10.08.2010 – 6 B 16/10, online veröffentlicht bei juris (Beteiligungsfähig-keit politischer Parteien).

BAG, Beschluss vom 17.03.2010 – 7 ABR 95/08, in: NJW 2010, S. 3322-3326 (Parteipolitische Be-tätigung des Betriebsrats – Unterlassungsanspruch).

OLG München, Beschluss vom 09.02.2010 – 5 St RR (II) 9/10, in: NJW 2010, S. 2150-2152 (Vor-wurf der Volksverhetzung wegen Text-Bildkombination auf NPD-Wahlplakat).

OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 22.10.2010 – 17 U 14/10, in: GRURPrax 2011, S. 11 (Berech-tigung der Verwendung der Bezeichnung „Freie Wähler“ auf einer Internet-Webseite).

LG Düsseldorf, Urteil vom 05.05.2010 – 12 O 111/10, online veröffentlicht bei juris (Anspruch aufUnterlassung von Äußerungen hinsichtlich gemeinsam geplanter Aktionen, Demonstrationen undKundgebungen zweier politischer Parteien).

VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18.05.2010 – 14 K 5459/08, online veröffentlicht bei juris (Auflagenfür eine NPD Versammlung).

VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07.10.2010 – 3 K 1496/07, online veröffentlicht bei juris (Keine Be-urlaubung einer Studienrätin zum Zwecke der Abgeordnetentätigkeit).

VG Saarlouis, Urteil vom 08.07.2010 - 6 K 214/08, online veröffentlicht bei (Beobachtung der Par-tei „Die Linke“ durch den Verfassungsschutz im Saarland).

Bundesparteigericht der CDU, Beschluss vom 23.11.2010 – CDU-BPG 3/2010, nicht veröffentlicht(Anfechtung einer Vorstandswahl, „fliegende Ortsvereine“).

2. Chancengleichheit

VerfGH Saarland, Urteil vom 01.07.2010 – Lv 4/09, in: NVwZ-RR 2010, S. 785-786 (Beginn der„Vorwahlzeit“ bei Landtagswahlen; Verstoß gegen Neutralitätsgebot; unzulässige Wahlwerbung derLandesregierung zugunsten der CDU im Wahlkampf zur Landtagswahl 2009).

BVerwG, Beschluss vom 10.08.2010 – 6 B 16/10, online veröffentlicht bei juris (Beteiligungsfähig-keit politischer Parteien; NPD; Beeinträchtigung des Kreisverbandes in seiner Chancengleichheitlässt sich nicht durch den Verweis auf die Möglichkeit zur Mitbenutzung des Girokontos einer ande-ren Parteigliederung verneinen).

VGH Bayern, Beschluss vom 29.04.2010 – 4 CE 10/835, online veröffentlicht bei juris (Anspruchauf Überlassung einer Konzert- und Kongresshalle an die NPD).

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Rechtsprechungsübersicht MIP 2011 17. Jhrg.

OVG Bautzen, Beschluss vom 19.04.2010 – 4 A 410/09, in: NVwZ-RR 2010, S. 779-780 (Anfech-tung einer Bürgermeisterwahl; Begriff der Wahlbeeinflussung).

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.06.2010 – OVG 3 S 40/10, in: NVwZ-RR 2010,S. 765-766 (Vergabe von Räumlichkeiten an politische Parteien).

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.01.2011 – OVG 3 S 2/11, online veröffentlich bei ju-ris (Nutzung einer kommunalen Einrichtung durch eine politische Partei, parteiinterne Festveran-staltung anläßlich der Verschmelzung mit einer anderen Partei).

OVG NRW, Urteil vom 14.12.2009 – 16 A 1822/07, nicht veröffentlicht (Anspruch NPD auf Eröff-nung eines Girokontos).

OVG NRW, Beschluss vom 06.05.2010 – 11 B 563/10, in: NVwZ-RR 2010, S. 779-780 (Straßen-rechtliche Sondernutzung – hier: Plakatieren zu Wahlkampfzwecken an Laternenmasten).

OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05.11.2010 – 4 M 221/10, online veröffentlicht bei juris (Zu-lassung einer Partei zu einer öffentlichen Einrichtung).

OVG Schleswig, Beschluss vom 26.01.2010 – 2 MB 28/09, online veröffentlicht bei juris (An-spruch der DVU auf Eröffnung eines Girokontos).

VG Bayreuth, Beschluss vom 22.03.2010 – B 3 E 10/73, online veröffentlicht bei juris (Anspruchauf Überlassung einer Konzert- und Kongresshalle an die NPD).

VG Berlin, Beschluss vom 01.06.2010 – 2 L 72.10, nicht veröffentlicht (Vergabe von Räumlichkei-ten an politische Parteien).

VG Berlin, Urteil vom 16.07.2010 – 2 K 93/09, online veröffentlicht bei juris (Zugang zu Räumenfür nicht verbotene Parteien).

VG Berlin, Beschluss vom 07.01.2011 – 2 L 177.10, nicht veröffentlicht (Nutzung einer kommuna-len Einrichtung durch eine politische Partei, parteiinterne Festveranstaltung anläßlich der Ver-schmelzung mit einer anderen Partei).

VG Dresden, Urteil vom 09.09.2009 – 4 K 1713/08, in: LKV 2009, S. 573-575 (Gegenleistung fürWiederwahl; erfolgreiche Anfechtung einer Wahl zum Oberbürgermeister).

VG Dresden, Urteil vom 29.04.2009 – 4 K 1333/08, online veröffentlicht bei juris (Anfechtung ei-ner Bürgermeisterwahl wegen Wahlbeeinflussung).

VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 30.03.2010 - 14 L 295/10, online veröffentlicht bei juris (Wirddie Wahlwerbung durch staatliche Auflagen in ihrem Umfang begrenzt, hat der Staat die "kleinenParteien" im Rahmen der abgestuften Chancengleichheit zu berücksichtigen).

VG Gera, Beschluss vom 06.07.2010 – 2 E 465/10 Ge, 2 E 465/10, in: ThürVBl. 2010, S. 234-236(Aufruf eines Oberbürgermeisters in "Öffentlichen Bekanntmachungen" zum Protest gegen eine an-gemeldete Demonstration).

VG Gießen, Beschluss vom 21.04.2010 – 8 K 267/10.GI, in: HGZ 2010, S. 192-193 (Anfechtung ei-ner Bürgermeisterwahl wegen überhöhten Kautionsverlangens für die Vermietung einer Halle).

VG Gießen, Beschluss vom 10.08.2010 – 8 K 1956/10.GI, nicht veröffentlicht (Fortsetzungsfeststel-lungsklage wegen überhöhten Kautionsverlangens für die Vermietung einer Halle).

VG Gießen, Urteil vom 14.07.2010 – 8 K 69/09.GI, online veröffentlicht bei juris (Eröffnung einesGirokontos).

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MIP 2011 17. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

VG Halle (Saale), Beschluss vom 26.10.2010 – 6 B 207/10, nicht veröffentlicht (Zulassung einerPartei zu einer öffentlichen Einrichtung).

VG Köln, Beschluss vom 04.05.2010 – 18 L 589/10, online veröffentlicht bei juris (Wahlplakatie-rung an Laternenmasten).

VG Meiningen, Urteil vom 24.06.2010 – 8 K 677/08 Me, in: ThürVBl. 2010, S. 236-237 (Jedenfallsaußerhalb der Wahlkampfzeiten ist eine Wahlwerbung durch Aufstellen von Plakaten eine Sonder-nutzung und gebührenpflichtig).

VG Münster, Urteil vom 30.04.2010 – 1 K 993/08, online veröffentlicht bei juris (Kontoeröffnungfür eine politische Partei bei Sparkasse).

3. Parteienfinanzierung

EuGH, Urteil vom 06.10.2009 – C-267/08, in: EuZW 2010, S. 898-899 (Werbeaktivitäten von Un-terorganisationen politischer Parteien keine wirtschaftliche Tätigkeit).

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.06.2010 – OVG 3 N 107/08, online veröffentlicht beijuris (Parteienfinanzierung; staatliche Teilfinanzierung; Rechenschaftsbericht unrichtig; Spenden;Rückforderung).

VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126/09, online veröffentlicht bei juris (Rückforderungstaatlicher Mittel; rechtswidrige Spenden des damaligen NRW-Landesvorsitzenden der FDP).

VG Berlin, Urteil vom 14.01.2010 – 2 K 118/09, online veröffentlicht bei juris (Begriff der Spendeund Wahlkampf für eine andere Partei; fehlerhafter Rechenschaftsbericht der Partei Die Linke).

VG Berlin, Urteil vom 3. Dezember 2010 – 2 K 108.10, nicht veröffentlicht (Rückforderung staatli-cher Mittel; Unrichtigkeiten im Rechenschaftsbericht der NPD).

FG München, Urteil vom 07.07.2009 – 6 K 3583/07, in: EFG 2009, S. 1823-1825 (Haftung für Auf-wandsspenden an eine politische Partei).

4. Parteien und Parlamentsrecht

BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.07.2010 – 2 BvR 2227/08, 2 BvR 2228/08, in: DstRE2010, S. 1058-1059 (Steuerliche Berücksichtigung der Abgeordnetenpauschale verfassungsrechtlichzulässig).

VerfGH Bayern, Entscheidung vom 26.11.2009 – Vf. 32-IVa-09, in: BayVBl. 2010, S. 298-303(Bayerischer Landtag; Parlamentsautonomie; Selbstorganisationsrecht; Landtagsausschuss; Größe).

VerfGH Berlin, Urteil vom 14.07.2010 – VerfGH 57/08, in: LKV 2010, S. 414-417 (Akteneinsichtdes Abgeordneten).

VerfGH Sachsen, Urteil vom 20.04.2010 – Vf. 54-I-09, online veröffentlicht bei juris (Antwort-pflicht der sächsische Staatsregierung auf Kleine Fragen).

VGH Bayern, Beschluss vom 28.09.2009 – 4 ZB 09/858, in: BayVBl. 2010, S. 248-249 (Besetzungder Kreisausschüsse; Übertritt zu einer anderen Fraktion; Ausschusswirksamkeit; Fraktionsgemein-schaft)

OVG Bremen, Urteil vom 20.04.2010 – 1 A 192/08, online veröffentlicht bei juris (Gewährung vonFraktionsstatus in Gemeindevertretung).

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Rechtsprechungsübersicht MIP 2011 17. Jhrg.

OVG Koblenz, Beschluss vom 04.02.2010 – 2 A 11246/09, in: NVwZ-RR 2010, S. 448 (Eine Stadt-ratsfraktion verliert mit dem Ablauf der Wahlperiode ihre Existenz und ist deshalb im Verwaltungs-prozess nicht mehr beteiligungsfähig im Sinne des § 61 Nr. 2 VwGO).

VG Bremen, Urteil vom 05.03.2010 – 1 K 1937/07, online veröffentlicht bei juris (Gewährung vonFraktionsstatus in Gemeindevertretung).

5. Wahlrecht

BVerfG, Beschluss vom 25.02.2010 – 2 BvC 6/07, online veröffentlicht bei juris (Erledigung einerWahlprüfungsbeschwerde bzgl. der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag mit Ablauf der betroffenenLegislaturperiode - negatives Stimmgewicht).

BVerfG, Beschluss vom 18.10.2010 – 2 BvR 2174/10, in: NVwZ-RR 2010, S. 945-946 (Keine Indi-vidualverfassungsbeschwerde zum BVerfG bei Landtagswahlen).

BVerfG, Beschluss vom 18.10.2010 – 2 BvC 3/10, online veröffentlicht bei juris (Verwerfung einerWahlprüfungsbeschwerde mangels Beitritt von 100 Wahlberechtigten gem. § 26 Abs. 3 S. 2 Alt. 2EuWG).

BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.10.2010 – 2 BvR 1913/09, online veröffentlicht bei juris(Kreistagswahl in Bayern - Verschiebung der Stimmengewichtung bei Listenverbindungen).

BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10.11.2010 – 2 BvR 1946/10, online veröffentlicht bei juris(Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen Verletzung des passiven Wahlrechts auf kom-munaler Ebene mangels rügefähigen Rechts).

StGH Bremen, Urteil vom 08.04.2010 – St 3/09, in NordÖR 2010, S. 198-200 (Normenkontrollver-fahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Sitzverteilungsverfahrens).

VerfGH Bayern, Entscheidung vom 10.05.2010 – Vf. 49-III-09, in: BayVBl. 2010, S. 531-535 (Gül-tigkeit der Landtagswahl 2008; Wahlbeanstandung; Fristende; 5%-Sperrklausel; Sitzverteilung).

VerfGH Bayern, Entscheidung vom 26.10.2009 – Vf. 16-VII-08, in BayVBl. 2010, S. 140-142 (Ver-fassungsmäßigkeit des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens bei Wahl der Gemeinderäte).

VerfGH Bayern, Entscheidung vom 08.12.2009 – Vf. 47-III-09, in: BayVBl. 2010, S. 172-174(Landtagswahl 2008; Wahlprüfung durch den Verfassungsgerichtshof; Kandidatenaufstellung; ge-heime Abstimmung).

VerfGH Bayern, Entscheidung vom 08.12.2009 – Vf-47-III-09, in: NVwZ-RR 2010, S. 213-214(Voraussetzungen der geheimen Abstimmung bei der Kandidatenaufstellung für Landtagswahl).

VerfGH Brandenburg, Beschluss vom 17.06.2010 – VfGBbg 24/10, online veröffentlicht bei juris/BeckRS 2010, 50058 (Mandatsverlust; Wahlprüfung; Wahlprüfungsentscheidung).

VerfGH Brandenburg, Beschluss vom 19.08.2010 – VfGBbg 25/10, online veröffentlicht bei juris/BeckRS 2010, 52677 (Wahlprüfungsbeschwerde muss hinreichend begründet und substantiiert sein;Mandatsverteilung; Wahlfehler).

VerfGH Schleswig-Holstein, Urteil vom 30.08.2010 – LVerfG 3/10, in: NordÖR 2010, S. 389-400(Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag).

VerfGH Schleswig-Holstein, Urteil vom 30.08.2010 – LVerfG 1/10, in: NordÖR 2010, S. 401-408(Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag).

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MIP 2011 17. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 – 8 C 18/08, in: NVwZ-RR 2010, S. 818-822 (Zulässigkeit ge-meinsamer Wahlvorschläge für die Wahl ehrenamtlicher Gemeindevorstandsmitglieder durch dieGemeindevertretung).

BVerwG, Urteil vom 09.12.2009 – 8 C 17/08, in: NvwZ 2010, S. 834-837 (gemeinsamer Wahlvor-schlag mehrerer Fraktionen zur Besetzung der Ausschüsse der Gemeindevertretung; Koalitionsver-trag).

VGH Bayern, Beschluss vom 16.07.2009 – 4 ZB 09/26, online veröffentlicht bei juris (Kreistags-wahl in Bayern - Verschiebung der Stimmengewichtung bei Listenverbindungen).

OVG Bautzen, Beschluss vom 19.04.2010 – 4 A 410/09, in: SächsVBl. 2010, S. 193-195 (Kommu-nalwahlkampf; Neutralitätsgebot; unerlaubte Wahlbeeinflussung; unbefugte Wappennutzung).

OVG Greifswald, Beschluss vom 04.05.2010 – 2 L 177/09, in: NVwZ-RR 2010, S. 778-779 (An-fechtung einer Kommunalwahl wegen Übernahme der Fahrtkosten von Wählern).

OVG NRW, Beschluss vom 05.11.2010 – 15 A 860/10, online veröffentlicht bei juris (Kommunal-wahlrecht – Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl – hier: Unzulässigkeit der Klage mangels Kla-gebefugnis).

VG Aachen, Urteil vom 27.05.2010 – 4 K 125/10, online veröffentlicht bei juris (Vergrößerung derSitzzahl des Rates infolge von Überhang- und Ausgleichsmandaten).

VG Düsseldorf, Urteil vom 16.04.2010 – 1 K 314/10, in: NWVBl. 2010, S. 405-408 (Grundsatz derGleichheit der Wahl bei einer Verhältniswahl).

VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 02.03.2010 – 15 K 86/10, in: Städte- und Gemeinderat 6(2010), S. 33-34 (Klage gegen Wiederholungswahl).

VG Minden, Urteil vom 24.02.2010 – 3 K 3343/09, online veröffentlicht bei juris (Kommunalwahl-recht: Verstoß gegen das Öffentlichkeitsgebot, Auswirkung auf das Wahlergebnis).

VG Trier, Urteil vom 03.11.2009 – 1 K 438/09. TR, in: LKRZ 2010, S. 78 (Neufeststellung einesKommunalwahlergebnisses).

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Literaturübersicht MIP 2011 17. Jhrg.

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung

Dieser Literaturüberblick schließt an die in Heft 16 der „Mitteilungen des Instituts für Deutschesund Europäisches Parteienrecht“, S. 162 ff. aufgeführte Übersicht an. Auch hier handelt es sich umeine Auswahlbibliographie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Im Wesentlichenwurden Publikationen des Jahres 2010 berücksichtigt. Entsprechend der Konzeption kann und sollim Rahmen der reinen Übersicht keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Publika-tionen geleistet werden.

Aaken, Anne van: Regulierung durch Transparenz: Verhaltensweisen für Parlamentarier und ihreRealfolgen, in: Der Staat 49 (2010), S. 369-403.

Alemann, Ulrich von/ Morlok, Martin/ Krüper, Julian (Hrsg.): (Partei-) Politik im Zeichen des Mar-keting, Baden-Baden 2010.

Alemann, Ulrich von (unter Mitarbeit von Philip Erbentraut und Jens Walther): Das Parteiensystemder Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2010.

Althaus, Marco: Überholtes Parteienrecht, in: Politik und Kommunikation 2010, S. 20-21.

Arnim, Hans-Herbert von: Doppelalimentation von Europaabgeordneten – Gesetzeslücke oder Fehl-interpretation?, in: DÖV 2010, S. 197-203.

Austermann, Philipp: Spenden an Abgeordnete, in: ZParl 2010, S. 527-534.

Becker, Florian: Verfassungswidrigkeit des schleswig-holsteinischen Landeswahlgesetzes, in:NVwZ 2010, S. 1524-1529.

Beckmann, Martin/ Wittmann Antje: Das Recht auf Wahrheit bei der Kommunalwahl – Zu den Fol-gen einer Missachtung der Wahrheitspflicht im Kommunalwahlkampf, in: NWVBl. 2010, S. 81-87.

Behnke, Joachim: Negatives Stimmgewicht, Erfolgswert und Überhangmandate – einige Anmerkun-gen, in: KritV 1 (2010), S. 3-28.

Behnke, Joachim: Überhangmandate und negatives Stimmgewicht: Zweimannwahlkreise und ande-re Lösungsvorschläge, in: ZParl 2010, S. 247-260.

Betzinger, Michael: Parteisponsoring, in: DVBl. 2010, S. 1204-1212.

Bolay, Raphael: Erfolgreiche Linke, gescheiterte Rechte, Ursachen für die Asymmetrie des deut-schen Parteiensystems, Marburg 2010.

Brunnemann, Daniel: Auslaufmodell Volkspartei? Wie die Volksparteien sich selbst das Grabschaufeln, Marburg 2010.

Bülow, Marco: Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter, Berlin 2010.

Bukow, Sebastian/ Seemann, Wenke: Die Große Koalition. Regierung - Politik - Parteien 2005-2009,Wiesbaden 2010.

Burhenne, Wolfgang E./ Kunz, Ursula: Recht und Organisation der Parlamente, SystematischeSammlung des Verfassungs- und Wahlrechts, der Geschäftsordnungen und aller sonstigen Materiali-en der Parlamente des Bundes und der Länder, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen,Berlin 2010.

Bußjäger, Peter: Freistellung von Abgeordneten für Betreuungszwecke. Zeitgemäße Neuerung odereine verpönte Form des Mandats auf Zeit?, in: ZParl 2010, S. 42-49.

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MIP 2011 17. Jhrg. Literaturübersicht

Cao, Ci: Parteien als Eigentümer von Medien, Frankfurt am Main (u.a.) 2010.

Deiseroth, Dieter: Der sog. Spiegelbildlichkeitsgrundsatz und die Wahl der Ausschüsse von Kom-munalvertretungen. Anmerkung zu BVerwG, Urteil vom 09.12.2009 – 6 C 17/08, in: jurisPR-BVerwG 19/2010 Anmerkung 6.

Deiseroth, Dieter: Zulässigkeit gemeinsamer Wahlvorschläge für die Wahl ehrenamtlicher Gemein-devorstandsmitglieder durch die Gemeindevertretung (Stadtverordneteversammlung). Anmerkungzu BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 – 8 C 18/08, in: jurisPR-BVerwG 18/2010 Anmerkung 3.

Deubert, Michael: Listenverbindungen als zulässige Zählgemeinschaften bei Gemeinde- und Land-kreiswahlen, in: BayVBl. 2010, S. 717-719.

Dittberner, Jürgen: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung,Wiesbaden 2010.

Edathy, Sebastian: Für ein NPD-Verbot, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2010,S. 32-34.

Egle, Christoph/ Zohlnhöfer, Reimut: Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Mer-kel 2005-2009, Wiesbaden 2010.

Frenz, Walter: Abgeordneterechte, in: JA 2010, S. 126-128.

Gabriel, Oscar W./ Holtmann, Everhard: Der Parteistaat – ein immerwährendes demokratisches Är-gernis? Ideologiekritische und empirische Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, in: ZfP 2010,S. 307-328.

Geiling, Heiko (Hrsg.): Die Krise der SPD. Autoritäre oder partizipatorische Demokratie, Berlin2009.

Gehne, David/ Spier, Tim (Hrsg.): Krise oder Wandel der Parteiendemokratie? Festschrift zum 65.Geburtstag von Ulrich von Alemann, Wiesbaden 2010.

Gehse, Oliver: Vorstandsmitglieder kraft Amtes in politischen Parteien, 1. Aufl. Baden-Baden 2010.

Gelber, Theresia Anna: Das Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG am Beispiel des NPD-Verbotsverfahrens, in: Osnabrücker Beiträge zur Parteienforschung, Band 4, 1. Aufl., Göttingen2010.

Goeke, Martin: Parteien, Parteiensysteme und Gewaltenkonflikt, Marburg 2010.

Groß, Markus: Direktwahl ohne Stichwahl? – Einige Anmerkungen zur demokratischen Legitimati-on kommunaler Wahlbeamter, in: LKRZ 2010, S. 93-98.

Heinig, Michael: Sponsoring von Parteiveranstaltungen, in: JZ 2010, S. 485-495.

Henneke, Hans-Günter/ Ritgen, Klaus: Die Direktwahl der Landräte – Rechtliche Grundlagen, kom-munale Praxis und verfassungsrechtliche Vorgaben -, in: DÖV 2010, S. 656-676.

Heul, Guido: Die Bedeutung des demographischen Wandels für die innerparteiliche Partizipation,Repräsentanz und Themenstellung der älteren Parteimitglieder der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands, Dortmund 2010.

Hettlage, Manfred C.: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Bis zum 30.6.2011 muss das Bundeswahl-recht geändert werden, in: BayVBl. 2010, S. 33-36.

Hettlage, Manfred C.: Bleibt die große Reform des Abgeordneten-Wahlrechts ein Traum?, in:BayVBl. 2010, S. 655-658.

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Literaturübersicht MIP 2011 17. Jhrg.

Hientzsch, Christina: Die politische Partei in der Insolvenz, Baden-Baden 2010.

Hientzsch, Christina: „Gezwitscherte“ Wahlergebnisse – Veröffentlichung von Wählerbefragungenvor Ablauf der Zeit, in: DÖV 2010, S. 357-361.

Hientzsch, Christina: § 3 PartG – ein parteienrechtliches Relikt? – Ein Beitrag zur Parteifähigkeitpolitischer Parteien –, in: JR 2010, S. 185-189.

Hofmann, Klaus/ Naumann, Kolja: Europäische Demokratie in guter Verfassung? Tagungsbandzum Kolloquium von Mehr Demokratie e.V. und der Demokratie-Stiftung an der Universität zuKöln, Baden-Baden 2010.

Holzner, Thomas: Die Verfassungswidrigkeit des Bundeswahlrechts. Problemstellung und Lösung,in: ZG 2010, S. 167-192.

Hopp, Gerhard/ Sebaldt, Martin/ Zeitler, Benjamin (Hrsg.): Die CSU. Strukturwandel, Modernisie-rung und Herausforderungen einer Volkspartei, Wiesbaden 2010.

Hornig, Eike-Christian: Die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa, Baden-Baden2010.

Huber, Peter M.: Größe der Ausschüsse im Bayerischen Landtag, in: BayVBl. 2010, S. 289-298.

Isensee, Josef: Funktionsstörung im Wahlsystem: Das negative Stimmgewicht – Denkbare Lösun-gen eines Dilemmas, in: DVBl. 2010, S. 269-277.

Jesse, Eckhard: Die Bundestagswahl 2009 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, in: ZParl2010, S. 91-101.

Jesse, Eckhard: Die sächsische Landtagswahl vom 30.August 2009: Sachsens Vorreiterrolle für denBund, in: ZParl 2010, S. 322-339.

Jun, Uwe/ Höhne, Benjamin (Hrsg.): Parteien als fragmentierte Organisationen, Erfolgsbedingungenund Veränderungsprozesse, Opladen & Farmington Hills 2010.

Jutzi, Siegfried: Ein Abgeordneter gegen alle Gewalten, in: LKRZ 2010, S. 36-40.

Käßner, Anne: Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte der Mitglieder des Deutschen Bundestages.Eine Untersuchung möglicher Regelungsinstrumente unter vergleichender Berücksichtigung der Be-sonderheiten der drei Staatsgewalten, Berlin 2010.

Kehl, Peter: Die Spendensau und das Bundesverfassungsgericht, in: Liberal 2010, S. 29-30.

Klinger, Remo: Neutrale Regierungen in der direkten Demokratie? – Abstimmungswerbung von Re-gierungen bei direktdemokratischen Gesetzgebungsinitiativen, in: LKV 2010, S. 164-167.

Klüpfel, Annette: Die EVP - auf dem Weg zu einer Europäischen Partei?: Ein Beispiel für transna-tionale Parteienbündnisse in der Europäischen Union: Organisationsstrukturen, Arbeitsweisen undErfolgsstrategien, Passau 2010.

Knaut, Annette: Abgeordnete als Politikvermittler. Zum Wandel von Repräsentation in modernenDemokratien, Baden-Baden 2010.

Kittner, Oliver: Verfassungsrechtliche Bedenken bzgl. erweiterter Mandatssicherungsbestimmun-gen, in: DVBl. 2010, S. 893-901.

Koch, Michael H./ Mohring, Mike: Zur Öffentlichkeitsarbeit von Parlamentsfraktionen – Zulässig-keit, Grenzen, Novellierungsbedarf, in: ThürVBl. 2010, S. 199-202.

216

Page 219: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

MIP 2011 17. Jhrg. Literaturübersicht

Köhler, Kristina: Gerechtigkeit als Gleichheit? Eine empirische Analyse der objektiven und subjek-tiven Responsivität von Bundestagsabgeordneten, Wiesbaden 2010.

Kohler, Uwe: Politikfinanzierung. Probleme und Lösungen im Lichte von Law and Economics,Baden-Baden 2010.

Kornmeier, Claudia: Rede zu Protokoll – Der Bundestag formalisiert ein lange praktiziertes Verfah-ren-, in: DÖV 2010, S. 676-682.

Korte, Karl-Rudolf: Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikationsund Regierungsforschung, Wiesbaden 2010.

Kost, Andreas/ Rellecke, Werner/ Weber, Reinhold (Hrsg.): Geschichte der Parteien in den deut-schen Ländern, München 2010.

Kreutz, Marcus: Der Fall Tauss oder: Wie weit darf ein Abgeordneter bei Recherchen gehen?, in:DÖV 2010, S. 599-606.

Kropp, Sabine: Die Ministerialbürokratie als Rollenpartner der Fachpolitiker in den Fraktionen, aufnationaler Ebene und im Mehrebenensystem der EU. Ergebnisse einer Studie über den DeutschenBundestag, in: DÖV 2010, S. 413-422.

Krumbholz, Arne: Finanzierung und Rechnungslegung der politischen Parteien und deren Finanzie-rung, Baden-Baden 2010.

Külpmann, Christoph: Zur Verfassungswidrigkeit der Mandatszuteilung im bremischen Wahlrecht,in: NordÖR 2010, S. 1-6.

Lackner, Hendrik: Grundlagen des Wahlprüfungsrechts nach Art. 41 GG, in: JuS 2010, S. 307-311.

Lang, Tobias: Politikberatung auf parlamentarischer Ebene. Eine Analyse der Enquete-Kommissionzur Föderalismusreform im Bayerischen Landtag, Baden-Baden 2010.

Lenski, Sophie-Charlotte: Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 134 (2010),S. 473-512.

Leuschner, Udo: Die Geschichte der FDP: Metamorphosen einer Partei zwischen rechts, liberal undneokonservativ, Münster 2010.

Linhart, Eric/ Schoen, Harald: Überhang- und Ausgleichsmandate in Schleswig-Holstein: UnklaresWahlrecht und Reformvorschläge, in: ZParl 2010, S. 290-303.

Löwer, Wolfgang: Wehrhafte Demokratie, in: BRJ 2010, S. 6-10.

Lübbert, Daniel: Negative Stimmgewichte bei der Bundestagswahl 2009, in: ZParl 2010, S. 278-289.

Lütjen, Torben: Die populistische Versuchung. Zur Aktualität der Tradition des Anti-Intellektualis-mus in den USA, in: Universitas, 07/2010, S. 1-11.

Lütjen, Torben: Vom „Gospel of Efficiency“ zum „War of Ideas“. Zum Verhältnis von Wissen-schaft, Politik und Ideologien in den Vereinigten Staaten, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 50,2010, S. 373-395.

Lütjen, Torben/ Erbentraut, Philipp: Eine Welt zu gewinnen. Entstehungskontext, Wirkungsweiseund Narrationsstruktur des Kommunistischen Manifests, in: Johanna Klatt und Robert Lorenz (Hg.),Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011 i.E., S. 73-99.

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Literaturübersicht MIP 2011 17. Jhrg.

Matschoß, Robert: Alter Tee in neuen Schläuchen? Das Tea Party Movement in den USA, in: Uni-versitas 7/2010, S. 705-715.

Mandelartz, Herbert: Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit, in: LKRZ 2010, S. 371-374.

Manssen, Gerrit: Die verfassungsrechtlich garantierte Stellung der Abgeordneten in den LändernMittel- und Osteuropas, Frankfurt 2009.

Meinel, Florian: Chancengleichheit oder Kooptation? Der Zugang kleinerer Parteien zur Bundes-tagswahl, in: ZParl 2010, S. 67-76.

Merten, Heike: Politische Parteien als Dritte-Sektor-Institutionen - Ein verfassungsrechtliches Zu-sammenspiel unterschiedlicher Aufsichtssysteme, in: Hans-Jörg Schmidt-Trenz/ Rolf Stober(Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ökonomik des Dritten Sektors 2009/2010 (RÖDS) 2010, S. 149-170.

Meyer, Hans: Die Zukunft des Bundestagswahlrechts. Zwischen Unverstand, obiter dicta, Interes-senkalkül und Verfassungsverstoß, Baden-Baden 2010.

Meyer, Hubert: Recht der Ratsfraktionen, 5. Auflage, Wiesbaden 2009.

Milic, Thomas: Steuern die Parteien das Volk? Der Einfluss der Parteien auf die inhaltliche Argu-mentation ihrer Anhängerschaften bei der Schweizer Sachabstimmungen, in: ZPol 2010, S. 3-45.

Mittag, Jürgen/ Steuwer, Janosch: Politische Parteien in der EU, Wien 2010.

Mittnik, Philipp: Die FPÖ – eine rechtsextreme Partei? Zur Radikalisierung der Freiheitlichen unterHC-Strache, Wien 2010.

Morlok, Martin: Politische Chancengleichheit durch Abschottung? Die Filterwirkung politischerParteien gegenüber gesellschaftlichen Machtpositionen, in: David Gehne/ Tim Spier (Hrsg.), Kriseoder Wandel der Parteiendemokratie?, Festschrift für Ulrich von Alemann, 2010, S. 19-36.

Morlok, Martin/ Hientzsch, Christina: Das Parlament als Zentralorgan der Demokratie – Eine Zu-sammenschau der einschlägigen parlamentsschützenden Normen, in: JuS 2011, S. 1-9.

Neuhaus, Philipp: Parteifusionen und- abspaltungen, Hamburg 2010.

Niedermayer, Oskar: Die Wahl zum Europäischen Parlament vom 7. Juni 2009 in Deutschland:SPD-Debakel im Vorfeld der Bundestagswahl, in: ZParl 2010, S. 711-731.

Niedermayer, Oskar: Von der Zweiparteiendominanz zum Pluralismus: Die Entwicklung des deut-schen Parteiensystems im westeuropäischen Vergleich, in: PSV 2010, S. 1-13.

Niedermayer, Oskar: Die Entwicklung der Parteienmitgliedschaften von 1990 bis 2009, in: ZParl2010, S. 421-473.

Niedermayer, Oskar: Die Erosion der Volksparteien, in: ZfP 2010, S. 265-277.

Nohlen, Dieter/ Stöver, Philip (Hrsg.): Elections in Europe, Baden-Baden 2010.

Oebbecke, Janbernd: Wahlrechtsgleichheit bei der Bürgermeisterwahl, in: NBVBl. 2010, S. 333-336.

Paul, Nadja: Die Rundfunkbeteiligungen politischer Parteien. Eine Untersuchung aus verfassungs-rechtlicher Sicht, Baden-Baden 2010.

Pauland, Daniel/ Rolfsen, Michael: Aktuelle Probleme des Wahl(prüfungs)rechts in der Fallbearbei-tung, in: Jura 2010, S. 677-683.

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MIP 2011 17. Jhrg. Literaturübersicht

Pehle, Heinrich/ Sturm, Roland: Die europäische Integration – ein relevanter Bezugsrahmen des na-tionalen Parteiwettbewerbs?, in: ZfP 2010, S. 294-306.

Prasse, Jan-Ole: Der kurze Höhenflug der NPD, Marburg 2010.

Prinz, Sebastian: Die programmatische Entwicklung der PDS: Kontinuität und Wandel der Politikeiner sozialistischen Partei, Wiesbaden 2010.

Propach, Ulrike/ Fuderholz, Jens: Schein oder nicht Schein, das ist hier die Frage. Befunde der Ver-bändestudie 2009 zur Debatte über Transparenz und Lobbying, in: ZPB 2010, S. 89-89.

Pukelsheim, Friedrich/ Rossi, Matthias: Wahlsystemnahe Optionen zur Vermeidung negativerStimmgewichte, in: JZ 2010, S. 922-929.

Rattinger, Hans/ Roßteutscher, Sigrid/ Schmitt-Beck, Rüdiger/ Weßels, Bernhard: Die Bundestags-wahl 2009, Baden-Baden 2010.

Reuter, Werner: Demokratie im Bundesstaat. Zum Verhältnis zweier verfassungsrechtlicher Struk-turprinzipien, in ZPol 2010, S. 123-148.

Richter, Philipp: Briefwahl für alle? – Die Freigabe der Fernwahl und der Grundsatz der Öffentlich-keit –, in: DÖV 2010, S. 606-610.

Rudi, Tatjana: Wahlentscheidungen in postsozialistischen Demokratien in Mittel- und Osteuropa,Marburg 2010.

Rudolph, Karsten: Strategiebildung der SPD im neuen Parteiensystem, in: Neue Gesellschaft,Frankfurter Hefte 2010, S. 24-27.

Rudolph, Karsten: Die SPD – ein Denkort, in: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte 2010, S. 62-65.

Sachs, Michael: Nachrichtendienstliche Beobachtung von Abgeordneten. Anmerkung zu BVerfG,Beschluss vom 01.07.2009 – 2 BvE 5/06, in: JuS 2010, S. 840-843.

Samardžić, Darko: Das Parteienrecht Serbiens und Montenegros. Eine Untersuchung mit rechtsver-gleichendem Blick auf Deutschland und die Europäische Union, Berlin 2010.

Schmedes, Hans-Jörg: Wählen im Blick Europas. Die Beobachtung der Bundestagswahl 2009 durchdie OSZE, in: ZParl 2010, S. 76-91.

Schöne, Helmar: Alltag im Parlament. Parlamentskultur in Theorie und Empirie, Baden-Baden2010.

Schreiber, Wolfgang: Das Bundesverfassungsgericht als Wahlprüfungsgericht – Eine Analyse derjüngeren wahlprüfungsrechtlichen Spruchpraxis zu Wahlen zum Deutschen Bundestag, in: DVBl.2010, S. 609-618.

Schrenk, Klemens H./ Soldner, Markus (Hrsg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme. Fest-schrift für Wolfgang Ismayr zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2010.

Schwarz, Kyrill-A.: Das Spannungsverhältnis von Regierungsarbeit und Parteifunktion, in: NWVBl.2010, S. 172-176.

Shirvani, Foroud: Parteienfreiheit, Parteienöffentlichkeit und die Instrumente des Verfassungsschut-zes, in: AöR 134 (2010), S. 572-595.

Shirvani, Foroud: Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem. Staats- und europa-rechtliche Untersuchungen zu den strukturellen Veränderungen im bundesdeutschen und europäi-schen Parteiensystem, Tübingen 2010.

219

Page 222: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

Literaturübersicht MIP 2011 17. Jhrg.

Sieberer, Ulrich: Parlamente als Wahlorgane. Parlamentarische Wahlbefugnisse und ihre Nutzungin 25 europäischen Demokratien, Baden-Baden 2010.

Spier, Tim: Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa. Eine Untersuchung derModernisierungsverlierer-Theorie, Wiesbaden 2010.

Spier, Tim: Zwischen Aufbruch und Niedergang. Die europäischen Linksparteien, in: Neue Gesell-schaft/ Frankfurter Hefte, Bd. 57 (2010), S. 35-37.

Stollenwerk, Detlef: Probleme der wilden Plakatierungen, in: VR 2010, S. 82-84.

Theis, Christoph: Das Ende der Fünf-Prozent-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht, in: KommJur2010, S. 168-171.

Thiele, Ulf: Die Basis der Partei ist engagiert, in: Die politische Meinung Nr. 488/489 (2010), S. 77-80.

Timm-Arnold, Klaus-Peter: Bürgermeister und Parteien in der kommunalen Haushaltspolitik. Endo-gene Ursachen kommunaler Haushaltsdefizite, Wiesbaden 2010.

Urban, Franz/ Herrmann, Michael: Überhangmandate ohne negatives Stimmgewicht: Machbarkeit,Wirkung, Beurteilung, in: ZParl 2010, S. 260-278.

Vetter, Angelika: Alles nur Timing? Kommunale Wahlbeteiligung im Kontext von Bundestagswahlund Wahlen zum Europäischen Parlament, in: ZParl 2010, S. 788-808.

Volkmann, Uwe: Grundprobleme der staatlichen Bekämpfung des Rechtsextremismus, in: JZ 2010,S. 209-217.

Walter, Franz: Vom Milieu zum Parteienstaat: Lebenswelten, Leitfiguren und Politik im histori-schen Wandel, Wiesbaden 2010.

Weckenbrock, Christoph: Die streitbare Demokratie auf dem Prüfstand. Die neue NPD als Heraus-forderung, Bonn 2009.

Werner, Melanie: Gesetzesrecht und Satzungsrecht bei der Kandidatenaufstellung politischer Partei-en. Probleme des Vorschlagsrechts nach BWG und EuWG, in: Osnabrücker Beiträge zur Parteien-forschung, Osnabrücker Beiträge zur Parteienforschung, Band 5, Göttingen 2010.

Wittmann, Antje: Geheime Wahlen bei Teilnahme von zwei Wahlberechtigten?, in: NVwZ 2010,S. 1072-1074.

Zotti, Stefan: Politische Parteien auf europäischer Ebene. Grundzüge der politischen und rechtlichenEntwicklung des europäischen Parteiensystems, Baden-Baden 2010.

220

Page 223: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

MIP 2011 17. Jhrg. Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter

Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter

Im Folgenden finden sich die Vorträge, die von Mitarbeitern des PRuF im Jahre 2010 auf den Ge-bieten des Parteienrechts und der Parteienforschung gehalten wurden.

Prof. Dr. Martin Morlok

• „Die finanzielle Förderung von zivilgesellschaftlichen Organisationen – Modernes Staats-verständnis, kulturelle und gesellschaftliche Wandlungen im Spiegel des Haushaltsrechts“,Referent im Rahmen des Fachgesprächs der Heinrich-Böll-Stiftung „Öffentliche Finanzie-rung und Steuerung der politischen Stiftungen – Stiftungsfinanzierungsgesetz oder Haus-haltsrechtsmodernisierung“ am 11. März 2010 in Berlin

• „Politische Parteien“, Vortrag im Rahmen des DFG-Rundgesprächs „Der Eigenwert desVerfassungsrechts. Was bleibt von der Verfassung nach der Globalisierung?“ in der CarlFriedrich von Siemens-Stiftung am 25. und 26. März 2010 in München

• Stellungnahme als Sachverständiger zu Formen der privaten Parteien- und Politikfinanzie-rung, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 7. Juni2010 im Paul-Löbbe-Haus in Berlin

• Stellungnahme als Sachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahlge-setzes für den Landtag von Schleswig-Holstein, Öffentliche Anhörung des Innen- undRechtsausschusses des Schleswig-Holsteinischen Landtags am 9. Juni 2010 in Kiel

• Stellungnahme als Sachverständiger zu Fragen der Gestaltung von Stimmzetteln in dem Be-weisaufnahmeverfahren des Ausschusses für Justiz, Verfassungs- und Rechtsfragen sowieWahlprüfung des Landtages des Saarlandes (Wahlprüfungsverfahren WA 14/5 und WA14/3) am 6. Dezember 2010 in Saarbrücken

• „Parteienfinanzierung und Parteiensponsoring“, Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe zuaktuellen gesellschaftspolitischen Fragen der Stiftung Demokratie Saarland am 6. Dezember2010 in Saarbrücken

Prof. Dr. Thomas Poguntke

• The German Party System after the Bundestag Elections: Back to the 1950s?, paper preparedfor the Meeting of the Council for European Studies, Montreal 2010

• Governing Germany: Still Chancellorship?, paper presented at the Conference “GoverningWestern Democracies”, LUISS School of Government, Rome, 19. November 2010

Prof. Dr. Ulrich von Alemann

• „Die Zukunft unserer Parteiendemokratie“, Vortrag beim Neujahrsempfang des Freundes-kreises des Hetjens-Museums e.V. Düsseldorf am 13. Januar 2010

• „Analyse der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen“, Vortrag vor dem Managerkreis NRWder Friedrich-Ebert-Stiftung Düsseldorf am 09. Juni 2010

• „Die Landtagswahl in NRW 2010 – Ursachen und Wirkungen“, Vortrag vor dem Rotary-Club am 19. Juni 2010

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Page 224: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter MIP 2011 17. Jhrg.

• „Missbrauch öffentlicher Macht zum privaten Nutzen – Theorie und Praxis aus politikwis-senschaftlicher Sicht“, Vortrag zum Fachgespräch „Was ist Korruption? Definition und Di-mension für eine effektive Korruptionsbekämpfung.“ Ein interdisziplinärer Dialog der Fried-rich-Ebert-Stiftung und von Transparency International Deutschland e.V. am 1. Oktober2010 in Berlin

• „Parteien: verdrossen? Ein Einblick in die Parteienforschung“, Vortrag zum Tag der Univer-sität am 03. Oktober 2010, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (zusammen mit Dr. TimSpier)

• „40 Jahre Bürgerbeteiligung – Demokratie als Wagnis“, Vortrag als „dinner speech“ im An-schluss an die Fachtagung „Meine Meinung zählt!“ veranstaltet von der Staatskanzlei Rhein-land-Pfalz und dem Deutschen Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer am 6.September 2010

• „Hart, aber unfair? Die Politik, die Medien und das Publikum“, Impulsreferat in der Johan-niskirche Düsseldorf am 17. November 2010

• Laudatio zur Abschiedsvorlesung von Bernd Witte am 30. November 2010

• „Gesellschaftliche Veränderungen und ihre Rückwirkungen auf die gewerkschaftliche Inter-essenvertretung. Wie müssen sich Gewerkschaften auf veränderte gesellschaftliche Rahmen-bedingungen einstellen? – Analyse, Lösungsvorschläge, Diskussionen“, Vortrag beim Zerti-fikatskurs „Gewerkschaftsmanagement“ der dbb akademie forum siebengebirge am 04.Dezember 2010

• „Lobbyismus als legitime Interessenvertretung“, Vortrag bei der MedInform-Veranstaltung„Grundlagen erfolgreichen Lobbyings für die Akteure der Gesundheitswirtschaft“ am 26.Januar 2011 in Berlin

Dr. Alexandra Bäcker

• „Rechtliche Rahmenbedingungen der Beteiligung von Nichtmitgliedern“, Vortrag im Rah-men der SPD-Werkstattgespräche „Parteireform“ am 10. November 2010, Willy-Brandt-Haus, Berlin

Philipp Erbentraut, M.A.

• „Parteientheorien im Vormärz“, Vortrag beim Düsseldorfer Doktorandenkolloquium Partei-enwissenschaften am 6. November 2010

Dr. Heike Merten

• „Ist ein Stiftungsfinanzierungsgesetz erforderlich oder sollte das Haushaltsgesetz geändertwerden?“, Vortrag im Rahmen des Fachgesprächs bei der Heinrich-Böll-Stiftung zum The-ma Öffentliche Finanzierung und Steuerung der politischen Stiftungen – Stiftungsfinanzie-rungsgesetz oder Haushaltsmodernisierung? am 11. März 2010, Berlin

• Volksentscheid im internationalen Vergleich, Vortrag im Rahmen des 8. Grüner Salon Bie-lefeld: Mehr Demokratie …. Oder mehr Egoismus? Hamburg, Stuttgart, Bielefeld –Deutschland im „Aufbruch“ am 28. November 2010

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Page 225: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

MIP 2011 17. Jhrg. Vortragstätigkeiten der Institutsmitarbeiter

Dr. Tim Spier

• „Das Ende der Lagerpolarisierung? Lagerübergreifende Koalitionen in den deutschen Bun-desländern 1949-2009“, Vortrag am 04. Februar 2010 auf der Tagung „Die Bundestagswahl2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung“ derNRW School of Governance (Prof. Korte), Duisburg

• „Panorama der europäischen Linksparteien“, Vortrag am 01. Juli 2010 auf der Tagung „Par-teien links der Sozialdemokratie in Europa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin

• „Parteien: verdrossen? Ein Einblick in die Parteienforschung“, Vortrag am 03. Oktober 2010auf dem Tag der Universität der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf (zusammen mit Ul-rich von Alemann)

• „Erholung in der Opposition? Die SPD nach der Bundestagswahl 2009“, Vortrag am 15. Ok-tober 2010 auf der Tagung „Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009“ des AK Parteien-forschung der DVPW (Prof. Niedermayer, Prof. Jun), Berlin

223

Page 226: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter MIP 2011 17. Jhrg.

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter

Im Folgenden finden sich die wissenschaftlichen Publikationen, die von Mitarbeitern des PRuF imJahre 2010 auf den Gebieten des Parteienrechts und der Parteienforschung veröffentlicht wurden.

Prof. Dr. Martin Morlok

• Politische Chancengleichheit durch Abschottung? Die Filterwirkung politischer Parteien ge-genüber gesellschaftlichen Machtpositionen, in: David Gehne/ Tim Spier (Hrsg.), Krise oderWandel der Parteiendemokratie?, Festschrift für Ulrich von Alemann, 2010, S. 19-36.

• Das Parlament als Zentralorgan der Demokratie – Eine Zusammenschau der einschlägigenparlamentsschützenden Normen, in: JuS 2011, S. 1-9 (zusammen mit Dr. ChristinaHientzsch).

Prof. Dr. Thomas Poguntke

• How Europe Changes National Parties. Evidence from a 15-Country-Study, in: WestEuropean Politics, Bd. 33 (2010), Nr. 2, S. 297-324 (zusammen mit Elisabeth Carter).

• Landmark Elections in Germany, in: Simon Bulmer, Charlie Jeffery & Stephen Padgett(Hrsg.); Rethinking Germany and Europe. Democracy and Diplomacy in a Semi-SovereignState, Houndmills, Basingstoke; Macmillan 2010 (zusammen mit Gordon Smith).

• „Germany“, in: Tim Bale & Ingrid van Biezen (Hrsg.), European Journal of Political Re-search: Political Data Yearbook 2008, Bd. 49 (2010), Nr.7-8, S. 982-990.

Prof. Dr. Ulrich von Alemann

• Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland (unter Mitarbeit von Philipp Erbentrautund Jens Walther), 4. vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2010.

• Handbuch Europa in Nordrhein-Westfalen – wer macht was in Nordrhein-Westfalen für Eu-ropa? (Hrsg. mit Anne Gödde, Hartwig Hummel, Claudia Münch), Wiesbaden 2010.

• Parteimitglieder in Deutschland. Die Deutsche Parteimitgliederstudie 2009 (zusammen mitAnnika Laux), in: Neues aus Wissenschaft und Lehre. Jahrbuch der HHU Düsseldorf2008/2009, düsseldorf university press, 2010, S. 641-648.

• Laudatio für Herfried Münkler, in: Siepe, Hans T. (Hrsg.): Gesellschaften der Moderne. Dr.Meyer-Struckmann-Preis 2009: Herfried Münkler, 2010, Droste Verlag, Seite 27-42.

• Darf man der Regierung den Stinkefinger zeigen?, in: Fifty-Fifty „Pro und Contra“, Novem-ber 2010.

Dr. Alexandra Bäcker

• Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, Beiträge zum Parlamentsrecht, Bd. 69, Berlin2011 (i.E.), zugleich Düsseldorf, Univ. Diss., 2010.

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Page 227: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

MIP 2011 17. Jhrg. Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter

Philipp Erbentraut, M.A.

• Mitarbeit an (gemeinsam mit Jens Walther): Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem derBundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Wiesbaden 2010.

• Rezension zu: Liedhegener, Antonius/Oppelland, Torsten (Hrsg.): Parteiendemokratie in derBewährung. Festschrift für Karl Schmitt, Baden-Baden 2009, in: MIP 16 (2010), S. 150-152.

• Eine Welt zu gewinnen. Entstehungskontext, Wirkungsweise und Narrationsstruktur desKommunistischen Manifests, in: Johanna Klatt und Robert Lorenz (Hg.), Manifeste. Ge-schichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011 i.E. (zusammen mit Dr.Torben Lütjen).

Marcus Hahn-Lorber, LL.M.

• Power Beyond the Constitution? The Emergence and Evolution of 'New Governance' Net-works in the EU – Normative Value and Limits, in: H. Morgan u. a. (Hrsg.), Perspectives onPower: An Interdisciplinary Approach, Newcastle, Cambridge Scholars Publishing 2010,S. 368-389.

• Rezension: Wolfgang Schreiber, BWahlG. Bundeswahlgesetz. Kommentar, 8. Aufl. Köln2009, in: MIP 2010, 139-140.

Dr. Christina Hientzsch

• „Gezwitscherte“ Wahlergebnisse – Veröffentlichungen von Wählerbefragungen vor Ablaufder Wahlzeit – in: DÖV 2010, S. 357-361.

• § 3 PartG – ein parteienrechtliches Relikt?, in: JR 2010, S. 185-189.

• Veröffentlichung von Parteischiedsgerichtsentscheidungen, in: MIP 16 (2010), S. 110-115.

• Das Parlament als Zentralorgan der Demokratie – Eine Zusammenschau der einschlägigenparlamentsschützenden Normen, in: JuS 2011, S. 1-9 (zusammen mit Prof. Dr. MartinMorlok).

Dr. Torben Lütjen

• Eine Welt zu gewinnen. Entstehungskontext, Wirkungsweise und Narrationsstruktur desKommunistischen Manifests, in: Johanna Klatt und Robert Lorenz (Hg.), Manifeste. Ge-schichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011 i.E., S. 73-99 (zusammenmit Philipp Erbentraut).

• Die populistische Versuchung. Zur Aktualität der Tradition des Anti-Intellektualismus inden USA, in: Universitas, 07/2010, S. 1-11.

• Vom „Gospel of Efficiency“ zum „War of Ideas“. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politikund Ideologien in den Vereinigten Staaten, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 50, 2010,S. 373-395.

225

Page 228: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter MIP 2011 17. Jhrg.

Robert Matschoß

• Alter Tee in neuen Schläuchen? Das Tea Party Movement in den USA, in: Universitas7/2010, S. 705-715.

• Rezension zu: Nicole Marianne Grünewald: Keine Angst vor Politikmarken! Evolution undEnttabuisierung eines gesellschaftlichen Phänomens, Baden-Baden 2009, in: MIP 16 (2010),S. 149 f.

Dr. Heike Merten

• „Entwicklungsgeschichte der Fraktionen im Europäischen Parlament“, in: Doris Dialer, EvaLichtenberger, Heinrich Neisser (Hrsg.), Das Europäische Parlament. Institution, Vision undWirklichkeit, 2010, S. 227-237.

• Politische Parteien als Dritte-Sektor-Institutionen - Ein verfassungsrechtliches Zusammen-spiel unterschiedlicher Aufsichtssysteme, in: Hans-Jörg Schmidt-Trenz/ Rolf Stober (Hrsg.),Jahrbuch Recht und Ökonomik des Dritten Sektors 2009/2010 (RÖDS), Welche Aufsichtbraucht der Dritte Sektor?, Baden-Baden 2010, S. 149-170.

• An den Grenzen der Rechtsdogmatik, herausgegeben mit Julian Krüper und Martin Morlok,Tübingen 2010.

• Rezension: Otto Markus Carstens: Europäische Parteien, Wirkungsvolle Akteure der Demo-kratie?, 2009, in: MIP 16 Jg. (2010), S. 152.

• Rezension: Clemens zur Hausen: Der Beitrag der "Europarteien" zur Demokratisierung derEuropäischen Union, 2008, in: MIP 16 Jg (2010), S. 152-154

Dr. Tim Spier

• Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa. Eine Untersuchung der Mo-dernisierungsverlierer-Theorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

• (Hrsg.) Krise oder Wandel der Parteiendemokratie? Festschrift für Ulrich von Alemann,Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010 (mit David Gehne).

• Wer wird Funktionär? Determinanten der Erlangung lokaler politischer Ämter in den Bun-destagsparteien, in: Jun, Uwe/ Höhne, Benjamin (Hrsg.), Parteien als fragmentierte Organi-sationen. Erfolgsbedingungen und Veränderungsprozesse, Opladen/ Farmington Hills: Ver-lag Barbara Budrich 2010, S. 123-151

• Niedersachsen – Die verzögerte Anpassung an die bundesdeutsche Normalität, in: Kost, An-dreas/Rellecke, Werner/ Weber, Reinhold (Hrsg.), Geschichte der Parteien in den deutschenLändern, München: C.H. Beck 2010, S. 256-274.

• Das Ende der Lagerpolarisierung? Lagerübergreifende Koalitionen in den deutschen Bun-desländern 1949-2009, in: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009. Analysender Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden: Verlag fürSozialwissenschaften 2010, S. 296-317.

• Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, in: Gehne, David/ Spier, Tim (Hrsg.), Kriseoder Wandel der Parteiendemokratie? Festschrift für Ulrich von Alemann, Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 7-15 (mit David Gehne)

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Page 229: des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und … · 2010 war für das PRuF ein Jahr der Verände-rung. In dem Bestreben, die bisher erfolgreiche Arbeit fortzusetzen

MIP 2011 17. Jhrg. Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter

• L'impossible alliance. Le SPD face à Die Linke, in: Clouet, Louis-Marie/Stark, Hans (Hrsg.),Radioscopies de l'Allemagne 2010, Paris: Institut français des relations internationales 2010,S. 43-60.

• Zwischen Aufbruch und Niedergang. Die europäischen Linksparteien, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Bd. 57 (2010), H. 1-2, S. 35-37.

Jens Walther, M.A.

• Zwischen Kooperation und Blockade? Entwicklung und Strategie der Oppositionsparteienwährend der Großen Koalition, in: Bukow, Sebastian/ Seemann, Wenke (Hrsg.): Die GroßeKoalition: Eine Bilanz, Wiesbaden 2010, S. 317-333.

• Rezension zu Gabriel, Oscar W./ Weßels, Bernhard/ Falter, Jürgen W. (Hrsg.): Wahlen undWähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2009, in: MIP 16(2010), S. 147-148.

• Mitarbeit an (gemeinsam mit Philipp Erbentraut): Ulrich von Alemann, Das Parteiensystemder Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Wiesbaden 2010.

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