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1 Deutscher Studienpreis | 1. Preis Sozialwissenschaften Warum man nach Finnland ziehen sollte, um den amerikanischen Traum zu leben Dr. Anne Christine Holtmann In einem Ziel sind sich Regierungen, Partei- en und Eltern in sehr vielen Ländern einig: Kinder sollen erfolgreich lernen können – unabhängig von der sozialen Lage der Fami- lie. Aber in vielen Ländern bleibt bei den schulischen Leistungen die Kluft zwischen den Kindern je nach sozialer Situation der Familie groß. Bei der Suche nach Lösungen wird auf das Schulsystem geschaut, es wird reformiert und umstrukturiert. In meiner Dissertation gehe ich der Frage nach, ob andere Faktoren entscheidender sind für den Rückstand vieler Kinder. Die verglei- chende Analyse der USA, Finnland und 35 weiterer Länder zeigt, dass benachteiligte Schüler bessere Chancen haben, wenn sie sozial durchmischte Schulen besuchen, oh- ne dass privilegierte Schüler darunter lei- den. Insgesamt wird aber der Einfluss von Schulen häufig überschätzt. Diese Ergebnis- se bedeuten: Bildungsreformen können Fortschritte bringen, aber tief greifende So- zialreformen sind unerlässlich, wenn wir mehr Kindern Bildungschancen eröffnen wollen. Dr. Anne Christine Holtmann promovierte am European University Institute in Florenz im Fach- und Spezialgebiet: Politik– und Sozialwissenschaften.

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Deutscher Studienpreis | 1. Preis

Sozialwissenschaften

Warum man nach Finnland ziehen sollte,

um den amerikanischen Traum zu leben

Dr. Anne Christine Holtmann

In einem Ziel sind sich Regierungen, Partei-

en und Eltern in sehr vielen Ländern einig:

Kinder sollen erfolgreich lernen können –

unabhängig von der sozialen Lage der Fami-

lie. Aber in vielen Ländern bleibt bei den

schulischen Leistungen die Kluft zwischen

den Kindern je nach sozialer Situation der

Familie groß. Bei der Suche nach Lösungen

wird auf das Schulsystem geschaut, es wird

reformiert und umstrukturiert. In meiner

Dissertation gehe ich der Frage nach, ob

andere Faktoren entscheidender sind für

den Rückstand vieler Kinder. Die verglei-

chende Analyse der USA, Finnland und 35

weiterer Länder zeigt, dass benachteiligte

Schüler bessere Chancen haben, wenn sie

sozial durchmischte Schulen besuchen, oh-

ne dass privilegierte Schüler darunter lei-

den. Insgesamt wird aber der Einfluss von

Schulen häufig überschätzt. Diese Ergebnis-

se bedeuten: Bildungsreformen können

Fortschritte bringen, aber tief greifende So-

zialreformen sind unerlässlich, wenn wir

mehr Kindern Bildungschancen eröffnen

wollen.

Dr. Anne Christine Holtmann promovierte am European University Institute in Florenz

im Fach- und Spezialgebiet: Politik– und Sozialwissenschaften.

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Der vorliegende Beitrag wurde beim Deutschen Studienpreis 2018 mit dem 1. Preis in der Sektion

Sozialwissenschaften ausgezeichnet.

Er beruht auf der 2017 am European University Institute Florenz eingereichten Dissertation »Why are child-

ren from disadvantaged families left behind? The impacts of families, schools and education systems on

students' achievement« von Dr. Anne Christine Holtmann.

Einleitung und Forschungsfragen

»If you want the American dream, go to Fin-

land«, lautete der Titel eines Artikels zu Chan-

cengleichheit im Washington Monthly (Fleetwood,

2013). Die Idee, dass alle Kinder die gleichen Er-

folgschancen haben sollten, ist Teil des

(amerikanischen) Traums. Die Wirklichkeit sieht

aber anders aus: Kinder aus sozioökonomisch

benachteiligten Elternhäusern schneiden schon

im Bildungssystem deutlich schlechter ab als ih-

re Mitschüler aus privilegierten Familien. Das gilt

weltweit, aber in manchen Ländern ist die Kluft

zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders

groß. Internationale Vergleichsstudien wie PISA,

TIMMS und PIRLS zeigen zum Beispiel, dass deut-

sche und amerikanische Schüler aus benachtei-

ligten Verhältnissen im Lesen, in Mathematik

und den Naturwissenschaften deutlich schlech-

ter abschneiden als benachteiligte Schüler aus

Finnland.

Warum lesen und rechnen Schüler aus be-

nachteiligten Familien schlechter als ihre Mit-

schüler, und warum ist der Unterschied in den

USA und Deutschland besonders groß? Dazu gibt

es verschiedene Hypothesen. Die am weitesten

verbreitete Auffassung lautet: Schulen und Bil-

dungssysteme sind für die Leistungen der Schü-

ler verantwortlich. Finnland hat beispielsweise

ein egalitäres Gesamtschulsystem mit geringen

Ungleichheiten zwischen verschiedenen Schulen

(OECD, 2011; Sahlberg, 2015). In den USA dage-

gen besuchen benachteiligte Schüler tendenziell

Schulen in benachteiligten Nachbarschaften mit

geringeren finanziellen Ressourcen, weniger qua-

lifizierten Lehrern und vielen anderen benachtei-

ligten Schülern (Kozol, 1991; Owens, Reardon, &

Jencks, 2016). In Deutschland werden Kinder je

nach Schulnoten und Empfehlungen auf ver-

schiedene Schultypen aufgeteilt. Das führt dazu,

dass Schüler aus benachteiligten Familien oft in

Hauptschulen oder in den Hauptschulzweigen

der Sekundarschulen konzentriert sind. Diese

Unterschiede in den Bildungssystemen könnten

zu ungleichen Chancen beitragen. Viele Länder,

in denen die Schüler schlecht abgeschnitten ha-

ben und die Chancen besonders ungleich waren,

haben mit Schulreformen reagiert. In Deutsch-

land wurden Bildungsstandards und Ganztags-

schulen eingeführt und Haupt- und Realschulen

zusammengelegt. In den USA wurden Tests aus-

geweitet und Schulen mit schlechten Ergebnis-

sen die Mittel gestrichen.

Internationale Vergleichsstudien haben zu

hitzigen Debatten über Schulreformen und Bil-

dungssysteme geführt. Andere Erklärungen sind

dadurch aus dem Blick geraten. Erstens: Kompe-

tenzunterschiede zwischen Schülern können

auch außerhalb der Schule in den Familien ent-

stehen (Alexander, Entwisle, & Olson, 2007; Dow-

ney, von Hippel, & Broh, 2004; Heyns, 1978). Das

zugrunde liegende Problem für Chancengleich-

heit wären dann eher sozioökonomische Un-

gleichheiten zwischen Familien und nicht Schu-

len und Schulpolitik (Berliner, 2013; Merry,

2013; Solga, 2012, 2014). Finnland beispielsweise

hat nicht nur ein egalitäres Bildungssystem, son-

dern auch sehr geringe Einkommensungleichhei-

ten und nur wenig Kinderarmut.

Zweitens überschätzt man die Rolle von Schu-

len und Bildungssystemen, wenn man sich nicht

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anschaut, wann Bildungsungleichheiten entste-

hen. Schon bevor die Schule überhaupt beginnt,

hinken Schüler aus sozioökonomisch benachtei-

ligten Familien oft schon in vorschulischen Fä-

higkeiten wie Zählen, Wortschatz, Grammatik,

Geschichtenerzählen und phonologischer Be-

wusstheit hinterher (Bradbury, Corak, Waldfo-

gel, & Washbrook, 2015; Heckman, 2006; Merry,

2013). Wenn Bildungsungleichheiten hauptsäch-

lich vor der Einschulung entstehen, wäre das

ein Hinweis, dass Schulen nur einen begrenzten

Einfluss haben.

In meiner Dissertation gehe ich deshalb der

Frage nach, ob Schulen und Bildungssysteme, in

denen Kinder unterschiedlicher sozioökonomi-

scher Herkunft zusammen zur Schule gehen,

dazu beitragen, ungleiche Chancen in den fami-

liären Lernumwelten auszugleichen – oder ob

ungleiche Chancen vor allem auf sozioökonomi-

sche Ungleichheiten zwischen den Familien

oder frühe Kompetenzunterschiede noch vor

Schulbeginn zurückzuführen sind. In internatio-

nalen Vergleichsstudien wie PISA werden Schü-

ler nur ein Mal getestet und befragt. Solche Stu-

dien erlauben nicht, die Rolle von Schulen, Fa-

milien und frühen Kompetenzunterschieden zu

trennen. Obwohl die PISA-Studien oft benutzt

werden, um die unterschiedlichsten Bildungsre-

formen zu begründen, kann man aus der Rang-

folge der Länder nicht ablesen, warum in man-

chen Ländern die Schüler besser abschneiden

und die Chancengleichheit höher ist. Das ist, als

wolle man von einem Thermometer ablesen,

warum es draußen kalt ist (Buckley, zitiert in

Layton (2013)).

In meinem Forschungsdesign habe ich ver-

sucht, die Effekte von Schulen von denen der

Familien und den frühen Kompetenzen der

Schüler selbst zu trennen. Um die frühen kogni-

tiven Fähigkeiten der Schüler zu berücksichti-

gen, untersuche ich im ersten Schritt, wann sich

Kompetenzunterschiede zwischen Kindern un-

terschiedlicher sozioökonomischer Herkunft

entwickeln. Ich vergleiche Schüler, die die Schu-

le mit gleichen kognitiven Fähigkeiten begin-

nen, aber in Familien unterschiedlicher sozialer

Herkunft aufwachsen. Dazu nutze ich eine

Längsschnittstudie, für die US-Schüler vom Kin-

dergarten bis zum Alter von etwa 14 Jahren in

regelmäßigen Abständen befragt und im Lesen

und in Mathematik getestet wurden. In einem

zweiten Schritt frage ich, warum Schüler aus

sozioökonomisch benachteiligten Familien hin-

ter ihre Mitschüler aus privilegierten Familien

zurückfallen, selbst wenn sie mit gleichen Kom-

petenzen die Schule begonnen haben. Um den

Effekt von Familien und Schulen zu trennen,

vergleiche ich, was Schüler im Schuljahr lernen

und was sie in den Sommerferien lernen. Im

Schuljahr wird das Lernen von Familien und

Schulen beeinflusst. In den Sommerferien dage-

gen ist die Schule geschlossen. Um in einem

dritten Schritt zu verstehen, ob Schulen unglei-

che familiäre Anregungsbedingungen besser

ausgleichen können, wenn sie sozial durch-

mischt sind, vergleiche ich die kognitive Ent-

wicklung von Kindern unterschiedlicher sozialer

Herkunft in den USA und Finnland – ebenfalls

während des Schuljahres und während der Som-

merferien. In einem vierten Schritt teste ich, ob

benachteiligte Schüler in sozioökonomisch inte-

grierten Schulsystemen mehr lernen, aber diese

Verbesserungen auf Kosten privilegierter Kinder

gehen. Dazu analysiere ich, ob Veränderungen

in der sozioökonomischen Integration von

Schulsystemen in 35 Ländern über einen Zeit-

raum von etwa zehn Jahren mit Veränderungen

der Schulleistung von Schülern unterschiedli-

cher sozialer Herkunft einhergehen. Im Folgen-

den gebe ich zuerst einen Überblick über die

wichtigsten Befunde und diskutiere diese dann

im Hinblick auf ihre politischen Implikationen.

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Forschungsergebnisse und Argumente

Sozioökonomisch benachteiligte Schüler sind nicht

einfach weniger klug

»Bei sozioökonomisch benachteiligten Schü-

lern hapert es schon zu Schulbeginn an kogniti-

ven Fähigkeiten.« Diese Position wird von Ver-

tretern zweier sehr unterschiedlicher Richtun-

gen vertreten: Die einen argumentieren, dass

die frühe Kindheit eine entscheidende Rolle

spielt für die spätere Entwicklung. Demnach

entwickeln sich Unterschiede in den kognitiven

Fähigkeiten schon in der frühen Kindheit und

bleiben danach relativ unverändert (Bradbury,

Corak, Waldfogel, & Washbrook, 2011; Heck-

man, 2006; Merry, 2013). Andere sind über-

zeugt, dass Kompetenzunterschiede größtenteils

genetisch bedingt sind und deshalb nicht durch

unterschiedliche Anregungsbedingungen in Fa-

milien oder Schulen entstehen (Herrnstein &

Murray, 1994; Marks, 2014). Auch wenn beide

Positionen sehr unterschiedliche Ursachen für

die Entwicklung von frühen Kompetenzunter-

schieden annehmen, sind sie doch beide der

Überzeugung, dass Unterschiede in den Kompe-

tenzen vor allem schon vor Beginn der Schulzeit

vorhanden sind.

Um die Frage zu beantworten, wann Kompe-

tenzunterschiede entstehen, habe ich die Ent-

wicklung von Lese- und Mathematik-

Kompetenzen von Vorschülern bis zum Alter

von 14 Jahren in den USA analysiert. Die Ergeb-

nisse bestätigen, dass schon am Ende der Kin-

dergartenzeit bei den frühen Lese- und Rechen-

fähigkeiten eine Kluft zwischen Kindern je nach

sozioökonomischer Situation der Familien be-

steht. Allerdings gibt es auch Kindergartenkin-

der aus sozial benachteiligten Familien, die den

meisten ihrer Altersgenossen in ihren Lese- und

Rechenfähigkeiten weit voraus sind. Aber selbst

diese Kinder fallen im Laufe der Schulzeit hinter

Kinder aus privilegierten Familien zurück –

auch wenn sie die Schule mit den gleichen Fä-

higkeiten begonnen haben. Dass diese Kinder

im Kindergartenalter in allen Kompetenztests

sehr gut abgeschnitten haben, zeigt, dass es

ihnen nicht an Intelligenz mangelt. Dass sie zu-

rückfallen, muss an etwas anderem als an ihrer

Intelligenz liegen.

Das Argument, dass es sozioökonomisch be-

nachteiligten Schülern nicht einfach an Intelli-

genz mangelt, wird durch einen weiteren Be-

fund gestützt: Kinder aus privilegierten Fami-

lien, die in ihrer kognitiven Entwicklung im

Kindergarten weit hinter ihren Altersgenossen

zurück sind, holen im Laufe der Schulzeit auf.

Geringe kognitive Fähigkeiten bei Schulbeginn

müssen also nicht dazu führen, dass Schüler

ihre ganze Schulzeit lang hinterher sein wer-

den.

Übertriebene Hoffnungen in Schulen

Die Frage ist somit, warum Kinder aus be-

nachteiligten Familien hinter ihre Altersgenos-

sen zurückfallen – selbst bei gleicher vorschuli-

scher Leistung. Besuchen sie benachteiligte

Schulen, oder liegt es an den Familien? Diese

Frage zu beantworten, ist nicht einfach. Denn

gebildetere oder wohlhabendere Familien kön-

nen ihre Kinder besser fördern und bei den

Hausaufgaben unterstützen. Und sie schicken

sie auch auf bessere Schulen. Wenn ihre Kinder

bei Tests besser abschneiden, ist deshalb nicht

klar, ob dies an der Unterstützung der Familie,

an der guten Schule oder an beidem liegt. Eine

Möglichkeit, den Einfluss von Familie einerseits

und Schule andererseits analytisch zu trennen,

ist ein Vergleich: Wie viel lernen die Schüler in

den Sommerferien und wie viel in der Schul-

zeit? In den Sommerferien wird das Lernen

hauptsächlich durch außerschulische Einflüsse,

also vor allem von der Familie, geprägt. Wäh-

rend des Schuljahres dagegen wird das Lernen

von Familie und Schule beeinflusst.

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Ich habe herausgefunden, dass Kompetenz-

unterschiede zwischen Schülern unterschiedli-

cher sozialer Herkunft während der Sommerfe-

rien stärker wachsen als während des Schuljah-

res. Da die Kluft in den schulischen Kompeten-

zen also besonders stark wächst, wenn die Schu-

len geschlossen sind, scheinen ungleiche Famili-

enbedingungen die Hauptursache für ungleiche

Chancen zu sein.

Der Lern-Vergleich von Sommerferien und

Schuljahr legt nahe, dass ohne Schulen die Kluft

zwischen den Kompetenzen je nach sozialer

Herkunft der Kinder noch größer wäre. Schulen

können also benachteiligte Familienverhältnisse

zum Teil ausgleichen. Allerdings ist dieser Effekt

in den USA schwach ausgeprägt. Dort wohnen

ärmere Familien nicht in den wohlhabenden

Nachbarschaften, und ihre Kinder gehen des-

halb normalerweise mit anderen Schülern aus

benachteiligten Familien zur Schule. Diejenigen

Kinder aus benachteiligten Familien, die doch

eine Schule mit einer sozial durchmischten

Schülerschaft besuchen, profitieren davon aber

besonders. Da der Effekt sich nur im Schuljahr

und nicht in den Sommerferien zeigt, handelt es

sich um einen Effekt von besseren Schulen und

nicht um einen Selektionseffekt. Dass die Schü-

ler mehr lernen, liegt also nicht einfach daran,

dass sie ehrgeizigere Eltern haben als Kinder auf

Schulen, in denen benachteiligte Schüler kon-

zentriert sind. Stattdessen profitieren benachtei-

ligte Schüler vom Zugang zu besseren Schulen.

Dieser Befund weist darauf hin, dass Schulen

benachteiligte Familienverhältnisse besser aus-

gleichen können, wenn sie sozial durchmischt

sind. Das ist aber in den USA nur selten der Fall.

In Finnland dagegen ist es der Normalfall, dass

Schüler verschiedener sozialer Herkunft ge-

meinsam zur Schule gehen (OECD, 2011; Sahl-

berg, 2015). Deshalb habe ich in meiner Disser-

tation untersucht, ob Schulen in Finnland fami-

liäre Ungleichheiten stärker ausgleichen als in

den USA.

Die USA und Finnland unterscheiden sich

aber nicht nur grundsätzlich in ihren Bildungs-

systemen, sondern auch die Ungleichheit zwi-

schen Familien ist in Finnland deutlich geringer.

Finnland hat nicht nur eines der egalitärsten

Bildungssysteme, sondern auch einen umvertei-

lenden Sozialstaat und im Vergleich sehr gerin-

ge Einkommensungleichheiten zwischen Fami-

lien. Wenn man dies nicht berücksichtigt, läuft

man Gefahr, den Effekt des Bildungssystems zu

überschätzten.

Um den Beitrag von Familien und Schulen in

den USA und Finnland zu trennen, nutze ich

wieder den Lern-Vergleich zwischen den Som-

merferien und dem Schuljahr. Wie schon be-

richtet, entwickeln sich in den USA die Kompe-

tenzen zwischen Schülern unterschiedlicher

sozialer Herkunft in den Sommerferien aus-

einander. In Finnland dagegen wachsen die

Kompetenzunterschiede in den Sommerferien

kaum. Da die Schulen in dieser Zeit geschlossen

sind, stärkt dieser Befund das Argument, dass

die geringe sozioökonomische Ungleichheit zwi-

schen Familien zur hohen Chancengleichheit in

Finnland beiträgt.

Sozioökonomisch durchmischte Schulen und Bil-

dungssysteme eröffnen benachteiligten Schülern

Chancen

Zusätzlich holen finnische Schüler, deren

Eltern eine kürzere Schulbildung genossen ha-

ben, während des Schuljahres im Lesen im Ver-

gleich zu ihren Mitschülern auf. Die Kluft zwi-

schen Schülern verschiedener sozialer Herkunft

wird in Finnland also während des Schuljahres

kleiner. In den USA dagegen wächst sie auch im

Schuljahr weiter – nur langsamer als während

der Sommerferien. Das sozioökonomisch inte-

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grierte Schulsystem in Finnland eröffnet allen

Schülern den Zugang zu qualitativ hochwerti-

gen Schulen. Dies scheint dazu beizutragen,

dass Schulen in Finnland familiäre Ungleichhei-

ten besser kompensieren als Schulen in den

USA.

Anders als in Deutschland sind die Bildungs-

systeme der USA und Finnlands beide Gesamt-

schulsysteme, in denen Schüler erst im Alter

von etwa 17 Jahren verschiedene Schultypen

besuchen. In vergleichenden Studien zu Bil-

dungssystemen wird meist nur die formale Dif-

ferenzierung berücksichtigt (Van de Werfhorst

& Mijs, 2010). Die Situation in den USA macht

allerdings deutlich, dass Bildungssysteme, in

denen es formal nur einen Schultyp gibt, in der

Praxis trotzdem sehr ungleiche Schulen haben

können. Um dies zu erfassen, schlage ich vor,

das Ausmaß, in dem Schüler verschiedener sozi-

aler Herkunft getrennte Schulen besuchen, zu

berücksichtigen. Dies ist ein Indikator für das

tatsächliche Maß an Ungleichheit zwischen

Schulen. Der Vorteil ist, dass dadurch sowohl

Ungleichheiten zwischen Schulen erfasst wer-

den, die durch formale Differenzierung entste-

hen, als auch Ungleichheiten, die durch ver-

steckte Formen der Differenzierung entstehen,

wie Privatschulen und die Segregation von

Nachbarschaften.

Um zu untersuchen, ob sozioökonomisch

integrierte Bildungssysteme benachteiligten

Schülern Chancen eröffnen und welche Auswir-

kungen dies auf privilegierte Schüler hat, habe

ich in einem nächsten Schritt 35 Länder unter-

sucht. Wenn man einfach die Schülerleistungen

in sozioökonomisch integrierten mit denen in

segregierten Schulsystemen vergleichen würde,

läuft man Gefahr, Unterschiede zwischen Bil-

dungssystemen mit anderen Länderunterschie-

den zu vermengen. Segregierte Bildungssysteme

findet man häufiger in Ländern mit hohen Un-

gleichheiten zwischen Familien und einem ho-

hen Anteil von Schülern mit Migrationshinter-

grund. Deshalb habe ich nur Veränderungen

innerhalb von Ländern berücksichtigt und diese

mithilfe von fünf Wellen der PISA-Daten von

2000 bis 2012 analysiert. Dabei habe ich Folgen-

des gefunden: Wenn Schulsysteme über die Zeit

weniger segregiert werden, verbessert sich die

Leistung von sozioökonomisch benachteiligten

Schülern. Ihre Leistung sinkt dagegen, wenn die

Schulsysteme stärker segregiert werden. Dieser

Befund unterstützt, dass sozioökonomisch

durchmischte Schulen und Bildungssysteme

benachteiligten Schülern Chancen eröffnen.

Schulen sind besonders für Schüler aus benachteilig-

ten Familien entscheidend

Besorgte Eltern fürchten oft, dass ihre Kinder

weniger lernen, wenn sie sozial durchmischte

Schulen besuchen. Entgegen diesen Befürchtun-

gen zeigen meine Analysen, dass Schüler aus

privilegierten Familien nicht weniger lernen,

wenn das Schulsystem sozioökonomisch inklusi-

ver wird, also Schüler verschiedener sozialer

Herkunft verstärkt dieselben Schulen besuchen.

Kinder aus privilegierteren Familien schneiden

in allen Bildungssystemen gut ab – unabhängig

davon, ob das Bildungssystem integrierter oder

segregierter geworden ist.

Privilegierte Familien können sicherstellen,

dass ihre Kinder in den verschiedensten Schulen

und Bildungssystemen gut abschneiden. Die

Kompetenzentwicklung von Schülern aus be-

nachteiligten Familien hängt dagegen stärker

von den schulischen Bedingungen ab. Dies ent-

spricht auch den Befunden anderer Studien zu

den Auswirkungen von formaler Differenzie-

rung (Hanushek & Woessmann, 2006; Horn,

2009; Jakubowski, Patrinos, Porta, &

Wiśniewski, 2010; Kerr, Pekkarinen, & Uusitalo,

2013; Le Donné, 2014; Van de Werfhorst, 2013;

Van de Werfhorst & Mijs, 2010).

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Das bedeutet, dass es keinen Zielkonflikt gibt

zwischen Chancengleichheit und Exzellenz ei-

nes Bildungssystems. Da benachteiligte Schüler

in sozioökonomisch integrierten Schulen mehr

lernen, während Schüler aus privilegierten Fa-

milien davon nicht beeinflusst werden, lassen

sich beide Ziele gleichzeitig erreichen.

Zusammenfassung

Schulen können Ungleichheiten in den fami-

liären Lebenswelten nicht völlig kompensieren.

Trotzdem können sozioökonomisch integrierte

Schulen und Bildungssysteme Chancen für

Schüler aus benachteiligten Familien eröffnen.

Auch wenn Schüler nur einen kleinen Teil ihrer

Zeit in der Schule verbringen, sind die schuli-

schen Lerngelegenheiten für Schüler aus be-

nachteiligten Familien besonders wichtig. Gera-

de für diese Kinder, die nicht zwischen Büchern

aufwachsen, nachmittags kein Instrument ler-

nen und zu Hause nicht mit Experimentierkäs-

ten spielen, können Schulen die Welt der Litera-

tur, der Musik und der Naturwissenschaften er-

öffnen.

Politische und gesellschaftliche Implikationen

Welche politischen und gesellschaftlichen

Implikationen haben diese Befunde?

Nachhaltigkeit frühkindlicher Interventionen hängt

auch von Schulen ab

Die schon vor Schulbeginn bestehende Kluft

zwischen den Kompetenzen von Kindern unter-

schiedlicher sozialer Herkunft kann reduziert

werden, indem man in qualitativ hochwertige

Kindergärten und Vorschulen investiert

(Blossfeld, Kulic, Skopek, & Triventi, 2017;

Esping-Andersen, 2002; Heckman, 2006). Heck-

man (2006) argumentiert, dass es am effektivs-

Schulen eröffnen Schülern die Welt der Literatur, der Musik und der Naturwissenschaften

(Illustration von Paul Zwolak).

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ten ist, früh in die kognitive Entwicklung zu

investieren, da frühe Kompetenzen die Grundla-

ge für das weitere Lernen sind.

Auch wenn es wichtig ist, schon früh einen

Rückstand durch Unterstützung wettzumachen

– es reicht nicht, nur in vorschulische Bildung

zu investieren. Selbst Kinder mit sehr hohen

vorschulischen Kompetenzen aus benachteilig-

ten Familien fallen im Laufe der Schulzeit hinter

ihre Mitschüler mit ähnlichen frühen Kompe-

tenzen, aber aus wohlhabenderen oder gebilde-

teren Familien zurück. Wenn man also, wie die

USA, in Kindergärten für die am meisten be-

nachteiligten Kinder investiert, sie dann aber

auf die benachteiligten Schulen in ihrer Nach-

barschaft gehen lässt, gehen die Kompetenzge-

winne aus der Vorschule über die Zeit verloren.

Ob die frühe Förderung nachhaltig ist, hängt

auch davon ab, was später in der Schule pas-

siert.

Schulzeit ausweiten, ohne die Qualität aus den

Augen zu verlieren

Der Vergleich, was Kinder in den Sommerfe-

rien lernen und was in der Schulzeit, hat ge-

zeigt, dass Schulen dazu beitragen, fehlende

kognitive Anregung zum Teil zu kompensieren.

Schüler aus sozioökonomisch benachteiligten

Familien profitieren in ihrer kognitiven Ent-

wicklung besonders von der Zeit in der Schule

im Vergleich zur Zeit, die sie zu Hause verbrin-

gen. Das bedeutet: Ein Weg, die Chancengleich-

heit zu erhöhen, ist es, Schülern mehr Zeit in

der Schule zu geben. Dies kann auf verschiede-

ne Weise geschehen. In den USA wäre beispiels-

weise eine Möglichkeit, die dreimonatigen Som-

merferien zu kürzen. In Deutschland wird die

Schulzeit durch die Einführung von Ganztags-

schulen ausgeweitet. Ein weiterer Weg ist, die

Schule oder den Kindergarten früher zu begin-

nen und die Qualität zu erhöhen. Allerdings ha-

ben meine Analysen auch gezeigt, dass die Fä-

higkeit von sozioökonomisch segregierten Schu-

len, familiäre Ungleichheiten auszugleichen,

begrenzt ist.

Die sozioökonomische Durchmischung von Schulen

fördern

Ich habe gezeigt, dass es sozioökonomisch

durchmischten Schulen besser gelingt, benach-

teiligten Schülern Chancen zu eröffnen. Dies

hat sich sowohl innerhalb der USA, im Vergleich

zu Finnland als auch an der Entwicklung in 35

Ländern gezeigt. Wenn man also die Fähigkeit

der Schulen stärken möchte, familiäre Ungleich-

heiten zu kompensieren, sollte man die soziale

Durchmischung der Schulen stärken.

Dies ist eine Herausforderung in allen Schul-

systemen, egal, ob sie formal Gesamtschulsyste-

me sind oder Kinder früh auf verschiedene

Schultypen aufgeteilt werden. In Deutschland

wurden Haupt- und Realschulen in den meisten

Bundesländern zu einem gemeinsamen Schul-

typ neben dem Gymnasium zusammengelegt.

Eine Studie zur Situation in Berlin zeigt aller-

dings, dass sich trotzdem die soziale Zusammen-

setzung der Schulen nicht verändert hat (Helbig,

& Nikolai, 2017). Entsprechend hat sich auch die

Chancengleichheit trotz der Schulstrukturre-

form in Berlin nicht erhöht (Neumann et al.,

2017).

Die soziale Durchmischung von Schulen zu

erhöhen, ist also schwierig, denn sie trifft auf

Widerstand von besorgten Eltern. Diese fürch-

ten, dass ihre Kinder weniger lernen, wenn ein

Schulsystem sozioökonomisch integrierter wird.

Dieser Widerstand ist tief verwurzelt und hart-

näckig. Dennoch muss immer wieder die Tatsa-

che ausgesprochen werden, dass sehr kompe-

tente Schülerinnen und Schüler durch eine bes-

sere Durchmischung nicht weniger lernen.

Denn auch das sehen wir in Finnland, wo Schu-

len sehr stark sozioökonomisch durchmischt

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sind: Der Anteil der sehr gut abschneidenden

Schüler in Mathematik und Lesen ist dort nicht

geringer als in segregierten Bildungssystemen

oder in Bildungssystemen, in denen Schüler

früh auf unterschiedliche Schultypen aufgeteilt

werden.

Da die soziale Durchmischung von Schulen

auf Widerstand stößt, gäbe es zwei alternative

Reformwege, um die Qualität von benachteilig-

ten Schulen zu erhöhen. Der erste ist, zusätzli-

che Ressourcen in benachteiligte Schulen zu

investieren. Zusätzliche Ressourcen können

beispielsweise genutzt werden, um die Klassen-

größe zu reduzieren, die Lehrer weiterzubilden

oder mehr Zeit für Unterricht zu schaffen. Der

zweite Weg ist die Einführung von Bildungsstan-

dards (Wössmann, & Peterson, 2007). Beide Re-

formwege wurden in Deutschland eingeschla-

gen. Diese Reformen sind politisch attraktiv, da

sie weniger Widerstand hervorrufen als die ver-

ordnete sozioökonomische Durchmischung von

Schulen. Allerdings gibt es Hinweise, dass die

sozioökonomische Durchmischung von Schulen

die Kluft in den Schulleistungen zwischen Kin-

dern unterschiedlicher sozialer Herkunft stärker

schließt, als es zusätzliche Ressourcen in be-

nachteiligte Schulen leisten können (Schwartz,

2012). Das zeigt eine Studie, bei der benachtei-

ligte Schüler, die durch den sozialen Wohnungs-

bau zufällig Schulen mit Kindern aus privilegier-

ten Familien besuchten, besser abschneiden als

benachteiligte Schüler, deren Schulen die zu-

sätzlichen Ressourcen bekommen hatten. Schu-

len für benachteiligte Schüler werden häufig

benachteiligende Schulen, selbst wenn sie zu-

sätzliche Ressourcen zur Verfügung haben.

Sozioökonomische Ungleichheiten zwischen Familien

bekämpfen

Der PISA-Schock hat in Deutschland dazu

geführt, dass das schlechte Abschneiden der

Schüler und die hohe Ungleichheit der Chancen

in den Fokus der öffentlichen Diskussion ge-

rückt sind. Bei der Suche nach Lösungen wird

immer auf das Schulsystem geschaut, es wird

reformiert und umstrukturiert. Kritiker dagegen

argumentieren, dass dadurch der entscheidende

Faktor für den Rückstand vieler sozioökono-

misch benachteiligter Schüler aus dem Blick

gerät: die sozioökonomische Ungleichheit zwi-

schen den Familien (Berliner, 2013; Downey et

al., 2004; Merry, 2013; Solga, 2012, 2014). Sie

argumentieren deshalb, dass tief greifende Sozi-

alreformen, die die Ungleichheiten zwischen

Familien reduzieren, die Chancengleichheit stär-

ker verbessern würden als eine Bildungspolitik,

die nur die Schulen im Blick hat.

Gebraucht wird eine sozialstaatliche Politik,

die beiträgt zur Verringerung der großen Kluft

zwischen gut Verdienenden und gut Gebildeten

auf der einen Seite und den weniger gut Verdie-

nenden und weniger Gebildeten auf der ande-

ren: Reformen, die die sozioökonomische Un-

gleichheit bekämpfen, Umverteilung durch

Steuern, Mindestlöhne und gute Beschäftigungs-

chancen für Geringqualifizierte. Solche Refor-

men stellen sicher, dass Familien weniger Stress

haben durch finanzielle Probleme und ihre Kin-

der besser unterstützen können. Dass mehr

Geld in den Taschen armer Familien dazu führt,

dass ihre Kinder mehr lernen, zeigen Studien

aus Norwegen und den USA (Black, Devereux,

Løken, & Salvanes, 2014; Chetty, Friedman, &

Rockhoff, 2011; Dahl, & Lochner, 2012; Duncan,

Morris, & Rodrigues, 2011; Maxfield, 2015). Den

Familien muss nicht zwingend mehr Geld gege-

ben werden. Die Politik könnte auch dazu bei-

tragen, die Bedeutung von Geld für den Bil-

dungserfolg von Kindern zu verringern. Eine

Möglichkeit sind der soziale Wohnungsbau, eine

öffentliche Infrastruktur für Kinder und eine

gute Gesundheitsvorsorge. In Deutschland wird

beispielsweise versucht, armen Familien zu er-

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möglichen, ihren Kindern Nachhilfe oder Musik-

unterricht zu bezahlen. Da dies aber für die Fa-

milien mit großem Verwaltungsaufwand ver-

bunden ist und die Kosten nur zu einem gerin-

gen Teil bezuschusst werden, ist die Politik bis-

her nicht sehr erfolgreich.

Bildungspolitik und Sozialpolitik sollten al-

lerdings nicht gegeneinander ausgespielt wer-

den. Beide sind wichtige Handlungsfelder. Um

Schulen sozial zu durchmischen, ist es nötig,

Nachbarschaften sozial zu durchmischen

(Schwartz, 2010). Dies bedeutet entweder, die

Einkommen der ärmsten Familien zu erhöhen,

sodass sie sich Wohnungen in guten Nachbar-

schaften leisten können, oder den sozialen

Wohnungsbau auszuweiten. Insofern gehen Bil-

dungs- und Sozialpolitik Hand in Hand.

Zusammenfassend unterstützt meine Disser-

tation die Beobachtung, dass geringere Un-

gleichheiten zwischen Familien und sozioökono-

misch durchmischte Schulen beide wichtig sind

für den Bildungserfolg von benachteiligten Kin-

dern. Bisher wird der Einfluss von Schulen häu-

fig überschätzt. Deshalb sind auch tief greifende

Sozialreformen unerlässlich, wenn wir mehr

Kindern Bildungschancen eröffnen wollen

(Allmendinger, & Leibfried, 2003, 2005; Solga,

2014). In Finnland ist ein Bildungstourismus ent-

standen, bei dem Lehrer und Politiker aus der

ganzen Welt finnische Schulen besuchen, um

das Geheimnis ihres Erfolges zu ergründen. Bei

ihrem Besuch sollten sie nicht an den Institutio-

nen des finnischen Sozialstaates vorbeigehen.

Während in vielen englischsprachigen Ländern

Bildungspolitik als Ersatz für Sozialpolitik gese-

hen wird (Heidenheimer, 1981; Morel, Palier, &

Palme, 2012), haben die skandinavischen Länder

Sozial- und Bildungspolitik miteinander ver-

schränkt. Eine solche Verschränkung ist mög-

lich – und sollte Schule machen, damit man

nicht mehr nach Finnland ziehen muss, um den

amerikanischen Traum zu leben.

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