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Die baltischen Staaten Mart Laar Um die Geschichtsbilder des Baltikums zu verstehen, müs- sen wir zuerst seine geschichtlichen Entwicklungen vor Augen führen, die uns zugleich Einblicke in das Ge- schichtsverständnis der drei baltischen Staaten geben, wo- bei ich vor allem aus dem Blickwinkel von Estland referie- re. Die Baltische Geschichte begann etwa vor 13.000 Jahren, als die südlichen Zipfel dieser Landschaft von der zurückweichenden Eisdecke frei wurden. Fast 2.000 Jahre dauerte die Eisschmelze auf dem später Baltikum genann- ten Gebiet. Vor etwa 10.000 Jahren wurde das Klima wär- mer und ermöglichte so die Besiedlung durch Menschen. In Estland entwickelte sich die so genannte Kunda-Kultur. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Esten genetisch tatsächlich mit dem Volk der Kunda-Kultur ver- wandt sind, das aus dem Süden nach Estland einwanderte und zur europäischen Sprachfamilie gehörte. Die Sprach- wissenschaftler hingegen betonen bezüglich der Genese der Esten stärker die Rolle der finno-ugrischen Völker. Die Urheimat der finno-urgischen Stämme befand sich im Uralgebirge. Von dort aus bewegten sich die Völker im Laufe der Zeit nach Westen. In Estland sind diese Völker mit der Verbreitung der so genannten Kammkeramikkul- tur vor etwa 4.000 Jahren in Verbindung gebracht worden. Spätestens um 2.200 vor Christus bewegten sich die in- doeuropäischen Einwanderer bzw. die baltischen Stämme aus südlicher Richtung nach Litauen und Lettland; nach ihren steinernen, bootförmigen Kampfäxten wurde ihre Kultur als „Bootaxt- und Streitaxt-Kultur“ bezeichnet. 289

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Die baltischen Staaten

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Um die Geschichtsbilder des Baltikums zu verstehen, müs-sen wir zuerst seine geschichtlichen Entwicklungen vorAugen führen, die uns zugleich Einblicke in das Ge-schichtsverständnis der drei baltischen Staaten geben, wo-bei ich vor allem aus dem Blickwinkel von Estland referie-re. Die Baltische Geschichte begann etwa vor 13.000Jahren, als die südlichen Zipfel dieser Landschaft von derzurückweichenden Eisdecke frei wurden. Fast 2.000 Jahredauerte die Eisschmelze auf dem später Baltikum genann-ten Gebiet. Vor etwa 10.000 Jahren wurde das Klima wär-mer und ermöglichte so die Besiedlung durch Menschen.In Estland entwickelte sich die so genannte Kunda-Kultur.Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Estengenetisch tatsächlich mit dem Volk der Kunda-Kultur ver-wandt sind, das aus dem Süden nach Estland einwanderteund zur europäischen Sprachfamilie gehörte. Die Sprach-wissenschaftler hingegen betonen bezüglich der Geneseder Esten stärker die Rolle der finno-ugrischen Völker. DieUrheimat der finno-urgischen Stämme befand sich imUralgebirge. Von dort aus bewegten sich die Völker imLaufe der Zeit nach Westen. In Estland sind diese Völkermit der Verbreitung der so genannten Kammkeramikkul-tur vor etwa 4.000 Jahren in Verbindung gebracht worden.

Spätestens um 2.200 vor Christus bewegten sich die in-doeuropäischen Einwanderer bzw. die baltischen Stämmeaus südlicher Richtung nach Litauen und Lettland; nachihren steinernen, bootförmigen Kampfäxten wurde ihreKultur als „Bootaxt- und Streitaxt-Kultur“ bezeichnet.

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Das Volk der Kriegsäxte brachte Viehherden und offen-sichtlich auch die Anfänge des Ackerbaus mit sich. Einenoch wichtigere Rolle spielten die eingewandertenStämme in der Entwicklung der baltischen Völker – derLetten und der Litauer. Nach der allmählichen Ver-mischung der Völker, Kulturen und Sprachen hielt sichnördlich des Düna-Flusses weiterhin die Sprache der finno-ugrischen Stämme, weiter südlich verschmolzen dieKammkeramik-Kulturen mit den indoeuropäischen. DieGrenze zwischen den zwei Kulturgebieten bildete sich voretwa 2.500 Jahren entlang der Linie des Düna-Flusses he-raus. Das Ende der Bronzezeit und der Anfang der frühenEisenzeit führten zu großen Veränderungen im Kultur-und Siedlungsbereich, die aus dem Übergang zum Acker-bau resultierten. Die ältesten bekannten vorzeitlichen Fel-der in Estland und im gesamten Osteuropa befinden sichbeim Dorf Rebala in der Nähe von Tallinn. Danach folgtenunruhigere Zeiten mit häufigen Kriegen. Davon zeugen derBau von Burgen und ihre wiederholte Zerstörung durchFeuer. Besonders rege war der Burgenbau an den Ostgren-zen. Bald wurden baltische Länder auch Ziel skandinavi-scher Angriffe. Erzählungen darüber finden sich vor allemin den skandinavischen Sagen. Trotzdem entwickeltensich die baltischen Länder in den folgenden Jahrhundertenverhältnismäßig schnell weiter. Das Baltikum wurde einwichtiges Handelszentrum. 1187 zerstörten die „Heidenvon der Ostsee“, wie man sie später nannte, die damaligeschwedische Hauptstadt Sigtuna. Nach Meinung einigerForscher waren die Angreifer Esten, die sich der Handels-wege von Norden nach Süden und von Osten nach Westenbedienten. Als Folge der Christianisierung und Herausbil-dung der skandinavischen Staaten ließ die Intensität derWikingerfeldzüge nach. In Estland und Lettland hingegenbegann jetzt die Wikingerzeit. Die schnellen Raubschiffeder Esten und Kuren (Stämme aus Lettland) verwüsteten

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die schwedische und dänische Küste. Versuche, die Feld-züge zu verhindern, brachten keinen wirklichen Erfolg.Auch die Aktivität der litauischen und preußischenStämme erhöhte sich; sie konzentrierten sich auf Raub-züge gegen ihre christianisierten Nachbarländer, auch ge-gen Letten.

Noch schwieriger gestalteten sich die Verhältnisse zuden östlichen Nachbarn. Die russischen Herrscher ver-suchten, ihre Macht auf die Küsten der Ostsee auszudeh-nen. Im Jahre 1030 führte der Großfürst Jaroslaw der Weiseeinen Feldzug gegen die Esten und errichtete an der Stelleder heutigen Stadt Tartu einen Stützpunkt, der den NamenJurjew erhielt. Versuche der Russen, tiefer ins Land ein-zudringen, blieben jedoch erfolglos. Im Jahre 1061 erober-ten die Esten sogar die Burg wieder zurück. Den Russen ge-lang es nicht, in Estland längerfristig Fuß zu fassen.

Zu den ersten Berührungen der Esten mit dem Christen-tum kam es im 11. und 12. Jahrhundert. Im Jahre 1167wurde in Lund der Benediktinermönch Fulco zum Bischofvon Estland ernannt. Er suchte das Land wahrscheinlichsogar selbst auf. Die Zahl der getauften Esten begann lang-sam zu steigen. In einigen zentralen Orten wurden vermut-lich auch die ersten Kirchen und Kapellen errichtet. Meis-tens jedoch blieben die Esten dem Glauben ihrer Vorfahrentreu. Zusammen mit den baltischen Völkern bildeten siedas letzte Bollwerk des Heidentums in Europa. Das christ-liche Europa versuchte aber weiterhin, die Balten zu mis-sionieren.

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts gelangten deutscheKaufleute in die Gebiete der Liven, die an der Westküstedes Rigaer Meerbusens und an der Mündung der Düna sie-delten. Der christliche Glauben wurde teils freiwillig ange-nommen; gegen die Widerspenstigen wurde militärischerDruck ausgeübt. Bald folgten die ersten Missionare. 1202wurde der Schwertbrüderorden gegründet, der den strengen

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Regeln des geistlichen Ritterordens der jüngeren Templerverpflichtet war. Das Ziel der Gründung des Schwertbrü-derordens war, die lokalen Heiden zu christianisieren. Derrömische Papst rief zu einem Kreuzzug auf und weihte dieeroberten Gebiete der Jungfrau Maria. Da der Schwung derKreuzzugsbewegung in Palästina erlahmte, fand der Aufrufder Ordensbewegungen in den ostpreußischen und livlän-dischen Gebieten zahlreiche Befürworter. Ritter aus ganzEuropa kamen nun ins Baltikum. Ein Teil der Liven undLatgallen nahm den christlichen Glauben an.

Im Jahre 1208 gelangten die Kreuzritter an die GrenzenEstlands und begannen, das Land zu unterwerfen. Es folg-ten Jahrzehnte verzweifelten Kampfes, in dem die Estenden Eroberern hartnäckig Widerstand leisteten. Die Estenmussten gegen deutsche Ritter, gegen Russen, Schwedenund Dänen kämpfen. 1210 schlugen sie in der Schlachtvon Ümera das Heer der Kreuzritter. Lembitu von Lehola,der im Landkreis Sakala ansässig war und zu den bekann-testen estnischen Anführern im Kampf gegen die Schwert-brüder zählte, unternahm einen Versuch, alle Esten gegendie Eroberer zu verbünden. Er fiel jedoch in der Schlachtvom Matthäustag im Jahre 1217. Im Jahre 1219 griffen dieEsten bei Tallinn das Heer des dänischen Königs WaldemarII. an, der die Herrschaft über die Ostsee anstrebte. DerSage nach rettete eine vom Himmel gefallene Fahne – derDannebog – die Dänen in ihrer größten Not. Die Fahnewurde später zur Staatsflagge Dänemarks. Die Esten wur-den geschlagen; bis zum Jahr 1227 war das gesamte Landerobert und christianisiert. Der Plan, einen Teil Estlandsdirekt dem Papst zu unterstellen, stieß auf den Widerstanddeutscher Ritter. So wurde Estland unter dem Schwertbrü-derorden (später der livländische Zweig des Deutschen Or-dens) auf Dänemark und kleinere Bistümer aufgeteilt.

Die Christianisierung Estlands wurde in der Vergangen-heit in verschiedener Weise gedeutet. Einerseits sah man

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darin den Beginn der „700-jährigen Knechtschaft“; ande-rerseits wurde behauptet, dass Estland durch die Christia-nisierung in den westeuropäischen Kulturkreis eingeglie-dert wurde. Nur als Teil Europas vermochte Estland demstärker werdenden Druck aus dem Osten zu widerstehenund seine nationale Eigenart zu bewahren, was den finno-ugrischen Stämmen, die unter russische Herrschaft ka-men, nicht gelang.

Der Kampf der Esten gegen die Kreuzritter gab den Li-tauern die Möglichkeit, ihr Gemeinwesen zu organisierenund einen eigenen Staat zu gründen. Das Litauische Groß-fürstentum wurde errichtet, das erfolgreich gegen die Deut-schen Ritter und die Mongolen kämpfte. Großfürst Gedi-minas konnte so die litauische Grenze weit nach Ostenund Süden schieben. Am Ende des 14. Jahrhunderts er-reichte Litauen das Schwarze Meer; sein Territorium warder größte Staat in Europa. Im Jahre 1387 wurde die Per-sonalunion Litauens mit Polen verwirklicht; das Landwurde christianisiert. 1410 schlug das litauisch-polnischeHeer in der Schlacht bei Tannenberg/Grundwald vernich-tend das deutsche Ritterheer. Der preußische Drang nachOsten wurde so gestoppt.

Anders waren die Entwicklungen in Lettland und Est-land. Nach der Eroberung änderte sich für die lokale Bevöl-kerung zunächst wenig. Bald wurde diese jedoch nach undnach in eine immer größere Abhängigkeit getrieben. Dieslöste eine Widerstandsbewegung aus, die in Estland in denJahren 1343–1345 im Aufstand der Sankt Georgsnacht gip-felte. Um den Widerstand zu brechen, musste sich Däne-mark mit dem Hilferuf an den livländischen Orden wen-den. Dieser nutzte den Umstand dazu, seinen Einfluss inEstland zu stärken. Der Aufstand wurde blutig nieder-geschlagen; im Jahre 1346 kaufte der Orden den DänenNordestland ab. Nach der Unterdrückung des Widerstan-des verschlechterte sich die Situation der Bauern rasch.

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Bis zum Ende des Mittelalters kamen sie in Leibeigen-schaft.

Wirtschaftlich erlebte Alt-Livland jedoch im Mittelaltereine Blütezeit. Der Reichtum entstand besonders in denHansestädten, allen voran in Riga und Tallinn (Reval).Durch die Christianisierung wurde Alt-Livland zum Vor-posten der abendländischen Kultur im Osten. Die am Uferdes Narva-Flusses errichtete Ordensburg Hermannsfesteund die russische Burg Iwangorod am gegenüber liegendenUfer der Narva symbolisierten die Gegensätze zwischenzwei verschiedenen Welten – dem Westen und dem Osten.Deshalb blieb Alt-Livland auch im Mittelalter ein Kriegs-schauplatz.

Im Jahre 1523 begann in Livland die Reformation, diesich zunächst hauptsächlich in den Städten verbreitete.Als Folge der Reformation wurden neue Schulen gegründetund die ersten estnisch- und lettischsprachigen Bücher he-rausgegeben. In Alt-Livland, das ohnehin schon zersplittertwar, rief die Reformation jedoch weitere Spannungen her-vor. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatten sich die bis-herigen Kräfteverhältnisse im Ostseegebiet verschoben.Russland war erstarkt und suchte den Weg nach Europa.Auch Polen-Litauen, Dänemark und Schweden bean-spruchten einen Teil des alt-livländischen Erbe für sich.Im Jahre 1558 griff der russische Zar Iwan IV., der Schreck-liche, Estland mit starken Truppen an. Dies markierte denBeginn des livländischen Krieges, einer längeren Kriegs-periode, unter der das Land sehr litt; Narva und Tartu fielenohne größeren Widerstand an die Russen. Im Jahre 1561unterlag der livländische Orden der polnisch-litauischenUnion, Tallinn mitsamt Nordestland begab sich unter denSchutz Schwedens, und die estnischen Inseln fielen Däne-mark zu.

1579 wendete sich das Kriegsgeschehen. Der polnisch-li-tauische König Stefan Batory weitete die Kriegstätigkeit

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auf das russische Territorium aus und zwang Iwan denSchrecklichen mit dem Friedensvertrag von 1582, unter an-derem seine Besitztümer in Estland an Polen abzutreten.Gleichzeitig verdrängten die schwedischen Truppen dieRussen aus Nordestland. Es gab dann eine kurze Friedens-periode, die das Land bitter nötig hatte. Die Bevölkerungs-zahl hatte sich katastrophal verringert; Dörfer und Städtewaren zerstört. Im Jahre 1583 gründeten die Jesuiten inTartu ein eigenes Ordenskolleg, das der Seelsorge und Er-ziehungstätigkeit diente, und leiteten damit die Gegen-reformation ein. Nach eigenen Angaben wurden sie vonden estnischen Bauern sehr freundlich aufgenommen.Dies zwang auch die schwedischen Machthaber dazu, demBildungs- und Kirchenleben größere Bedeutung beizumes-sen.

Im Jahre 1600 entwickelten sich die Konflikte zwischenPolen und Schweden zu offener Konfrontation. Der Kriegverlief mit wechselndem Erfolg und endete mit dem SiegSchwedens. Mit dem Waffenstillstand von Altmark imJahre 1629 fiel nahezu das gesamte Alt-Livland an Schwe-den. Die jahrzehntelangen Kriege hatten ein schwer ver-wüstetes Land zurückgelassen. Dennoch wurde das Landschnell wieder aufgebaut. Die Zeit der schwedischen Herr-schaft blieb im Gedächtnis des Volkes als „die gute Schwe-denzeit“ haften. Der Grund dafür war, so heißt es, die indieser Zeit durchgeführten Reformen, die das Leben derBauern verbesserten. Zu dieser Meinung trugen nicht zu-letzt die zielgerichtete Tätigkeit der schwedischen Macht-haber im Bereich von Kultur und Bildung entscheidend bei.Mehrere Schulen wurden gegründet. 1632 öffnete die Uni-versität von Tartu ihre Pforten. Die Erforschung der est-nischen und lettischen Sprache kam voran, immer mehrestnischsprachige Bücher wurden herausgegeben. Im Jahre1684 gründete Bengt Gottfried Forselius in der Nähe vonTartu in Piískopimõisa ein Seminar für Lehrer, die dann

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an Bauernschulen unterrichteten. Als Ergebnis der Tätig-keit von Forselius wurden in Estland zahlreiche Bauern-schulen ins Leben gerufen und damit der Grundstein fürdie äußerst wichtige Tradition der Volksbildung gelegt.

Im Jahre 1700 suchte der Krieg erneut die baltischen Län-der heim. Russland, Dänemark und Polen verbündeten sichim Nordischen Krieg, um die schwedische Übermacht ander Ostsee zu brechen. Der Krieg endete mit dem Sieg Russ-lands; mit dem Friedensvertrag von Nystad im Jahr 1721wurden Estland und Lettland in das Russische Reich einge-gliedert. Zar Peter I. stellte die Privilegien deutscher Guts-herren wieder her, welche sie unter der schwedischen Herr-schaft verloren hatten. Gleichzeitig bekräftigte er denSonderstatus der baltischen Provinzen. Nicht alles, was inder Schwedenzeit erreicht worden war, wurde jedoch ver-nichtet. Für die Zukunft des Volkes waren die Verdichtungdes Volksschulnetzes und der Erhalt der Tradition, derSchriftsprache und der Kultur besonders wichtig. Von be-sonderer religiöser, kultureller und politischer Bedeutungwar die Herausgabe der kompletten Bibelübersetzung. Diezweite Hälfte des 18. Jahrhunderts brachte einen wirtschaft-lichen Aufstieg mit sich. Die ersten Manufakturen entstan-den, in der Landwirtschaft hielt der Kartoffelanbau Einzug.Der deutschbaltische Adel wurde zur herrschenden Ober-schicht. Die Balten stellten in Russland in diesen Jahrenzahlreiche hohe Staatsmänner und Heeresführer, Wissen-schaftler und Entdeckungsreisende. Als Ergebnis europäi-scher Aufklärungsideen begann ein Teil der Deutschbalten,Neuerungen und Verbesserungen der Situation der Bauernanzustreben.

Die Neuerungen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-hunderts begonnen hatten, erreichten mit der Befreiung derBauern von der Leibeigenschaft in Estland (1816) und Liv-land (1819) ihren Höhepunkt. Die wirtschaftliche Lage derBauern blieb zunächst aber weiterhin schwierig. Dies löste

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mehrere Bauernunruhen aus, beispielsweise im Jahre 1841.In der Hoffnung, vom russischen Zaren Land zu erhalten,trat ein Teil der Bauern zum orthodoxen Glauben über, an-dere wanderten nach Russland aus. Ursächlich dafür war,dass die Gutsbesitzer von den Bauern eine Pacht verlang-ten, deren Mittel sie zur Modernisierung ihrer Haushaltebenötigten. Schließlich fingen sie sogar an, ganze Bauern-höfe zu verkaufen. Die Übernahme eines Hofs durch dieBauern war zwar problematisch; doch die Herrschaft im ei-genen Hof war der erste Schritt, um die Herrschaft im gan-zen Land zu erlangen. Das Gerichtswesen und die Selbst-verwaltung gingen auf lokaler Ebener an Esten und Lettenüber. Dies steigerte ihr Selbstbewusstsein und bestärkte siedarin, selbst zurechtzukommen. In die gleiche Richtungwirkte die Bewegung der evangelischen Brüdergemeindeder Herrnhuter. Im Rahmen dieser Bewegung entstandendie ersten Sängerchöre und Blasorchester. Die Abschaffungder Leibeigenschaft eröffnete den Weg zu neuen Produkti-onsverhältnissen in den baltischen Provinzen. Die Bevöl-kerung wurde mobiler, das Wachstum der Städte beschleu-nigte sich, und erste Industriebetriebe entstanden. DenBeginn eines neuen Zeitalters markierte die Eröffnung derEisenbahnlinie nach Russland im Jahr 1870. Die Bevölke-rung von Estland und Lettland wuchs deutlich an. Die Es-ten und Letten, die bis dahin überwiegend auf dem Landegelebt hatten, zogen nun vermehrt in die Städte.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann im Baltikum das na-tionale Erwachen.1 Nationale Organisationen wurden ein-gerichtet sowie nationale Zeitungen und Parteien gegrün-det. Zwei Jahrzehnte später waren Esten, Letten undLitauer zu einer modernen europäischen Nation geworden,mit eigener Kultur und Sprache und größeren Rechten. ZuBeginn versuchte die russische Zentralmacht, nationaleBewegungen gegen deutsche Einflüsse zu stärken, dochmussten die Russen schnell erkennen, dass die nationalen

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Bewegungen sich auch gegen die Russifizierung wandtenund nur ihre eigene Souveränität stärken wollten.

1914 begann der Erste Weltkrieg. Deutsche Truppen be-setzten Litauen und Teile von Lettland. Die baltischen Na-tionen bemühten sich während des Krieges, ihre Autonomieauszubauen. Als in Russland 1917 die Revolution ausbrachund das Land in Chaos geriet, erklärten die baltischen Staa-ten ihre Unabhängigkeit. Das bewahrte sie 1918 nicht vorder Besatzung durch deutsche Truppen, die ein baltischesHerzogtum errichten wollten. Nach ihrer Niederlage imNovember 1918 mussten die deutschen Besatzer das Balti-kum verlassen. An ihre Stelle traten sehr schnell kom-munistische Truppen mit dem Ziel, die Revolution überRussland hinaus nach Europa zu tragen. Die neuen souverä-nen baltischen Staaten sollten ausgelöscht werden. Schnellwurden Lettland und Teile Litauens besetzt, die Rote Armeestand an der Grenze Ostpreußens. Im Januar 1919 gelang esestnischen Truppen mit Hilfe britischer Flottenverbändeund finnischer Freiwilliger, die Kommunisten aus Estlandvertreiben. Für Lenin bedeutete dies eine Überraschung.Die roten Elitetruppen waren von der deutschen Grenze ge-gen die Esten angerückt; doch es half nichts: Die Esten ver-standen es, in diesem Freiheitskrieg den Sieg zu erringen.Der estnische Erfolg ermöglichte es auch den Letten, ihreStaatlichkeit wieder zu gewinnen. 1920 wurden die Frie-densverträge zwischen den baltischen Staaten und Russlandunterschrieben, mit denen Russland deren Selbständigkeitanerkannte. Die Souveränität der baltischen Staaten hatihre Rechtskraft niemals verloren.

Die baltischen Länder waren selbständig, aber ihre politi-sche und gesellschaftliche Lage war äußerst schwierig. DieWirtschaft war im Krieg zu großen Teilen vernichtet wor-den, die Märkte in Russland waren verloren. Die Erfahrungmit der Demokratie währte zwar nur kurze Zeit, dennochwaren zwanzig Jahre der Selbständigkeit für die baltischen

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Länder sehr erfolgreich. Die Wirtschaft begann sich schnellzu entwickeln; politisch und parteipolitisch gab es – wie inanderen europäischen Ländern auch – autoritäre Tendenzen,aber im Ganzen waren die Chancen für die Zukunft gut.

Im Jahre 1939 war Estland ein normaler europäischerStaat, der seine friedliche Aufbauarbeit fortsetzen unddem drohenden Krieg in Europa fern bleiben wollte. Dochsollte sich die politische Lage in Estland und das Baltikumdramatisch ändern. Am 23. August 1939 unterzeichnetendas nationalsozialistische Deutschland und die kom-munistische Sowjetunion in Moskau den so genanntenMolotow-Ribbentrop-Pakt, in dessen geheimem Zusatz-protokoll die beiden Mächte die Einflusszonen in Europaunter sich aufteilen. Estland wurde dem russischen Ein-flussbereich zugeschlagen. Der Pakt war Teil der Kriegs-ziele Hitlers; mit dem Angriff auf Polen am 1. September1939 eröffnete er den Zweiten Weltkrieg. Am 17. Septem-ber griff die Sowjetunion Polen vom Osten her an.

Am 24. September 1939 forderte die Sowjetunion Estlandultimativ auf, einen Vertrag abzuschließen, der die UdSSRdazu berechtigte, in Estland Militärbasen zu errichten. Diesowjetische Armeeführung hatte bereits starke Truppenver-bände an der estnischen Grenze massiert. Aufgrund der An-ordnung Nr. 043/OP wurde der Leningrader Militärbezirkdamit beauftragt, die Stationierung der Truppen bis zum29. September 1939 abzuschließen. Für den Fall, dass sichEstland dem Vertrag widersetzen würde, hatte die Rote Ar-mee mit der Invasion in Estland gedroht. Bis zum Oktoberstanden Estland und Lettland 437.235 Soldaten, 2.635 Ge-schütze und 3.052 Panzer gegenüber. Die Sowjetunion de-monstrierte ihre militärische Stärke. Die Rote Flotte blo-ckierte die See, während sowjetische Flugzeuge in denestnischen Luftraum eindrangen. Estland antwortete aufdie Provokationen nicht und versuchte, den Konflikt fried-lich zu lösen. Da die estnische Regierung den sowjetischen

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Versprechungen glaubte, die abzuschließenden Verträgewürden die estnische Selbständigkeit in keiner Weise ein-schränken, entschloss sie sich zum Nachgeben. Am 28. Sep-tember 1939 unterzeichneten die UdSSR und Estland inMoskau den Pakt über gegenseitige Hilfeleistung. Dem-zufolge rücken im Oktober 1939 Einheiten der Roten Armeein Estland ein. Mit der Ankunft der Roten Armee in denStützpunkten und der Roten Flotte in den Häfen von Pal-diski (Baltischport) und Tallinn war Estlands Unabhängig-keit beendet. Entsprechende Verträge wurden auch Lettlandund Litauen von der Sowjetunion aufgezwungen, die ver-suchte, auch mit Finnland einen Pakt über „gegenseitigeHilfeleistung“ abzuschließen. Doch die finnische Staatsfüh-rung misstraute von vornherein der Vertragstreue der Sow-jetunion und wies deren Forderungen zurück. Es folgten dersowjetische Angriff und der Winterkrieg 1939/40, in demFinnland nur unter dem Preis schwerer Verluste seine Selb-ständigkeit verteidigen konnte.

Die baltischen Regierungen versuchten, Konflikte zwi-schen den beiden ungleichen Vertragspartnern zu vermei-den. Doch die Sowjetunion hegte keineswegs die Absicht,den Vertrag zu erfüllen und provozierte ihrerseits ständigKonflikte. So arbeitete der sowjetische Generalstab einengeheimen Plan zur völligen Annexion des Baltikums aus.Eine günstige Gelegenheit bot sich im Juni 1940, als derAngriff Deutschlands auf Frankreich die Blicke der Weltauf Westeuropa gelenkt hatte. Mit der Direktive Nr. 02622vom 9. Juni 1940 wurde der Angriff auf Estland eingeleitet.Estland wurde von Land, von der See und aus der Luft blo-ckiert. Die sowjetische Luftwaffe schoss am 14. Juni 1940das Passagierflugzeug „Kaleva“ ab, das von Tallinn nachHelsinki unterwegs war. Die Fluggäste, darunter zwei fran-zösische diplomatische Kuriere, kamen dabei ums Leben.

Am 14. Juni 1940 stellte die Sowjetunion der RepublikLitauen ein Ultimatum und besetzte den Staat. Damit

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wurde die Festlandverbindung Estlands und Lettlands nachWesten durchtrennt. Am 16. Juni erhielten auch diese bei-den Staaten das gleiche Ultimatum mit der Forderung, diean der estnischen Grenze stehenden 100.000 Rotarmistenins Land zu lassen. Des Weiteren wurden Estland und Lett-land aufgefordert, eine prosowjetische Regierung zu bilden.Angesichts dieser bedrohlichen Situation hielten die Regie-rungen beider Länder einen militärischen Widerstand fürsinnlos und willigten in die gestellten Bedingungen ein.Die sowjetischen Truppen begannen mit dem Einmarschschon vor dem Erhalt der Antwort der estnischen Regie-rung. Die Rotarmisten nahmen Häfen, Flughäfen, Bahnhö-fe, Postämter und die lokalen Selbstverwaltungen unterihre Kontrolle. Damit waren die baltischen Länder vom17. Juni 1940 an vollständig besetzt.

Die Sonderbeauftragten der sowjetischen Regierung reis-ten in die baltischen Hauptstädte und wiesen die sowjeti-schen Botschaften an, moskauhörige Regierungen zu in-stallieren. Die lokalen Kommunisten und die Agenten desNachrichten- und Spionagedienstes der NKWD wurden be-auftragt, „spontane“ Arbeiterkundgebungen zu organisie-ren, um die Annexion zu tarnen. Die eingesetzten Mario-nettenregierungen erhielten von den Sowjets dieAnordnung, alle Gerüchte über eine Eingliederung Est-lands in die Sowjetunion zu dementieren. Damit versuchteman, den Widerstand des Volkes gegen die Besetzung zuschwächen und der Eingliederung einen Eindruck der Lega-lität zu verleihen. Nach den Anordnungen wurden am 14.und 15. Juli 1940 Wahlen zur neuen Abgeordnetenver-sammlung durchgeführt. Das Programm der prosowjeti-schen Kandidaten wurde in Moskau gebilligt, wobei dieVereinigung mit der Sowjetunion mit keinem Wort er-wähnt wurde. Zur Überraschung der Kommunisten ver-suchten auch die nationalen Kreise, sich an den Wahlenzu beteiligen und stellten neben den amtlichen Kandidaten

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Gegenkandidaten auf. Auf Befehl der sowjetischen Besat-zungsmacht entfernte die Marionettenregierung jedochdie Gegenkandidaten von den Wahllisten. Massive Ver-stöße gegen die demokratischen Rechte und Freiheiten so-wie Fälschung der Ergebnisse bestimmten die Wahlen. Dieauf diese Weise gewählte Staatsversammlung fasste denBeschluss, Estland zur sozialistischen Sowjetrepublik zuerklären und um die Aufnahme des Landes in die Sowjet-union zu bitten. Nach dem gleichen Muster verliefen dieEreignisse auch in Lettland und Litauen. Am 6. August1940 wickelte der Oberste Sowjet der Sowjetunion die An-nexion des Baltikums amtlich ab. Die meisten westlichenStaaten erkannten den Anschluss der baltischen Länder andie Sowjetunion nicht an.

Das erste Jahr unter Sowjetherrschaft erwies sich für diebaltische Bevölkerung als eine äußerst schwere Zeit. Schonvor dem offiziellen Anschluss an die UdSSR entfesseltendie sowjetischen Sicherheitsbehörden den roten Terror, in-dem sie Menschen in großer Zahl verhafteten und ermor-deten. Vernichtet werden sollten jedoch nicht nur Bürger.Die Besatzer zerstörten das bisherige Wirtschaftssystemund unterdrückten die Bürgergesellschaft sowie alle Äuße-rungen und Formen der nationalen Selbstdarstellung. Einebesondere Intensität erreichte der Terror im Jahre 1941.Während der Massendeportation, die am 14. Juni begann,wurden allein in Estland etwa 10.000 Menschen nach Sibi-rien verschleppt, hauptsächlich Frauen und Kinder. Indemselben Jahr war mindestens noch eine zweite Deporta-tion geplant, die wegen der ausgebrochenen Kriegshand-lungen nur auf den Inseln durchgeführt werden konnte.Als eine Art der Verschleppung kann auch die Zwangs-rekrutierung der Esten für die Rote Armee angesehen wer-den. Der sowjetische Terror, der überaus heftige Ausmaßeannahm, veranlasste die Bevölkerung dazu, den Krieg zwi-schen Deutschland und der Sowjetunion als den einzigen

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Ausweg für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit zusehen. Viele Balten begrüßten daher den Angriff Deutsch-lands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Gruppen vonPartisanen, so genannte Waldbrüder, wurden formiert.Diese Widerstandsgruppen kämpften gegen die Besatzerund versuchten, das Land vor Verwüstungen zu schützen.In Litauen begann der Krieg mit nationalen Aufständenund der Formierung einer nationalen Regierung. Mit Hilfevon Partisanenverbänden waren die baltischen Länderschnell von der Roten Armee befreit.

Die Freundlichkeit, die die Balten den deutschen Trup-pen zunächst entgegen brachten, änderte sich sehr bald,als klar wurde, dass das nationalsozialistische Deutschlandnicht die Absicht hatte, die Souveränität der baltischenLänder wieder herzustellen. Ein Besatzer hatte den andereneinfach abgelöst. Bald entstand eine Widerstandsbewe-gung, die die nationalen Kreise des Baltikums bündelte. Invielerlei Hinsicht war die deutsche Okkupation der sowje-tischen Besatzung ähnlich. So zögerten die deutschen Be-satzer mit der Rückgabe des während der Sowjetherrschaftnationalisierten Besitzes; die Wirtschaft wurde den Bedürf-nissen deutscher Kriegsökonomie untergeordnet. Die deut-schen Besatzer verbrannten außerdem Bücher und tötetenzahlreiche Bürger. Als besonders tragisch erwies sich dasSchicksal der Zigeuner und Juden, die im Zuge des Holo-causts völlig vernichtet wurden. In Estland wurden zumBeispiel auf Befehl der deutschen Besatzungsmacht 929 Ju-den und 243 Zigeuner ermordet. Da es hier vor dem Kriegkeine Feindschaft zwischen den verschiedenen Volksgrup-pen hab, gelang es den Nazis im Unterschied zu anderenStaaten nicht, die Esten zur Vernichtung anderer Nationa-litäten oder zu Pogromen aufzustacheln. Bekannt sindmehrere Fälle, in denen estnische Bürger jüdischer Natio-nalität versteckt und vor den Nazis gerettet wurden.

Die Vernichtung der Juden und die Verwandlung Est-

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lands in eine „judenfreie“ Zone, wie es der Leiter der hiesi-gen Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes MartinSandberger ausdrückte, machte die deutsche Besatzungs-macht für die Balten zunehmend unbeliebt. Die demokrati-schen Kräfte begannen sich zusammenzuschließen, ummit allen verfügbaren Mitteln für die Wiederherstellungder Selbständigkeit zu kämpfen. Die westlichen Staatenhatten am 14. August 1941 in der Atlantik-Charta verspro-chen, nach dem Krieg die Souveränität aller annektierterStaaten wieder herzustellen. Die baltischen Länder glaub-ten, dass das Versprechen auch in die Tat umgesetzt werde.Die nationale Widerstandsbewegung nahm mit baltischenDiplomaten im Westen Kontakt auf, gab Flugblätter herausund organisierte Protestkampagnen. Das Erstarken der na-tionalen Widerstandsbewegung beunruhigte die deutschenBesatzer. Im April 1944 wurden in Estland mehrere hun-dert Menschen festgenommen, die sich am Widerstand be-teiligt hatten. Ein Teil von ihnen wurde in deutsche Kon-zentrationslager geschickt. Dies vermochte die Wirkungder Widerstandsbewegung jedoch nicht wesentlich zuschwächen.

Die baltischen Männer kämpften im Zweiten Weltkriegin verschiedenen Armeen: in russischen, deutschen, est-nischen und auch in finnischen Einheiten. Mitte Januar1944 durchbrach die Rote Armee endgültig die Blockadeum Leningrad. Um einer Belagerung zu entkommen, zogsich die deutsche „Heeresgruppe Nord“ auf die 1943 errich-tete „Panther-Linie“ zurück. Die Deutschen riefen schließ-lich eine allgemeine Mobilmachung aus; diese wäre wahr-scheinlich gescheitert, wenn die nationalen Kreise sienicht unterstützt hätten. Diese hofften, die Rote Armeevon den baltischen Ländern fernhalten und so Vorausset-zungen für die Wiederherstellung der Souveränität zuschaffen. Besonders in Lettland und Estland traten vieleMänner der Deutschen Armee bei. Mit deren Hilfe war die

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Rote Armee mehr als sieben Monate an den Grenzen Est-lands und Lettlands gestoppt worden. Im September 1944entschied Hitler, das Baltikum aufzugeben. Trotz derschwierigen Situation versuchte die estnische nationaleLeitung, die Unabhängigkeit des Staates wieder herzustel-len. Das Nationalkomitee war der Meinung, dass eine ge-setzmäßige Regierung der Republik Estland eingesetzt wer-den müsse. Die Regierung sollte die Welt von ihrerAmtseinführung informieren und auf diese Weise die Kon-tinuität der Republik Estland bekräftigen. Am 18. Septem-ber 1944 setzte Jüri Uluots die von Otto Tief geführte Re-gierung ein. Estland erklärte sich im fortdauernden Kriegals neutral und wandte sich mit seinen politischen Plänenan die westlichen Staaten. In Tallinn entbrannten Kämpfezwischen estnischen und deutschen Soldaten. Am 20. Sep-tember wurde auf dem Turm des Langen Hermanns dieblau-schwarz-weiße Nationalflagge gehisst. Die deutscheArmeeführung betrachtete die Ereignisse als Aufruhr undschickte Infanterieeinheiten der Marine. In den folgendenKämpfen gab es auf beiden Seiten Verluste. Schließlich zo-gen sich die deutschen Einheiten an den Hafen zurück. DieEsten konnten ihre Evakuierung jedoch nicht verhindern.

Leider fehlten der Regierung militärische Kräfte, die inder Lage gewesen wären, die übermächtigen sowjetischenTruppen abzuwehren, die bei Tallinn bereit standen. Am22. September 1944 drang ein Schützenkorps in Tallinnein und hisste auf dem Turm die rote statt der blau-schwarz-weißen Fahne. Die Regierung der Republik hattezu dieser Zeit Tallinn bereits verlassen und zog sich an dieWestküste zurück, wo zur Evakuierung der Regierung einBoot bereit stand. Im Westen Estlands setzten estnischeEinheiten ihren Widerstand fort und ermöglichten so Tau-senden von Flüchtlingen die Evakuierung per Schiff. DiePlätze in den Booten reichten jedoch nicht für alle Flücht-linge. Auch das Boot, das die Regierung von Otto Tief abho-

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len sollte, kam zu spät. Die in Estland gebliebenen Regie-rungsmitglieder wurden verhaftet, einige von ihnen er-schossen, die anderen in den GULAG verschleppt.

Im Herbst 1944 eroberte die Rote Armee den größtenTeil des Baltikums. Kämpfe gab es nur in Kurland, der sogenannten „Festung Kurland“, wo die Reste der deutschenArmeegruppe Nord zusammen mit lettischen Einheitenbis Ende des Krieges Widerstand leisteten. Als die Kampf-handlungen im Baltikum im Mai 1945 endeten, war derZweite Weltkrieg für baltische Länder jedoch noch nichtzu Ende. Der Partisanenkrieg in den Wäldern und Sümpfendauerte noch länger als ein Jahrzehnt an. Es gab mehr als70.000 Partisanen in Litauen, 40.000 in Lettland und30.000 in Estland. Leider war der Westen nicht daran inte-ressiert, die Balten zu unterstützen. Das machte ihrenKampf hoffnungslos und gab der Sowjetmacht die Möglich-keit, die Widerstandsbewegungen zu vernichten. Die letz-ten estnischen Waldbrüder wurden 1978 getötet. Doch be-deutete das weder das Ende des Partisanenkrieges noch derbaltischen Widerstandsbewegungen. Denn inzwischen wa-ren politische Organisationen von Dissidenten gebildetworden, die in den 1980er Jahren besonders aktiv wurden.

Die Verluste der baltischen Länder in diesem Kampf wa-ren sehr groß. Nach einem Weißbuch, das eine vom Par-lament gebildete Kommission zusammengestellt hat, be-liefen sich die direkten Verluste an Menschen allein inEstland auf 180.000 Personen; das sind etwa 17 % der est-nischen Bevölkerungszahl vor dem Krieg. Übertragen aufdie Vereinigten Staaten hätte dieser Prozentsatz – bezogenauf die Bevölkerungszahl vor dem Krieg – den Tod von 22,4Millionen Menschen bedeutet; in Deutschland wären es13,7 Millionen, in Großbritannien 8,1 Millionen und inSchweden 1,1 Millionen gewesen.

Gewisse Veränderungen im Charakter der sowjetischenTerrorpolitik stellten sich nach dem Tod Stalins im Jahre

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1953 ein, als die sowjetischen Machthaber gezwungen wa-ren, ihre Herrschaft bis zu einem gewissen Grade zu libera-lisieren. Die meisten politischen Gefangenen wurden frei-gelassen, die Deportierten durften in ihre Heimatzurückkehren. Den beschlagnahmten Besitz erhielten sienicht zurück. Die Verschleppten und Verhafteten bliebenin der Sowjetunion Menschen zweiter Klasse mit be-schränkten Rechten. Auch wenn der direkte Terror in derSowjetunion ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu-rückging, hatte er sein Ziel erreicht. Angst begleitete jedenfreien Gedanken und jede Lebensäußerung. Jeder wusste,dass die Sowjetmacht bei Bedarf auch vor der grausamstenGewalt nicht zurückschrecken und jeden Widerstandsver-such erbarmungslos in Blut ertränken würde.

Und auch demographisch wirkte der Terror lange nach.Mehrere zehntausend Kinder wurden aus diesem Grundwohl nicht geboren. Die sowjetische Bevölkerungspolitikverschlechterte die demographischen Probleme der Estennoch zusätzlich. An Stelle der Esten, die nach Sibirien ge-schickt worden waren, wurden mehrere hunderttausendKolonisten aus verschiedenen Gebieten der Sowjetunionins Land geholt. Dies reduzierte den Anteil der Esten ander Bevölkerung des Landes rasch. Machten die Esten imJahr 1945 noch 88 bis 90 % der Bevölkerung des Landesaus, so sank diese Zahl bis zum Jahr 1989 auf etwa 61,5 %.Die Esten waren so im Begriff, zur Minderheit in ihrem ei-genen Land zu werden. In Lettland war die Situation nochschlimmer; dort macht die einheimische Bevölkerung nurnoch knapp die Hälfte aus.

Die sowjetische Besatzung zerstörte auch die Wirtschaftund das Lebensniveau der baltischen Länder. Im Jahr 1939war Estland zum Beispiel fast auf demselben Entwick-lungsniveau wie Finnland, 1989 aber war Finnland sechsbis sieben Mal höher entwickelt. Zu beklagen sind außer-dem die durch die koloniale Wirtschaftsweise geschaffenen

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großen Umweltprobleme. Zusammenfassend kann manüber diese Epoche des Baltikums sagen, dass die Esten biszur Mitte der 1980er Jahre an der Grenze einer nationalenKatastrophe angelangt waren. Was Estland und die anderenbaltischen Staaten vor einer Verschlimmerung dieser Zu-stände rettete, war nur der Zusammenbruch der Sowjet-union und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990(Litauen) und 1991.

Die „Singende Revolution“ im Baltikum am Ende derSowjetzeit dürfte einen besonderen Platz unter den Revolu-tionen in Europa einnehmen. Sie stellte eine ganz neue Artvon Revolution, eine friedliche Revolution, dar, die ihrenProtest gegen die bestehenden Zustände in Liedern aus-drückte. Seit der Zeit ihrer Emanzipation gegenüberDeutschbalten und Russen am Ende des 19. Jahrhundertshatten Esten und Letten, später auch die Litauer ihremHeimatgefühl und nationalem Selbstbewusstsein auf dentraditionellen Sängerfesten Ausdruck verliehen. Dabeiwurden in der Zarenzeit nicht selten Lieder zensiert undganz verboten. In der Unabhängigkeitszeit zwischen denbeiden Weltkriegen erlebten die baltischen Staaten einenHöhepunkt ihrer Massengesangskultur auf den Sängerfes-ten. Diese Massenchortradition wurde auch in der Sowjet-zeit weiter gepflegt, konnten doch die neuen Machthaberdie Feste im Sinne ihrer Propaganda ausnutzen und dasLiedgut manipulieren.

Schon 1986/87 bildeten sich in den baltischen Ländernerste selbständige kulturelle und politische Organisationen,die mit Protesten gegen die sowjetische Umweltpolitik undfür die Wiederherstellung der „wahren“ Geschichte sich Ge-hör verschafften. 1988 wurden in Estland und Lettland dieVolksfronten, in Litauen die „Sajudis-Bewegung“ zu denHauptkritikern der allmächtigen Partei. Auf estnischenMassenkundgebungen 1988 auf dem Sängerfeld und in Tal-linn sang man lange verbotene Lieder. Mutige Rockversio-

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nen populärer estnischer Lieder wurden zu Sommerhits.Das Volk sang wieder unter der schwarz-blau-weißen Natio-nalflagge die estnische Hymne. Von Beobachtern wurde be-reits damals der Begriff der „Singenden Revolution“ geprägt.Erste Rufe nach staatlicher Unabhängigkeit wurden laut.Bereits am 23. August 1989 hatten die drei baltischen Län-der eine mehrere hundert Kilometer lange Menschenkettevon Tallinn über Riga bis Vilnius gebildet („der baltischeWeg“), um aufmerksam zu machen auf das 50 Jahre wäh-rende Verbrechen des Hitler-Stalin-Paktes, das die balti-schen Länder schon 1940 zu Vasallen der Sowjetuniongemacht hatte. Moskau sträubte sich gegen die Unabhängig-keitsbestrebungen der Balten bis zuletzt; man hatte Angstdavor, dass deren Freiheitsdrang das gesamte Sowjetreichzum Einsturz bringen könnte. Die Revolution nahm ihrenLauf, als es in der Nacht zum 13. Januar 1991 zu blutigenAuseinandersetzungen in Vilnius kam, wo sowjetische Mi-litärs das litauische Fernsehen besetzten. Dreizehn friedli-che Demonstranten kamen dabei um.

Darauf hin errichteten die Rigaer Barrikaden um ihr Ra-diogebäude und das Parlament in der Rigaer Altstadt, umdiese vor Zugriffen der marodierenden sowjetischen Mili-tärs zu schützen. Tage- und nächtelang hielten die Men-schen in eisiger Kälte mit ihren Liedern an den Lagerfeuernaus. Als „die alten Garden“ im August 1991 in Moskau ge-gen Gorbatschow putschten, wurden erneut in Tallinn,Riga und Vilnius Barrikaden errichtetet und Lieder der So-lidarität gesungen. Man musste mit dem Schlimmstenrechnen. Die friedliche Revolution im Baltikum drohte zuscheitern. Doch wenige Tage später brach der Putsch nichtzuletzt dank des mutigen Vorgehens von Boris Jelzinzusammen. Erste Staaten erkannten die baltischen Repu-bliken am 23. August 1991, genau 52 Jahre nach dem ver-brecherischen Hitler-Stalin-Pakt, diplomatisch an. Die„Singende Revolution“ hatte ihr Ziel erreicht.

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Nach der Wiederherstellung der Selbständigkeit hat sichdas Baltikum sehr schnell entwickelt; man hat Estland,Lettland und Litauen wegen dieser schnellen Entwicklungals „baltische Tiger“ bezeichnet.2 Seit 2004 sind die balti-schen Staaten Mitglieder der Europäischen Union und derNATO. Sie sind nach Europa zurückgekehrt.

Anmerkungen1 Zur nationalen Identität Estland vgl. Peeter Tulviste: Estland, in:Günter Buchstab / Rudolf Uertz (Hg.): Nationale Identität im ver-einten Europa, Freiburg i. Br. 2006, S. 266–277.2 Vgl. Jevgenia Victorova: Conflict Transformation the EstonianWay: The Estonian-Russian Border Conflict, European Integrationand Shifts in Discursive Representation of the „Other“, in: Per-spectives. The Central European Review of International Affairs27, (2006/2007), S. 44–66; Mikko Kentola: The Baltic Churchesin the Process of Transformation and Consolidation of Democracysince 1985, in: Contemporary Church History, 20 (2007), S. 66–80.

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