Die Chemischen Kampfstoffe-Ralf Stöhr

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  • 8/14/2019 Die Chemischen Kampfstoffe-Ralf Sthr

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    Ralf Sthr

    Die chemischen Kampfstoffe

    Eigenschaften, Wirkung,

    Schutzmglichkeiten

    und Entgiftung

    Deutscher Militrverlag Berlin 1961

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    Vorwort

    Durch die Entwicklung der Kernwaffen mit ihrer wesent-lich greren Vernichtungswirkung gegenber den kon-ventionellen Waffen sind viele Menschen zu der Auffassung

    gekommen, da die im 1. Weltkrieg so gefrchtete che-mische Waffe ihre Bedeutung verloren habe. Sie fhlensich in ihrer Meinung noch bestrkt durch die Tatsache,da im 2. Weltkrieg keine chemischen Kampfstoffe an-gewendet wurden. All diese Leute unterliegen einem ver-hngnisvollen Irrtum, denn die Tatsachen beweisen dasGegenteil. Es wird spter noch zu sagen sein, warum imvergangenen Weltkrieg die chemischen Granaten undBomben in den Depots liegenblieben und der Menschheit,die in diesen Jahren ohnehin aufs schwerste geprftwurde, die Geiel des chemischen Krieges erspart blieb.Soviel kann aber schon hier gesagt werden: Es geschahdies keinesfalls etwa deswegen, weil die chemischenKampfstoffe vielleicht ihre militrische Bedeutung ein-gebt htten. Im Gegenteil. Es hat in der militr-chemischen Forschung seit dem 1. Weltkrieg keinen Still-stand gegeben. In den Jahren der totalen Aufrstung zum2. Weltkrieg wurde mit geradezu hektischer Eile an derEntwicklung immer neuer und wirksamerer Kampfstoffe

    gearbeitet. Auch nach 1945 ri diese Entwicklung nichtab. Es ist das zweifelhafte Verdienst der Westmchte,insbesondere der USA, gerade in den letzten Jahren dieWeltffentlichkeit mit Mitteilungen ber neue chemischeKampfstoffe stark beunruhigt zu haben. Es gibt keinenGrund fr die Annahme, die imperialistischen Mchtewrden im Kriegsfall auf den Einsatz dieser Gifte ver-zichten, wenn auch der breiten ffentlichkeit die Gefahreines chemischen Krieges nicht so akut zu sein scheint

    wie die einer Auseinandersetzung mit atomaren Waffen.

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    1.-5. TausendDeutscher Militrverlag Lizenz Nr. 5Schutzumschlag: Hartwig HoeftmannZeichnungen: Heinz Schweig Lektor: Dieter PeikerKorrektor: Horst Hartmann Hersteller: Werner Briege1151 Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen

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    Die Westmchte selbst aber machen gar kein Geheimnisaus ihrer Absicht, in einem zuknftigen Krieg chemischeKampfstoffe einzusetzen. Ja, sie versuchen sogar, denVlkern einen Krieg mit chemischen Kampfstoffen alshuman gegenber einem Atomkrieg hinzustellen. DieWahrheit ist, da die Imperialisten sowohl die atomaren

    als auch die chemischen und darber hinaus auch diebiologischen Waffen einzusetzen beabsichtigen, weildiese Waffen ja qualitativ verschieden sind und jedefr den imperialistischen Aggressor ihre Vorzge" undNachteile" hat, weil alle sich gegenseitig wirksam er-gnzen.

    Es gibt in militrischen Kreisen keinen Zweifel darber,da ein Krieg unter diesen Bedingungen beiderseitssowohl von den Angehrigen der bewaffneten Krfte als

    auch von der Zivilbevlkerung ungeheure Leistungen undAnstrengungen erfordert. Die hufigen Aggressions-drohungen und die aktiven Kriegsvorbereitungen derImperialisten zwingen deshalb die sozialistischen Staaten,die Arbeiten der imperialistischen Mchte auf diesen Ge-bieten aufmerksam zu verfolgen und selbst geeigneteManahmen einzuleiten, um sowohl fr die bewaffnetenKrfte als auch fr die Zivilbevlkerung den Schutz vorden Wirkungen der Massenvernichtungswaffen zu organi-

    sieren. Es wre ein ernster Fehler, wenn man angesichtsder hochmodernen chemischen Kampfstoffe den Schutzvor dieser Art Massenvernichtungswaffen vernachlssigenwrde. Die Nationale Volksarmee sowie die zivilenSchutzorganisationen der Deutschen DemokratischenRepublik mssen aus diesem Grunde entsprechend aus-gerstet und ausgebildet werden. Die Erfahrungen desletzten Krieges haben recht eindeutig bewiesen, wiewichtig die Aufklrung ber die Wirkungsweise einerneuartigen Waffe und ber die Schutzmglichkeiten ist.

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    Die vorliegende Schrift soll einen allgemeinen berblickber das Gebiet der chemischen Kampfstoffe geben undden Lesern einige Kenntnisse der Militrchemie ver-mitteln. Fr ein tieferes Studium werden einige Hinweiseauf die Fachliteratur gegeben. Die Beschreibungen dereinzelnen Kampfstoffe erheben nicht den Anspruch, voll-stndig zu sein, sie sind unter Zuhilfenahme der bisherverffentlichten Literatur zusammengestellt worden. Daes notwendig war, dabei einige naturwissenschaftlicheGesetze und Grundbegriffe vorauszusetzen, sind demHauptteil einige entsprechende Erluterungen voraus-geschickt worden. Auch fr diese Erluterungen gilt, dafr ein eingehenderes Studium die Fachbcher, besondersdie zahlreich verbreiteten Einfhrungen und Lehrbcherder Chemie, herangezogen werden mssen.

    Die Schrift hat nicht nur den Zweck, die wichtigstenEigenarten der chemischen Waffe zu erlutern. Sie sollauch die Gefahren aufzeigen, die durch die Anwendungdieser Mittel fr die Menschen entstehen.Wie gro die Emprung der friedliebenden Menschen berdas von den Imperialisten ausgelste Wettrsten beson-ders auf dem Gebiete der Massenvernichtungswaffen ist,zeigen die vielen Proteste aus allen Bevlkerungskreisen.Diese Proteste, die in den letzten Jahren in zunehmendem

    Mae auch von vielen berhmten Wissenschaftlern, rz-ten und real denkenden Politikern der kapitalistischenStaaten untersttzt oder verfat wurden, haben nichtzuletzt dazu beigetragen, da die imperialistischen Kreisedavor zurckschreckten, diese Waffen in den von ihnenentfesselten Kriegen gegen die sich befreienden Kolonial-vlker anzuwenden. Die beste Untersttzung des Kampfesfr das Verbot der Massenvernichtungswaffen gibt dieSowjetunion, die auf allen internationalen Konferenzenimmer wieder beharrlich und konsequent das Verbot der

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    Massenvernichtungswaffen und die allgemeine und voll-stndige Abrstung fordert. So betonte der Minister-prsident der Sowjetunion, N. S. Chruschtschow, in sei-nem Begrungsschreiben an die im August 1959 in demkanadischen Stdtchen Pugwash tagende Wissenschaft-lerkonferenz, die sich mit den Gefahren der chemischen

    und biologischen Kriegfhrung beschftigte, die Sowjet-union sei der Auffassung, da die Verwendung chemischerund bakteriologischer Waffen nicht weniger furchtbareKonsequenzen habe als die Verwendung von Kernwaffen.Die Sowjetunion untersttze deshalb nachdrcklich einVerbot aller Massenvernichtungsmittel, deren Anwendunggegen die menschlichen Grundstze und das Gewissen derVlker verstoe.

    1. Die Entwicklung der chemischen Kriegfhrung

    Chemische Kampfstoffe sind keine Erfindung des 20. Jahr-hunderts. Bereits in alten chinesischen Schriften findensich Hinweise, da zur Erstrmung befestigter Ortschaf-ten Pech- und Schwefelkrper angewendet wurden. Die

    Spartaner gebrauchten im Peloponnesischen Krieg vorPlata 431 bis 404 v. d. Z. Schwefelbrandkrper, die groeMengen Schwefeldioxyd entwickelten. Bereits 600 v. d. Z.war das griechische Feuer bekannt, eine Mischung ausPetroleum, Harzen, Pech und Schwefel, die zum Trnkenvon Werg diente.

    Auch aus dem Mittelalter gibt es viele Empfehlungen frden Einsatz giftiger Stoffe.Der bekannte Chemiker Glauberkonstruierte Geschosse,

    die in getrennten Kammern Salpetersure und Terpen-tinl enthielten. Sie entwickelten bei der Detonationstarken Rauch und konnten dazu dienen, den Gegnerauszuruchern. Eine Zeichnung von einer Brand-Hand-granate, genannt Fewer-Ballen, befindet sich in derPraxis Artilloriae pyrotechnicae, erschienen 1660 inOsnabrck. Diese Wurfkrper waren mit Arsen, Antimonund Schwefel gefllt.

    Der Arzt Fioravanti von Bononia erzeugte durch Destil-

    lation einer Mischung aus Terpentin, Menschenkot.Schwefel und Blut ein 01, das einen derartigen Gestankverbreitete, da ihn kein Mensch ertragen konnte.Um 1750 schlug der sterreichische Ritter Veit Wulf vonSenftenberg vor, zum Kampf gegen die Trken Arsenik-rauchkugeln zu verwenden. Diese Kugeln sollten insfeindliche Lager geschleudert werden, und die bei derVerbrennung erzeugten Arsenikdmpfe sollten Vergif-tungen unter der Lagerbesatzung hervorrufen.Im Jahre 1813 schlug ein Berliner Apotheker dem preu-

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    ischen General von Blow die Verwendung von Blausurevor. Mit der Blausure sollten kleine Pinsel getrnktwerden, die an den Bajonetten der Soldaten zu befestigenwaren.Im Marokkofeldzug von 1844 wurde von den Truppen desfranzsischen Generals Cavaignac eine Gruppe von

    Marokkanern, die sich in einem Hhlenlabyrinth, ver-borgen hatte, dadurch gettet, indem vor den Hhlen-eingngen Faschinen entzndet wurden, die starke Rauch-gase entwickelten.

    Der englische Admiral Lord Dundonald hatte im Krim-krieg 1855 vor, das stark befestigte Fort Malakow beiSewastopol durch den Einsatz einer Mischung vonSchwefel, Teer und Kohle einzunehmen. Dieses Vorhabenwurde durch den Einspruch des franzsischen Befehls-

    habers nicht verwirklicht.Im Deutsch-Franzsischen Krieg von 1870/71 empfahlein deutscher Apotheker, Veratrin in Granaten abzufllen.Veratrin ist ein stark zum Niesen reizender Stoff. Er warnatrlich nicht in gengender Menge vorhanden, um ihnin groem Mae im Gefecht einsetzen zu knnen.Der russische General Ssemenow schildert in seinemBuch Die Schlacht bei Tschuschima", wie sich giftigeGase entwickelt htten, die zu einer Reihe von Vergif-

    tungen fhrten. Diese Vergiftungen waren wahrscheinlichauf die bei der Deflagration von Granaten entstehendennitrosen Gase und Kohlenmonoxyd zurckzufhren.Wie alle diese Beispiele zeigen, beschftigte man sich alsobereits vor dem 20. Jahrhundert mit den Problemen derGift- und Brandstoffe. Diese Kampfmittel spielten aberdamals nie eine berragende Rolle, weil ihre Herstellungs-mglichkeiten seinerzeit begrenzt waren und auch dienaturwissenschaftliche Forschung auf diesem Spezial-

    gebiet noch in den ersten Anfngen steckte.

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    Erst die beschleunigte Entwicklung der Technik und derWissenschaften im Zeitalter des modernen Industrie-kapitalismus schuf die notwendigen Voraussetzungen, umneuartige chemische Kampfmittel zu entwickeln und siegrotechnisch herzustellen. Da mit dem Einsatz che-mischer Kampfstoffe bereits um die Jahrhundertwende

    gerechnet wurde, zeigen die Verhandlungen der inter-nationalen Konferenzen in Den Haag 1899 und 1907.Diese Konferenzen beschftigten sich mit der Ein-schrnkung und Humanisierung des hemmungslosenLandkrieges", wie es in den Verhandlungsprotokollenheit. Dabei stand auch das Verbot der Anwendung vonGiftstoffen im Falle bewaffneter internationaler Aus-einandersetzungen zur Debatte. In der von der HaagerKonferenz am 29. Juli 1899 angenommenen Deklaration

    heit es:Die vertragschlieenden Mchte unterwerfen sichgegenseitig dem Verbote, solche Geschosse zu ver-wenden, deren einziger Zweck ist, erstickende odergiftige Gase zu verbreiten."

    Diese Formulierung lie aber einige falsche Auslegungenzu, da die bei der Detonation und besonders bei der De-flagration (nicht explosionsartige Verpuffung) von Spreng-stoffen entstehenden Gase (nitrose Gase, Blausure und

    Kohlenmonoxyd) starke Vergiftungserscheinungen her-vorrufen knnen. Die Verhandlungspartner versuchtendeshalb, durch den ergnzenden Satz Die Splitter-wirkung mu immer die Giftwirkung bertreffen", sichber diesen unklaren Punkt zu einigen. England und dieUSA weigerten sich damals, diese Deklaration anzu-erkennen. Die von der internationalen Konferenz in DenHaag 1907 nach eingehenden Verhandlungen erarbeiteteAnlage zum IV. Haager Abkommen wurde von England

    unterzeichnet. Diese Anlage zum Haager Abkommen, das

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    allgemein als Haager Landkriegsordnung bekannt ist,enthlt folgende Bestimmungen:

    Artikel 22

    Die Kriegfhrenden haben kein unbeschrnktesRecht in der Wahl der Mittel zur Schdigung des

    Feindes.Artikel 23

    Abgesehen von den durch Sondervertrge auf-gestellten Verboten, ist namentlich untersagt:a) Die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen;e) der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder

    Stoffen, die geeignet sind, unntig Leiden zuverursachen.

    Alle europischen Staaten haben dieses Abkommen

    unterzeichnet.Vor Beginn des 1. Weltkrieges gab es also durch diese vonfast allen groen Militrmchten unterzeichneten undanerkannten vlkerrechtlichen Abmachungen Bestim-mungen, die fr den damaligen Entwicklungsstand derMilitrtechnik eindeutig . die Anwendung chemischerKampfmittel mit Giftwirkung verboten. Dessen ungeach-tet arbeitete man in vielen Staaten daran, geeignete Mg-lichkeiten fr den militrischen Einsatz von Giftstoffen

    zu finden. Die konomische Grundlage dazu ergab sichaus der schnellen Entwicklung der chemischen Industriein den Jahren nach der Jahrhundertwende. Besonders diegrotechnischen Produktionsverfahren der Farbenindu-strie erwiesen sich als sehr geeignet fr die Massen-produktion militrisch bedeutsamer Giftstoffe.Wie wenig sich die imperialistischen Staaten an die Be-stimmungen der Haager Landkriegsordnung gehaltenhaben, hat der Verlauf des 1. Weltkrieges deutlich gezeigt.Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurden von der deutschen

    Armee die ersten Versuche mit Reizstoff-Granaten unter-nommen. Am 2. Oktober 1914 wurden bei Neuve-Chapelle3000 Ni-10,5-cm-Schrapnelle auf die franzsischen Stel-lungen abgefeuert, die neben der Brisanzladung und denSchrapnellfllkrpern Dianisidinsalz enthielten. DiesesSalz reizt stark zum Niesen.

    Von deutscher Seite wurde mitgeteilt, da die franzsischeArmee in den ersten Monaten Gewehrgranaten mit einerBromessigesterfllung verscho. Die Granaten enthieltenetwa 19 cm3 Bromessigester, einen Augenreizstoff. Diesegeringe Menge reichte aber selbst bei gnstigen Bedin-gungen nicht aus, um eine ausreichende Gefechts-konzentration zu erhalten.Anfang 1915 war in Deutschland die Konstruktion einerchemischen Granate abgeschlossen, die als 12-T- Granate

    bezeichnet wurde. Diese Granaten enthielten auer derSprengstoffllung eine Mischung von Xylyl- und Xylylen-bromiden. Sie wurden erstmalig am 31. Januar 1915 beiBolimow an der Ostfront eingesetzt. Infolge der niedrigenTemperatur verdampfte jedoch nur ein geringer Teil derFllung, weshalb die Wirkung dieser Geschosse uerstgering blieb. Bei einem zweiten Einsatz dieser Granatenbei Nieuport in Flandern (Mrz 1915) war die Wirkunggrer, da die hhere Lufttemperatur die Verdunstung

    der Kampfstoffmischung beschleunigte.Diese Beispiele zeigten den Militrs, da weit grereMengen Gift und Reizstoff notwendig waren, um hoheGefechtskonzentrationen und damit ausreichende Ver-giftungswirkungen zu erzielen. Dem deutschen General-stab war deshalb ein Vorschlag des bekannten deutschenChemikers Haberwillkommen, der empfahl, Chlorgas frBlasangriffe zu verwenden. Am militrischen Einsatzdieses Gases hatte besonders die Farbenindustrie Deutsch-

    lands groes Interesse, da einmal der grte Teil der

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    Farbenproduktion aus kriegsbedingten Grnden still-gelegt werden mute - was sich negativ auf die Profiteder Aktionre ausgewirkt hatte und zum anderen groeMengen Chlorgas noch in den Fabriken lagerten.Der erste Blasangriff mit Chlorgas fand nach eingehenderVorbereitung am 22. April 1915 bei Ypern statt. Auf dievllig berraschten franzsischen und englischen Truppenwurden an diesem Tage in einem 6 km breiten Front-abschnitt etwa 30 Mp Chlor aus Gasflaschen abgeblasen.Nach franzsischen Angaben sind bei diesem Angriff15 000 Vergiftungen, davon 5000 tdliche, registriertworden.Dieser erste Masseneinsatz chemischer Kampfstoffe warGegenstand zahlreicher vlkerrechtlicher und militri-scher Studien. Besonders die den deutschen Militaristennahestehenden Kreise haben wiederholt versucht, diesenAngriff als harmlos und nicht gegen die Haager Land-kriegsordnung verstoend darzustellen. Statt dessen ver-suchten sie, den Gegnern Deutschlands die alleinigeSchuld am Beginn des chemischen Krieges in die Schuhezu schieben.Nach dem ersten Masseneinsatz chemischer Kampfstoffebei Ypern unternahmen alle kriegfhrenden Staatenfieberhafte Anstrengungen, um die technischen und mili-

    trischen Probleme des Einsatzes der chemischen Kampf-mittel zu lsen. Neben der Herstellung neuer Kampfstoffeund der Entwicklung ihrer Anwendungsmethoden wurdedie Ausrstung der Truppen mit Schutzmitteln, besondersAtemschutzmitteln, ein vorrangiges Problem. In derersten Zeit behalf man sich mit Mullppchen, die miteiner Lsung von Fixiersalz getrnkt waren. Durch che-mische Umsetzung konnte das Chlorgas damit entgiftetwerden. Bereits wenige Wochen spter waren die wichtig-

    sten Truppenteile beider Seiten an der franzsischen Front

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    mit diesen Behelfsmitteln ausgestattet. Sie boten einensehr brauchbaren Schutz gegen die Reiz- und Gift-wirkungen des Chlorgases.Da die Blasverfahren zu stark von den Gelnde- undWitterungsbedingungen abhngig sind, suchte man ver-besserte Anwendungsverfahren und neue chemischeKampfstoffe. Obwohl noch 19l5 sowohl von den Alliiertenals auch von der deutschen Armee einige Blasangriffedurchgefhrt wurden, gab es in diesem Kriegsjahr keineweiteren entscheidenden Neuerungen. Es wurden lediglichVersuche mit den verschiedensten chemischen Fllungendurchgefhrt, zum Beispiel von der franzsischen Armeemit Perchlormethylmerkaptan und Brandgranaten miteiner Lsung von Phosphor in Schwefelkohlenstoff. AuchGranaten mit Chlorazetonfllung wurden auf ihre Ge-

    fechtswirksamkeit untersucht.Erst das Jahr 1916 brachte wesentliche Neuerungen aufdem Gebiet der chemischen Kriegfhrung. Nach strenggeheimgehaltenen Vorbereitungen setzte die franzsischeArmee am 21. Februar 1916 bei Verdun 75-mm-Granatenein, die neben einer geringen Sprengladung eine Phosgen-fllung hatten. Der Einsatz dieses Kampfstoffes machtees notwendig, die Truppen mit wirksameren Atemschutz-gerten auszursten. Darber hinaus war eine gute

    Organisation der Abwehr und der Alarmierung erforder-lich, da in Gefechtskonzentrationen das Phosgen prak-tisch geruchlos ist und akute Vergiftungen leicht ber-sehen und erst entdeckt werden, wenn es bereits zuspt ist.

    Die deutsche Armee verscho am 7. Mai 1916 erstmaligaus Kanonenbatterien Diphosgen, und zwar an der Maasbei Forts Souville und bei Tavennes. Dieser Kampfstoffist im Gegensatz zu Phosgen flssig und lt sich deshalb

    leichter in Granaten abfllen. In seiner Wirkung ent-

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    spricht er praktisch dem Phosgen. Aus diesen Grndenwurde Diphosgen im Verlaufe des Krieges in immergreren Mengen produziert und eingesetzt. In der Nachtvom 22. zum 23. Juni 1916 wurden von der deutschenArmee bei Verdun whrend eines siebenstndigen, pau-senlosen Trommelfeuers 76 000 Haubitz- und 40 000 Kano-

    nengranaten mit Diphosgenfllung abgeschossen.Im Kriegsjahr 1916 wurden von der franzsischen Armeeauch Granaten mit Blausurefllung eingesetzt. Nachdeutschen Angaben fand der erste Angriff mit diesenGranaten am 1. Juli 1916 statt. Von deutscher Seite wirdbehauptet, dieser Angriff habe keinen groen Erfolggehabt, da die von den Franzosen verwendete Lsungvon Blausure in Arsentrichlorid infolge des sehr hohenDampfdruckes keine gengende Kampfkonzentrationergeben habe.

    Trotz der immer strker in den Vordergrund tretendenArtillerieangriffe fanden auch in den weiteren Kriegs-

    jahren noch Blasangriffe mit gasfrmigen Kampfstoffenstatt. Durch hhere Kampfstoffkonzentration und durchmehrere hintereinander folgende Kampfstoffwellen (Wel-lenangriffe) versuchte man, den gegnerischen Atemschutzzu durchschlagen. Diese Angriffe waren aber meist nurbei Einheiten von Erfolg, in denen durch undiszipliniertesVerhalten oder durch fehlende Schutzausrstung keinstndiger Schutz vor chemischen Kampfstoffen gewhr-leistet war.

    Am 24. September 1916 verschossen englische Einheitenerstmalig aus vierzlligen Granatwerfern chemis3heGranaten, deren Fllung aus Augenreizstoff (Jodessig-ester) bestanden haben soll.Die Granatwerfer fanden im Kriegsjahr 1917 berhauptimmer weitere Verbreitung. Die von Foulkes gefhrte

    englische Gasbrigade verscho bei einem Massenein satz16

    am 4. April 1917 bei Arras fast 100 000 Wurfminen aufdie deutschen Stellungen. Die Minen waren grtenteilsmit Phosgen gefllt. Auch Thermit und Nebelstoffewurden aus diesen Werfern verschossen.Nachdem die Englnder das Werferverfahren fr che-mische Kampfstoffe als brauchbar befunden hatten,

    stellte auch die deutsche Armee entsprechende Einheitenauf. Am 24. Oktober 1917 war der erste Einsatz einerdeutschen Werfereinheit bei Flitsch an der italienisch-sterreichischen Front.Aber nicht nur neue Anwendungsmethoden wurdenerprobt. In fast allen Staaten arbeiteten groe Forschungs-institute an der Erforschung neuer chemischer Kampfstoffe.In Deutschland beschftigten sich starke Forschergruppenin den Labors der chemischen Werke und besonders im

    ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlemmit diesen Problemen. Leiter dieser Arbeiten warProf. W. Haber. Begnstigt durch die bereits vor demKriege in Deutschland hochentwickelte chemische Indu-strie wurden neue chemische Kampfstoffe gefunden undgrotechnisch produziert. Ungeheuere finanzielle undmaterielle Mittel steckten bereits damals die Betriebe indie militrchemischen Forschungen, die sich spter zumIG-Farben-Konzern vereinigten. Sie erzielten durch die

    Produktion chemischer Kampfstoffe riesige Profite.Durch die neuentwickelten Kampfstoffe errangen dieMittelmchte zeitweise eine gewisse berlegenheit aufdiesem Gebiet.In der Nacht vom 10. zum 11. Juli 1917 setzte die deut-sche Armee bei Nieuport in Flandern den starkwirkendenNasen- und Rachenreizstoff Diphenylarsinchlorid ein, derin der Lage war, die bis dahin hauptschlich verwendetenSchutzmaskenfilter zu durchdringen. Da dieser Kampf-

    stoff seine grte Wirkung als feinster Schwebstoff in der

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    Luft entwickelt und die damaligen Masken keinen Schweb-stoffilter enthielten, verursachte dieser Stoff unter derMaske einen unertrglichen Hustenreiz, der sich bis zumErbrechen steigerte. Der als Maskenbrecher geeigneteKampfstoff wurde entsprechend der Munitionskennzeich-nung Blaukreuz genannt. Es wurden Angriffe bevorzugt,

    bei denen gleichzeitig Phosgen (Grnkreuz entsprechendder deutschen Munitionskennzeichnung) zum Einsatzkam. Nachdem das Diphenylarsinchlorid die Soldatenzum Abnehmen der Masken gezwungen hatte und diesedadurch schutzlos geworden waren, sollte ihnen das Phos-gen tdliche Vergiftungen zufgen. Die nach dieserMethode beschossenen Gelndeabschnitte nannte manbunte Rume. Wegen der kurzen Wirkungsdauer der ver-wendeten Kampfstoffe ist diese Methode besonders fr die

    Artillerievorbereitung eines Angriffes geeignet.Kurz nach dem ersten Einsatz von Diphenylarsinchloridwurde von der deutschen Armee das Dichlordithylsulfid(Yperit, Lost, Gelbkreuz) in das Arsenal der chemischenKampfstoffe bernommen. Die Gelbkreuzgranaten wur-den zum ersten Mal in der Nacht vom 12. zum 13. Juli1917 bei Ypern in der Flandernschlacht angewandt.Von den Englndern wurde dieser Kampfstoff wegenseines senfartigen Geruchs mustard-gas (Senfgas) ge-

    nannt. Sein Einsatz fhrte zu einer radikalen nderungin der chemischen Kriegfhrung. Alle bis dahin verwende-ten Kampfstoffe wirkten in der Hauptsache nur auf dieAugen und die Atmungsorgane. Dichlordithylsulfidzeichnet sich im Gegensatz dazu durch seine starkeWirkung auf die Haut aus. Auerdem ist es in der Lage,unter gnstigen Bedingungen das beschossene Gelndetagelang zu vergiften. Die vergifteten Gelndeabschnitteknnen nur mit Schutzbekleidung (Schutzstiefel usw.)

    betreten werden. Auf Grund dieser Vorzge ist das Di-

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    chlordithylsulfid sehr gut fr Verteidigungsaufgabengeeignet.Der Einsatz des neuen Kampfstoffes stellte die krieg-fhrenden Lnder vor neue wirtschaftliche Probleme.Zum Schutz der Truppen muten entsprechende Schutz-bekleidungsstcke (Schutzanzge, Schutzplanen) ent-

    wickelt und produziert werden. Diese Aufgaben bereitetenbesonders den Mittelmchten (Deutschland, sterreich-Ungarn) groe Schwierigkeiten, weil diesen nur einebegrenzte Rohstoffbasis zur Verfgung stand. Bis zumEnde des Krieges konnten sie dieser Schwierigkeiten nichtHerr werden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieAlliierten, denen das Wirtschaftspotential der USA eineunerschpfliche Quelle war, eine starke Kampfstoff- undSchutzmittel-Industrie aufgebaut hatten.

    Welchen Umfang die Angriffe mit Dichlordithylsulfiderreichten, zeigt die Tatsache, da im Verlaufe derFlandernschlacht von 1917 innerhalb von 10 Tagen1 Million Granaten mit etwa 2500 Mp Dichlordithyl-sulfid verschossen wurde.Das Kriegsjahr 1918 brachte eine weitere Verstrkung desEinsatzes chemischer Kampfstoffe. Die deutsche Armeeverscho an der Westfront etwa 30 Prozent chemischeMunition. Nachdem allerdings die alliierte Kampfstoff-

    produktion den Stand der deutschen erreicht hatte,wendeten sich die Erfolge der chemischen Kriegfhrungmehr und mehr auf die Seite der Alliierten. Der Gesamt-verbrauch an chemischer Munition erreichte in der fran-zsischen Armee in der Zeit vom 1. Juli 1915 bis 11. No-vember 1918 die beachtliche Zahl von ber 17 MillionenGranaten.Die deutsche Industrie war in den letzten Kriegsjahrennicht mehr in der Lage, den alliierten Kampfstoffangriffen

    auch nur annhernd die gleiche Munitionsmenge entgegen-

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    zustellen, da sich die Rohstoffschwierigkeiten noch ver-schrft hatten. Auch auf chemischem Gebiet endete dervom deutschen Imperialismus mitentfesselte Krieg alsomit einem vlligen Fiasko.Die ungeheuren Verluste, die der chemische Krieg for-derte und die am schwersten die werkttigen Klassen aller

    kriegfhrenden Lnder trafen, veranlaten Wissenschaft-ler sowie Mitglieder von Arbeiter- und Friedensorgani-sationen, gegen die Verwendung chemischer Kampfstoffezu protestieren.

    Bereits im Februar 1918 verffentlichte das InternationaleKomitee des Roten Kreuzes einen Aufruf gegen die Ver-wendung von giftigen Gasen, der von den kriegfhrendenStaaten allerdings nicht beachtet wurde.Nach dem Kriege wurden durch den Vertrag von Versailles

    Deutschland Herstellung. Einfuhr und Verwendung che-mischer Kampfstoffe untersagt.Trotz zahlreicher internationaler Verbote setztenaber bereits wenige Jahre nach Kriegsende die deut-schen Militaristen und besonders der neugebildeteIG-Farben-Konzern die militrchemischen Forschungenfort.In den Jahren 1921 und 1922 beschftigte sich die Wa-shingtoner Seeabrstungskonferenz auch mit dem Verbot

    chemischer Kampfmittel. Entsprechend den Vorschlgen,die von den Teilnehmern dieser Konferenz ausgearbeitetwurden, wurde in das Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925die Bestimmung aufgenommen, da ,der Gebrauch vonerstickenden, giftigen oder hnlichen Gasen, Flssigkei-ten, festen Stoffen und Verfahrensarten sowie der Ge-brauch von bakteriologischen Mitteln in zuknftigen Krie-gen verboten ist'.

    In den folgenden Jahren beschftigten sich viele Tagungen

    des Vlkerbundes mit diesen Fragen. Andere internatio-

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    nal gltige Abkommen wurden aber trotz eingehender undgrtenteils sachlicher Diskussion nicht gefat.Erwhnenswert ist eine Entschlieung der internationalenKonferenz des Roten Kreuzes in Den Haag von 1929, inder erklrt wird:

    Getreu seiner Sendung zu helfen und zu heilen, dem

    Fundament seines Daseins, ist es Pflicht des RotenKreuzes, unverzglich solche technische Mittel aus-findig zu machen und anzuwenden, die es gestatten,in denkbar weitestem Mae die Erhaltung und denSchutz der Zivilbevlkerung gegen die entsetzlichenGefahren sicherzustellen, die ihr bislang erspartgeblieben sind. Durch einen nachdrcklichen propa-gandistischen Appell an die ffentliche Meinung derWelt sowie durch die Ausbung praktischer Schutz-

    aufgaben wird das Rote Kreuz sein Hilfswerk aus-zubauen haben, der Zivilbevlkerung Schutz vor denfurchtbaren Auswirkungen eines aerochemischenAngriffes zu gewhren."*)

    Ungeachtet der internationalen Verbote setzten die kapi-talistischen Staaten und besonders Deutschland die Ent-wicklung der chemischen Waffe fort. In einem Vortragvor der American Chemical Society erklrte der bekannteamerikanische Militrchemiker Fries: Erstrebenswert

    ist die Herstellung geheimgehaltener Kampfstoffe, diekein anderer besitzt."Natrlich wurde die Wirkung und der Einflu derchemischen Waffe auf den Verlauf eines Kriegesauch stark bertrieben. So schrieb zum BeispielVedder: In Zukunft wird die Nation den Krieg gewin-nen, die den Vorteil eines Giftgases besitzt, das durchdie feindlichen Masken dringt."

    *) Bltter des Deutschen Roten Kreuzes, Heft 8; 1929.

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    Douhetvertrat die Meinung, da in einem Krieg besondersdem aerochemischen Angriff, also der Anwendung che-mischer Kampfstoffe aus der Luft, eine bevorzugte Stel-lung zukomme.Fast in allen Verffentlichungen vor dem 2. Weltkriegwurde dem Einsatz chemischer Kampfstoffe . durch

    Fliegerkrfte eine hohe Wirkung zugesprochen. Flug-zeuge, besonders langsamfliegende Typen, knnen nichtnur chemische Bomben abwerfen, sondern auch chemischeKampfstoffe abrieseln und dadurch groe vergifteteFlchen schaffen. Das erfordert auf der anderen Seite dieOrganisation einer Zivilverteidigung, die ber die ent-sprechenden Schutzmittel und Einrichtungen verfgenmu. Auch die Aufklrung der Zivilbevlkerung ber denSchutz vor chemischen Kampfstoffen ist beraus wichtig.

    Obwohl in vielen Staaten vor dem 2. Weltkrieg intensivemilitrchemische Forschungen durchgefhrt wurden,sind darber nur wenige Einzelheiten bekannt geworden.Bereits kurz nach dem 1. Weltkrieg erfuhr die ffent-lichkeit, da nur das Kriegsende den Einsatz derneuen Kampfstoffe Adamsit, Chlorazetophenon undLewisit verhindert hat te. Diese Kampfstoffe unter-schieden sich jedoch nicht wesentlich von den im Kriegeingesetzten Stoffen. Sie htten deshalb keinen umwl-zenden Einflu gehabt, da die damals verwendeten

    Schutzmittel zum einwandfreien Schutz gegen sie aus-gereicht htten.

    Eine neue Gruppe chemischer Kampfstoffe wurde durchdie Arbeiten von Prandtl und Sennewaldbekannt.Diese Stoffe werden durch die Oximgruppe charakte-risiert. Auf der Haut rufen sie starke Nesselerscheinungenhervor; man nennt sie deshalb auch Nesselstoffe. Zudieser Gruppe gehrt das spter noch eingehend zu be-

    schreibende Dichlorformoxim. Da die Nesselstoffe auch22

    blasenbildende Eigenschaften haben, ordnet man sie denhautschdigenden Kampfstoffen zu.In Frankreich untersuchte man Kohlenmonoxyd undkohlenmonoxydhaltige Verbindungen auf ihre Einsatz-fhigkeit. Reines Kohlenmonoxyd lt sich aber nurschwer als Kampfstoff gebrauchen, da es wegen seiner

    hohen Flchtigkeit nicht mglich ist, im freien Gelndehohe Kampfkonzentrationen herzustellen. In einer Ver-ffentlichung von Hanne wird aber trotzdem die Meinungvertreten, da das Kohlenmonoxyd in einem Krieg alsKampfstoff eine Rolle spielen kann.Nicht zu unterschtzen sind allerdings die Karbonyle, indenen Kohlenmonoxyd chemisch an Metalle gebundenist. Beim Erwrmen geben diese Stoffe das locker gebun-dene Kohlenmonoxyd ab. Als eine einsatzfhige Mischung

    sahen die Franzosen eine Mischung von Eisenkarbonylund Blausure an.Viele wissenschaftliche Arbeiten wurden dem Dichlor-dithylsulfid gewidmet. Man versuchte, die Chloratomedurch die hnlichen chemischen Elemente Brom und Jodzu ersetzen, um dadurch Stoffe herzustellen, die hnlicheWirkungen wie die Chlorverbindungen besitzen. Die sogewonnenen Stoffe hatten eine geringere Flchtigkeit,erreichen aber in ihren physiologischen Wirkungen nicht

    das Dichlordithylsulfid. Im 2. Weltkrieg wurden tak-tische Mischungen*) des Dichlordithylsulfids bekannt,die sich durch groe Klebkraft und Zhigkeit aus-zeichneten.Diese Mischungen haften sehr fest an der Bekleidung, anHolz und anderen Materialien und sind sehr schwer zuentgiften. Ihr Einsatz wrde bei der Entgiftung des Ge-

    *) Taktische Mischungen: Mischungen von Kampfstoffen untereinanderoder mit anderen Stoen, die fr bestimmte Anwendungszwecke her-

    gestellt werden, zum Beispiel fr den Einsatz bei tieferen Temperaturen.

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    lndes, der Bewaffnung und der Technik groe Schwierig-keiten bereiten.Bei Untersuchungen ber die dem Dichlordithylsulfidhnlichen Stoffe wurden die Stickstoff-Loste (Stickstoff -Yperite) gefunden. Diese Stoffgruppe unterscheidet sichchemisch durch den Ersatz des Schwefelatoms durch

    Stickstoff. Als besonders wirksame Verbindungen dieserReihe erwiesen sich das Trichlortrithylamin und dasMethyldichlordithylamin dadurch, da sie praktischgeruchlos und nur uerst schwer zu entgiften sind.Eine von Le Wita als wichtig bezeichnete Stoffgruppesind die Metallthyl Verbindungen. Sie sollen sich alschemische Kampfstoffe eignen. Neben Tellurdithyl istbesonders das Bleitetrathyl zu erwhnen. Bleitetrathylwird in der chemischen Industrie in groen Mengen her-

    gestellt; es dient als Treibstoffzusatz, um die Klopffestig-keit zu erhhen. In der Industrie sind beim Umgang mitdiesem Stoff viele tdliche Unflle vorgekommen. Es istnicht ausgeschlossen, da dieser Stoff oder Mischungenmit anderen Kampfstoffen militrisch verwendet werdenknnen.Tellurdithyl hat hnliche Eigenschaften wie das Blei-tetrathyl. Es ist jedoch weniger giftig als dieses.Besonderes Interesse zeigten viele Forschungsinstitute

    an den Fluorverbindungen. 1934 erregte eine Meldung ausUSA die Gemter, da in Massachusetts ein Chemiker destechnologischen Instituts einen neuen tdlichen Fluor-kampfstoff entdeckt habe. Der angegebene Stoff (Stick -stofftrioxyfluorid) ist uerst unbestndig, und es ist un-wahrscheinlich, da er als Kampfstoff verwendet werdenkann. Die Meldung zeigte aber, da man sich in derKampfstofforschung einem neuen erfolgversprechendenGebiet, der Fluorchemie, zugewandt hatte. Wie sptereVerffentlichungen zeigten, galt das besondere Interesse

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    der Chemiker den uerst aggressiven Fluorverbindungenvom Typ der Schwefelfluoride und der Halogenfluoride.Bekannt wurden Arbeiten ber Schwefelpentafluorid undChlortrifluorid. Diese und hnliche Stoffe erlangten spterbesondere Bedeutung als Oxydationsmittel fr Raketen-treibstoffe. Inwieweit diese Stoffe als chemische Kampf-

    mittel eingesetzt werden knnen, ist bisher noch nichteindeutig bekannt geworden.Groe Bedeutung hatten die vor dem 2. Weltkrieg syste-matisch durchgefhrten Arbeiten ber die Fluorazetate.Anfang der dreiiger Jahre war man hinter die hoheGiftigkeit der Monofluoressigsure und des Fluorthyl-alkohols sowie ihrer Ester gekommen. Besonders vomMethylfluorazetat hoffte man, da es die fr einen Kampf-stoff notwendigen Eigenschaften habe. Eingehend unter-

    suchten die Militrchemiker die Verwendungsmglich-keiten dieser Stoffe zur Trinkwasservergiftung. Die Stoffeboten sich dafr an, da sie sich leicht in Wasser lsenund sehr stabil sind.Nachdem in Deutschland die faschistische Diktatur er-richtet worden war, lieen die neuen Machthaber diemilitrischen Forschungen der Reichswehr stark beschleu-nigen. Besonders von der Herstellung neuer chemischerKampfstoffe versprach man sich in Deutschland ein

    militrisches bergewicht. Der IG-Farben-Konzern, derin der Massenproduktion chemischer Kampfstoffe einelohnende Profitquelle sah, untersttzte diese Arbeiten,indem er die Forschungseinrichtungen und enorme finan-zielle Mittel bereitstellte. Besondere Aufmerksamkeitwurde der Entwicklung solcher Kampfstoffe gewidmet,die eine hnlich schnelle Giftwirkung wie die Blausure,

    jedoch eine geringere Flchtigkeit besitzen. Einige Stoffe,die chemisch zur Gruppe der Phosphorsureester gehren,

    entsprechen diesen Forderungen. Bereits lange vor dem

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    Krieg hatte man in Deutschland versucht, synthetischeStoffe herzustellen, die an Stelle von Nikotin und anderennatrlichen Insektenbekmpfungsmitteln eingesetzt wer-den knnten. Zum Beispiel wurde 1932 von Lange undKrger mitgeteilt, da Dimethyl- und Dithylfluorphos-phat eine enorme Toxizitt haben. Fuend auf diesen und

    anderen Arbeiten lie der IG-Farben-Konzern weitereArbeiten durchfhren, die zu dem als Schdlingsbekmp-fungsmittel uerst wirksamen Bladan fhrten. ImRahmen dieser Arbeiten entdeckte G. Schrderdas Tabun.Dieser Stoff, der chemisch als thylester der Dimethyl-aminozyanphosphorsure bezeichnet werden kann, eignetsich als Kampfstoff. Er vereinigt hohe Giftigkeit mitgeringer Flchtigkeit. Die von den IG-Farben begonnenenArbeiten wurden mit Untersttzung des ehemaligenHeereswaffenamtes in den Labors der IG-Farben unterLeitung von G. Schrder und in Heidelberg unter derLeitung von R. Kuhn weitergefhrt. Schon in den Jahren1937/38 wurden Versuchsanlagen bei Mnster/Lneburgund in Schwansee bei Frankfurt/Oder aufgebaut.In den Jahren vor dem 2. Weltkrieg waren in Deutsch-land riesige Produktionssttten fr chemische Kampf-stoffe und Anlagen fr ihre Abfllung in Granaten,Bomben usw. errichtet worden. Der faschistischen Armeestanden Tausende Tonnen der bis dahin bekannten che-

    mischen Kampfstoffe zur Verfgung. Sie war vollstndigmit Schutzmasken und anderen Schutzmitteln aus-gerstet. Ferner standen zehn Sonderregimenter, so-genannte Nebelwerferregimenter, bereit, die mit allenerforderlichen Gerten ausgestattet waren.Kurz nach Beginn des 2. Weltkrieges begann bei Dyhern-furth an der Oder der Bau eines riesigen Werkes zurTabunherstellung. Dieses Werk hatte nach seiner Fertig-stellung trotz weitgehender automatischer Steuerung

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    eine Belegschaft von 3000 Arbeitern. Die Werkanlagebreitete sich ber 1 km2 aus.Oft wird die Frage gestellt, wieso im 2. Weltkrieg trotz-dem keine chemischen Kampfstoffe eingesetzt wurden.Kurz vorher hatten die italienischen Faschisten bei ihremberfall auf Abbessinien groe Mengen Dichlordithyl-

    sulfid eingesetzt. In diesem Krieg besttigten sich dieProphezeiungen ber die ungeheure Wirkung von Luft-angriffen mit chemischen Kampfstoffen. Neben Bombenund Kanistern mit Kampfstoffllungen verwendeten dieitalienischen Faschisten erstmalig Flugzeugabsprh-gerte. Unrhmlich bekannt geworden ist der Angriff imTal von Takuse, bei dem Tausende abbessinischer Frei-heitskmpfer und Zivilisten gettet wurden.Beurteilt man die Wirksamkeit der chemischen Kampf-stoffe im abbessinischen Krieg, so mu man bercksichti-gen, da die abbessinischen Einheiten nicht einmal mitSchutzmasken ausgerstet waren.

    Auch Japan versuchte im Krieg gegen China mehrmals,durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe Vorteile zuerringen. Auch hier stand eine auf chemischem Gebietnicht gerstete Armee den wohlvorbereiteten japanischenTruppen gegenber.Es ist nicht leicht, ein allgemeingltiges Urteil ber dieGrnde der Nichtanwendung chemischer Kampfstoffe im2. Weltkrieg abzugeben.Bei Kriegsbeginn waren alle groen Militrmchte mitden fr einen chemischen Krieg notwendigen Gerten undSchutzmitteln ausgerstet. Die Faschisten waren nichtabgeneigt, einen derartigen Krieg zu fhren. So versuchtebeispielsweise Goebbels, durch Meldungen ber die angeb-liche Anwendung von Yperit bei der Versenkung desdeutschen Panzerkreuzers Graf Spee in der La Plata-Mndung, den Beginn des chemischen Krieges herauf-

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    zubeschwren. Einen fadenscheinigen Grund zu diesenMeldungen gab die Fehldiagnose eines Arztes. Dieserhatte die bei vielen Besatzungsmitgliedern aufgetretenenHautschdigungen irrtmlich als Yperitverletzungenerklrt, obwohl sie lediglich auf das bromhaltige Feuer-lschmittel zurckzufhren waren, das aus den zerstrten

    Lschanlagen geflossen war.England protestierte daraufhin energisch gegen derartigeMeldungen, die sich durch eingehende Untersuchungenauch als unzutreffend erwiesen.England seinerseits hatte kurz nach Kriegsbeginn in Dn-kirchen und Calais Lager mit chemischer Munition an-gelegt, die aber noch vor der Besetzung durch deutscheTruppen rechtzeitig gerumt werden konnten. Auch inden anderen von den Faschisten besetzten Gebieten istes diesen nie gelungen, nennenswerte Mengen chemischerKampfstoffe zu erbeuten. Ein derartiges Lager htteunter Umstnden den Vorwand fr den Beginn des che-mischen Krieges gegeben.Im Verlaufe des Krieges verstrkten die deutschen Fa-schisten an vielen Hochschulinstituten und Industrie-laboratorien die militrchemischen Forschungen. NebenTabun wurden auch die Ester der Methylfluorphosphor-sure untersucht. Dabei wurden die Kampfstoffe Sarinund Soman entdeckt, die weit giftiger als das Tabun sindund die sich auf Grund ihrer chemischen Eigenschaftenbesser zum militrischen Einsatz eignen. Da die Herstellungdieser Stoffe groe technische Schwierigkeiten bereitet,gelang es den Faschisten jedoch bis zum Ende des Kriegesnicht, grere Mengen dieser Stoffe zu produzieren. NachLiteraturangaben soll sich das Soman bei Kriegsende nochim Stadium der labormigen Untersuchungen befundenhaben. Fr das Sarin war eine grotechnische Anlage nochim Bau. Tabun wurde gegen Ende des Krieges in einer

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    Menge von monatlich 1000 Mp produziert. Von Sarin solleninsgesamt etwa 25 bis 30 Mp existiert haben.In England arbeitete in Cambridge eine Forschergruppefr das englische Ministerium fr Versorgung an hnlichenFragen wie die Gruppen in Deutschland. Diese Arbeits-gruppe untersuchte besonders die Ester der Fluorphos-

    phorsure auf ihre Eignung zum militrischen Einsatz.Auf einer Konferenz des Ministeriums fr Versorgung inLondon berichtete am 11. Dezember 1941 der Leiter derForschungsabteilung ber die Ergebnisse der bis dahindurchgefhrten Arbeiten, und er erluterte besonders dieEignung von Diisopropylfluorphosphat (DFP) als Kampf-stoff. Die Arbeiten wurden daraufhin verstrkt fort-gesetzt und grotechnische Verfahren zur Herstellungdieser Stoffe erarbeitet.

    Es haben also alle Staaten bis zum Kriegsende an derVervollkommnung der chemischen Waffe gearbeitet. DieGefahr eines chemischen Krieges schwebte daher immerwie ein Damoklesschwert ber den Vlkern.Ein nicht zu unterschtzendes Hindernis fr die Anwendungchemischer Kampfstoffe war das Genfer Protokoll vom1. Juni 1925. Im Zusammenhang mit der Abrstungsfrageund der Diskussion ber die Wirksamkeit internationalerVerbote schrieb dazu die Prawda vom 26. Juni 1952:

    Die politischen, vlkerrechtlichen und moralischenVerpflichtungen, die die Staaten auf Grund der Unter-zeichnung dieser Genfer Konvention bernommenhatten, waren im 2. Weltkrieg ein ernst zu nehmenderFaktor, der die faschistischen Machthaber von derAnwendung dieser mrderischen Waffen zurckhielt.Damit wurde erwiesen, da dieser Faktor ein wesent-liches Hindernis fr Aggressoren darstellt."

    Es gab aber auch technische und militrische ber-legungen, auf einen chemischen Krieg zu verzichten. Bei

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    Beginn des 2. Weltkrieges war die deutsche Wehrmachtbeispielsweise durch Untersuchungen dahintergekom-men, da der Filtereinsatz FE 39, mit dem die deutschenTruppen ausgerstet waren, nur wenig Schutz vor hohenKonzentrationen von Blausure und Chlorzyan bot. DieEinsatzmglichkeiten gerade dieser Stoffe wurden aber

    bei Kriegsbeginn bekannt. Die Anwendung dieser Kampf-stoffe htte zu schweren Verlusten bei den deutschenTruppen und noch mehr unter der Zivilbevlkerunggefhrt. Die Produktion des neuen deutschen FiltersFE 42, der auch gegen diese Kampfstoffe schtzte, kamnur langsam in Gang. Die Ausrstung der Truppenkonnte erst im Jahre 1944 abgeschlossen werden. Zudieser Zeit hatten aber die Alliierten bereits eine der-artige technische und militrische berlegenheit gewon-nen, da ein chemischer Krieg sich in der Hauptsachegegen die deutschen Faschisten selbst und gegen ihreVerbndeten gerichtet htte. Die deutsche Industrie undbesonders die Zivilverteidigung htten in den letztenKriegsjahren in keiner Weise die Anforderungen derchemischen Abwehr befriedigen knnen. Nach Aussagedes Nazi-Rstungsministers Speerim Nrnberger Prozehatte Goebbels Anfang 1945 den Versuch unternommen,den Austritt Deutschlands aus der Genfer Konventionzu erreichen, um den Krieg mit allen Mitteln zu ver-

    schrfen. Die Militrs, erklrte Speer, lehnten jedochinsbesondere den Gaskrieg ab,

    da er ja heller Wahnsinn war, denn bei der Luft-berlegenheit, die sie (die Alliierten, R. S.) hatten,mute ja in kurzer Zeit ber die deutschen Stdte,die vllig schutzlos waren, eine furchtbare Kata-strophe kommen".*)

    *) Der Proze gegen die Naziverbrecher vor dem Internationalen Militr-

    gerichtshof, Bd. XVI, Nrnberg 1948, Seite 576 ff.

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    Welchen Umfang der Einsatz chemischer Kampfmittelim 2. Weltkrieg angenommen htte, zeigt ein Vergleichzwischen der nach 1945 in Deutschland vorgefundenenKampfstoffmenge (abgefllt und nicht abgefllt etwa250 000 Mp) und dem Gesamtverbrauch aller Staaten,die im 1. Weltkrieg Kampfstoffe angewendet haben

    (etwa 125 000 Mp). Man erhlt so ein Bild von der un-geheuren Gefahr, die der Einsatz dieser Stoffe herauf-beschworen htte. Ein von Frankreich verffentlichterVergleich ber die vorhandenen franzsischen Produk-tionskapazitten unterstreicht diese Tatsache. Frankreichstellte im Oktober 1918 monatlich 500 Mp Yperit her;im Jahre 1939 htten die Betriebe monatlich 1200 MpPhosgen und 800 Mp Yperit produzieren knnen.Interessant ist eine statistische Aufstellung von Kom-mandeur Bonnandber die Mengen der in der damaligenanglo-amerikanischen Zone aufgefundenen Kampfstoff-vorrte :

    37 700 Mp Yperit13 350 Mp Tabun10 500 Mp Phosgen1 700 Mp Arsine1 700 Mp Augenreizstoffe1 500 Mp Trichlortrithylamin

    Man mu dabei bercksichtigen, da viele Fabriken nurmit einem Bruchteil ihrer Kapazitt gearbeitet haben unddie aufgefundenen Mengen nur die Einsatzreserve biszum Anlaufen der vollen Produktion waren.Nach dem 2. Weltkrieg setzten vor allem die USA dieEntwicklungen auf militrchemischem Gebiet fort. DieUSA hatten auf Grund ihrer Erfahrungen im 1. Weltkriegin der Armee einen gut organisierten chemischen Dienstaufgebaut. Die bereits im 1. Weltkrieg eingerichtetenchemischen Forschungs- und Erprobungsinstitute wurden

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    stndig ausgebaut und vergrert und in Zusammenarbeitmit groen amerikanischen Chemiekonzernen die For-schungsarbeiten mit unverminderter Energie voran-getrieben. Die Finanzmittel fr chemische Forschungenwurden ungeachtet der riesigen Ausgaben fr die Produk-tion von Kernwaffen und biologischen Kampfmitteln von

    Jahr zu Jahr erhht. In Arizona wurden die Yuma-Labors errichtet, die Stationen und Erprobungseinrich-tungen fr chemische und biologische Kampfmittelbesitzen.

    In diesem Zusammenhang ist eine Mitteilung des Leitersder Abteilung fr chemische Kriegfhrung der US-Armeeerwhnenswert, die am 3. Juni 1948 in der New York Herald Tribune erschien:

    Ende des 2. Weltkrieges gab es vllig neue Ent-

    deckungen auf dem Gebiete der chemischen Krieg-fhrung, die auf dem Schlachtfeld noch nicht aus-probiert worden sind. Wir mssen auf alle Flle aufdiesem Gebiet an der Spitze aller Staaten bleiben."

    Mit welchen Mitteln in den USA neue Produktions-kapazitten fr chemische Kampfstoffe geschaffen wer-den, zeigt eine Meldung, die Der Mittag (Dsseldorf) am23./24. April 1955 verffentlichte. Danach wurde in Colo-rado mit einem Kostenaufwand von 50 Millionen Dollarein neues automatisches Werk zur Herstellung von Phos-phorsureester-Kampfstoffen errichtet. Dieses Werk, dasin der Hauptsache Sarin produziert, ist nicht das einzigeseiner Art in den USA. Nach 1948 wurden mehrere Pro-duktionsanlagen fr Sarin und Soman sowie Anlagen zuihrer Abfllung in Bomben, Granaten und chemischeMinen erbaut, die jede mindestens einen hnlich hohenfinanziellen Aufwand erforderten. Neben Produktions-anlagen, die direkt dem amerikanischen Kriegsmini-sterium unterstehen, errichteten viele Chemiekonzerne

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    eigene Anlagen, die im Frieden Insektenbekmpfungs-mittel herstellen und jederzeit auf die Produktion vonKampfstoffen umgestellt werden knnen.Um die neuentwickelten chemischen Kampfstoffe zuerproben, wurden groe bungspltze eingerichtet. VonOktober 1954 bis Januar 1955 fanden im USA-Staat

    Louisiana Manver statt, an denen ber 110 000 Mannund etwa 1200 Flugzeuge teilnahmen. Die angenommeneLage sah den Masseneinsatz von Kernwaffen und che-mischen Kampfstoffen vor. Im Verlauf der bung solltedie Ausrstung der Truppen, die Truppenfhrung imGefecht und die allgemeine Taktik unter den Bedingungendes Einsatzes von Massenvernichtungswaffen erprobtwerden.

    In den letzten Jahren sind in der amerikanischen und in

    anderer westlicher Fachliteratur Meldungen erschienen,nach denen die militrischen Forschungsstellen der USAund ihrer NATO-Partner sich mit neuartigen Kampf-stoffen beschftigen.So sollen einige Psychopharmaka mit hnlicher Wirkungwie das bekannte Meskalin fr militrische Zwecke ver-wendbar sein. Wahrscheinlich handelt es sich in denmeisten Fllen um ausgesprochen auf das Zentralnerven-system wirkende Stoffe. Es ist selbstverstndlich, da bei

    der schnellen Entwicklung, die in den letzten Jahren aufden Gebieten der organischen Synthese, der Toxikologieund der Pharmakologie zu beobachten ist, viele neueErkenntnisse erhalten wurden, fr die sich die militr-chemische Forschung auerordentlich interessiert. In denletzten beiden Jahren sollen in den USA auch einigegrere Versuchsanlagen ihre Produktion aufgenommenhaben. Es kann jedoch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein,diese Fragen nher darzulegen. Es weisen auch keinerleiVerffentlichungen in der Fachliteratur darauf hin, da

    3 Kampfstoffe 33

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    sich diese Stoffe bereits in groen Mengen in der Aus-rstung der imperialistischen Armeen befinden. EinigeStoffe mit angstauslsender Wirkung, die in den letztenJahren beschrieben worden sind, scheinen sich fr denmilitrischen Einsatz zu eignen. Es bleibt aber abzu-warten, ob diese meist nur schwer herstellbaren Stoffe

    auch fr die Massenproduktion tauglich sind. Die west-lichen Tageszeitungen bertreiben hufig ihre Einsatz-mglichkeiten. Meist ergeben Felderprobungen vllig an-dere Einschtzungen als die berprfung im Laborver-such. Zum Teil sind die Meldungen von der Tagespresseauch mit der Absicht verfat worden, von den Fehl-schlgen der amerikanischen Forschung in der Raketen-technik abzulenken, die berlegenheit der USA aufanderen Gebieten der Militrtechnik zu beweisen und dieffentlichkeit irrezufhren. In anderen Meldungen istdeutlich die Absicht zu merken, der ffentlichkeit einzu-reden, da es auch humane Seiten der chemischen Krieg-fhrung gibt und ein Verbot der Produktion chemischerKampfstoffe und ihrer Anwendung nicht notwendig ist.Wichtig und beachtenswert sind einige Entwicklungenauf dem Gebiete der Militrchemie, die eigentlich in dasGebiet der biologischen Kriegfhrung gehren. So sindzahlreiche Meldungen erschienen, nach denen in den USAund anderen NATO-Staaten besonders intensiv das

    Gebiet der militrisch anwendbaren Toxine*) und derwachstumsregulierenden Stoffe bearbeitet wird.Auf dem Gebiet der wachstumsregulierenden Stoffe, dieden chemischen Kampfstoffen infolge ihrer synthetischenHerstellbarkeit sehr nahestehen, wurden in den letzten

    *) Toxine sind Giftstoffe, die als Folgeprodukte des Stoffwechsels verschie-dener Mikrobenarten entstehen und eine betrchtliche toxische Wirkunggegenber Warmbltern haben. Ein bekanntes Toxin, das sich mili-trisch besonders gut als Sabotagegift einsetzen lt, ist das Botulinus-Toxin.

    Jahren einige Einzelheiten bekannt. So wird in verschie-denen Verffentlichungen darauf hingewiesen, da esmglich ist, 2,4-Dichlorpbenoxyazetat zu verwenden, umdas Wachstum von Kulturpflanzen zu verlangsamen.Auch andere, chemisch hnliche Verbindungen wurdenin den USA und anderen westlichen Staaten auf ihre

    Brauchbarkeit in einem biologischen Krieg untersucht.Wie weit sich die militrchemischen Forschungen in denNATO-Lndern auf das Gebiet biochemischer Vorgngeverlagert haben, zeigen die Verffentlichungen berStoffe, die in der Lage sind, Laubbume schnell verwelkenzu lassen. Diese Stoffe sollen sich als militrisch einsatz-fhig erwiesen haben.Ein weites, bisher in der einschlgigen Literatur nur wenigbehandeltes Gebiet der chemischen Kriegfhrung bilden

    die Sabotagegifte. Auf diesem Sektor der chemischenKriegfhrung gibt es wahrscheinlich ebensoviele Mglich-keiten und spezielle Anwendungsmittel wie auf dem Ge-biete der biologischen Kriegfhrung. Besonders die in denletzten Jahren erzielten Ergebnisse ber die synthetischenGiftstoffe lassen die Mglichkeiten ahnen, die sich hierbieten. Wie intensiv man sich auch in den NATO-Staaten, besonders seitens der Geheimdienste, fr diesesGebiet interessiert, zeigen die wiederholten Versuche,

    diese Mittel zu Sabotageakten zu verwenden, und die ver-strkte Ausbildung der sogenannten Ranger-Gruppen inden Spezialschulen der NATO-Armeen.berblickt man alle zur Zeit bekannten und mglichenchemischen Massenvernichtungsmittel, so mu man zuder Schlufolgerung kommen, da diese Mittel in derHand eines kriegslsternen imperialistischen Staates einefurchtbare Waffe sind, deren Einsatz ungeheure Verlusteund Zerstrungen zur Folge htte. Das zeigt, wie not-

    wendig es ist, den Schutz der Menschen und der tech-

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    irischen Einrichtungen vor den chemischen Kampfstoffenzu organisieren, die notwendigen Ausrstungen dafr zuschaffen und die bewaffneten Organe entsprechend aus-zubilden.Auf der anderen Seite zeigt die Entwicklung der chemi-schen Waffe, da der Kampf um den Frieden nicht nur

    eine Angelegenheit einiger weniger Menschen sein kann,sondern da sich in diesem Kampf die ganze Menschheitzusammenfinden mu, weil es ein Kampf um ihre Exi-stenz ist. Die Anstrengungen der friedliebenden Menschenmssen noch, strker werden, um es den Kriegstreibernzu verwehren, ihren seit Jahren vorbereiteten Krieg zuentfesseln. Die Vertreter der Sowjetunion haben auf denTagungen der UN und der Abrstungskonimission immerwieder auf die Gefahr hingewiesen, die alle modernen

    Massenvernichtungswaffen fr die Menschheit darstellen,und konkrete und fr alle Staaten annehmbare Vor-schlge fr das absolute Verbot der Massenvernichtungs-waffen eingebracht. So beantragte die Sowjetunion 1952in der Debatte des Sicherheitsrates, der Rat solle alleStaaten, gleichgltig, ob Mitglied oder nicht Mitglied derUN, die bis dahin das Genfer Protokoll nicht ratifizierthtten, auffordern, dies nachzuholen. Dieser Antragwurde von der USA-hrigen Mehrheit mit faden-

    scheinigen Grnden abgelehnt. Die USA, die bisheute noch nicht das Genfer Protokoll ratifiziert haben,wollten sich damit alle Mglichkeiten fr die weitereEntwicklung der chemischen und biologischen Waffeoffenhalten.Es ist daher notwendig, da sich alle Angehrigen unsererbewaffneten Krfte einen berblick ber die chemischenWaffen und ihre Einsatzmglichkeiten verschaffen, um imFalle eines imperialistischen Angriffs mit chemischen Waf-

    fen wirkungsvolle Gegenmanahmen einleiten zu knnen.

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    Um die Kampfeigenschaften, Anwendungsmglichkeitenund Vernichtungswirkungen sowie die Verhaltensweiseder Kampfstoffe unter den verschiedensten meteorologi-schen und topografischen Verhltnissen zu verstehen, umdie Schutz- und Erste-Hilfe-Manahmen bei Vergiftungenmit chemischen Kampfstoffen zu begreifen, ist die Kennt-nis der vielfltigen Eigenschaften der chemischen Kampf-stoffe erforderlich. Wie kaum bei einer anderen modernenWaffenart sind zur nheren Beurteilung der chemischenKampfstoffe viele grundlegende Erkenntnisse und Gesetz-migkeiten aus den verschiedensten naturwissenschaft-lichen und medizinischen Wissenszweigen zu berck-sichtigen. Gerade diese Tatsache ist hufig die Ursachefr falsche Einschtzungen der chemischen Kampfmittel,fr die Unter- oder berschtzung ihrer mglichen Rollein einem modernen Krieg. Es kann nicht oft und ein-

    dringlich genug auf das intensive Studium der Natur-wissenschaften hingewiesen werden. Der komplizierteCharakter eines modernen Krieges ist nicht zuletzt daraufzurckzufhren, da von allen Angehrigen der militri-schen und zivilen Organe zur Erfllung ihrer Aufgabenim Falle eines Krieges umfassende Grundkenntnisse aufihrem Fachgebiet als Voraussetzung fr die erfolgreicheLsung ihrer Aufgaben verlangt werden.

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    2. Allgemeine Eigenschaften und Wirkungenchemischer Kampfstoffe

    Um das Verstndnis fr die Beschreibung der chemischenKampfstoffe zu erleichtern, werden deshalb im allgemei-nen Teil dieses Buches einige physikalische, chemischeund pharmakologische Grundbegriffe und Gesetze be-handelt. In erster Linie sollen dabei Begriffe erlutertwerden, die fr das Verstndnis der Grundlagen derchemischen Kriegfhrung von Bedeutung sind.

    2.1 Physikalische Eigenschaften der Kampfstoffe

    Die wichtigsten physikalischen Eigenschaften, die fr diemilitrtechnische Beurteilung der chemischen Kampf-stoffe Bedeutung haben, sind: Schmelzpunkt, Siedepunkt,Dampfdruck, Sttigungskonzentration (ungenau auchFlchtigkeit), Sehaftigkeit, spezifisches Gewicht, Dampf-dichte, Adsorbierbarkeit und Lslichkeit.

    2.1.1 Schmelzpunkt

    Als Schmelzpunkt eines Stoffes bezeichnet man die Tem-peratur, bei welcher ein Stoff aus dem festen Zustand inden flssigen bergeht. Diese Temperatur ist eine charak-

    teristische Konstante fr jeden reinen Stoff und dient oftzur Bestimmung der Art und der Reinheit einer chemi-schen Substanz. Stoffgemische oder grotechnische Pro-dukte haben meist keinen scharf ausgeprgten Schmelz-punkt und werden bei Erwrmung allmhlich flssig.hnliches gilt fr amorphe Stoffe.*)

    *) Amorph nennt man den gestaltlosen Zustand fester Stoffe, bei denen, imGegensatz zu den Kristallen, die physikalischen Eigenschaften nachallen Richtungen gleich sind.

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    Die Kenntnis des Schmelzpunktes der chemischen Kampf-stoffe ist fr die Beurteilung ihrer Anwendungsmglich-keiten notwendig. So mssen zum Beispiel chemischeKampfstoffe, die zur Gelndevergiftung eingesetzt werdensollen, einen niedrigen Schmelzpunkt haben, der ihrenflssigen Zustand auch noch bei winterlichen Tempe-

    raturen gewhrleistet.Flssige Kampfstoffe lassen sich besser verteilen, besit-zen eine grere Wirkung auf Oberflchen und dringenbesser und wesentlich schneller in Gewebe, Holz und an-dere Materialien ein.Um flssige Kampfstoffe, deren Schmelzpunkt in derNhe des Gefrierpunktes des Wassers liegt, auch imWinter einsatzfhig zu erhalten, wird der Schmelzpunktdurch den Zusatz von anderen Stoffen entsprechendherabgesetzt.Als Zusatzstoffe dienen Kampfstoffe, die bei wesentlichniedrigerer Temperatur schmelzen, oder auch andereStoffe und Lsungsmittel, die Gemische mit niedrigemSchmelzpunkt bilden.Im 1. Weltkrieg wurden taktische Mischungen des Kampf-stoffes Yperit verwendet, dessen Schmelzpunkt durchZusatz von Tetrachlorkohlenstoff oder Chlorbenzol ver-bessert worden war. Durch Zusatz von 10 Prozent Tetra-chlorkohlenstoff erniedrigt sich der Schmelzpunkt vonYperit, der normalerweise bei 14 C liegt, um rund10 C.Im 2. Weltkrieg wurde von deutscher Seite eine taktischeYperit-Mischung hergestellt, die 54 Prozent Yperit,25 Prozent Phenylarsindichlorid und 21 Prozent Di-phenylarsinchlorid enthielt. Diese "Mischung wurde alsWinterlost bezeichnet und war bis zu - 25 C einsatz-fhig.Die Schmelzpunkterniedrigung eines Stoffgemisches kann

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    nach dem Raoultschen Gesetz berechnet werden, dasdurch folgende Gleichung ausgedrckt wird:

    TDiff = Schmelzpunkterniedrigung in Celsiusn = Anteil des gelsten Stoffes in Molen pro Liter

    R = allgemeine GaskonstanteT = Schmelztemperatur des Lsungsmittels [K]s = Schmelzwrme des Lsungsmittels

    In modernen taktischen Mischungen chemischer Kampf-stoffe sind Stoffe zugesetzt, die meistens selbst hochgiftigsind und bereits bei kleinen Zusatzmengen hohe Tempe-ratureffekte ergeben. So ist zum Beispiel aus der Literaturbekannt, da sich hochtoxische Phosphorsureester zurHerstellung von Yperit-Wintermischungen eignen, die

    weitaus giftiger sind als das Yperit selbst.Die chemischen Kampfstoffe schmelzen in einem weitenTemperaturbereich. Nur wenige Kampfstoffe, die untermodernen Kampfbedingungen einsatzfhig sind, sind beinormalen Temperaturen im festen Zustand. Bei diesenKampfstoffen handelt es sich meistens um sogenannteAerosol-Kampfstoffe*), die erst im feinverteilten Zustandals Rauch oder Nebel ihre grte Wirksamkeit besitzen.Ein Beispiel dafr ist der Kampfstoff Adamsit, ein hoch-

    wirksamer Rachenreizstoff.

    2.1.2 Siedepunkt

    Der Siedepunkt eines Stoffes gibt die Temperatur an, beider dieser vom flssigen Zustand in den gasfrmigen ber-geht. Der Siedepunkt eines Stoffes ist abhngig von demLuft- (bzw. Gas-)druck, der auf dem Stoff lastet. Zu einer

    *) Als Aerosol bezeichnet man dem Zustand, in dem sich feinverteilteSchwebstoffe (Rauch, Nebel) in der Luft scheinbar stabil erhalten.

    genauen Angabe des Siedepunktes eines Stoffes gehrtdeshalb auch die Angabe des Druckes, bei dem dieserWert gewonnen wurde.Wie gro die Unterschiede bei verschiedenen Temperatu-ren sein knnen, soll folgendes Beispiel zeigen: Sarin siedetunter Normaldruck (760 mm Hg-Sule) bei 151 C, bei einemDruck von 12 mm Hg-Sule jedoch bereits bei 50 C.

    Der Siedepunkt chemischer Kampfstoffe ist fr ihreHandhabung whrend des Herstellungsprozesses und beider Abfllung von groer Wichtigkeit. So mssen zumBeispiel Kampfstoffe mit einem niedrigen Siedepunkt durchUnterkhlungs- oder Druckverfahren in Granaten oder an-dere Einsatzbehlter abgefllt werden, whrend bei Zim-mertemperatur flssige Kampfstoffe mit einem hohen Siede-punkt einfacher und sicherer gehandhabt werden knnen.Aus diesem Grunde wurde im 1. Weltkrieg beispielsweise

    das flssige Diphosgen eingesetzt, das zwar etwas ungif-tiger als Phosgen ist, jedoch infolge seines wesentlich hhe-ren Siedepunktes gefahrloser gehandhabt werden kann.Die Angabe der Siedetemperatur eines Kampfstoffeskann zur ungefhren Ermittlung seiner Sehaftigkeit imGelnde dienen. Flchtige Kampfstoffe haben meist einenSiedepunkt unter 130 C. Bei sehaften Kampfstoffenliegt der Siedepunkt ber 150 C. Bei dieser Faustregelmu jedoch beachtet werden, da die Aerosol-Kampf-

    stoffe nicht unter diese Einteilung fallen. Der Siedepunktlt in diesen Fllen erkennen, ob der Kampfstoff alsAerosol gefechtsmig anwendbar ist.

    Flchtige Kampfstoffe Siedepunkt (C)

    Phosgen 8,2Chlorzyan 13Blausure 26,5Diphosgen 107

    41

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    42

    Kampfstoff A B

    Yperit 8,3937 2734,5Methylarsindichlorid 8,6944 2281,7Diphenylarsinchlorid 7,8930 3288

    Der Dampfdruck chemischer Kampfstoffe ist fr ihreSehaftigkeit und bei einigen auch fr ihre Wirksamkeit

    auf die Atmungsorgane wichtig.Je kleiner der Dampfdruck eines Stoffes ist, um so lang-samer verdunstet dieser. Die Sehaftigkeit der Kampf-stoffe im Gelnde wird wesentlich von der Temperaturbestimmt. Im Winter ist die Sehaftigkeit eines flssigenKampfstoffes grer als im Sommer. So betrgt die Se-haftigkeit des Kampfstoffes Diphosgen im Sommer (20 C)etwa 10 min bei normaler Vergiftungsdichte und geringerWindgeschwindigkeit. Im Winter wurden Zeiten bis zu

    einigen Stunden beobachtet.Der Dampfdruck ist auch von Bedeutung fr die physio-logische Wirksamkeit eines Stoffes. Sehafte Kampfstoffe,die auf die Atmungsorgane wirken sollen, mssen einenDampfdruck haben, der bei normalen Witterungs- undGelndebedingungen zur Erzielung krftiger physiologi-scher Wirkungen ausreicht.

    Diese Verhltnisse zeigen sich am besten bei der Betrach-tung der Yperitdmpfe. Im Winter ist der Dampfdruck

    von Yperit so gering, da nur selten durch Dmpfe Haut-verletzungen auftreten knnen. Im Sommer besitztYperit einen so hohen Dampfdruck, da die Dmpfebinnen einiger Stunden bei geringer Windgeschwindigkeiterhebliche Hautverletzungen hervorrufen.Bei nervenschdigenden Kampfstoffen vom Typ des Sarinsknnen bereits bei erheblich niedrigeren Temperaturen alsbei Yperit Vergiftungen auftreten, da die physiologischeWirksamkeit dieser Stoffe wesentlich grer ist.

    2.1.3 Dampfdruck

    Jeder feste oder flssige Stoff besitzt das Bestreben, inden gasfrmigen Zustand berzugehen. Es bildet sichdeshalb ber jedem festen oder flssigen Krper eine Dampf-schicht, die einen Druck ausbt. Diesen Druck bezeichnetman als Dampfdruck. Der Dampfdruck wird in MillimeterQuecksilbersule oder in Atmosphren gemessen.Der Dampfdruck besitzt fr jeden Stoff bei jeder Tempe-ratur einen bestimmten Wert. Steigt die Temperatur,wird der Dampfdruck grer, fllt die Temperatur, wirder kleiner.

    Sehafte Kampfstoffe Siedepunkt (C)

    Soman ca. 200Yperit . 217Brombenzylzyanid 242Phenylarsindichlorid 252

    Kampfstoff A B

    Phosgen 7,5595 1326Chlorpikrin 8,2424 2045,6Bromzyan 10,3282 2457,5

    Die Konstanten A und B wurden von Baxter und Mum-ford fr einige wichtige Kampfstoffe bestimmt und habenfolgende Werte:

    Der Dampfdruck eines Stoffes bei einer gegebenen Tempe-ratur kann nach der Formel von Regnault berechnetwerden:

    t = Temperatur inO

    Celsius

    = fr jeden Stoff charakteristische Konstanten

    p = Dampfdruck in mm Hg

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    Die Dampfdrcke einiger wichtiger Kampfstoffe:

    Kampfstoff Dampfdruck(mm Hg-Sule) bei 20 C

    Adamsit 2 * 10-13

    Diphenylarsinchlorid . 5 * 10-4

    Yperit 0,1

    Tabun 0,12DFP 0,9Sarin 1,43thylarsindichlorid. . . 2Methylarsindichlorid . 8Chlorpikrin 16,9Blausure 603

    2.1.4 Sttigungskonzentration

    Als Sttigungskonzentration bezeichnet man die Mengeeines Stoffes, die bei einer bestimmten Temperatur ineinem Kubikmeter gesttigten Dampfes enthalten ist. DieSttigungskonzentration hngt vom Dampfdruck desStoffes bei der jeweiligen Temperatur ab. Die Angabedieses Wertes erfolgt in mp/m3.Die Sttigungskonzentration eines Stoffes, dessen Dampf-druck bekannt ist, kann fr eine bestimmte Temperaturnach folgender Formel berechnet werden:

    44

    ziemlich weiten Grenzen. Die Sttigungskonzentrationeneiniger Kampfstoffe:

    Kampfstoff Sttigungskonzentration(mp/m3)

    Diphenylarsinchlorid 0,17

    Yperit 570Tabun 650Diphosgen 26 000Sarin 11300Chlorpikrin 184 000

    Die starke Abhngigkeit der Sttigungskonzentration vonder Temperatur zeigen die folgenden Angaben berYperit:

    Temperatur (C) Sttigungskonzentration(mp/m3)-18 45

    0 9610 21020 57040 2640

    Die Sttigungskonzentration ist ein Ma fr die Flchtig-

    keit eines Kampfstoffes. Ein Beispiel fr den wesentlichenEinflu der Sttigungskonzentration eines Kampfstoffesauf seine Wirksamkeit unter Gefechtsbedingungen ist dieVerwendung von Xylylbromid in den Jahren des 1. Welt-krieges. Xylylbromid, das bei 215 C siedet, ist infolgeseiner geringen Sttigungskonzentration nur bei Tempera-turen ber 20 C als wirksamer Gelndekampfstoff zuverwenden. Von deutscher Seite wurde mit dem Xylyl-bromid im Winter 1914/15 ein chemischer berfall unter-

    nommen, der auf die beschossenen Einheiten keinerlei

    CS t t = Sttigungskonzentration in mp/m3

    M = Molekulargewicht des Stoffesp = Dampfdruck des Stoffes in mm Hgt = Temperatur in Celsius.

    Die Sttigungskonzentrationen der Kampfstoffe liegen i

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    Wirkung hatte, da die geringen Temperaturen die Reiz-wirkung dieses Stoffes nicht zur Geltung kommenlieen.

    2.1.5 Spezifisches Gewicht

    Als spezifisches Gewicht bezeichnet man das Gewicht, das

    ein Kubikzentimeter eines bestimmten Stoffes hat. Manmit dieses Gewicht in p/cm3. Meist gibt man das spezi-fische Gewicht bei einer Temperatur von 20 C an. Dasspezifische Gewicht der Kampfstoffe ist von untergeord-neter Bedeutung. Es ist lediglich fr das Verhalten

    . wasserunlslicher Kampfstoffe bedeutungsvoll und dientzur Berechnung des Kampfstoffinhaltes von Bomben,Granaten und chemischen Minen.Die spezifischen Gewichte einiger Kampfstoffe:

    Kampfstoff Spezifisches Gewicht(p/cm3)

    Yperit 1,27Diphosgen 1,64Phenyldichlorarsin 1,65Sarin.... 1,09Soman 1,01DFP 1,07

    Tabun 1,082.1.6 Dampfdichte

    Als Dampfdichte bezeichnet man das Gewicht einesKubikmeters Gas bei 0 C und 760 mm Hg-Sule in Kilo-pond. Durch die Dampfdichte der gasfrmigen Kampf-stoffe lt sich das Verhalten der von ihnen gebildetenKampfstoffwolken beurteilen. Sehr oft wird das Verhlt-nis der Dampfdichte des Gases zur Dampfdichte der Luftangegeben. Luft hat eine Dampfdichte von 1,29.

    46

    Die Dampfdichte wichtiger Kampfstoffe bei 20 C (gas-frmiger Zustand):

    Kampfstoff Dampfdichte

    Blausure 1,2Chlorzyan 2,7Phosgen 4,4Sarin 6,3Yperit 7,1Tabun. 7,2DFP 8,1

    2.1.7 Lslichkeit

    Die Lslichkeit der Kampfstoffe ist fr ihr Ver-halten gegenber den Entgiftungsmitteln und fr ihre

    Brauchbarkeit in taktischen Mischungen von groerBedeutung.Die Lslichkeit kann in Gewichtsprozenten angegebenwerden, in Volumenprozenten, in Pond je Liter Lsungs-mittel und in Pond je Kilopond Lsungsmittel. Meistwird die Lslichkeit nur in Gewichtsprozenten an-gegeben.Die Lslichkeit eines festen oder flssigen Stoffes istabhngig von der Temperatur. Im allgemeinen nimmt die

    Lslichkeit mit steigender Temperatur zu. Bei Gasenhngt die Lslichkeit aber nicht nur von der Temperatur,sondern auch noch vom Druck des Gases ber demLsungsmittel ab.Die Lslichkeit der Kampfstoffe in "Wasser ist fr dieBeurteilung der Wirksamkeit wriger Entgiftungsmittelwichtig. Wasser zersetzt fast alle Kampfstoffe (Hydro-lyse), wobei zu beachten ist, da die Geschwindigkeitdieser Zersetzung wesentlich von der Lslichkeit desKampfstoffes abhngt.

    47

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    Die Lslichkeitswerte einiger Kampfstoffe im Wasser:

    Kampfstoff Lslichkeit

    Adamsit unlslichBlausure. . . . in jedem Verhltnis mischbarSarin in jedem Verhltnis mischbarSoman unter 1 %

    Yperit etwa 1 %DFP 1,5 %

    Die meisten Kampfstoffe sind in organischen Lsungs-mitteln lslich. Die gnstigsten organischen Lsungs-mittel fr Kampfstoffe sind chlorierte Stoffe, zum BeispielTetrachlorkohlenstoff, Dichlorthan, Trichlorthylen,Chlorbenzol.In Alkoholen lsen sich besonders gut esterartige Kampf-stoffe, zum Beispiel DFP, Sarin und Soman. Auch die

    anderen Kampfstoffe lsen sich in Alkoholen (Methyl-alkohol, thylalkohol) mehr oder weniger gut. DieseWirksamkeit organischer Lsungsmittel wird bei derEntgiftung empfindlicher Gerte ausgenutzt, die eineBehandlung mit aggressiven Entgiftungsmitteln nichtvertragen (optische Gerte usw.).

    Wie die Lslichkeit eines Kampfstoffes von der Tempera-tur abhngt, zeigt die Lslichkeit von Yperit in Benzin:

    Temperatur (C) Lslichkeit (Vol.-%)

    -10 unter 4%- 5 5%

    0 7%5 14%

    10 77%30 unbegrenzt

    Die Tabelle zeigt, da sich Benzin im Winter wenig zurReinigung von Gerten eignet. hnlich verhlt es sich beianderen Lsungsmitteln.

    48

    2.2 Chemische Eigenschaften der Kampfstoffe

    Zur Charakterisierung der chemischen Kampfstoffe isteine Reihe von chemischen Eigenschaften wichtig. Dabeiinteressieren militrisch besonders die Eigenschaften,welche die Lagerungs-, Entgiftungs- und Erkennungsmg-

    lichkeiten sowie das Verhalten der Kampfstoffe unter denEinflssen der Atmosphre bestimmen. Zu diesen chemi-schen Eigenschaften, gehren das Verhalten gegen dieEntgiftungsmittel, speziell die Hydrolysier- und Oxydier-barkeit, sowie die analytischen Reaktionen. Im folgendenAbschnitt werden einige der allgemeinen chemischenEigenschaften besprochen.

    2.2.1 Hydrolysierbarkeit

    Als Hydrolyse bezeichnet man die Umsetzung der Stoffemit Wasser. Die Geschwindigkeit dieser Umsetzung hngtvon den Eigenarten des Stoffes und von der Temperaturab. Bis auf wenige Ausnahmen sind die chemischenKampfstoffe gegenber dem Wasser unbestndig. Frihren gefechtsmigen Einsatz und besonders fr dieBeurteilung ihrer Wirksamkeit unter dem Einflu derLuftfeuchtigkeit, von Regen usw. ist daher die Kenntnisder Hydrolysierbarkeit von groem Interesse. Auerdeminteressiert diese Eigenschaft hinsichtlich der Entgif-

    tungsmglichkeiten durch Kochen oder Dampfentgif-tungsmethoden (fr die Behandlung vergifteter Beklei-dung und Ausrstung).

    Eine ganze Anzahl von Kampfstoffen (Phosgen, Diphosgen,Phosgenoxim, Blausure) ist nur sehr wenig bestndiggegenber Wasser; sie werden schnell hydrolysiert. Daher .eignen sich diese Kampfstoffe nicht fr den Einsatz beifeuchter Witterung. Andere Kampfstoffe (Yperit, Stick-stoff-Yperit, Brombenzylzyanid) werden nur langsam

    4 Kampfstoffe 49

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    hydrolysiert und knnen im Gelnde lange Zeit ihrephysiologische Wirksamkeit behalten. Je hher daher dieBestndigkeit eines Kampfstoffes gegenber dem Einfludes Wassers ist, um so wertvoller ist der Stoff fr denmilitrischen Einsatz. Die wasserempfindlichen Kampf-stoffe erfordern bei der Lagerung und bei ihrer Abfllungin Behlter, Bomben und Granaten besondere Vorsichts-manahmen (Verwendung trockener Gefe, Abschir-mung der Luftfeuchtigkeit usw.).

    Um die Entgiftungsmglichkeiten fr Bekleidung undAusrstung beurteilen zu knnen, mu die Abhngigkeitder Hydrolysegeschwindigkeit von der Temperatur be-achtet werden. Allgemein gilt, da die Hydrolyse-geschwindigkeit mit Erhhung der Temperatur zunimmt.Bei hheren Temperaturen, zum Beispiel durch Kochen.Behandlung mit Heidampf und alkalischen Flssig-keiten kann also in krzester Zeit entgiftet werden. ZurErluterung dieser Beziehungen kann die Hydrolyse vonYperit dienen. Bei Zimmertemperatur dauert die voll-stndige Hydrolyse des Kampfstoffes mehrere Stunden,whrend bei Temperaturen um den Siedepunkt desWassers die Hydrolyse bereits nach wenigen Minutenvollstndig ist. Fr die praktische Ausnutzung dieserGesetzmigkeiten sind folgende Faktoren zu berck-sichtigen : das Verhltnis Wasser-Kampfstoff, die Lslich-

    keit des Kampfstoffes in Wasser, der Dispersionsgrad desKampfstoffes in Wasser, der Sure- bzw. Alkaligehalt desWassers, die anwesenden Hydrolyseprodukte usw. Umeine sichere Entgiftung des Kampfstoffes zu erreichen,wird deshalb eine wesentlich lngere Entgiftungszeitangesetzt, als theoretisch angesichts der Hydrolyse-geschwindigkeit fr die betreffende Temperatur notwendigwre. So betrgt die theoretische Entgiftungszeit frYperit bei 95 C nur einige Minuten; man setzt jedoch die

    50

    Entgiftungszeit beim Kochen vergifteter Bekleidung aufmindestens eine halbe Stunde fest, um sicher zu sein, dader Kampfstoff vollstndig hydrolysiert wird. hnlicheZeiten gelten auch fr andere Kampfstoffe mit einerrelativen Bestndigkeit gegenber Wasser.

    2.2.2 Verhalten gegen EntgiftungsmittelViele chemische Kampfstoffe erfordern zu ihrer Beseiti-gung von Gegenstnden, Bekleidungsstcken oder von derHaut chemische Entgiftungsverfahren. Aus diesemGrunde interessiert ihr Verhalten gegenber den technischleicht zugnglichen Entgiftungsstoffen (Chlorkalk, Alka-lien, Chloramine, einige Oxydationsmittel). Diese Ent-giftungsmittel wirken hauptschlich oxydierend, hydroly-sierend und chlorierend auf die Kampfstoffe. Dabei mubercksichtigt werden, da in Abhngigkeit von derEigenart und dem chemischen Aufbau der Kampfstoffedie Entgiftungsreaktionen fr diesen oder jenen Kampf-stoff von mehr oder weniger praktischer Bedeutung sind.In vielen wissenschaftlichen Arbeiten wurden diese Um-setzungsreaktionen untersucht und die jeweils gnstig-sten Entgiftungsmglichkeiten ausgewhlt.Oxydierende Entgiftungsmittel wie Chlorkalk und Ka-liummanganat eignen sich fr leicht oxydierbare Kampf-stoffe vom Typ des Yperits. Alkalien sind gnstig fr

    Kampfstoffe mit Esterstruktur wie Tabun, Sarin undSoman.

    Fr die Entgiftung chemischer Kampfstoffe sind beson-ders solche Reaktionen von Bedeutung, bei denen dieEndprodukte nur geringe oder keine toxische Wirkungbesitzen. In diesem Zusammenhang sind besonders dieKampfstoffe zu nennen, die in ihrer Struktur Arsen ent-halten, da bei diesen Stoffen selbst mit den energischstenEntgiftungsmitteln die toxische Wirkung nicht voll-

    51

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    stndig beseitigt werden kann. Die Endprodukte der-artiger Entgiftungsreaktionen enthalten Arsen und sinddeshalb noch immer giftig, obwohl ihnen der Kampfstoff-charakter fehlt. hnlich verluft die Umsetzung vonBlausure mit Alkalien. Im Ergebnis dieser Reaktionenbilden sich Zyanide, die noch ber eine ziemlich hoheToxizitt verfgen, aber ebenfalls keinen Kampfstoff-charakter mehr besitzen.Bei der Behandlung der einzelnen Kampfstoffe werden die

    jeweils wichtigsten Entgiftungsreaktionen angefhrt.

    2.2.3 Analytische Reaktionen

    Die Existenz, Art und Menge chemischer Kampfstoffe inder Luft, in Erd-, Stoff- und anderen Proben wird meistmit Hilfe chemischer Reaktionen festgestellt, die mehroder weniger spezifisch fr den betreffenden Kampfstoffoder auch eine Kampfstoffgruppe sind. Diese Reaktionenfhren bei Anwesenheit chemischer Kampfstoffe zucharakteristischen Frb- oder anderen physikalischenEigenschaftsnderungen, die zur Erkennung oder quanti-tativen Bestimmung der Kampfstoffe ausgenutzt werden.In der militrchemischen Forschung nimmt das Interessean der Erforschung neuer und fr die einzelnen Kampf-stoffe spezifischer Reaktionen und Nachweismethodenstndig zu. Das hngt mit der modernen Entwicklung der

    Kampfstoffchemie zusammen. Die Entdeckung derKampfstoffe mit extrem hoher Giftwirkung wie Sarin undSoman erfordert neue und hochempfindliche Nachweis-und Bestimmungsmethoden fr den militrischen Ge-brauch. Whrend noch vor dem 2. Weltkrieg zur Bestim-mung der damals bekannten Kampfstoffe eine geringeEmpfindlichkeit und Spezifitt ausreichte, mssen heuteReaktionen und Verfahren angewendet werden, die einesichere Erkennung des Kampfstoffes noch in minimalsten

    52

    Mengen ermglichen. Bei der Bestimmung modernerKampfstoffe vom Sarin-Typ mssen beispielsweise nochMengen von 0,01 mp/m3 Luft in wenigen Minuten sichererfat werden. Daran zeigt sich die Wichtigkeit derUntersuchung analytischer Reaktionen zur Erkennungund quantitativen Bestimmung der chemischen Kampf-

    stoffe. Da diese Fragen aber nur einen kleinen Kreis vonMilitrchemikern interessieren, soll auf sie im Rahmendieser kurzen Einfhrung in die Probleme der chemischenKampfstoffe nicht nher eingegangen werden.

    2.3 Physiologische Wirkungen chemischer Kampfstoffe

    Als physiologische Wirkung der chemischen Kampfstoffebezeichnet man die Art und Weise sowie die Strke ihrerEinwirkung auf den Organismus. Die Art der Einwirkungauf den Organismus hngt von den Eigenschaften desKampfstoffes ab. Es gibt Kampfstoffe mit vorwiegendreizerregender Wirkung auf die Augen, die Schleimhutedes Nasen-Rachenraumes und die Haut, lungenschdi-gende, zellzerstrende sowie blut- und nervenschdigendeKampfstoffe; auerdem gibt es Kampfstoffe, die vor-wiegend auf die physiologischen Mechanismen des Gas-austausches in der Lunge wirken. Es ist verstndlich, da

    bei dieser Vielzahl der Wirkungsmglichkeiten die Syste-matisierung der Kampfstoffe nach physiologischen Ge-sichtspunkten nur bedingt mglich ist. Hinzu kommt, dadie meisten chemischen Kampfstoffe mehrere physiolo-gische Einwirkungsarten auf den Organismus besitzen.Ferner spielt eine Rolle, da die physiologischen Wirkun-gen in betrchtlichem Mae von der Menge des einwirken-den Kampfstoffes und von der Empfindlichkeit desOrganismus abhngen. Noch schwieriger als die Systema-

    53

    i i i di G i b hb Z hl b

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    tisierung ist die Gewinnung brauchbarer Zahlenangaben,mit deren Hilfe die Wirksamkeit hnlicher chemischerKampfstoffe auf den Organismus verglichen werden kann.Trotzdem ist es erforderlich, wenigstens relative Wertefr die Beurteilung der Kampfstoffe zu ermitteln. Zudiesem Zwecke unterscheidet man Kampfstoffe mit vor-wiegend reizerregenden Eigenschaften und solche mit

    ausgeprgter Giftwirkung. Zur Charakterisierung derKampfstoffe mit vorwiegend reizerregenden Eigenschaftendienen die Reizschwelle und die Ertrglichkeitsgrenze.Bei Kampfstoffen mit vorwiegender Giftwirkung kanndie tdliche Dosis, die tdliche Konzentration und - mitEinschrnkung das Tdlichkeitsprodukt zur Einscht-zung der Giftwirkung dienen.

    2.3.1 Reizschwelle

    Als Reizschwelle bezeichnet man die Konzentration einesKampfstoffes, die bei einer einmintigen Einwirkungszeitaufden Teil des Organismus, auf den die Substanz haupt-schlich wirkt, einen gerade noch merkbaren Reizhervorruft. Die Konzentration wird dabei meist in Milli-pond je Liter oder auch in Pond je Kubikmeter Luftangegeben. Bei Augenreizstoffen wird als Reizschwellen-wert die Konzentration angegeben, die gerade nochTrnenflu hervorruft; bei Nasen-Rachenreizstoffen

    entspricht der kleinste merkbare Reizeffekt des Stof-fes auf die Schleimhute des Nasen-Rachenraumesdem Reizschwellenwert. hnliches gilt fr die Haut-reizstoffe oder fr andere Kampfstoffe, die neben ihrerGiftwirkung noch eine nicht zu unterschtzende Reiz-wirkung auf den Organismus haben, zum BeispielDiphosgen.

    Mitunter wird auch die Reizschwelle fr hautschdigendeKampfstoffe angegeben. In diesen Fllen gilt die begin-

    54

    nende Hautrtung als Kriterium fr die minimalstemerkbare Einwirkung.Um die physiologischen Wirkungen der Reizstoffe bessermiteinander vergleichen zu knnen, empfiehlt sich nurein Vergleich der Reizschwellenwerte der Kampfstoffe,die an hnlichen Orten auf den Organismus einwirkenund die sich in ihren sonstigen Eigenschaften nur wenigunterscheiden. Da fr militrische Zwecke besondersfr Gefechtsbedingungen nur die Wirksamkeit interes-siert, kann mit einigen Einschrnkungen der Reizschwel-lenwert als allgemeines Charakteristikum herangezogenwerden.

    Die wichtigsten Reizstoffe mit militrischer Bedeutungbesitzen folgende Reizschwellenwerte:

    Kampfstoff Reizschwellenwert

    (mp/m3)

    Adamsit 0,01Diphenylarsinchlorid 0,02

    Brombenzylzyanid 0,3Chlorazetophenon 0,5Bromazeton 1,0Chlorpikrin 2,0

    Der strkste Reizstoff ist nach dieser Aufstellung Adamsit.Er wird auch als der Reizstoff angesehen, der selbst ineinem modernen Krieg noch von Bedeutung ist. Es mu jedoch betont werden, da es nicht mglich ist, nur auseiner Eigenschaft eines Stoffes die Zweckmigkeit seinesEinsatzes unter Gefechtsbedingungen zu beurteilen. BeiAdamsit sprechen allerdings auch seine sonstigen Eigen-schaften und die Produktionsmglichkeiten fr seinenEinsatz als chemischer Kampfstoff.

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    2 3 2 E t li hk it li hk i b i hl h

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    2.3.2 Ertrglichkeitsgrenze

    Als Ertrglichkeitsgrenze bezeichnet man die Konzentra-tion eines Stoffes, die von einem Menschen bei einer ein-mintigen Einwirkung gerade noch ohne behinderndeReizerregungen ertragen werden kann. Bei Augenreiz-stoffen gilt die Ertrglichkeitsgrenze als erreicht, wenn dieAugen nicht mehr geffnet werden knnen; bei Nasen-Rachenreizstoffen versteht man darunter die Konzen-tration, bei der sich nicht mehr zu unterdrckender,Husten und Kopfschmerzen einstellen.Die Ertrglichkeitsgrenze hat fr die militrische An-wendung der Reizstoffe groe Bedeutung. Beim Gefechts-einsatz mssen, um wirksame Effekte zu erzielen, min-destens Konzentrationen angewendet werden, die ber derErtrglichkeitsgrenze liegen. Deshalb wurde bei Einsatz-berechnungen die Ertrglichkeitsgrenze oder ein mehr-

    faches dieses Wertes als Grundlage genommen, um dieGranat- beziehungsweise Bombenzahl je Flcheneinheitdes Zieles zu berechnen.

    Die wichtigsten Reizstoffe besitzen folgende Ertrglich-keitsgrenzwerte :

    Kampfstoff Ertrglichkeits-grenzwert (mp/m3)

    Adamsit 0,4

    Diphenylarsinchlorid 1,0Chlorazetophenon 4,5Bromazeton 30Brombenzylzyanid 30Chlorpikrin 50

    Auch diese Tabelle zeigt die hohe Wirksamkeit vonAdamsit. Die brigen genannten Kampfstoffe besitzennur noch geringe militrische Bedeutung, da ihre Her-stellung meist schwierig und kostspielig ist und ihre

    56

    Lagerungsmglichkeit begrenzt ist. Chlorazetophenonund Chlorpikrin werden in den meisten Lndern nur nochfr Dichtheitsprfungen der Schutzmasken und frbungszwecke gebraucht.

    2.3.3 Tdliche Dosis

    Als tdliche Dosis bezeichnet man die Menge eines Giftes,die bei der Einwirkung auf den Organismus tdlich ver-laufende Vergiftungserscheinungen hervorruft. DieserWert lt sich sehr schwierig bestimmen, da die fr einetdliche Vergiftung notwendige Giftmenge von sehrvielen Faktoren abhngt. So mssen bei Versuchstierendie Tierart, das Geschlecht, das Alter des Tieres, dieLebensgewohnheiten, die Konstitution, der Gesund-heitszustand und die Art beziehungsweise der Ort derEinwirkung des Giftes bercksichtigt werden.

    Es ist allerdings nicht mglich, die bei Tierversuchengewonnenen Ergebnisse auf andere Tierarten oder gar aufden Menschen zu bertragen. Um deshalb fr Vergleichs-zwecke brauchbare Mittelwerte zu erhalten, wird beiTierversuchen eine grere Anzahl von Tieren zurBestimmung der Tdlichkeitswerte verwendet. Meist gibtman nicht die absolut tdliche Dosis an, sondern dieMenge des Giftes, die bei 50% der benutzten Versuchstierezu tdlichen Vergiftungen fhrt. Die Angabe erfolgt zweck-

    migerweise in Gewichtsteilen (Millipond oder Pond) jeKilopond Krpergewicht. Man nennt diesen Wert die50%ige tdliche Dosis (LD50). Bei Angabe dieses Wertesmu noch die Art der Giftaufnahme (Applikationsart)genannt werden, da die tdlichen Dosen bei verschiedenenAufnahmearten sehr unterschiedlich sein knnen. Sosind die tdlichen Dosen bei der Aufnahme durch dieHaut (kutane Aufnahme) wesentlich hher als beiInjektionen in die Muskeln (intramuskulre Injektion),

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    i di V (i t I j kti ) d b i d A f

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    in die Venen (intravense Injektion) oder bei der Auf-nahme mit Speisen oder Getrnken (Aufnahme durch denMund per os). Vergleich der 50%ig tdlichen Doseneiniger nervenschdigender Kampfstoffe:

    Kampfstoff 50%ig tdliche Dosis (LD50)

    Aufnahme durch Injektion in die

    die Haut MuskelnTabun 50-70 mp/kp 0,1 -0,2 mp/kpSarin 30-50 mp/kp 0,06-0,09 mp/kpSoman . . . 10-30 mp/kp 0,03-0,06 mp/kp

    2.3.4 Tdliche Konzentration

    Um die Giftwirkung eines Stoffes bei seiner Aufnahmemit der Atmungsluft zu beurteilen, mu man seine td-liche Konzentration kennen. Dieser Wert ist besonders

    fr die Beurteilung gasfrmiger beziehungsweise dampf-frmiger chemischer Kampfstoffe wichtig. Auch hier gibtman am besten die Konzentration des Giftes an, die bei50% der Versuchstiere zu tdlichen Vergiftungen fhrt.Man spricht dann analog der tdlichenDosis von der 50 %igtdlichen Konzentration (LC50). Die tdlichen Konzentra-tionen der Kampfstoffe sind sehr unterschiedlich. Es istnatrlich, da derKampfstoff die grte Wirksamkeit be-sitzt, der bei den niedrigsten Konzentrationen Vergiftungs-

    erscheinungen hervorruft. Bei der 50%ig tdlichen Kon-zentration ist die gleichzeitige Angabe der Einwirkungszeiterforderlich, da bei lngerer Dauer bereits geringere Kon-zentrationen tdliche Vergiftungen zur Folge haben.Die LC50-Werte einiger chemischer Kampfstoffe:

    Kampfstoff 50 %ig tdliche KonzentrationEinwirkungszeit 10 min

    Phosgen . 500 mp/m3

    Blausure 400 mp/m3

    58

    Kampfstoff 50 %ig tdliche KonzentrationEinwirkungszeit 10 min

    Tabun 50 mp/m3

    Sarin 20 mp/m3

    Soman 10 mp/m3

    2.3.5 Tdlichkeitsprodukt

    Der deutsche Chemiker Haber fhrte fr den Vergleichder physiologischen Wirksamkeit der Kampfstoffe dassogenannte Tdlichkeitsprodukt ein. Dieser Wert ist dasProdukt aus tdlicher Konzentration und Einwirkungs-zeit :

    C*t = Tp

    C = Konzentration des Kampfstoffest = Einwirkungszeit

    Tp = TdlichkeitsproduktDie Konzentration wird meist in Millipond je Kubik-meter und die Einwirkungszeit in Minuten angegeben.Das Tdlichkeitsprodukt kann natrlich nur fr grobeEinschtzungen und zu berschlagsberechnungen ver-wendet werden, da die Zahlenwerte jeweils nur freinen kleinen Bereich der Konzentrationen und wenigunterschiedliche Einwirkungszeiten angenhert stimmen.Trotzdem wurden in vielen Staaten die Tdlichkeits-

    produkte als Grundlage der Normen fr die Anwendungchemischer Kampfstoffe genommen.Die Tdlichkeitsprodukte einiger chemischer Kampf-stoffe :

    Kampfstoff Tdlichkeitsprodukt

    Chlor 10 000Diphosgen 5 300Phosgen 5 000Chlorzyan 4 500

    59

    Kampfstoff Tdlichkeitsprodukt 3 Kl ifi i h i h K f ff

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    Kampfstoff Tdlichkeitsprodukt

    Blausure 4 000Tabun 450Sarin 150Soman 80

    Ein Kampfstoff ist um so gefhrlicher, je geringer der

    Wert des Tdlichkeitsprodukts ist. Man kann die an-gegebenen Werte fr berschlagsberechnu