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Durch ein besonderes Verhältnis waren die deutschen Nordschleswiger während der Jahre 1933 bis 1945 mit dem Nationalsozialismus in Deutschland verbunden. Es war gekennzeich- net durch eine freiwillige Übernahme der na- tionalsozialistischen Ideologie (Nazifizierung) und Struktur (Gleichschaltung). Als „Aus- landsdeutsche“ waren die Nordschleswiger keine Angehörigen des Deutschen Reiches, sondern dänische Staatsbürger. Sie bewegten sich auf einem besonderen Terrain: Obwohl Vorgaben und Weisun- gen, die für die „großgermanischen“ Pläne der NS-Führung im Reich von Relevanz waren, nicht ausblieben, wurde der dezidierte Nationalsozialismus im Alltagsleben der Nordschleswiger nicht aus Berlin, sondern aus Apenrade gesteuert. Eine Aufarbeitung der NS-Geschichte war durch diese Sonder- rolle mit anderen Bedingungen konfrontiert und hatte sich innerhalb der dänischen Gesellschaft an anderen Faktoren zu orientieren. Die Minderheit sah sich zum Beispiel nicht mit einer Besatzungsmacht konfrontiert, die Anweisungen und Auflagen bei der politischen Re- organisierung erteilte, oder mit anderen Kontrollinstanzen, die sich bemühten, eine Entnazifizierung durchzusetzen oder Einfluss auf die neuen und alten Medien der Minderheit zu nehmen. Der däni- sche Staat nahm im Wesentlichen nur eine Beobachterrolle ein und ließ die Minderheit frei walten. Die Auseinandersetzung mit der na- tionalsozialistischen Vergangenheit in Nordschleswig ist somit von dem Prozess der Aufarbeitung im Nachkriegsdeutschland zu unter- scheiden und bedarf daher einer separaten Betrachtung. Der vorliegende Aufsatz untersucht die Auseinandersetzung der deutschen Minderheit mit ihrer nationalsozialistischen Vergangen- heit nach dem Kriegsende 1945 und wirft ein Licht auf die Schwie- rigkeiten, die diesen Prozess begleiteten. 1 Eine Besonderheit, die den Prozess der Aufarbeitung prägte, war die Verfolgung der vor und während der deutschen Besatzung begangenen minderheitsspe- zifischen Strafhandlungen durch dänische Gerichte. Rund 3500 Per- sonen der Minderheit wurden nach Kriegsende inhaftiert und unter- lagen der sogenannten Rechtsabrechnung. Diese Rechtsabrechnung war für viele Nordschleswiger von traumatischer Wirkung und nahm einen zentralen Platz im kollektiven Bewusstsein der Minder- heit ein. Sie darf bei der Beschäftigung mit der Aufarbeitung nicht außer Acht gelassen werden. Erheblich beeinflusst wurde der Aufar- beitungsprozess in Nordschleswig auch dadurch, dass mit dem de- mokratischen Neuanfang viele der alten Kräfte nicht verschwanden, sondern sich erneut Plätze in der Führungsebene der Minderheit si- cherten. Folglich muss auch der Umgang mit personellen Konti- nuitäten untersucht werden. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht jedoch die Untersuchung des Aufarbeitungsprozesses in der Minderheit. Der Terminus „Aufarbei- tung“ beschreibt jene Aktivitäten, mit denen sich demokratische und auf die Menschenrechte verpflichtete politische Systeme und Ge- 1 Der Verfasser vermeidet in dieser Arbeit nach Möglichkeit den Begriff „Volksgrup- pe“ und schließt sich der Ansicht des däni- schen Historikers Jørgen Kühl an, der diese Bezeichnung, trotz einer Etablierung in Deutschland, als wissenschaftlich „diffus und unpräzise“ einstuft. Vgl. Robert Bohn/Uwe Danker/Jørgen Kühl (Hrsg.), Zwischen Hoffnung, Anpassung und Be- drängnis. Minderheiten im deutsch-däni- schen Grenzraum in der NS-Zeit, Bielefeld 2001, S. 54ff. Der Ausdruck „Volksgrup- pe“ suggeriert meines Erachtens zusätzlich einen geschlossenen ethnischen Bund. Dies steht im Missverhältnis zu der inte- grativen Ausrichtung in wesentlichen Teilen der heutigen Minderheiteninstitutionen in Nordschleswig. Torben Mayer: Die deutsche Minderheit in Nordschleswig und die Aufarbeitung der eigenen national- sozialistischen Vergangenheit Torben Mayer Die deutsche Minderheit in Nordschleswig … 245

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Durch ein besonderes Verhältnis waren diedeutschen Nordschleswiger während der Jahre1933 bis 1945 mit dem Nationalsozialismus inDeutschland verbunden. Es war gekennzeich-net durch eine freiwillige Übernahme der na-tionalsozialistischen Ideologie (Nazifizierung)und Struktur (Gleichschaltung). Als „Aus-

landsdeutsche“ waren die Nordschleswiger keine Angehörigen desDeutschen Reiches, sondern dänische Staatsbürger. Sie bewegtensich auf einem besonderen Terrain: Obwohl Vorgaben und Weisun-gen, die für die „großgermanischen“ Pläne der NS-Führung imReich von Relevanz waren, nicht ausblieben, wurde der dezidierteNationalsozialismus im Alltagsleben der Nordschleswiger nicht ausBerlin, sondern aus Apenrade gesteuert.

Eine Aufarbeitung der NS-Geschichte war durch diese Sonder-rolle mit anderen Bedingungen konfrontiert und hatte sich innerhalbder dänischen Gesellschaft an anderen Faktoren zu orientieren. DieMinderheit sah sich zum Beispiel nicht mit einer Besatzungsmachtkonfrontiert, die Anweisungen und Auflagen bei der politischen Re-organisierung erteilte, oder mit anderen Kontrollinstanzen, die sichbemühten, eine Entnazifizierung durchzusetzen oder Einfluss aufdie neuen und alten Medien der Minderheit zu nehmen. Der däni-sche Staat nahm im Wesentlichen nur eine Beobachterrolle ein undließ die Minderheit frei walten. Die Auseinandersetzung mit der na-tionalsozialistischen Vergangenheit in Nordschleswig ist somit vondem Prozess der Aufarbeitung im Nachkriegsdeutschland zu unter-scheiden und bedarf daher einer separaten Betrachtung.

Der vorliegende Aufsatz untersucht die Auseinandersetzung derdeutschen Minderheit mit ihrer nationalsozialistischen Vergangen-heit nach dem Kriegsende 1945 und wirft ein Licht auf die Schwie-rigkeiten, die diesen Prozess begleiteten.1 Eine Besonderheit, dieden Prozess der Aufarbeitung prägte, war die Verfolgung der vorund während der deutschen Besatzung begangenen minderheitsspe-zifischen Strafhandlungen durch dänische Gerichte. Rund 3500 Per-sonen der Minderheit wurden nach Kriegsende inhaftiert und unter-lagen der sogenannten Rechtsabrechnung. Diese Rechtsabrechnungwar für viele Nordschleswiger von traumatischer Wirkung undnahm einen zentralen Platz im kollektiven Bewusstsein der Minder-heit ein. Sie darf bei der Beschäftigung mit der Aufarbeitung nichtaußer Acht gelassen werden. Erheblich beeinflusst wurde der Aufar-beitungsprozess in Nordschleswig auch dadurch, dass mit dem de-mokratischen Neuanfang viele der alten Kräfte nicht verschwanden,sondern sich erneut Plätze in der Führungsebene der Minderheit si-cherten. Folglich muss auch der Umgang mit personellen Konti-nuitäten untersucht werden.

Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht jedoch die Untersuchung desAufarbeitungsprozesses in der Minderheit. Der Terminus „Aufarbei-tung“ beschreibt jene Aktivitäten, mit denen sich demokratische undauf die Menschenrechte verpflichtete politische Systeme und Ge-

1 Der Verfasser vermeidet in dieser Arbeitnach Möglichkeit den Begriff „Volksgrup-pe“ und schließt sich der Ansicht des däni-schen Historikers Jørgen Kühl an, der dieseBezeichnung, trotz einer Etablierung inDeutschland, als wissenschaftlich „diffusund unpräzise“ einstuft. Vgl. RobertBohn/Uwe Danker/Jørgen Kühl (Hrsg.),Zwischen Hoffnung, Anpassung und Be-drängnis. Minderheiten im deutsch-däni-schen Grenzraum in der NS-Zeit, Bielefeld2001, S. 54ff. Der Ausdruck „Volksgrup-pe“ suggeriert meines Erachtens zusätzlicheinen geschlossenen ethnischen Bund.Dies steht im Missverhältnis zu der inte-grativen Ausrichtung in wesentlichen Teilender heutigen Minderheiteninstitutionen inNordschleswig.

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sellschaften mit ihren Vorgängersystemen auseinandersetzen, diedurch Diktatur und Verbrechen gekennzeichnet waren.2 Angewandtauf die soziale Gruppe der deutschen Minderheit im dänischen Staat,bedeutet dies in normativer Hinsicht die kritische Erforschung undöffentliche Reflexion des eigenen Verhaltens im verbrecherischenund erbarmungslosen System des nationalsozialistischen Deutsch-lands.

Die deutsche Minderheit von 1920 bis 1940. Um den Weg der Aufarbei-tung, seine Anknüpfungspunkte und Besonderheiten beurteilen zukönnen, bedarf es zunächst einer Betrachtung der nationalsozialisti-schen Jahre in Nordschleswig und einem Blick auf die Entstehungs-geschichte der Minderheit seit 1920. Nach der Niederlage Deutsch-lands im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag unter ande-rem festgehalten, dass im mittleren und nördlichen LandesteilSchleswig ein Plebiszit stattzufinden habe. Grund für diese Anord-nung war der große Anteil dänisch gesinnter Einwohner in diesempreußischen Landesteil. Nach der Volksabstimmung 1920 wurde dienördliche Abstimmungszone aufgrund insgesamt deutlicher Mehr-heitsverhältnisse dem dänischen Staat zugesprochen.

In Nordschleswig entstand nun offiziell eine mitgliederstarkedeutsche Minderheit auf dänischem Boden. Die Minderheit umfass-te nach 1920 bis zu 30 000 Menschen.3 Diese wurden nun gleichbe-rechtigte dänische Staatsbürger mit gewissen Sonderrechten im kul-turellen und schulischen Bereich. Ein Großteil der Deutschgesinntenverweigerte sich jedoch diesen neuen Chancen und forderte stattdes-sen eine territoriale Wiedereingliederung Nordschleswigs nachDeutschland. Die liberale dänische Gesetzgebung ermöglichte derMinderheit den zügigen Aufbau einer eigenen organisatorischenStruktur: Zum Erhalt der eigenen Sprache und Kultur wurden als-bald zahlreiche deutsche Vereine und Institutionen gegründet, dieein pulsierendes deutschgesinntes Leben innerhalb der Minderheitförderten. Das Rückgrat der Minderheit war eine starke Bauern-schaft, die einen erheblichen Teil des landwirtschaftlichen Bodens inNordschleswig ihren Besitz nennen konnte. Ab Mitte der 1920erJahre kam es zum „Bodenkampf“, der die Nordschleswiger an einerempfindlichen Stelle traf. Im Mittelpunkt des Kampfes stand derKonflikt um eine Verteilung des landwirtschaftlichen Bodens anDeutsche oder Dänen.4

Schwierige ökonomische Bedingungen für eine hohe Anzahl vonLandwirten in Nordschleswig während der Wirtschaftskrise in Dä-nemark in den 1930er Jahren schufen dann innerhalb der Minderheiteinen günstigen Nährboden für den neu aufkommenden Nationalso-zialismus. Die national-konservative Haltung vieler Landwirte warausgesprochen anfällig für die Blut- und Bodenpropaganda der Na-zis.

Allgemein war eine Demokratiefeindlichkeit in der Minderheitstark ausgeprägt. Ihre Erziehung hatten die meisten Nordschleswi-ger noch im Kaiserreich erhalten und mit der demokratischen Ver-

2 Vgl. Joachim Perels, Die Zerstörung vonErinnerung als Herrschaftstechnik(S. 53ff.) und Helmut König/MichaelKohlstruck/Andreas Wöll, Einleitung(S. 7ff.), in: dies. (Hrsg.), Vergangen-heitsbewältigung am Ende des zwanzig-sten Jahrhunderts, Wiesbaden 1998.3 Jørgen Kühl, Nationale Minderheiten inder Europäischen Union am Beispiel derdeutschen Minderheit in Dänemark, in: Ar-chiv für Sozialgeschichte 44 (2004),S. 571.4 Gösta Toft, Die bäuerliche Struktur derdeutschen Volksgruppe in Nordschleswig,Flensburg 1982, S. 9.

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fassung der Dänen wollten sich viele nicht anfreunden. Es gab somitkaum demokratische Traditionen in der Minderheit, was den Über-gang zum Nationalsozialismus erleichterte. Das Programm derNSDAP stieß ab 1932 in der deutschen Minderheit in Nordschles-wig auf ein reges Interesse. Insbesondere die nationalsozialistischeForderung nach einer Aufhebung des Versailler Vertrages entfachtein der deutschen Minderheit eine hohe Begeisterung, denn eineDurchsetzung dieses Vorhabens, so die verbreitete Hoffnung in derMinderheit, würde eine Grenzrevision mit sich bringen.

Von der Machtübergabe an Adolf Hitler und der damit verbunde-nen Entwicklung in Deutschland gingen starke Impulse nach Nord-schleswig aus. Die Verherrlichung eines „Deutschtums“ und diezunächst verbale Bekämpfung der Versailler Verträge sorgten füreine Radikalisierung der Minderheit. Für viele deutschgesinnteNordschleswiger hatte der Nationalsozialismus in Deutschland denCharakter einer Erweckung.5 Die Verbrechen der Nationalsozialis-ten und die schon anfänglich brutale Verfolgung von missliebigenMenschen wurden als Begleiterscheinungen der „neuen Zeit“ be-wusst übersehen, akzeptiert oder sogar begrüßt.6

Der Schleswigsche Wählerverband als übergeordnete Organisa-tion der Minderheit war schon 1933 im Vorstand, bis auf eine Per-son, mit Nazis besetzt. Ideologische Konflikte gab es innerhalb derMinderheit nur am Rande und Proteste gegen die Nazifizierung derMinderheit fanden so gut wie nicht statt. Die Idee des Nationalsozia-lismus bewirkte bei der überwiegenden Mehrheit der „Heimatdeut-schen“ ein noch weiteres Zusammenrücken und eine noch weitereDistanzierung von der dänischen Gesellschaft.

Seit 1933 gründeten sich gleich mehrere NS-Parteien und NS-Organisationen in Nordschleswig, die nicht selten im feindseligenVerhältnis zueinander standen. 1935 erreichte Schleswig-HolsteinsOberpräsident und NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse die Vereini-gung der führenden Kräfte in einer Partei. Unter der Führung desTierarztes Jens Möller aus Grafenstein bildete sich am 22. August1935 „in der Liebe zur Idee unseres großen Führers“7 die National-sozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nordschleswig (NSDAP-N).Allerdings prägten Intrigen, Streitigkeiten und Spaltungen das In-nenleben der neuen Partei.

NSDAP-N-Parteiführer Möller musste noch weitere vier Jahreum seine Vormachtstellung kämpfen. Mit dem Antritt Möllers alsSpitzenkandidat der Schleswigschen Partei zur Folketingswahl 1939sammelten sich die Nordschleswiger in Gänze um die NSDAP-N.

Eine zentrale Rolle in der Begeisterungsfähigkeit der Nord-schleswiger für den Nationalsozialismus nahm die ständig präsenteFrage um die regionale Grenzziehung ein. Die Grenzpolitik der Na-zis, die von einer „Volkstumsideologie“ bestimmt war, berücksich-tigte insbesondere Faktoren wie „Blut“ und „Siedlungsgebiet“.8

Grenzrevisionistische Persönlichkeiten der Minderheit, wie Jep Nis-sen als Führer der Nationalsozialistischen ArbeitsgemeinschaftNordschleswig (NSAN) und der wohl bedeutendste Schriftsteller

5 Vgl. Thomas Steensen/Henrik Becker-Christensen/Carsten R. Mogensen, Min-derheiten im Grenzland 1933-1945,Schleswig 1994, S. 36f.6 Bohn/Danker/Kühl, Zwischen Hoff-nung, Anpassung und Bedrängnis (wieAnm. 1), S. 97f.7 Ingrid Riese, Die deutsche Volksgruppein Nordschleswig 1933-1945. Einstellun-gen zur Grenze, in: Schriften der Heimat-kundlichen Arbeitsgemeinschaft für Nord-schleswig 70/1995, S. 74.8 Toft, Die bäuerliche Struktur (wie Anm.4), S. 9.

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der Minderheit, Hans Schmidt-Gorsblock, forderten schon im Sep-tember 1932 öffentlich den wirtschaftlichen Anschluss Nordschles-wigs an Schleswig-Holstein.

Nach dem Regierungswechsel 1933 in Berlin dauerte es nurnoch einen Monat, bis entsprechende Forderungen auch ausDeutschland kamen. Der grenzpolitische Sprecher der NSDAP inSchleswig-Holstein, Pastor Johann Peperkorn aus Viöl, und der Vor-sitzende des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes (SHB), Wil-helm Sievers, der gleichzeitig Oberbürgermeister von Flensburgwar, initiierten den sogenannten Ostersturm. Auf öffentlichen Veran-staltungen hielten sie provozierende Reden und sprachen grenzrevi-sionistische Wünsche deutlich aus. Eine Grenzverschiebung schienfür sie sicher, nur die Methode der Annexion war noch offen. EinRuf des Ostersturms lautete: „Mit Blitzschnelle wird der deutscheNationalsozialismus Nordschleswig in Besitz nehmen !“9 SolcheBeiträge sorgten für erhebliche Unruhe bei den Dänen und wecktenenorme Rückkehrhoffnungen bei den deutschgesinnten Nordschles-wigern.

Doch schon bald wurden die Kämpfer für eine Grenzrevisionvon der Führung in Berlin zur Ruhe ermahnt. Hitler hatte für dieMinderheit eine andere Funktion vorgesehen. Sie sollte zukünftigein vermittelndes Bindeglied zwischen Dänemark und Deutschlanddarstellen. So verschwand die Forderung nach Eingliederung Nord-schleswigs in das „Dritte Reich“ vorerst aus der offiziellen Politikder Minderheit.

Erneute grenzrevisionistische Erwartungen wurden aber nachder Einverleibung Österreichs (1938) und des Sudeten- und Memel-lands (1939) geweckt. Auf einer Veranstaltung im Rahmen des Fol-keting-Wahlkampfes forderte der Spitzenkandidat der MinderheitJens Möller in Tondern im März 1939: „Führer, mach uns frei !“10

Dafür erhielt er eine scharfe Mahnung aus Berlin. Die Minderheitmusste sich damit abfinden, dass sie zum nationalen Gegner ein po-sitives Verhältnis aufbauen sollte, um auch in Dänemark den „groß-germanischen Gedanken“ zu fördern. Die offiziellen Gremien folg-ten solchen Anweisungen insgesamt eher widerwillig. Zum Überfallauf Polen am 1. September 1939 erklärte Möller dennoch in „unver-brüchlicher Solidarität“: „Der Kampf des deutschen Volkes ist auchunser Kampf, sein Glaube ist auch unser Glaube und seine Stärke istauch unsere Stärke.“11

Die Minderheit während der deutschen Okkupation Dänemarks 1940-1945.Neue Hoffnungen auf eine Rückkehr ins Deutsche Reich keimtenauf, als Nazideutschland am 9. April 1940 Dänemark und Norwegenüberfiel und besetzte. Als deutsche Wehrmachtsverbände die Grenzeüberschritten, kam es zu spontanen Freudenbekundungen der Min-derheit und zu Aufmärschen von Einheiten der Schleswigschen Ka-meradschaft (SK). Doch schon am 13. April wurde Möller aus Ber-lin mitgeteilt, dass Dänemark trotz Okkupation eine territoriale Inte-grität zugesichert worden war. Die Enttäuschung innerhalb der Min-

9 Peter J. Sönnichsen, Spiegel der Jahre.Der deutsche Volkskalender für Nordschles-wig. Eine Kulturgeschichte der deutschenVolksgruppe in Dänemark, Apenrade1993, S. 117.10 Riese, Die deutsche Volksgruppe (wieAnm. 7), S. 70.11 Ernst Siegfried Hansen, Die Volksgrup-pe während des Krieges, in: Der Nord-schleswiger, 4.11.1978, S. 2.

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derheit war immens und Möller musste stark auf die deutschenNordschleswiger einwirken, um die hohe Bereitschaft zur Unterstüt-zung Deutschlands aufrechtzuerhalten. Das Organisationsamt derNSDAP-N verdeutlichte in einem Lagebericht die Resthoffnung andas Auswärtige Amt in Berlin. In einem Schreiben vom 22. Oktober1940 heißt es, „daß die gesamte deutsche Volksgruppe mit einemunerschütterlichen Vertrauen die Auslöschung des Versailler Diktats(…) und den Anschluß an das Reich“ erwarte. Im Falle einer Enttäu-schung könne es womöglich zu einer „gewalttätigen Selbsthilfe“kommen.12

Auch um den Wunsch und die Forderung nach Rückkehr in dasDeutsche Reich zu unterstreichen, veranlasste die Volksgruppen-führung ab 1939 Werbekampagnen zur Gewinnung von Wehrfrei-willigen. Bis zum Ende des Krieges wurden rund zwei Drittel derzirka 2000 freiwilligen Nordschleswiger für die Waffen-SS gewor-

12 Riese, Die deutsche Volksgruppe (wieAnm. 7), S. 87f.

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ben, von denen die meisten wiederum Angehörige der berüchtigtenTotenkopf-Division wurden.13 Zirka 750 nordschleswigsche Mit-glieder der Wehrmacht und Waffen-SS starben im Kriegeinsatz.

Anfang 1943 wurde ein „Zeitfreiwilligen-Korps“ aufgestellt.1700 Mann standen nach einer militärischen Ausbildung als„Alarmbataillon“ für Aufgaben in Nordschleswig bereit, konntenaber vorerst weiter ihrem Zivilberuf nachgehen. Nachdem am29. August 1943 der Ausnahmezustand über Dänemark verhängtwurde, kam das Korps für Patrouillen- und Wachdienste zum Ein-satz. Besonderer Pflichteifer, eine rigorose Durchsetzung von Be-stimmungen und weitreichende Amtsanmaßungen wurden zu Kenn-zeichen der Zeitfreiwilligen.14 1944 wurde zusätzlich ein nordsch-leswigscher „Selbstschutz“ organisiert, der im Wesentlichen als Sa-botagewache konzipiert war. Auch dieser zirka 500 Personen starkemilitärische Verband überschritt mit seinen Aktivitäten deutlich sei-ne Befugnisse und förderte in der dänischen Bevölkerung die Angstvor einer bewaffneten deutschen Minderheit.15 Sowohl das Zeitfrei-willigenkorps als auch das Selbstschutzkorps sahen ihre Aktivität als„Dienst am deutschen Volk“ und stellten ihre Kräfte der Besatzungs-macht zur Verfügung.

Erst als eine deutsche Kriegsniederlage absehbar wurde und dieMinderheitenführung sich über eine weitergehende Zukunft in Dä-nemark Gedanken machen musste, deutete man die Dänen zu Freun-den und Verbündeten um. Möller schrieb im September 1943 an ei-

Die freiwillige Nazifizierung reichte in na-hezu alle Bereiche der Minderheitenstruk-tur. Hier der Aufbau der Minderheit im Jahr1943Deutsches Museum für Nordschleswig,Sonderburg

Rechte Seite:Der Volksgruppenführer Jens Möller ver-folgte angeblich eine „gemäßigte Linie“ inder Politik der Deutschen Minderheit. Die-se Auslegung hält sich bis in die 1970er-Jahre, kann aber dem Aufarbeitungspro-zess nicht standhalten.Aufru vonf 1942, Deutsches Museum fürNordschleswig, Sonderburg

13 Vgl. Frank Lubowitz, Det tyske mindre-tal, in: Hans Schultz Hansen/Henrik SkovKristensen (Hrsg.), Sønderjylland underkrig og besættelse 1940-1945, Apenrade2003, S. 66.

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nen SS-Obergruppenführer: „Wir kamen zu der Erkenntnis, daß wirim dänischen Volk den Bruder sahen (...). Losgelöst von der kleinli-chen Kurzsichtigkeit des Grenzkampfes sieht die Volksgruppe heuteden Anfang zu einer germanischen Volksgemeinschaft mit den nor-dischen Völkern.“16

Ebenfalls 1943 gründete sich innerhalb der Minderheit der „Ha-derslebener Kreis“. Im Angesicht der drohenden Niederlage Nazi-deutschlands sprach dieser kleine nichtöffentliche Gesprächszirkelin der „Haderslebener Erklärung“ seine Loyalität gegenüber demdänischen Staat aus und bekannte sich zur Grenzziehung von 1920.An politischer Bedeutung innerhalb der Minderheit gewann dieseraus lediglich fünf Personen bestehende Kreis aber erst nach der end-gültigen Niederlage Nazideutschlands: Die Mitglieder, alles Männerdes konservativen und gehobenen Bürgertums, traten erst einigeMonate nach Kriegsende mit einer Loyalitätserklärung an die Öf-fentlichkeit.17

Am 5. Mai 1945 endete die Besatzung Dänemarks ohne eine Re-vidierung der Grenzziehung. Die Organisationen der Minderheitenwurden aufgelöst, das Vermögen weitestgehend konfisziert und Be-schuldigte inhaftiert.

Die Strafverfolgung gegen Mitglieder der deutschen Minderheit. Nach der Ka-pitulation und dem Abzug der deutschen Truppen Anfang Mai 1945erlangte der dänische Staat seine volle Souveränität zurück. Da derPolizeiapparat im September 1944 von den Deutschen zerschlagenworden war, übernahmen Mitglieder der Widerstandsbewegung po-lizeiliche Aufgaben und inhaftierten rund 40 000 Personen, die unterdem Verdacht standen, sich unter der deutschen Besatzung strafbargemacht zu haben. Unter den Inhaftierten fanden sich auch rund3500 Personen der deutschen Minderheit, die überwiegend im Får-huslager, dem ehemaligen Polizeilager Frøslev, untergebracht wur-den. Die dänische Justiz übernahm in der sogenannten Rechtsab-rechnung (dän. Retsopgør) die Strafverfolgung. Sie basierte in ersterLinie auf allgemeinem dänischen Recht und sollte insbesondereauch dänische Kriegsfreiwillige und Kriegsgewinnler treffen. Vor-gaben erhielt die Justiz aber auch vom dänischen Rigsdag (Reichs-tag), der bereits im Mai 1945 die besondere Stellung der deutschenMinderheit erörterte und ein rückwirkendes Strafzusatzgesetz verab-schiedete. Dieses Zusatzgesetz Nr. 259 hatte entscheidenden Ein-fluss auf den Verlauf der Rechtsabrechnung gegen die inhaftiertendeutschen Nordschleswiger. Insbesondere sollte die Rückwirkungverhindern, dass Kriegsfreiwillige straffrei ausgehen würden. Im§10 heißt es: „Derjenige, der zu deutschem Kriegsdienst geworbenhat oder sich hat werben lassen, wird mit Gefängnis bestraft.“

Grundsätzlich wurde ein Strafminimum von vier Jahren einge-führt, doch für die deutschen Nordschleswiger wurde eine Sonderre-gelung beschlossen. Aufgrund des Spannungsfeldes zwischen derLoyalität zum Herbergsstaat und der nationalen Gesinnung der Min-derheit ergänzte der dänische Gesetzgeber die Ausführung um fol-

14 Sabine Lorek, Rechtsabrechnung –Retsopgør. Politische Säuberung nach demZweiten Weltkrieg in Nordschleswig,Neumünster 1998, S. 236ff.15 Lorek, Rechtsabrechnung – Retsopgør(wie Anm. 14), S. 265ff.16 Riese, Die deutsche Volksgruppe (wieAnm. 7), S. 98.17 Vgl. Arthur Lessow, Der HaderslebenerKreis und seine Bedeutung für den Neube-ginn der deutschen Arbeit in Nordschleswig1945, in: Schriften der HeimatkundlichenArbeitsgemeinschaft für Nordschleswig70/1995, S. 113f.

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gende Klausel: „Wo besondere Umstände vorliegen, kann die Strafeherabgesetzt werden, und unter ganz außerordentlichen Umständenkann auf eine Anklage verzichtet werden.“18

Das Strafzusatzgesetz hatte aber auch deutliche Schwächen, wel-che besonders die Insassen in Fårhus beunruhigten. Es fehlte eineDifferenzierung der Tatbestände. Eine breit auslegbare Formulie-rung, wie „Beistand mit Rat und Tat“, erklärt zum Beispiel denStraftatbestand für die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht.Solche vagen Formulierungen erschwerten die Arbeit der Gerichtein den Rechtskreisen Tondern, Apenrade und Gravenstein und führ-ten zu vielen Urteilen, die auf eine Verständnislosigkeit der Minder-heit stießen.

Aufgrund des Strafzusatzgesetzes wurden 2720 deutsche Nord-schleswiger vor dem Landsret (Landgericht) verurteilt. Insgesamtwar die Anzahl der Verurteilten nur unwesentlich höher: 2958. Dar-unter waren 1121 aus dem Zeitfreiwilligenkorps, 128 aus demSelbstschutzkorps und 901 Angehörige der Waffen-SS oder Wehr-macht.19

Das Strafmaß für Teilnehmer am deutschen Kriegsdienst außer-halb Dänemarks lag bei rund eineinhalb Jahren Gefängnis und damitunter dem der Korpsangehörigen. Die dänischen Richter zeigtenmehr Verständnis für die meist jungen Männer, die fern der Heimatgekämpft hatten, als für oft ältere Angehörige der Minderheit, die alsdänische Staatsbürger mit der Besatzungsmacht kollaboriert, sich an„Ordnungsmaßnahmen“ gegen die dänische Bevölkerung beteiligtund auf dänischem Boden unbedingte Gehorsamseide auf Adolf Hit-ler abgegeben hatten. Zeitfreiwillige erhielten Freiheitsstrafen vondurchschnittlich zwei Jahren, Selbstschutzangehörige aufgrund ihrerbesonders aktiven und fanatischen NS-Anhängerschaft von rundzweieinhalb Jahren. Höhere Strafen bekamen die ehemaligen Mitar-beiter der Nachrichten- und Verfolgungsbehörde des Sicherheits-dienstes (SD). Personen, die mit der Besatzungsmacht Geschäfte ge-macht hatten, erhielten Gefängnisstrafen zwischen 30 Tagen undzehn Monaten plus Geldstrafen.20

Erst im Februar 1948 begann der Prozess gegen die „Volksgrup-penführung“. Verhandelt wurde gegen 15 Mitglieder des bedeu-tendsten politischen Gremiums der Minderheit in der NS-Zeit, des„Kleinen politischen Rats“, und gegen zwei verantwortliche Mitar-beiter der „Nordschleswigschen Zeitung“ (NZ), welche schon 1933zum Sprachrohr des Nationalsozialismus mutiert war. Sie galten lauteines Folketingsbeschlusses als Hauptverantwortliche für die Kolla-boration. Die lange Untersuchungshaft konnten sich die Ratsmit-glieder allerdings selbst zuschreiben: Die Volksgruppenleitung hattekurz vor der Kapitulation reichlich Beweismaterial im Apenrader„Dibbernhaus“, dem politischen Zentrum der Minderheit in der Na-zizeit, verbrannt und die Vorbereitung auf den Prozess gestaltetesich so sehr mühselig.

Im September 1948 wurden die Urteile im „kleinen NürnbergerProzess“ verkündet: Möller und Larsen erhielten jeweils 15 Jahre

18 Sabine Lorek, Die Rechtsabrechnungmit der deutschen Minderheit in Dänemarknach 1945, in: Bohn/Danker/Kühl, Zwi-schen Hoffnung, Anpassung und Bedräng-nis (wie Anm. 1), S. 165f.19 Lorek, Rechtsabrechnung – Retsopgør(wie Anm. 14), S. 39.20 Lorek, Die Rechtsabrechnung mit derdeutschen Minderheit (wie Anm. 18),S. 167ff.

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Gefängnis; das Strafmaß der übrigen Führungsmitglieder lag zwi-schen fünf und zwölf Jahren. Nach einem Revisionsverfahren wur-den die Strafen ab zehn Jahren um ein bis drei Jahre abgemildert.

Neben den Gefängnisstrafen verloren die meisten Verurteilten al-ler Prozesse ihre bürgerlichen Rechte für fünf, zehn, 15 Jahre oderauf Lebenszeit. Dies führte auch zu Berufsverboten oder zur Strei-chung staatlicher Unterstützungsleistungen. Die Betroffenen, die zuStrafen von bis zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden waren, er-hielten ihr Bürgerrecht schon 1947 wieder zurück. Die Übrigenmussten lediglich bis zum Jahr 1950 warten, als auch die letztenHauptangeklagten der Minderheit durch Amnestien und Begnadi-gungen vorzeitig wieder entlassen wurden.21

Die langen Schatten der Rechtsabrechnung. Das Fårhus-Lager blieb bis1949 als Strafanstalt für verurteilte Mitglieder der Minderheit in Be-trieb. Für die deutschen Nordschleswiger war aber nach der Schlie-ßung des Lagers dieses Nachkriegskapitel nicht beendet. DieRechtsabrechnung stand im kollektiven Bewusstsein der Minderheitfür eine Willkürjustiz, die einer rechtstaatlichen Grundlage entbehr-te. Insbesondere durch das rückwirkende Strafzusatzgesetz fühltesich die Minderheit kriminalisiert und als Gemeinschaft von Verbre-chern stigmatisiert. Tatsächlich wurde die Minderheit durch dieRechtsabrechnung hart getroffen. Ein Viertel der männlichen Bevöl-kerung kam in Haft – oft für Taten, die während der Besatzung vonden dänischen Behörden geduldet oder sogar gebilligt worden wa-ren.

In ihrem Selbstverständnis waren die Nordschleswiger Opferzwischen zwei Fronten: Sie erlagen der nationalsozialistischen Ver-führung und wurden nach dem Zusammenbruch zum Sündenbock,der für die Untaten des Deutschen Reichs stellvertretend büßenmusste. Eingesperrt und sich gedemütigt fühlend, entwickelten dieFårhusinsassen verschiedene Geisteshaltungen, die durch unter-schiedliche Reaktionen auf den Zusammenbruch der Minderheit ge-prägt waren. Die Reaktionen der deutschen Nordschleswiger auf dieRechtsabrechnung lassen sich in drei Kategorien einteilen:22

1. Die nationalistische Reaktion: Das eigene Unrechtsverhaltenwar nicht oder kaum präsent, das dänische dafür um so deutli-cher. Bei dieser Geisteshaltung sprach man von der „Fårhus–Mentalität“. Diese Vertreter dieser Protesthaltung stellten sichgegen jegliche Verständigung zwischen Deutsch- und Dänisch-gesinnten.

2. Die Rückzugs-Reaktion: Mitglieder der Minderheit verließendiese und beteiligten sich nicht mehr am deutschgesinnten kultu-rellen und politischen Leben.

3. Die Kraftquelle-Reaktion: Der Gemeinschaftssinn der Fårhus-Kameradschaft wurde positiv verstanden und schaffte Energiefür die Wiederaufbauphase.

Die Kategorien 1 und 3 hatten einen bedeutenden Einfluss auf den

21 Lorek, Die Rechtsabrechnung mit derdeutschen Minderheit (wie Anm. 18),S. 172.22 Nach Niels Wernich (1949), in: Lorek,Rechtsabrechnung – Retsopgør (wie Anm.14), S. 509.

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Neuaufbau und die Identitätsentwicklung der Minderheit. Schonbald konnte sich die konstruktive Reaktion der Kategorie 3 gegen-über der puren Protesthaltung durchsetzen, und ein Neuanfang mitdemokratischen Zügen gelang erstaunlich schnell. Dennoch behieltdie Rechtsabrechnung unter den Deutschgesinnten einen zentralenPlatz. Der Bund deutscher Nordschleswiger (BdN), der neue Haupt-verband der Minderheit, brandmarkte zur Folketingswahl im Okto-ber 1947 die Gesetze mit rückwirkender Kraft als unvereinbar mitden Grundlagen eines Rechtsstaates und forderte:23 Straffreiheit fürdie „politisch Bestraften“, Amnestie für Kriegsgefangene, Invali-denrente für Kriegsversehrte, eine Wiederbewilligung der Beamten-pensionen und die Revision der Urteile insgesamt.

1950 forderte Hans Schmidt-Gorsblock als Wahlkandidat derSchleswigschen Partei (SP) für das Folketing, dass der „Verbrecher-stempel“ von den Verurteilten genommen werden müsse, und dassdie Angriffe auf die „Ehre der Frontfreiwilligen“ aufhören sollten.1953 forderte die SP in ihrem Wahlprogramm einen „Schlussstrich“.Nach dem für die Minderheit erfolgreichen Wahlgang und der Ent-

Die deutschen Nordschleswiger fassen dieRechtsabrechnung nach 1945 primär alsUnrecht auf und die Schleswigsche Parteifordert noch bis 1964 in ihrem Programmeine Revision der Urteile. Die Erfahrungenim Fårhus-Lager prägen eine Generation.Zeichnung aus einer Wahlzeitung zur Fol-ketingswahl 1951

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sendung Schmidt-Oxbülls als erstem deutschen Abgeordneten nachder Befreiung ins Parlament in Kopenhagen, schaffte es dieser zwarin seiner Antrittsrede, einen loyalen Tonfall gegenüber dem däni-schen Staat zu finden, doch die erwartete Entschuldigung für dieVerbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit blieb aus.

Auch in den Programmen zu den Folketing-Wahlen 1957, 1960und 1964 finden sich noch Forderungen nach Revision der Rechts-abrechnung und einem „Schlussstrich“ unter „die tragische Ge-schichte der Kriegs- und Nachkriegszeit“.24 Der zeitgenössische dä-nische Historiker Troels Fink kommentierte 1958 das anhaltendeKlagelied der Minderheit wie folgt: „Die Mehrheit der Heimdeut-schen in Nordschleswig hat wohl kaum zu irgendeinem Zeitpunktbegriffen, in wie hohem Grade die Dänen den Nationalsozialismusals eine einzige Verleugnung der Grundsätze des Rechts, der Ge-rechtigkeit und der Menschlichkeit auffassten, und eine wie tiefeKluft dadurch entstanden war, dass die Heimdeutschen den zerstöre-rischen Grundsätzen, auf denen der deutsche Nationalsozialismusaufgebaut war, zustimmten.“25

Seit Mitte der 1960er Jahre nahm die Rechtsabrechnung einennachrangigen Platz auf der Agenda der Minderheit ein, doch sie istbis in die Gegenwart eine besonders beachtete Phase in der Ge-schichte der deutschen Nordschleswiger geblieben. Noch 2007 füll-te das Thema große Säle mit Besucherscharen.26

Der organisatorische Neubeginn und die alten Kräfte. Die totale NiederlageNazideutschlands führte auch zum völligen organisatorischen Zu-sammenbruch der deutschen Minderheit in Nordschleswig. Wichti-ge Funktionäre wurden inhaftiert, die Schulen geschlossen und dieVereinsarbeit eingestellt. Die Angst vor Rache der Dänen, vor De-portationen oder Schlimmerem war in der nahezu rechtlosen Über-gangsphase nach dem 5. Mai 1945 immens. Auf ihrer Suche nachIdentität und Schutz begannen sich die verbliebenen Nordschleswi-ger, die an ihrer deutschen Gesinnung festhielten, zu organisieren.Sie gründeten im November 1945 den Bund deutscher Nordschles-wiger (BdN). In dieser Sammlungsbewegung waren, trotz der Be-denken einiger Vertreter des Haderslebener Kreises, alle Angehöri-gen der Minderheit willkommen – auch die vormals führenden Na-tionalsozialisten. Vorgeblich um gemeinsam gegen die als Willkürverstandene Rechtsabrechung anzugehen, wurde von vornhereinversucht, eine Spaltung in Belastete und Unbelastete zu verhindern.Das Programm wurde so formuliert, dass es auch einem überzeugtenNationalsozialisten möglich war, „auf die andere Seite herüberzufin-den“.27 Am Beispiel von Persönlichkeiten der deutschen Minderheitsoll nachfolgend die personelle Kontinuität aufgezeigt werden, de-ren Linie von der Nazifizierung der Minderheit bis zu ihrem demo-kratischen Neuanfang und darüber hinaus führt.28

� Der Lehrer Peter Callesen war seit 1939 Sonderbeauftragter fürKulturpflege der NSDAP-N und wurde verantwortlicher Herausge-ber der fanatischen NS-Monatszeitung „Junge Front“29, in der er

23 Vgl. Lorek, Rechtsabrechnung – Ret-sopgør (wie Anm. 14), S. 524.24 Lorek, Rechtsabrechnung – Retsopgør(wie Anm. 14), S. 528ff.25 Troels Fink, Geschichte des schleswig-schen Grenzlandes, Kopenhagen 1958,S. 321.26 So geschehen im Rittersaal des Son-derburger Schlosses am 30. Januar 2007.BdN und Historik Samfund luden ein zurDebatte über die Rechtsabrechnung.27 Lorek, Rechtsabrechnung – Retsopgør(wie Anm. 14), S. 515.28 Da der Aufarbeitungsprozess der Min-derheit nicht unwesentlich von dieser Kon-tinuität beeinflusst wurde, ist es notwen-dig, sich diesen Faktor bewusst zu ma-chen. Es ist hier nicht beabsichtigt eine Ge-sinnungskontinuität der Personen zu be-haupten oder zu beweisen.

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auch regelmäßig publizierte. Callesen gehörte zum „Kleinen politi-schen Rat“ und wurde im „kleinen Nürnberger Prozess“ gegen die„Volksgruppenführung“ zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.30 Nachseiner Haftentlassung übernahm Callesen die Leitung des Bücherei-wesens und verblieb auf diesem Posten bis 1970. Ebenso wurde ihmdie Leitung der neugegründeten „Jugendbünde“ und im Mai 1949ein Sitz im BdN-Kulturausschuss übertragen. Callesen gehörte zumRedaktionsausschuss des „Deutschen Volkskalenders für Nord-schleswig“ und wurde Schriftführer im Vorstand der Heimatkundli-chen Arbeitsgemeinschaft für Nordschleswig.� Der studierte Journalist Ernst Siegfried Hansen veröffentlichtevon 1937 bis 1944 regelmäßig politische Artikel in der „JungenFront“. Seine Fähigkeiten stellte Hansen auch der nationalsozialisti-schen „Nordschleswigschen Zeitung“ zur Verfügung, indem er fürdiese als verantwortlicher politischer Redakteur tätig war. Am9. Mai 1945 wurde Hansen verhaftet und bis August 1945 im Får-huslager interniert.

Seit Februar 1946 erscheint die Zeitung „Der Nordschleswiger“.Herausgeber ist der BdN, als Chefredakteur amtierte bis 1953 ErnstSiegfried Hansen. Er wurde als „Pressemann“ Mitglied im erstenBdN-Hauptvorstand und kandidierte im Oktober 1947 zur Folke-tingswahl. Seine Mitgliedschaft im Hauptvorstand wurde im April1950 bestätigt und im Frühjahr 1953 übernahm Hansen die Kopen-hagener Vertretung des „Nordschleswigers“.31

� Oberleutnant a.D. Peter Larsen war ein enger Vertrauter des„Volksgruppenführers“ Möller und übernahm schon im Februar1934 die Führung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsge-meinschaft Nordschleswig.32 Später leitete er das NSDAP-N-Orga-nisationsamt und war höchster Funktionär in der SK33. Larsen zeich-nete ab Mai 1940 auch verantwortlich für die besonders kämpferi-sche Rubrik „Unsere Stimme“ der „Nordschleswigschen Zeitung“34

und verfasste Artikel in der „Jungen Front“. Er wurde Chef desSelbstschutzkorps und arbeitete mit der nationalsozialistischen Ver-folgungsbehörde Sicherheitsdienst in Flensburg und Apenrade zu-sammen.35 Larsen übernahm im Kleinen politischen Rat den Auftragfür die Anwerbung neuer Kriegsfreiwilliger.36 Im „Volksgruppen-prozess“ erhielt er als einer der Hauptangeklagten eine Strafe von 15Jahren, in der Revision von 13 Jahren Gefängnis. Schon ab 1950 saßLarsen wieder für die Stadt Apenrade im Hauptvorstand der Minder-heit.37

� Der Bankkaufmann Peter Petersen schrieb mehrfach für die„Junge Front“ und wurde 1939 Sonderbeauftragter für Sport undLeibesübungen der NSDAP-N. Er fungierte später als Leiter des neuerrichteten Volksgruppenamtes, übernahm das Amt des Schatzwar-tes und wurde Mitglied und Protokollführer im Kleinen politischenRat.38 Für seine NS-Tätigkeit wurde der Zeitfreiwillige Petersenvom Gericht zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner ver-kürzten Haftzeit wurde er Mitglied im ersten BdN-Hauptvorstandund Chefrevisor der Minderheitenverbände.39 Bis 1971 blieb Peter-

29 Vgl. Junge Front 3 (1939) Nr. 1.30 Vgl. Rudolf Stehr, Neubeginn und kriti-sche Rückschau, in: Schriften der Heimat-kundlichen Arbeitsgemeinschaft für Nord-schleswig 43-44/1981, S. 84.31 Vgl. ebd., S. 14.32 Vgl. Hilke Lenzing, Die deutsche Volks-gruppe in Dänemark und das nationalso-zialistische Deutschland (1933-1939). EinBeitrag zur Problematik deutscher Volks-gruppen während des Dritten Reiches,Diss. Bonn 1973, S. 76.33 Vgl. Junge Front 6 (1942), Nr. 8,S. 15.34 Harboe Kardel, Fünf Jahrzehnte inNordschleswig. Ein Beitrag zur Geschichteder politischen Organisationen der deut-schen Volksgruppe in der Zeit von 1920bis 1970, Apenrade 1971, S. 176.35 Vgl. Åbenrå Bys Historie, Teil 3: 1864-1945, Apenrade 1974, S. 231 -234.36 Vgl. Junge Front 6 (1942), Nr. 2,S. 16.37 Vgl. Kardel, Fünf Jahrzehnte in Nord-schleswig (wie Anm. 34), S. 223.38 Lorek, Rechtsabrechnung – Retsopgør(wie Anm. 14), S. 398.

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sen Geschäftsführer der Knivsberggesellschaft, eine Aufgabe, die erschon im Jahr 1931 übernommen hatte.40

� Der Lehrer und Schriftsteller Hans Schmidt-Gorsblock beglei-tete den Nationalsozialismus mit poetischer Leidenschaft und flan-kierte von 1939 bis 1944 die fanatischen Veröffentlichungen der„Jungen Front“ mit seinen Gedichten und Geschichten, die in mehrals einem Dutzend Ausgaben erschienen. Über viele Jahre der NS-Zeit war Schmidt-Gorsblock Herausgeber des ebenfalls nazifiziertenJahrbuches „Deutscher Volkskalender für Nordschleswig“. Am Tagdes Einmarsches der Wehrmacht in Österreich verfasste Schmidt-Gorsblock ein Gedicht, in dem es am Ende heißt: „Früher ein Beten,nun Jubel zugleich: Ein Volk und ein Führer und ewig ein Reich !“41

Er las 1941 auf Führertagen der Deutschen Jungenschaft Nordsch-leswig in Tondern42 und veröffentlichte im Jahr 1943 die revisioni-stische Novelle „Der neunte April“. Nach dem Ende der „Ewigkeit“betrat Schmidt-Gorsblock während seiner Internierung im Fårhusla-ger als Gefangenensprecher die politische Bühne und wurde nachseiner Entlassung Mitglied im ersten Hauptvorstand des BdN. ImNovember 1948 hielt er die Hauptrede am ersten „Deutschen Tag“der Minderheit in Apenrade. In das BdN-Gremium „Grenzpoliti-scher Ausschuss“ wurde er im Mai 1949 berufen. Als „außerordent-liche Persönlichkeit“ blieb er auch noch nach 1950 im BdN-Haupt-vorstand und kandidierte im gleichen Jahr für die SchleswigschePartei zur Folketingswahl.

Ein Gemälde von A. Paul Weber zeigt denSchriftsteller und NS-Poeten Hans Schmidt-Gorsblock. Das Porträt des „großen deut-schen Nordschleswigers“ (Deutscher Volks-kalender für Nordschleswig 2008) ist seitJanuar 2007 in einem eigenen Schmidt-Gorsblock-Zimmer im Haus Nordschleswigin Apenrade zu sehen.

39 Vgl. Kardel, Fünf Jahrzehnte in Nord-schleswig (wie Anm. 34), S. 209.40 Vgl. Nachruf auf Peter Petersen, in:Deutscher Volkskalender für Nordschleswig1983, S. 102.41 Hans Schmidt-Gorsblock, Zum12. März 1938, in: Deutscher Volkskalen-der für Nordschleswig 1939, S. 16.42 Vgl. Junge Front 7 (1943), Nr. 5,S. 17.

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� Hans Schmidt-Oxbüll verlas im April 1933 vor der General-versammlung der Minderheit das „Manifest der Jugend“. In diesembegrüßte die deutschgesinnte Jugend Nordschleswigs den nationalenDurchbruch im Deutschen Reich als „den entschlossenen Willen,deutsche Ehre wiederherzustellen und die Freiheit zu erringen“.43

Auch als die NSDAP-N „in Liebe zur NS-Idee“44 mit ihrer ersten Er-klärung im August 1935 an die Öffentlichkeit trat, gehörte Schmidt-Oxbüll mit zu den Unterzeichnern. 1937 schlug ihn Gauleiter Hin-rich Lohse als einen von fünf Führern der deutschen Nordschleswi-ger vor. Zur Folketingswahl 1939 stand Schmidt-Oxbüll dann auchauf dem dritten Platz der Wahlliste der Schleswigschen Partei.45

Der Anschluss Österreichs an Deutschlandim März 1938 weckt „Heim ins Reich“-Gelüste in Nordschleswig und veranlasstden Schriftsteller Hans Schmidt-Gorsblockzum Verfassen dieses Gedichtes. Deutscher Volkskalender Nordschleswig,1939

43 Kardel, Fünf Jahrzehnte in Nordschles-wig (wie Anm. 34), S. 122.44 Ebd., S. 147f.

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Nach der Gefängniszeit im Fårhuslager wurde Schmidt-Oxbüll1950 Mitglied im Hauptvorstand des Bundes deutscher Nordschles-wiger und emsiger Kämpfer für eine Straferleichterung für Front-freiwillige. Im Juni 1951 begann seine neun Jahre währende Funkti-on als BdN-Hauptvorsitzender und am 22. September 1953 zog erals erster Abgeordneter der deutschen Minderheit nach der Beset-zung in den Folketing ein.� Pastor Johannes Schmidt-Wodder übernahm direkt nach derAbtrennung Nordschleswigs von Deutschland 1920 als herausragen-de Persönlichkeit der Minderheit den Vorsitz im SchleswigschenWählerverein und war bis 1939 der einzige Abgeordnete der Min-derheit im Folketing. Eine geistige Nähe zur Ideologie der neuenbraunen Herrschaft in Deutschland war unübersehbar. 1934 erklärteSchmidt-Wodder, dass er, trotz einiger Bedenken, mit „voller Über-zeugung die national-sozialistische Sache“ unterstützte. Sein Man-dat im Folketing wollte er dann auch „im Geist des Nationalsozialis-mus“ wahrnehmen.46 Im Herbst 1934 gründete Schmidt-Wodder dieDeutsche Front. Diese neue Organisation war nach nationalsozialis-tischem Muster aufgebaut, so dass Schmidt-Wodder seine Vertrau-ensleute auch nach dem Führerprinzip ernannte.47

1939 reichte er sein Zepter an Jens Möller weiter, der seinen Vor-gänger im Oktober 1942 mit dem NSDAP-N-Parteiabzeichen aus-zeichnete.48 1941 und 1943 bot Schmidt-Wodder der deutschen Be-atzungsmacht öffentlich seine Unterstützung an.49

Noch im Dezember 1944 verbreitete Schmidt-Wodder in der„Jungen Front“, für die er seit 1939 Artikel verfasste, Durchhaltepa-rolen: „Unsere Fronten stehen fest und werden jeden Tag stärker, dieErnährung ist gesichert (...). Neue Waffen werden geschmiedet (...)und unsere Führung, Hitler und sein Stab sind absolut siegesgewiß(...).“50

Nennenswerte Funktionen übernahm der fast 80jährige „Weglei-ter und Wegbereiter“ (Schmidt-Oxbüll über Schmidt-Wodder) nach1945 nicht mehr, doch in der deutschen Minderheit stieg er zur Iko-ne des „Deutschtums“ auf. � Der Prokurist Rudolf Stehr gehörte zu den fünf Personen, dieHinrich Lohse für die „Volksgruppenführung“ vorschlug und über-nahm im März 1938 die Leitung des neu eingerichteten Amtes fürPresse und Propaganda der NSDAP-N. Stehr war ein eifriger Rednerund sprach sowohl auf NSDAP-N-Großveranstaltungen als auch aufNSDAP-N-Abenden der Ortsgruppen. Er forderte in einem Plan zurVerteidigung und – wenn möglich – Erweiterung des deutschen „Le-bensraumes“ die „stärkste politische Konzentration der Volksgenos-sen in der NSDAP-N“.51 Der deutsche Gesandte in Dänemark, Cécilvon Renthe-Fink, beschrieb Stehr 1938 als einen Mann, der eine„militante politische Rolle“ als Propagandachef in der „offenenFeldschlacht spielt“.52 Durch Möller erhielt Stehr 1938 den Vorsitzim gerade verkleinerten Aufsichtsrat der „Nordschleswigschen Zei-tung“. Zusätzlich schrieb er von 1937 bis 1944 für die „JungeFront“. Zur Folketingswahl 1939 erhielt er den vierten Platz auf der

Hans Schmidt-Oxbüll ist in Nordschleswigein Nationalsozialist der ersten Stunde. Inden 1950er Jahren überträgt ihm die Min-derheit für neun Jahre den Hauptvorsitz imBund deutscher Nordschleswiger. Archiv/Historische Forschungsstelle derdeutschen Volksgruppe

45 Vgl. ebd., S.168.46 Ebd., S. 132.47 Vgl. Lenzing, Die deutsche Volksgrup-pe in Dänemark (wie Anm. 32), S. 91.48 Vgl. Junge Front 6 (1942), Nr. 11,S. 16.49 Tanja Bessler-Worbs, Deutsche Kultur-politik in Nordschleswig gegenüber derdeutschen Minderheit von 1920 bis 1955,Diss. Kiel 1997, S. 380.50 Junge Front, 8 (1944), Nr. 12, S. 6.51 Lenzing, Die deutsche Volksgruppe inDänemark (wie Anm. 32), S. 121.

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Kandidatenliste der Minderheit. Im gleichen Jahr übernahm Stehrauch die Leitung im Amt für Agrarpolitik der NSDAP-N. Im Mai1943 wechselte er nach Kopenhagen und wurde Leiter des deut-schen Kontors im dänischen Staatsministerium.

Stehr war im Februar 1948 einer der siebzehn Angeklagten imProzess gegen die „Volksgruppenführung“ und erhielt eine Strafevon zehn Jahren, in der Revision neun Jahren Gefängnis. Nach einerschnellen Begnadigung bekam Stehr die Leitung des BdN-General-sekretariats anvertraut, die er bis 1973 innehatte.� Der Schulleiter Harboe Kardel war schon in der nationalsozia-listischen Anfangsphase Funktionär bei der NSAN und wurde 1934Hauptschriftleiter, später Chefredakteur der „NordschleswigschenZeitung“.53 Er amtierte als erster Ortsgruppenleiter der NSDAP-N inGravenstein und übernahm eine Führungsposition in der Schleswig-schen Kameradschaft. Am 9. April 1940 hielt Kardel die Be-grüßungsrede im Deutschen Haus in Apenrade für die anwesendenMitglieder der deutschen Wehrmacht.54 Er war bis zur letzten Ausga-be ein fleißiger Autor der „Jungen Front“, wurde Reichsaußenminis-ter Joachim von Ribbentrop persönlich vorgestellt und galt währendder Rechtsabrechnung als Mitglied der „Volksgruppenführung“. Im„kleinen Nürnberger Prozess“ wurde er zu sechs Jahren Haft verur-teilt. Nach 1945 gewann Kardel Ansehen als heimatkundlicherChronist und Schriftsteller. Er verfasste ungezählte Beiträge für den„Deutschen Volkskalender“ und die Heimatkundliche Arbeitsge-meinschaft für Nordschleswig.

Der Aufarbeitungsprozess in der deutschen Minderheit. Vom demokratischen Neuanfang bis zum 20. Jahrestag der Kapitulation. Alssich im Herbst 1945 ein sehr heterogener Kreis, dessen Zusammen-setzung vom ehemaligen NS-Funktionär bis zum Nazigegner reich-te, traf, um über die organisatorische Zukunft der Minderheit zusprechen, ging es bald um das Selbstverständnis der neuzubildendenOrganisation. Schon bei der Ausarbeitung einer programmatischenErklärung kam es zum Disput zwischen einer Gruppe um den Ha-derslebener Kreis und einer Gruppe um Schmidt-Wodder. Streitge-genstand war die Formulierung einer Fünf-Punkte-Erklärung. DerKreis um Schmidt-Wodder forderte die Priorität des Bekenntnisseszum „Deutschtum“, zudem sollte die Grenzfrage nicht in der Er-klärung auftauchen. Auf der konstituierenden Sitzung der neuenHauptorganisation BdN am 22. November 1945 einigte man sich,nachdem einige Personen unter Protest die Versammlung verlassenhatten, schließlich auf eine Formulierung, die sich zumindest an dieHaderslebener Erklärung anlehnte; für eine Übernahme der gesam-ten Erklärung war die Minderheit noch nicht bereit. Die Loyalitätgegenüber dem dänischen Staat wurde an den Anfang der Erklärunggestellt. Eine deutliche Distanzierung vom Nationalsozialismus un-terblieb, aber man bekannte sich zur demokratischen Staatsauffas-sung und zur Ablehnung einer Politik, die nicht „mit den Grundsät-

52 Ebd., S. 144.53 Kardel, Fünf Jahrzehnte in Nordschles-wig (wie Anm. 34), S. 135, 192.54 Vgl. Åbenrå Bys Historie (wie Anm.35), S. 214.

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zen des Rechts, der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ vereinbar ist.Ein Bekenntnis zur „deutschen Kultur“ enthält erst Punkt 3 der Er-klärung.55

Trotz der neu proklamierten Offenheit kam es vorerst zu keineröffentlichen Auseinandersetzung über die eigenen nationalsozialisti-schen Machenschaften. Die neue Minderheitenzeitung „Der Nord-schleswiger“ stellte zwar fest, dass die deutschen Nordschleswigerihr eigenes „Stalingrad erlitten“ hätten und trotzdem „als Deutschesprechen können, während viele Millionen deutsch gesinnter Men-schen in anderen Ländern ihre Heimat verlassen müssen“56, doch imSchatten der Rechtsabrechnung vermied es der mit belasteten Per-sönlichkeiten durchsetzte BdN tunlichst, über die Verantwortung deralten Minderheitenführung zu sprechen. Als Begründung führte manunter anderem an, eine Auseinandersetzung mit dieser Frage könneeine Spaltung der Organisation und der Minderheit insgesamt auslö-sen.

In seiner auf die NS-Verarbeitung orientierten Artikelserie„Fluch der Maßlosigkeit“ von 1946 erkannte der „Nordschleswi-ger“-Chefredakteur und ehemalige Nationalsozialist Ernst SiegfriedHansen den deutschen Weg als „Irrweg“ an, argumentierte aber inOpferhaltung und volksbezogen, dass die Deutschen und auch diedeutsche Minderheit „keinen historischen Notwendigkeiten zumOpfer fielen, sondern einem bis zur äußersten Konsequenz durchge-führten Glücksspiel, zu dem kein Mensch das Recht hat, wenn dierollende Kugel die Blüte eines Volkes, seine Städte und Dörfer undsein kulturelles Erbe zermahlt“.57

Dem Dachverband der deutschen Minderheit fiel es schwer, denbraunen Boden zu verlassen, vielmehr besann man sich alterFreundschaften und ließ zum Beispiel den ehemaligen FlensburgerOberbürgermeister Ernst Kracht – inzwischen Staatssekretär undLeiter der Landeskanzlei der schleswig-holsteinischen Landesregie-rung – auf dem Deutschen Tag 1953 in Hadersleben, nebenSchmidt-Wodder, sprechen. Kracht war 1936 der Wunschkandidatvon Gauleiter Lohse für den Posten des Oberbürgermeisters gewe-sen und hatte in Personalunion auch die Vorsitze des Schleswig-Hol-steinischen Heimatbundes und des Vereins für das Deutschtum imAusland inne.

Auch nach der Stabilisierungsphase des BdN, die spätestens mitder Bonn-Kopenhagener-Erklärung von 1955 ihren Abschluss fand,war innerhalb der Organisation von kritischer Auseinandersetzungmit der NS-Zeit zumindest öffentlich keine Rede. Über entsprechen-de Äußerungen oder Veröffentlichungen des Hauptvorsitzenden der1950er Jahre, Hans Schmidt-Oxbüll, ist trotz der bilateralenAnnäherung Dänemarks und Deutschlands nichts bekannt. Der spä-tere langjährige stellvertretende BdN-Hauptvorsitzende Dieter Wer-nich bezeichnete die Haltung Schmidt-Oxbülls gegenüber einer Auf-arbeitung als „gleichgültig“58. Selbst als sich das Besatzungsendezum zehnten Mal jährte, hüllte sich die Minderheit bezüglich der ei-genen Verantwortung in Schweigen. „Der Nordschleswiger“ erin-

55 Lorek, Rechtsabrechnung – Retsopgør(wie Anm. 14), S. 512ff.56 Der Anfang, in: Der Nordschleswiger,2.2.1946, S. 1.57 Ernst Siegfried Hansen, Fluch derMaßlosigkeit, in: Der Nordschleswiger,2.2.1946, S. 5.58 Interview des Verfassers mit DieterWernich, 22.6.2007, Tondern.

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nerte sich am 4. Mai 1955 lediglich an Dänen im „Siegesrausch“und Deutsche, die „Spießruten laufen“ mussten.59

In den 1950er Jahren erschienen nur zwei nennenswerte Bücher,die sich mit der NS-Vergangenheit der Minderheit beschäftigen.60

Zum einen veröffentlichte Pastor Schmidt-Wodder im Jahre 1951mit der Schrift „Von Wodder nach Kopenhagen, von Deutschland zuEuropa“ seinen Beitrag zur Auseinandersetzung. In dieser Darstel-lung seines politischen Werdegangs deutet der Autor die BesetzungDänemarks als „Katastrophe“, die weder „klug noch gut“ gewesensei. Hitler habe seine Skrupellosigkeit „von den Engländern gelernt“und die Gestapo-Aktivitäten seien „kein deutsches Gewächs“, son-dern „bolschewistische Methoden“ gewesen. Schmidt-Wodder mo-niert zwar die mangelnde Kritikfähigkeit des Nationalsozialismus,bedauert aber gleichzeitig, dass „die Welt (...) sich allerdings heutein eine Wut gegen den Nationalsozialismus hineingeredet“ habe. Erwolle sich nicht durch „eine scharfe Verurteilung“ ein „gutes Ge-sicht“ verschaffen, denn die Hoffnung der Anhänger sei „echt undrein“ gewesen. Die „Gleichschaltung und den Gesinnungszwang“des Nationalsozialismus bezeichnet Schmidt-Wodder als „un-deutsch“ und als „Sündenfall“, aber „seine Erziehung zu Opfersinnund Kameradschaft ist das echte Erbe, das von uns weitergeführtwerden soll“. Die strafrechtliche Verfolgung belasteter Nordschles-wiger beschreibt er kompromisslos als „eine der übelsten Rechtsver-drehungen“ und „unverzeihliche Unterminierung des Rechtsbe-wußtseins“.61

Zum anderen war es der dänische Historiker Troels Fink, der mitseiner „Geschichte des schleswigschen Grenzlandes“ 1958 einenersten wissenschaftlichen Beitrag über die Beziehung der deutschenMinderheit zum Nationalsozialismus in deutscher Sprache veröf-fentlichte. Troels Finks Arbeit wurde von der Minderheit zunächstnicht angenommen, da er durch seine Tätigkeit als Sachverständigerin Verfahren der Rechtsabrechnung als Gegner der Deutschen galt.

Auch als Harro Marquardsen 1960 das Amt des BdN-Hauptvor-sitzenden übernahm, entwickelte sich innerhalb der Minderheit nochkeine kritische, geschweige denn konstruktive Auseinandersetzungmit der eigenen NS-Geschichte. Stattdessen kam es 1962, bei derEinweihung des „Knivsberg-Ehrenhains“ für die vermissten und ge-fallenen deutschgesinnten Soldaten beider Weltkriege, zu einer selt-samen Interpretation durch Marquardsen. Der ehemalige Zeitfrei-willige stellte in seiner Rede absurderweise fest, dass „die Namender Gefallenen und Vermissten, die auf Bronzetafeln verzeichnetsind“, die Lebenden mahnten, „weiterhin alles zu tun, um unserenordschleswigsche Heimat (...) mit deutschem Leben zu füllen“.62

Als Fortschritt kann hingegen eine Arbeit gewertet werden, dieDieter Wernich 1963 verfasste. Der Sohn des ersten gewählten BdN-Hauptvorsitzenden Nils Wernich beschäftigte sich darin mit dem„Problem der ‚Unbewältigten Vergangenheit’ und dem zeitge-schichtlichen[n] Unterricht in den Abgangsklassen der VolksschulenNordschleswigs“. Er stellt fest, dass Nordschleswiger den National-

59 Der Nordschleswiger, 4.5.1955, S. 3.60 Zwei historisch-politische Veröffentli-chungen von Ernst Siegfried Hansen erhiel-ten zwar eine hohe Aufmerksamkeit, the-matisieren die Minderheit in der NS-Zeitaber nur am Rande. Vgl. Ernst SiegfriedHansen, Kurier der Heimat. Das Spiel umSchleswig zwischen Kapitulation und Pro-gramm Nord, Bielefeld 1955; ders., Dis-teln am Wege. Von der Besetzung Däne-marks bis zu den Bonner Erklärungen, Bie-lefeld 1957.61 Johannes Schmidt, Von Wodder nachKopenhagen, von Deutschland zu Europa.Mein politischer Werdegang, Flensburg1951, S. 6, 190, 193, 195, 210, 230.62 Harro Marquardsen, Rede vom18.8.1962 auf dem Knivsberg bei Apenra-de, in: Schriften der Heimatkundlichen Ar-beitsgemeinschaft für Nordschleswig43/44 (1981), S. 78.

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sozialismus „offensichtlich noch durch eine andere Brille betrach-te[n]“. Die „besondere Verpflichtung zur Überwindung der unbe-wältigten Vergangenheit“ wird hervorgehoben, aber gleichzeitig als„fast unlösbare Aufgabe“ angesehen, da das „eigene Verhalten in derbösen Zeit“ nicht begriffen werde.63

Diese Einschätzung fand am 25. Jahrestag der Besetzung, am9. April 1965, im „Nordschleswiger“ ihre Bestätigung. Der Autordes Leitartikels schrieb zwar von einem „schmerzlichen Tag“, zerrteaber auch die alten Argumente wieder ans Tageslicht und behaupte-te, dass „die alliierte Kriegsführung entschlossen [war], im Nordeneine Front zu schaffen“. Diese Perspektive mündete dann in revan-chistische Äußerungen und gipfelte in der Behauptung, dass „so ge-sehen“ der Einmarsch der deutschen Wehrmacht die Menschen inDänemark vor Schlimmeren „verschonte“.64

Von Gerhard Schmidt bis zum Ende der Identitätsdebatte. Als 1973 mit Ger-hard Schmidt ein erster Hauptvorsitzender die politische Bühne be-trat, der während der NS-Zeit noch im Kindesalter gewesen war, undder Posten des Generalsekretärs mit einer Person aus der Nach-kriegsgeneration besetzt wurde, schien die Mauer des Schweigens

Eine kaum beachtete Pionierarbeit zur Pro-blematik der „Unbewältigten Vergangen-heit“ verfasst 1963 der spätere stellv.BdN-Vorsitzende Dieter Wernich. 1987thematisiert Wernich die mangelnde Aufar-beitung bei seiner Rede auf dem Knivs-bergfest, erntet dafür massive Kritik, vitali-siert aber die Aufarbeitungsdebatte.Frontseite der Wernich-Arbeit

63 Dieter Wernich, Das Problem der „Un-bewältigten Vergangenheit“ und der zeit-geschichtliche Unterricht in den Abgangs-klassen der Volksschulen Nordschleswigs,Examensarbeit, eingereicht über den Deut-schen Schul- und Sprachverein Nordschles-wig beim Kultusministerium in Kiel zurzweiten Lehrerprüfung, Tondern 1963,S. 2, 78, 106.64 Der Nordschleswiger, 9.4.1965, S. 2.

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langsam zu bröckeln. Dafür sorgten allerdings eher Akteure außer-halb der Minderheit. Schon 1970 war die deutsche Übersetzung ei-nes Grundlagenwerkes des schwedischen Historikers Sven Tägilüber „Deutschland und die deutsche Minderheit in Nordschleswig“veröffentlicht worden. Diese „Studie zur deutschen Grenzpolitikvon 1933-1939“, ferner die Bonner Dissertation von Hilke Lenzingaus dem Jahr 1973 über die deutsche Minderheit während des „Drit-ten Reiches“ und Johan Peter Noacks „Det tyske mindretal i Nord-slesvig under besættelsen“ (Die deutsche Minderheit in Nordschles-wig unter der Besatzung) aus dem Jahr 1974 lieferten grundlegendeInformationen über die Verquickung von Minderheit und National-sozialismus für die zukünftige Auseinandersetzung.

Auch aus der Minderheit erschien ein Beitrag zur Geschichte,der sich auch mit den politischen Organisationen der deutschenNordschleswiger aus der Nazizeit beschäftigt. Verlegt durch die Hei-matkundliche Arbeitsgemeinschaft für Nordschleswig, veröffent-lichte ausgerechnet der ehemalige NS-Funktionär Harboe Kardelseine Erinnerungen an „Fünf Jahrzehnte in Nordschleswig“ (1971).Kardel beschreibt darin ohne kritische Distanz den Zwiespalt einesNordschleswigers zwischen seinen staatlichen und seinen „volkli-chen“ Pflichten und bittet darum, „nicht vorschnell über den Heim-deutschen den Stab [zu] brechen“. Entschuldigend stellt er fest, dieVolksgruppe habe das, was geschah, hinnehmen müssen „wie derKüstenbewohner im Westen eine Sturmflut über sich ergehen las-sen“ müsse. „Es gab keine Alternative.“65 Er erläutert dann ausführ-lich die anfängliche Disharmonie innerhalb der nationalsozialis-tischen Strömungen in Nordschleswig und beschreibt diese als „eineder dunkelsten Episoden in der Geschichte der Volksgruppe“. In völ-liger Verkennung der historischen Fakten analysiert Kardel dieGleichschaltung als „Sieg der gemäßigten Linie“ und schreibt: „DieEinigung war gelungen. Aber überall im Lande gab es NS-Gegner,die weiter abseits standen und sich nur an den unpolitischen Arbeits-zweigen der Volksgruppe und den Wahlen beteiligten.“66 Für dieGleichschaltung dankt er dem „Volksgruppenführer“ Möller, dessen„ruhige, zielbewußte auf Nordschleswig ausgerichtete Politik“ be-gonnen habe, „Früchte zu tragen“. In seinem Nachfolgewerk„Grenzlandmelodie in Dur und Moll“ (1975) erkannte Kardel dannzumindest den Nationalsozialismus als „das größte Unglück“ an.67

Im gleichen Zeitraum entwickelte sich in der deutschen Minder-heit eine Diskussion um die Frage, ob die deutsche Jugend in Nord-schleswig ein Identitätsdefizit aufweise. Es wurden Diskussionen im„Nordschleswiger“ geführt, die auch langsam zur Einsicht führten:„Wir müssen lernen, über unsere Vergangenheit miteinander redenzu können“.68 Troels Fink empfahl der Minderheit „eine intensivehistorische Diskussion unter der Aufgabe der Tabus, die lange eineöffentliche Aussprache über das Verhältnis der älteren Generationder Minderheit zum Nationalsozialismus verhindert habe“69. In derJubiläumsrede zum 30. Jahrestag der Gründung des BdN auf demDeutschen Tag 1976 in Tingleff beklagte Ernst Siegfried Hansen

65 Kardel, Fünf Jahrzehnte in Nordschles-wig (wie Anm. 34), S. 134.66 Ebd., S. 161.67 Harboe Kardel, Grenzlandmelodie inDur und Moll. Erlebnisse und Beobachtun-gen eines Journalisten auf dem deutsch-dä-nischen Parkett, Neumünster 1975, S. 14.68 Interview im Nordschleswiger zwi-schen Troels Fink und Ernst Siegfried Han-sen, hier zit. nach dem Nachdruck in:Grenzfriedenshefte 1/1973, 1, S. 35ff.69 Peter Hopp, Zum Stand einer Geschich-te der deutschen Minderheit Nordschleswignach 1920, in: Die Heimat. Zeitschrift fürNatur- und Landeskunde von Schleswig-Holstein und Hamburg 83 (1976) 2, S.43.

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dann auch, dass eine „Notsituation der deutschen Minderheit zwi-schen Kapitulation und (...) Rechtsabrechnung die freie und offeneVergangenheitsbewältigung blockierte“70.

Die Identitätsdebatte löste im Frühjahr 1975 – in Kombinationmit einer Diskussion über den Kameradschaftsverband Nordschles-wig, einen Zusammenschluss ehemaliger Soldaten und Kriegsteil-nehmer – eine Leserbriefdebatte aus. An dieser ersten, scharfen undoffen ausgetragenen Auseinandersetzung über den internen Umgangder Minderheit mit der nationalsozialistischen Vergangenheit betei-ligten sich auch Persönlichkeiten wie Stehr und Schmidt-Oxbüll.Die Kontroverse mündete in einer Tagung der HeimatkundlichenArbeitsgemeinschaft für Nordschleswig im November 1976 in derAkademie Sankelmark. Dort setzte sich eine Podiumsdiskussion mitRudolf Stehr, Peter Callesen und Vertretern der jüngeren Generationin einer „lebhafte[n] Aussprache über die Jahre 1933–1945“ unteranderem mit zwei Fragen auseinander:71

� Was trug dazu bei, dass der größte Teil der Volksgruppe sich mitdem Nationalsozialismus identifizierte ?

� Haben wir wirklich die Vergangenheit bewältigt oder gibt esheute Restbestände, die nachgewiesenermaßen in der NS-Zeitentstanden und heute noch wirksam sind ?Mit ähnlicher Intensität wie bei der vorhergehenden Debatte ent-

stand 1977 eine weitere offen ausgetragene Auseinandersetzungüber den internen Umgang der Minderheit mit der nationalsozialisti-schen Vergangenheit. Den Anlass gab der „Deutsche Volkskalenderfür Nordschleswig“, der noch immer deutliche Parallelen zur Geis-teshaltung der Nazizeit aufwies. Die Aufmachung der traditionellvolkstümlichen und heimatkundlichen Jahresschrift aus der Zeit vor1945 ließ sich nur schwer von der Gestaltung nach 1945 unterschei-den, obwohl das Periodikum in treuer Verbundenheit zum National-sozialismus gestanden hatte. Auslöser für den Konflikt war unter an-derem ein Bericht in der Rubrik „Unsere Toten“ im Kalender 1977,für den immer noch der ehemalige NSDAP-N-Funktionär Peter Cal-lesen verantwortlich zeichnete. Traditionell wurde in dieser Rubrikder Toten des vergangenen Jahres gedacht und gemäß dem Motto,dass über Tote nicht schlecht gesprochen wird, fand sich in denKurzberichten zu den Verstorbenen kein kritisches Wort zu derenTaten von 1933 bis 1945. Selbst die fanatischen Vertreter der NS-Ideologie wurden hier mit einem netten Wort und oft noch einerWürdigung für den „vorbildlichen“ Einsatz bedacht.

Im Jahr 1977 erreichte die Ausblendung der Folgen der Nazi-herrschaft und die damit verbundene Verharmlosung im „Volkska-lender“ ihren Höhepunkt, als der verstorbene ehemalige SS-Haupt-mann und „Landesjugendführer“ für Nordschleswig, Johann Thori-us, in SS-Uniform abgebildet wurde. „Seine Kameraden und alle dieihn kannten“, bewahrten, so verkündet es der zugehörige Bericht,dem „geborene[n] Anführer“ mit „seinem Draufgängertum“ ein„treues Gedenken“.72 Des Weiteren findet sich ein 15-seitiger undtendenziöser Kriegsbericht eines nordschleswigschen Pastors in der

Vorangehende Seiten:Nicht nur in der Aufmachung waren langeZeit Parallelen zwischen den DeutschenVolkskalendern Nordschleswig vor undnach 1945 zu erkennen. Durch ein ehren-des Gedenken für einen SS-Hauptmannprovoziert der Kalender 1977 ungewollteine brisante Diskussion und belebt unab-sichtlich den Aufarbeitungsprozess inner-halb der Minderheit.

Rechte Seite:Ein kleiner Personenkreis um Kurt Seifertgibt ab 1978 die neue JahrespublikationNordschleswig – Berichte, Daten, Meinun-gen heraus. Dieses alternative Jahrbuchbeschäftigt sich mit dem Aufarbeitungspro-zess der Minderheit, nachdem 1977 eineskandalöse Ausgabe des Deutschen Volks-kalenders erschienen war.Archiv: Der Nordschleswiger, Apenrade

70 Ernst Siegfried Hansen, Festvortragvom Deutschen Tag 1975 in Tingleff, in:Grenzfriedenshefte 1/1975, S. 7.71 Heimatkundler tagten in Sankelmark,in: Der Nordschleswiger, 24.11.1976,S. 1 (Innenteil).72 Deutscher Volkskalender für Nord-schleswig 1977, S. 118.

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1977er Ausgabe, der mit den einleitenden Worten beginnt: „Diessoll nicht ein Beitrag zur vieldiskutierten ‚Bewältigung der Vergan-genheit’ sein. Wir haben damals im 3. Reich getan, was wir für rich-tig hielten. Es war gewiß nicht alles richtig, aber ich habe nicht dieAbsicht, mich dafür zu verantworten vor Solchen, die nicht dabeiwaren.“73

Daraufhin entbrannte hauptsächlich im „Nordschleswiger“ undin der dänischsprachigen Tageszeitung „Flensborg Avis“ erneut eineLeserbriefdebatte, die von ehemaligen Soldaten, alten NS-Funk-tionären, Lehrern, BdN-Funktionären, aber auch von dänischgesinn-ten Nordschleswigern und jungen Erwachsenen über vier Monateleidenschaftlich geführt wurde.

Die diskutierten Beiträge des „Volkskalenders“ und der darausresultierende Disput bewegten daraufhin einen Personenkreis umdie Lehrer Kurt Seifert und Philipp Iwersen, ab 1978 die neueJahrespublikation „Nordschleswig – Berichte. Daten. Meinungen“herauszugeben. Das alternative Jahrbuch sollte eine „geistige Aus-einandersetzung um kulturelle und politische Themenkreise“74 in-nerhalb der Minderheit ermöglichen. Unter dem Titel „Vergangen-heitsbewältigung – ein rotes Tuch ?“ dokumentiert und kommentiertes in seiner Erstausgabe ausführlich die Diskussion um den „Volks-kalender“ und stellt fest, dass die „Jugend, die nur ungenügend odergar nicht über die geschichtlichen Vorgänge und Hintergründe inVerbindung mit dem nationalsozialistischen Regime informiert wor-den ist, trotzdem jedoch das kulturelle und politische Erbe jener Zeitund derjenigen antreten muß, die damals Verantwortung trugen undheute nicht bereit sind, diese zuzugeben, geschweige denn, das eige-ne Verhalten einer kritischen Eigenbetrachtung zu unterwerfen“75.Die Autoren halten eine Übernahme des „Erbes“ nur für möglich,wenn:� die Verantwortlichen sich einer offenen Auseinandersetzung stel-

len,� die Medien sich auch für die Meinungen politisch und national

Andersdenkender offen halten,� abweichende Meinungen aus den eigenen Reihen akzeptiert wer-

den sowie� Sachlichkeit Vorrang hat vor polemischer Ereiferung.76

In den Zeitraum der Auseinandersetzung fiel auch eine erste öf-fentliche Veranstaltung zum Thema Minderheit und Nationalsozia-

Im Fach Geschichte klafft im Lehrplan von1962 für die Deutschen Schulen in Nord-schleswig eine bezeichnende Lücke. Diezweite Spalte gibt eigentlich den regional-geschichtlichen Bezug wieder.

73 Friedrich Jessen, Ein Nordschleswigererlebt den Krieg in Deutschland, in: ebd.,S. 18.74 Vorwort der Herausgeber (Kurt Seifert,Philipp Iwersen), in: Nordschleswig`78,S. 5.75 Kurt Seifert, Vergangenheitsbewälti-gung – ein rotes Tuch?, in: ebd., S. 71.76 Vgl. Ebd.

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lismus. Auf dem deutschen Jugendhof Knivsberg bei Apenrade fandunter der Leitung des Studiendirektors Immo Doege und Peter Hoppim Februar 1977 ein dreitägiges Historisch-Politisches Seminarstatt, an dem sich hauptsächlich Schülerinnen und Schüler des Deut-schen Gymnasiums Apenrade beteiligten. Themen waren der„Ostersturm“ von 1933, das Eindringen der NS-Bewegung nachNordschleswig und die Folketingsarbeit der deutschen Minderheitvon 1920 bis 1943. Die Ergebnisse des Seminars wurden in einemArtikel des „Nordschleswigers“ dokumentiert. In diesem wird dieNazifizierung der Minderheit nachgezeichnet und auch die „antise-mitischen Züge“ Schmidt-Wodders werden nicht verschwiegen. DasBlatt berichtet, dass Schmidt-Wodder „wie so zahlreiche andereDeutsche in dieser Zeit, entscheidend zum Nationalsozialismus prä-disponiert war“.77 Eine gute Resonanz ermutigte den Veranstalterzur Durchführung weiterer Seminare. Auch auf dem 2. und 4. Histo-risch-Politischen Seminar im Februar 1979 und März 1982 stand„Nordschleswig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945“ aufder Tagesordnung. Ein 5. Seminar im Februar 1987, das zusätzlichdas Thema „Die deutsche Volksgruppe im 2. Weltkrieg (ca. 1939-1945)“ anbot, wurde wegen zu geringer Anmeldezahlen abgesagtund die Historischen-Politischen Seminare eingestellt.

Die Diskussionen um die NS-Vergangenheit gingen aber nocham Ende der 1970er Jahre weiter, auch angeregt durch die Ausstrah-lung der Fernsehserie „Holocaust“ im Jahre 1979. So beschäftigtesich zum Beispiel ein Vortrag von Ernst Siegfried Hansen auf demDeutschen Tag 1978, den der „Nordschleswiger“ im vollen Wortlautveröffentlicht, ausführlich mit den Ereignissen und Emotionen derNS-Jahre in Nordschleswig.78 Auch wenn Hansen bei seinem Auf-tritt von einer fiktiven „schweigenden Mehrheit“ im Jahr 1933spricht, die „möglicherweise“ Grenzrevisionsforderungen abgelehnthabe, und auch die Kardelsche Behauptung wieder nährte, wonach

Einen Beschäftigungsauftrag über die NS-Zeit in Nordschleswig gibt es lange nicht.Erst 1987 findet das Thema seinen Weg inden Lehrplan.

77 Der Nordschleswiger, 18.2.1977, S. 1(Innenteil).78 Ernst Siegfried Hansen, Die Grenzfragewährend des Zweiten Weltkrieges, in:Grenzfriedenshefte 1/1979, S. 24.

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die „gemäßigte nationalsozialistische Richtung in der Volksgruppeans Ruder“ gekommen sei, fand scheinbar die Einsicht der Notwen-digkeit einer Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheitlangsam einen Weg in das Bewusstsein der deutschen Nordschleswi-ger.79

Ernüchterung stellte sich aber bei historisch-kritischen Beobach-tern vorerst wieder ein, als es im Herbst 1979 zu einem Konfliktzwischen der Schleswigschen Partei und den Centrumsdemokraten(CD) kam. Sechs Jahre war es für die SP möglich gewesen, einenVertreter der eigenen Partei über die Liste der CD ins Folketing zuentsenden. Mit Peter Wilhelmsen sollte es nun für die nächste Legis-laturperiode eine Person werden, die in jungen Jahren Mitglied inder Waffen-SS war. Die CD lehnte dieses Ansinnen ab, was von Tei-len der deutschen Minderheit eine „unverschämte Agitation gegendie CD“ zur Folge hatte, so der jüdische CD-FolketingsabgeordneteArne Melchior, der als Kind ein Opfer Nazideutschlands geworden

Eine „Identitätskrise“ innerhalb derdeutsch gesinnten Jugend führt Mitte der1970er Jahre in Nordschleswig zu einer„Identitätsdebatte“. In ihr wird eine Aus-einandersetzung über die eigene Naziver-gangenheit gefordert. Der Zeitungsaus-schnitt berichtet über das erste Historisch-Politische Seminar zur NS-Minderheitenge-schichte auf dem Knivsberg.Der Nordschleswiger, 16. Februar 1977

79 Ernst Siegfried Hansen, Die Volksgrup-pe während des Krieges, in: Der Nord-schleswiger, 4.11.1978, S. 2.

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war und sich nun „stark verletzt“ fühlte.80 Die hitzige Diskussion umden Fall Wilhelmsen brachte neue Schubkraft in die Debatte um dieeigene Vergangenheit. Im ersten Halbjahr 1980 fanden auf dem Ju-gendhof Knivsberg gleich neun Veranstaltungen statt, die sich mitden Jahren von 1933 bis zum Neuanfang 1945 auseinandersetzen.Die meist gut besuchten81 Themenabende beschäftigen sich mit den

Rudolf Stehr ist bis 1973 Generalsekretärim Bund deutscher Nordschleswiger. In Nordschleswig war Stehr ein führenderNationalsozialist.Archiv: Der Nordschleswiger, Apenrade

80 Interview mit Arne Melchior, in: DerNordschleswiger, 8.3.1980, S. 11.81 Jeweils 30 bis 40 Teilnehmer (vomSchüler bis zum Kriegsteilnehmer), teilwei-se auch mit dänischer Beteiligung, Briefvon Studiendirektor a.D. Imme Doege anden Autor, 21.7.2007.

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Frontfreiwilligen- und Zeitfreiwilligenkorps, der NS-Parteienviel-falt von 1933-1939, der NSDAP-N ab 1939, den Medien der NS-Zeit, der Rechtsabrechung und dem Neuanfang.82

1981 veröffentlichte dann der langjährige Generalsekretär Stehreinen ausführlichen Aufsatz mit dem Titel „Neubeginn und kritischeRückschau“. Stehr beschäftigte sich in dieser vielbeachteten Arbeitanhand seiner eigenen Biografie mit der NS-Vergangenheit der Min-derheit und der Rechtsabrechnung. Er stellt, entgegen dem allgemei-nen Bewusstsein, die Rechtsabrechnung deutlich als eine Folge desnationalsozialistischen Treibens der deutschen Nordschleswiger darund endet resümierend: „Schwerer als jede strafrechtliche Reaktiondurch den Staat wiegt für uns alle, die wir davon betroffen werden,die menschlich-politische Verantwortung für die Vergangenheit.“83

Bis dato hatten solche Aussagen aus den Reihen des BdN Selten-heitswert und sie wurden auch in den Folgejahren keine Selbstver-ständlichkeit. So sprach Gerhard Schmidt 1985 zum 40. Jahrestagdes Kriegsendes immer noch davon, dass es der Minderheit selbst inden Kriegsjahren nicht möglich gewesen sei, die „menschenfeindli-che Fassade des Nationalsozialismus“84 zu erkennen. 1981 gründetesich ein „Politisches Jugendforum für Nordschleswig“ und griff

Studiendirektor Immo Doege (l.) wurde1983 der erste Leiter der Historischen For-schungsstelle der deutschen Volksgruppein Apenrade und fördert die institutionelleBeschäftigung mit der NS-Vergangenheit.Im März 1985 besuchen Prof. Peter Wulf(M.) und Prof. Erich Hoffmann (beide CAUKiel) die Einrichtung.Archiv: Der Nordschleswiger, Apenrade

82 Siehe den Veranstaltungskalender in:Brücke. Zeitschrift des Deutschen Jugend-verbandes für Nordschleswig 4/1980.83 Stehr, Neubeginn und kritische Rück-schau (wie Anm. 30), S. 99.84 Der Nordschleswiger, 6.5.1985.

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auch das Thema Vergangenheitsbewältigung auf. Auf einer Tagungdes Jugendforums referierte zum Beispiel der ehemalige Kreisführerder Deutschen Jungenschaft Norschleswig (DJN), der nordschles-wigschen Kopie der Hitlerjugend, Heinrich Sievers, über die „Natio-nale Identität in der politischen Jugend von 1933 bis 1945“. In sei-nem Vortrag stellte sich Sievers dem „heißen Eisen“ und berichteteüber seine NS-Vergangenheit. Einerseits bekannte er sich „offen undehrlich“ zu seinem Engagement in der damaligen Jugendarbeit,er„stehe zu dem, was [er] damals tat“. Anderseits bekundete er nunaber „Schuldgefühle“ über seine „Personalunion“ als Lehrer und Ju-gendführer, denn „beide trichterten den Schülern und den Heran-wachsenden nationalsozialistisches Gedankengut ein“. Der Vortragvor den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welcher auch imJahrbuch „Nordschleswig ‘82“ dokumentiert wurde, endete aller-dings mit der relativierenden Erkenntnis, dass die Minderheit „voneinem Graben in den anderen gerutscht“ sei: von einer „zu schneidi-gen“ nationalistischen Haltung zu einer „zu laschen“ übereuropäi-schen Haltung.85

Mit der „Historischen Forschungsstelle der deutschen Volks-gruppe“ wurde dann 1983 in Apenrade eine Einrichtung eingeweiht,die sich institutionell mit der Erforschung der Minderheitenge-schichte beschäftigt. Unter der Leitung von Studiendirektor ImmoDoege sollten hier zukünftig, neben anderen Forschungsfeldern,„weitere Aufschlüsse über die politische Entwicklung innerhalb derdeutschen Volksgruppe von 1933-1945“ gesammelt und veröffent-licht werden.86 Dieses sollte durch historisch-politische Seminare,Zeitzeugenbefragungen, Auswertungen von Quellen und durch dieVeröffentlichung von Aufsätzen umgesetzt werden.

Während der „Nordschleswiger“ 1975 die runden Jahrestage desEinmarsches der deutschen Wehrmacht in Dänemark und der Befrei-ung nicht kommentiert hatte, bezeichnete der Autor des Leitartikelsder Zeitung vom 4. Mai 1985 den Überfall auf Dänemark nun als“völkerrechtswidriges Verbrechen“ und verbeugte sich vor den Op-fern mit „Respekt !“ Die „nationalsozialistisch-linientreue Politik“der Minderheitenführungen, so hieß es nun, habe zu „Irrungen undVerfehlungen“ geführt und die deutschen Nordschleswiger solltendie Einsicht gewinnen, dass die Deutschen nicht vor ihrer Geschich-te fliehen können – „und wir sollten es auch nicht wollen !“87 In dergleichen Ausgabe kamen dann auch deutsche Nordschleswiger alsZeitzeugen zu Wort, die über ihre Erfahrungen und Deutungen derNS-Zeit schrieben. Sich der „eigenen Vergangenheit zu stellen“,wurde der Minderheit auch auf einer BdN-Tagung im Januar 1986zur „Deutschen Identität“ in der Akademie Sankelmark empfohlen.Akademiedirektor Joachim Oertel verdeutlichte in seinen Aus-führungen, dass „das Bekenntnis zur eigenen Vorzeit in der Epochedes Nationalsozialismus“ erst die Möglichkeit eröffne,„Gegenwartsprobleme freimütig anzusprechen“88.

Dieter Wernich, der diesen Prozess schon 1963 von der Minder-heit gefordert hatte, nutzte die neue, grundsätzliche Aufarbeitungs-

85 Heinrich Sievers, Nationale Identität inder politischen Jugend von 1933 bis1945, in: Nordschleswig ‘82, S. 80ff.86 Immo Doege, zit. nach: Kurt Seifert,Historische Forschungsstelle in der Deut-schen Volksgruppe. Grußworte – Richtlini-en – Vorstellungen – Fragen, in: Nord-schleswig `84, S. 82.87 Der Nordschleswiger, 4.5.1985, S. 1.88 Der Nordschleswiger, 16.1.1986, S. 1(Innenteil).

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bereitschaft der deutschen Nordschleswiger und wagte im Juni 1987deren Thematisierung als Festredner auf dem jährlichen Knivsberg-fest. Wernich stellte einen „Nachholbedarf“ in der Minderheit festund forderte eine Beschäftigung mit der eigenen „erhebliche[n]Schuld“. Der BdN-Funktionär erklärte vor der Festgemeinde: „Inbezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit meine ich, dassman sich ihr auch hier in Nordschleswig voll und ganz stellen soll-te“. Wernich argumentierte unter anderem mit zwei Zitaten des da-maligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker:� „Wir müssen die Vergangenheit kennen, wir dürfen der Erinne-

rung gerade dort nicht ausweichen, wo sie schmerzt, wir brau-chen ein gemeinsames Grundverständnis darüber. Wenn ein Volknicht weiß, wie es zu seiner Vergangenheit steht, dann kann esleicht in der Gegenwart stolpern, dann hat es ein Identitätspro-blem.“

� „Nicht hinzusehen, das bedeutet Belastung. Aber sich der Ver-gangenheit zu stellen, das entlastet uns, das erleichtert uns fürunsere Gegenwartsaufgaben.“Weiter merkte Wernich an, dass „die Jugend einfach das Recht

hat, über die Zeit uneingeschränkt aufgeklärt zu werden“ und be-klagte: „Es ist immer noch erschütternd, wie leicht so mancher mitdieser Zeit fertig wurde und sich nach dem Kriege wie selbstver-ständlich wieder in einen Sessel der führenden Positionen setzte.“89

Für diesen Vorstoß erfuhr Wernich scharfe Kritik aus dem eige-nen Lager und sogar anonyme telefonische Drohungen. Man hieltihm „unglaubliche[n] Nestbeschmutzung“ vor. Günther Kley, der imRahmen der strafrechtlichen Verfolgung 37 Monate im dänischenGefängnis verbracht hatte, empfand es als „eine ungeheure An-maßung (...), von Verbrechen der Vergangenheit“ zu sprechen. Kleykonnte seinen Standpunkt ausführlich im „Nordschleswiger“ wie-dergeben, in dem dann auch zu lesen war: „Das ewige Geplärre vonden Jahren 1940 bis 1945 hängt meinen Jungs zum Halse heraus. Damüssten sich die Dänen immer noch schämen, wie die Wikinger ge-plündert, gemordet und geschändet haben ! Und die Briten sollten zujedem Jahrestag des Völkermords von Dresden Gott um Vergebungbitten“.90

Für die Festrede erhielt Wernich aber auch Anerkennung. In ei-ner privaten Stellungnahme heißt es: „Viele Nordschleswiger deut-scher Gesinnung würden sich gerne zur Volksgruppe bekennen,wenn man Ihre Gedanken Herr Wernich, mit der Grundhaltung derVolksgruppe in Übereinstimmung bringen könnte. (...) Ich bin Jahr-gang 1922 und erinnere mich sehr gut an die Gesinnung und an dieHandlungen der Volksgruppenführung in der Zeit vor und währenddes Kriegs. Schon wenige Jahre nach dem Kriege prägten sie wiederdie Volksgruppe, an ihrer Gesinnung und Grundhaltung hat sich we-nig geändert, nur der Ton ist anders geworden.“91

Von der Wiedervereinigung Deutschlands bis heute. Dass die Diskussion dervorhergegangenen 15 Jahre trotz aller Kontroversen auch Früchte

Rechte Seite:BdN-Funktionär Dieter Wernich mahnt,während einer Festrede auf dem Knivsbergim Juni 1987, die Minderheit öffentlichzur Auseinandersetzung mit der eigenenNS-Vergangenheit. Zu den Reaktionengehören Drohungen und Schmähungen.Archiv: Der Nordschleswiger, Apenrade

89 Dieter Wernich, Festrede zum Knivs-bergfest 1987, in: Der Nordschleswiger,20.6.1987, S. 2f. (Innenteil).90 Der Nordschleswiger, 20.6.1987, S. 1(Innenteil).91 Brief vom 23.6.1987 an Dieter Wer-nich, Archiv Wernich, Tondern.

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trug, zeigte 1990 eine Analyse in der BdN-Jahresschrift „Grenz-land“. In einer Zusammenfassung über die Politik der Schleswig-schen Partei von 1920 bis 1990 heißt es, dass Schmidt-Wodders na-tional ausgerichtete Politik, mit all ihren Facetten, dem Nationalso-zialismus den Boden bereitet habe: „Eine Volksgruppe mit diesemGedankengut konnten sie [die Nazis, T.M.] ohne Probleme ihrer‚Blut-und-Boden-Ideologie’ zuführen“.92

In einer weiteren BdN-Publikation aus dem Jahr der Wiederver-einigung wurde der Minderheit bescheinigt, diese sei 1938 von ei-nem „Gleichschaltungsbestreben“ erfasst worden, auch die „revisio-nistischen Rufe“ im Grenzland seien damals lauter gewesen als dieder NS-Führung. Es wurde anerkannt, dass sich die „überwiegendeMehrheit der deutschen Volksgruppe (...) auch während des Kriegesmit dem Vorgehen und den Zielen des Hitlerregimes identifizieren“konnte und „willig jedes Opfer brachte“93. Parallel zu diesen beidenoffiziellen Veröffentlichungen des BdN erschienen in den Schriftender Heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft die „Grundlinien derGeschichte der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig von 1920-1955“. Der Kieler Historiker Erich Hoffmann beschäftigte sich darinunter anderem mit der Gleichschaltung der deutschen Minderheit,dem Aufstieg der NSDAP-N in den Jahren 1933 bis 1940, mit derdeutschen Minderheit im Zweiten Weltkrieg und der Fortführungder Kulturarbeit während der NS-Zeit. Durch den Versuch einerDarstellung der zeitgenössischen Informations- und Emotionslagezielte Hoffmann darauf, die Begeisterung für den Nationalsozialis-mus zu erklären. Allerdings ist insgesamt eine Neigung zur Ver-klärung zugunsten der Nordschleswiger unverkennbar, wenn Hoff-mann annimmt, dass die Minderheit sich nicht an der „neuen Zeit“orientiert hätte, wenn ihr die Ziele des Nationalsozialismus bekanntgewesen wären. In seinem Aufsatz setzt der Autor scheinbar voraus,dass Hitlers Buch „Mein Kampf“ und die Reden der Naziführungden deutschen Nordschleswigern nicht bekannt waren. Hoffmannspricht hier auch von Minderheitenpolitikern, die erkannt hätten,dass sie „schamlos ausgenutzt und missbraucht“94 worden seien,sich aber aus der festen Umarmung der NS-Führung nicht hätten be-freien können. Einen Beweis für die Existenz solcher Politiker bleibtHoffmann dem Leser allerdings schuldig.

1993 erschien eine umfassende Dokumentation über den „Deut-schen Volkskalender“ im „Spiegel der Jahre“. Vom DeutschenSchul- und Sprachverein herausgegeben, schildert Schulrat PeterJ. Sönnichsen auf 90 Seiten die „Wege zum Abgrund (1933/45)“ und„Opfergang und Mahnung (1940/45).“95 Der Autor ist bemüht, dasEindringen der Naziideologie insbesondere in die Kulturarbeit derMinderheit und deren Folgen nachzuzeichnen. Obwohl hauptsäch-lich Quellen genutzt werden, die eine Verbindung zum „Volkskalen-der“ aufweisen und dieser auch im Zentrum der Betrachtung steht,bietet der Beitrag von Sönnichsen einen authentisch wirkenden Ein-blick in das Innenleben der nazifizierten Minderheit. Die „Schriftender Heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft“ publizierten 1995 ei-

92 Die SP von 1920-1990. 70 Jahre poli-tische Arbeit der deutschen Minderheit inNordschleswig, in: Grenzland 1990,S. 22.93 Günter Weitling, Die Heimdeutschen.Ursprung, Geschichte und Wesen, Apenra-de, Sonderburg 1990, S. 85-87.94 Erich Hoffmann, Grundlinien der Ge-schichte der deutschen Volksgruppe inNordschleswig von 1920 – 1955, in:Schriften der Heimatkundlichen Arbeitsge-meinschaft für Nordschleswig 61-62/1990, S. 29-60.95 Sönnichsen, Spiegel der Jahre (wieAnm. 9), S. 114-204.

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nen ersten wissenschaftlichen Beitrag, der sich explizit mit den Jah-ren 1933-1945 beschäftigt. Die Nordschleswigerin Ingrid Riese un-tersucht darin kritisch die Zeit der Nazifizierung, die Einstellung zurGrenze und die Jahre der Besetzung Dänemarks. Die Beiträge vonSönnichsen, Riese und weitere Veröffentlichungen der 1990er Jahremarkierten einen neuen Umgang mit der NS-Vergangenheit inner-halb der Minderheit.

Auch der neue, seit 1993 amtierende Hauptvorsitzende HansHeinrich Hansen signalisierte die Bereitschaft einer Auseinanderset-zung mit der eigenen NS-Zeit. Dass Hansen 1994 sogar am Grabvon Schmidt-Wodder anlässlich dessen 125. Geburtstages von ei-nem nationalsozialistischen Irrweg desselben sprach, verdeutlichtediesen Bewusstseinswandel.96 Im „Ehrenhain“ für die gestorbenenund vermissten nordschleswigschen Mitglieder der Wehrmacht undWaffen-SS auf dem Knivsberg sprach Hansen auf einer Gedenkstun-de des BdN zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegesvon einer „starken nationalsozialistischen Ausrichtung der deut-schen Volksgruppe“ und einer „historischen Mitverantwortung derdamaligen Führung der deutschen Volksgruppe, die sich weitgehendunreflektiert dem Nationalsozialismus in Deutschland angepassthatte“.97 Im Rahmen der Feierlichkeiten auf den Düppeler Schanzenzum 75. Jahrestag der dänischen Wiedervereinigung unterstrichHansen in seiner Rede die „Mitverantwortung für diese dunkle Peri-ode“98. Auch die Ausrichtung der „Ehrenhain“-Veranstaltungen än-derte sich jetzt. Während Schmidt-Oxbüll 1960 die Kriegstoten noch„an der Stätte ehren“ wollte, an der die „volkliche Gemeinschaft“zusammentrifft, und auch 1978 am Deutschen Tag beim „Ehren un-sere(r) Toten“ noch der Vierzeiler „Deiner Sprache – deinerSitte,/deinen Toten bleibe treu,/steh in deines Volkes Mitte,/was deinSchicksal immer sei“99 gemeinsam verkündet wurde, sprach Hansen2002 von einer Gedenkstätte für „alle“ verstorbenen Angehörigender deutschen Minderheit. Den Terminus „Ehrenhain“ hielt Hansenebenfalls für überholt und empfahl der Minderheit, „den Ehrenhainin Zukunft als Gedenkstätte zu bezeichnen“.100

1997 legte Tanja Bessler-Worbs ihre Kieler Dissertation „Deut-sche Kulturpolitik in Nordschleswig gegenüber der deutschen Min-derheit von 1920 bis 1955“ vor, in der sie sich auch intensiv mit derVerstrickung zwischen Minderheit und Nationalsozialismus ausein-andersetzt, so etwa mit der „Kulturpolitik und Kulturarbeit währenddes Nationalsozialismus“. Trotz des hohen Bedarfes an wissen-schaftlicher Forschung zur nationalsozialistischen Minderheitenge-schichte erfuhr diese objektive, gründliche und „unbelastete“ Arbeitallerdings nur eine mangelhafte Aufmerksamkeit und wurde nichtverlegt.

Auf reges Interesse stieß hingegen die Veröffentlichung von Sa-bine Loreks Studie „Rechtsabrechnung – Retsopgør“ (1998). DieEnkelin von Hans Schmidt-Oxbüll lenkte damit die Aufarbeitungder juristischen Abwicklung in sachliche Bahnen und schaffte es mitihrer Dissertation, der Strafrechtsdiskussion den Mantel der Pole-

96 Verdienste Schmidt-Wodders gewür-digt, in: Grenzland 1994, S. 17.97 Hans Heinrich Hansen, Ansprache beider Gedenkstunde im Ehrenhain Knivsbergam 5. Mai 1995, in: Grenzland 1995,S. 98ff.98 Der Nordschleswiger, 12.7.1995.99 Der Nordschleswiger, 7.11.1978.100 Der Nordschleswiger, 10.8.2002.

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mik, Verbitterung und des Selbstmitleides abzustreifen und somitauch für eine weitere Versachlichung des Umgangs mit der Zeit des„Dritten Reiches“ zu sorgen.

Auch im Deutschen Museum für Nordschleswig in Sonderburgstanden 2002 Veränderungen an: Eine neue Konzeption des damali-gen Museumsleiters Immo Doege ermöglichte eine ausgewogeneDarstellung der Jahre 1933 bis 1945. Zudem gelang es mit einerVielzahl von anschaulichen Exponaten, die NS-Geschichte in Nord-schleswig fassbar zu machen. Schon 1993, unter der Leitung vonGünter Weitling, hatte das 1988 eingerichtete Museum ein Lob derdänischen historischen Zeitschrift „Sønderjysk Månedsskrift“ erhal-ten, dass „der schwierige Loyalitätskonflikt der Minderheit in derNazizeit nicht verschwiegen“ werde und „eine befreiende Offenheitin der Geschichtsschreibung“101 festzustellen sei.

Zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges wurde so-wohl in der Führungsebene des BdN als auch bei den wichtigstenAkteuren der Minderheitenarbeit der Untergang des „DrittenReichs“ als „Befreiung aller Deutschen südlich und nördlich derGrenze“102 interpretiert. Der Hauptvorsitzende Hansen forderte ineiner Stellungnahme anlässlich des feierlichen Gedenktages „zu ei-nem kritischen Geschichtsbewusstsein“ auf und „einem Miteinan-der, das sich jeglicher Form von Zwang und Gleichschaltung ent-zieht“103.

Seit dem Jahr 2000 machte überdies die wissenschaftliche For-schung auf dem Gebiet der Aufarbeitung weitere Fortschritte. Einedeutsch-dänische Fachtagung, an der sich auch Historiker der Min-derheit beteiligten, beleuchtete unter anderem die Machenschaftender deutschen Minderheit im Nationalsozialismus. Darüber hinauserschienen einige grundlegende Studien, an denen die HistorischeForschungsstelle der Minderheit mit eigenen Beiträgen über die NS-Vergangenheit mitwirkte.104

Mit dem neuen Jahrtausend wurden in Nordschleswig erstmalsauch wissenschaftliche Anstrengungen zur Aufhellung von Teilbe-reichen der nationalsozialistischen Vergangenheit erkennbar. ImJahr 2003 veröffentlichten zum Beispiel die „Schriften der Heimat-kundlichen Arbeitsgemeinschaft“ einen ausführlichen Aufsatz vonBritta Bargfeldt über die Nazifizierung der deutschen Minderheit inTondern – ein seltener Beitrag zur Lokalgeschichte einer nord-schleswigschen Stadt im Nationalsozialismus.105 Den aktuellstenBeitrag zur Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit leistetePastor Günter Weitling, der 2007 seine historische Monografie„Deutsches Kirchenleben in Nordschleswig seit der Volksabstim-mung 1920“ publizierte. Weitling bearbeitete ebenfalls ein bisherweitgehend unangetastetes Feld und beschäftigte sich eingehend mitder kirchenpolitischen Kontroverse der Jahre 1933-1945 zwischenden liberalen Vertretern der deutschen Stadtpastoren in der däni-schen Volkskirche und den Pastoren der Nordschleswigschen Ge-meinde, die als Mitglieder der schleswig-holsteinischen Landeskir-che zu den nazifizierten Deutschen Christen neigten.

101 Deutsches Museum Nordschleswig,in: Grenzland 1993, S. 66.102 Der Nordschleswiger, 7.5.2005,S. 1.103 Der Nordschleswiger, 6.5.2005, S. 1(Innenteil).104 Historikertagung der EuropäischenAkademie Sankelmark und des Instituts fürschleswig-holsteinische Zeit- und Regional-geschichte (IZRG): „Minderheiten imdeutsch-dänischen Grenzland im National-sozialismus“, 4./5.2.2000; vgl.Bohn/Danker/Kühl, Zwischen Hoffnung,Anpassung und Bedrängnis (wie Anm. 1);Schultz Hansen/Kristensen, Sønderjylland(wie Anm. 13); Jørgen Kühl/Robert Bohn(Hrsg.), Ein europäisches Modell? Natio-nale Minderheiten im deutsch-dänischenGrenzland 1945-2005, Bielefeld 2005;Institut for Grænseregionsforskning, Syd-dansk Universitet (Hrsg.), København-Bonn Erklæringerne 1955-2005, Apenrade2005.105 Britta Bargfeldt, Die deutsche Volks-gruppe und der Nationalsozialismus – amBeispiel der Stadt Tondern in den dreißigerJahren, in: Schriften der HeimatkundlichenArbeitsgemeinschaft für Nordschleswig78/2003, S. 9-109.

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Ob Bargfeldt und Weitling nun das Signal für eine spezialisierteund intensive Aufarbeitung gegeben haben oder ob es sich nur umein Strohfeuer handelt und die vielen noch unbearbeiteten Felder dernordschleswigschen NS-Vergangenheit unangetastet bleiben, wer-den die kommenden Jahre zeigen.

Historische Bewertung. Während der Nachforschungen zu den Themen-komplexen „Die Minderheit und der Nationalsozialismus“ und „DieMinderheit und der Prozess der Aufarbeitung“ ist der Autor stetsdarauf hingewiesen worden, dass der Betrachter in dieser Angele-genheit nicht den „Blick für das historische Ganze“ außer Acht las-sen dürfe. In Gesprächen mit Zeitzeugen und Historikern der Min-derheit verdeutlichten diese immer wieder, man könne die Begeiste-rung der frühen NS-Jahre nur im Zusammenhang mit der Volksab-stimmung von 1920 verstehen und untersuchen.

Der Verfasser schließt sich grundsätzlich dieser Ansicht an undsieht die wesentliche Quelle des enormen Zuspruchs zum National-sozialismus ebenfalls in der Grenzfrage. Nur darf bezweifelt wer-den, ob diese Erkenntnis wirklich den „Blick für das historischeGanze“ umfasst. In der Sichtweise vieler deutscher Nordschleswigerscheint das „historische Ganze“ oft am Rande des Grenzlandes zuenden. Wenn man auch in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt zuder Einsicht gekommen ist, dass sich die Minderheit in Nordschles-wig bei der Besetzung Dänemarks an einem „völkerrechtswidrigenVerbrechen“106 beteiligte und dieses auch anspricht, so bleibt demverbreiteten Geschichtsbewusstsein bis heute scheinbar die Erkennt-nis fern, dass eine tiefe Verbundenheit zum NS-Staat, zum „Führer“,zur Ideologie, zum Antisemitismus, zur „Volksgemeinschaft“, zumHass gegen Bolschewisten und Engländer und eine Faszination fürdie Mythen, Kulte und Inszenierungen der Nationalsozialisten vor-handen war.

Insbesondere ist ins Bewusstsein noch nicht vorgerückt, dassman freiwillig, als angegliederte Struktur, den barbarischsten Krieg,eine industrielle Vernichtungsmaschinerie mit rund 50 Millionen To-desopfern und Abermillionen zerstörter Seelen unterstützte. Derständige Verweis der Minderheit auf ihre angebliche Opferrollewährend der strafrechtlichen Verfolgung im Rahmen der Rechtsab-rechnung muss bei den Opfern der NS-Terrorherrschaft auf Unver-ständnis und Ablehnung stoßen.

Die jahrzehntelange Klage über die Internierungen im Fårhusla-ger klingt für den objektiven Beobachter nicht angemessen. EinBlick auf das Schicksal anderer deutscher Minderheiten in ehemalsbesetzten Ländern und die Möglichkeit einer kulturellen und politi-schen Reorganisierung sollte die Minderheit im Nachhinein eher zuNachdenklichkeit veranlassen. Typische und auch nachvollziehbareReaktionen der befreiten Länder und ihrer Bevölkerungen wie er-zwungene Umsiedlungen, Enteignungen von Privateigentum undLynchjustiz blieben den Deutschen in Nordschleswig erspart. 106 Der Nordschleswiger, 7.4.1990.

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Die einzelnen Demütigungen bei Festnahmen, das eine oder an-dere zweifelhafte Urteil107 und die temporäre Aberkennung der Bür-gerrechte sind natürlich schmerzlich für die Betroffenen gewesen,doch können sie in Anbetracht der damaligen Gesamtumstände alsdurchaus nachvollziehbar bezeichnet werden. Auch wenn die deut-schen Nordschleswiger berechtigterweise darauf hinweisen können,dass es nach dem 9. April 1940 ihrerseits keine Entfesselung der Ge-walt gab, resultiert daraus noch lange nicht das Anrecht, sich seineStrafe selber aussuchen zu können. Wer sich einem mörderischenSystem anschließt, das einen zerstörten Kontinent hinterlässt, solltenicht im Anschluss von einer unausgewogenen Rechtssituation spre-chen.

Zu selten wird in die Beurteilung der direkten Nachkriegszeitauch das Faktum mit einbezogen, dass es die Deutschen selber wa-ren, die 1944 die dänischen Ordnungskräfte in Frøslev interniertenund später auch nach Neuengamme und Dachau verschleppten undermordeten. Durch diesen eklatanten Eingriff in den Polizeiapparaterschwerten die Deutschen einer rechtlich korrekten Behandlungnach dem 5. Mai 1945 also selbst den Weg.

Bedauerlich in diesem Zusammenhang ist vielmehr, dass die Er-fahrungen von Fårhus der Minderheit scheinbar die klare Sicht aufden Gesamtkontext nahmen. Die Erkenntnis über die Dimension dernationalsozialistischen Verbrechen schaffte es viele Jahre nicht, indas Bewusstsein der Minderheit vorzudringen. Allein der jahrzehn-telange distanzlose und unkritische Umgang mit dem Nationalsozia-

Im November 1983 besucht der DeutscheLehrerverein für Nordschleswig das ehema-lige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.Archiv: Der Nordschleswiger, Apenrade

107 Zum Beispiel wurden für Pförtner-tätigkeiten die gleichen Strafen ausgespro-chen wie für eine Kriegsteilnahme.

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lismus im „Deutschen Volkskalender für Nordschleswig“ belegt die-se Tatsache. Die eigene Mitverantwortung und somit Mittäterschaftan der gigantischen NS-Mordmaschinerie mag man sich auch heutenur in Ausnahmefällen eingestehen. Die befreiende Wirkung einessolchen Eingeständnisses blieb der Minderheit daher bis dato ver-wehrt.

Hoffnungen machen aber die Veröffentlichungen der Histori-schen Forschungsstelle aus den letzten Jahren. Diese offizielle Ein-richtung spricht inzwischen ungeschminkt über personelle Konti-nuitäten und darüber, dass es der Minderheit nach dem Krieg nicht„in den Sinn“ kam, „Reue oder Verantwortung“ für die NS-Vergan-genheit zu zeigen oder zu übernehmen.108

Der Prozess der Aufarbeitung in Nordschleswig stand von Be-ginn an unter keinem guten Stern. Die Rechtsabrechung und die All-gegenwart von ehemaligen Nazischergen blockierten bis in die1970er Jahre eine ernstzunehmende Auseinandersetzung. Zeitzeu-gen sprachen gegenüber dem Verfasser davon, dass „Nazilehrer“und „alte wichtige Männer“ eine Beschäftigung mit der NS-Zeit er-schwerten und auch progressive Kräfte allein durch die Anwesenheitdieser Männer sich darin gehindert sahen, sich an der Neugestaltungder Minderheit innerhalb des BdN zu beteiligen.109 Etliche (ehemali-ge) Angehörige der Minderheit waren, aufgrund der Präsenz der be-lasteten Personen, nicht bereit, sich in die Minderheitenarbeit einzu-bringen und verweigerten teilweise ihre Beteiligung an Aktivitätender Minderheit.110

Erst in der Mitte der 1970er Jahre, also nach dem Abtreten lei-tender Funktionäre der Minderheit wie Rudolf Stehr, verhalfen „re-bellische“ Kräfte dem versäumten Prozess der Aufarbeitung auf dieAgenda der Minderheit.

Vitalisiert wurde die Debatte dabei insbesondere durch die Iden-titätskrise der Jugend innerhalb der Minderheit, die Auseinanderset-zungen um die Veröffentlichung des unsäglichen „Deutschen Volks-kalenders für Nordschleswig“ von 1977, die Wilhelmsen-Kontro-verse 1979 und durch die Rede Dieter Wernichs auf dem Knivsberg-fest 1987.

Rund eineinhalb Jahrzehnte lang wurde nun teilweise heftig übereine Aufarbeitung und ihre Hintergründe gestritten, dabei wurde derPfad des Dialoges unter den Streitparteien aber nur in Ausnahmefäl-len verlassen. Auf einigen Tagungen und Seminaren, Ende der1970er und Anfang der 1980er Jahre, befassten sich ehemalige NS-Funktionäre und Vertreter nachfolgender Generationen gemeinsammit der NS-Vergangenheit, insbesondere Rudolf Stehr stellte sich inseinem Ruhestand dem Nachwuchs der Minderheit für Gesprächezur Verfügung. Ob solche Kooperationen einer objektiven Aufarbei-tung dienlich waren oder ob sie durch den Aufbau von persönlichenBeziehungen eine nötige Distanz und ein kritisches Bewusstseineher behindert haben, bedarf vertiefter Forschungen.111 Zumindeststellten die gesprächsbereiten Personen der NS-Zeit wichtige Quel-len für die Umorientierung im Umgang mit dieser Geschichte dar.

108 Frank Lubowitz, Die deutsche Min-derheit in Dänemark 1945-1955, in:Kühl/Bohn, Ein europäisches Modell?(wie Anm. 104), S. 97.109 Interviews des Verfassers mit DieterWernich (Tondern, 11.6.2007) und StDi.R. Volker Lindemann (Apenrade,19.6.2007).110 Bei der Erstellung der Festschrift zum50. Jubiläum des Deutschen Gymnasiumsin Apenrade, 1980, wiesen verhältnis-mäßig viele ehemalige Schüler die Anfragenach einem Beitrag über die Jahre 1930bis 1945 ab, da sie befürchteten, dasseine reflektierte Rückschau ausbleibt. In-terview mit StD i.R. Volker Lindemann(19.6.2007, Apenrade).111 Der ehemalige NSAN-Führer Jep Nis-sen spricht 1977 bezüglich der Beteiligungehemaliger NS-Funktionäre an einer histo-rischen Aufklärung von einer „Selbstvertei-digung“ und erkennt keine historische Auf-arbeitung, Brief vom 20.2.1977 an dieVeranstalter der Historisch-Politischen Se-minare, Archiv Deutsches Schulmuseum.

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Der Zeitraum von 1978 bis 1981 kann somit wohl als bisherigerHöhepunkt der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit inNordschleswig gewertet werden. Ende der 1980er Jahre erlahmtendie Auseinandersetzungen und die Standpunkte der Streitparteiennäherten sich an, mitunter fanden sie einen Ausgleich, sodass derProzess der Aufarbeitung in einem ruhigeren Fahrwasser stattfindenkonnte. Es bleibt zu hoffen, dass insbesondere nordschleswigscheHistoriker in Zukunft die Aufarbeitung weiter vorantreiben werden.Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen und öffentliche Ver-lautbarungen von führenden Persönlichkeiten der Minderheit ausden letzten Jahren deuten jedenfalls auf eine akzeptable Grundlagefür einen weiteren Wandel im Umgang mit der NS-Vergangenheit inNordschleswig hin.

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