Die Geldpolitik der EZB in Zeiten der Finanz- und ... · 3 Teil G: Die Geldpolitik der EZB in der...

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Die Geldpolitik der EZB in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise Autoren: Karl-Josef Burkard, Stefan Grohs, Gottfried Kögler

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Die Geldpolitik der EZB in Zeiten

der Finanz- und Wirtschaftskrise Autoren: Karl-Josef Burkard, Stefan Grohs, Gottfried Kögler

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Unterrichtsmaterialien für die Schüler/innen

Die nachfolgend aufgelisteten Arbeitsblätter, Originalbeispiele und die PowerPoint-Präsentation stehen für den konkreten Unterrichtseinsatz zur Verfügung:

Teil A: Einstiege in das Themenfeld [Basismodul]

AB 1: Die EZB: Zehn Fragen – zehn Antworten?

AB 2: Die EZB und das Eurosystem in drei Minuten

AB 3: Geldpolitische Entscheidungen der EZB und ihre Auswirkungen

Teil B: Aufgaben und Organisation der EZB und des ESZB

[Basismodul]

AB 4: Aufgaben einer Zentralbank

AB 5: Aufbau und Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken [ESZB]

AB 6: Die Unabhängigkeit der Zentralbank

Teil C: Die Geldpolitik der EZB – Ziele und geldpolitische Strategie [Basismodul]

AB 7: Was ist Inflation, Deflation, Stagflation?

AB 8: Geldpolitik der EZB – Ziele und geldpolitische Strategie

IB 1: Wirtschaftspolitische Ziele der Zentralbanken

IB 2: Die zwei Säulen der geldpolitischen Strategie der EZB

Teil D: Die geldpolitischen Instrumente der EZB [Basismodul]

AB 9: Die geldpolitischen Instrumente der EZB

AB 10: Wirkungen der Geldpolitik: Transmissionsmechanismus – eine kurzgefasste Einführung

IB 3: Exkurs: Worin bestehen die Unterschiede zwischen Mengen- und Zinstender?

Teil E: Wiederholungsfragen und Anwendungen

AB 11: Überprüfen Sie Ihr Wissen!

AB 12: Üben und Anwenden

AB 13: Kreuzworträtsel – prüfen Sie Ihr Wissen!

Teil F: Die Geldpolitik der EZB in der Krise – Einstiege

AB 13: Kreuzworträtsel – prüfen Sie Ihr Wissen

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Teil G: Die Geldpolitik der EZB in der Krise – Ziele, geldpolitische Stra-tegie und geldpolitische Instrumente

AB 14: Phänomen „Deflation“ – Begriff, Ursachen, Auswirkungen und Bekämpfung

AB 15: Geldpolitik in der Krise – Überblick

AB 16: Exkurs: Quantitative Easing [= Quantitative Lockerung]

AB 17: Geldpolitik in der Krise - Vertiefung

Teil H: Die aktuelle Geldpolitik der EZB: Pro ↔ Kontra (Debatte)

AB 18: Die Macht der Notenbanken

AB 19: Die Ohnmacht der Notenbanken

IB 4: Geldpolitik der EZB: Soll die „Geldflut“ enden? - Pro-und Contra-Argumente

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AB 1: Die EZB: Zehn Fragen – zehn Antworten?

Hand auf’s Herz: Wie gut wissen Sie über die Europäische Zentralbank (EZB), ihre Organe, ihre Aufgaben und die Geldpolitik der EZB Bescheid? Stellen Sie sich den nachfolgenden zehn Fragen. Die Buchstaben der zutreffenden Antworten ergeben ein wichtiges geldpolitisches Instrument der EZB. Hinweis: Zu jeder Frage gibt es nur eine richtige Antwort. Für jede richtige Lösung gibt es einen Punkt.

Fragen Buchstabe

der gewähl-

ten Antwort

1 Welcher der folgenden Staaten gehört der Eurozone nicht an?

A Irland ,B Lettland, E Dänemark, H Slowenien

2 Wo befindet sich der Sitz der EZB?

G Brüssel, I Frankfurt, M Luxemburg, T Straßburg

3 Welche der folgenden Personen ist der Präsident der EZB?

B Monti, F Mogherini, L Draghi, N Renzi

4 In welcher Stadt wurde die Errichtung der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-rungsunion beschlossen?

B Amsterdam, E Kopenhagen, K Lissabon, N Maastricht

5 Welches der folgenden wirtschaftspolitischen Ziele ist das Hauptziel der EZB?

M Vollbeschäftigung, O Wirtschaftswachstum, S Preisstabilität,

Z Wechselkursstabilität

6 Welches der folgenden Organe entscheidet über die Geldpolitik in der Eurozo-ne?

D Europäische Kommission, H Europäischer Rat, N EZB-Rat, R die Finanzminis-ter der Eurozone

7 Wer ist Eigentümer der EZB?

A die nationalen Zentralbanken der Eurozone, E die nationalen Zentralbanken

der EU, K die europäischen Geschäftsbanken, S die Mitgliedsstaaten der EU

8 Wem gegenüber ist die EZB bei ihrer laufenden Geldpolitik rechenschaftspflich-tig?

Q dem Europäischen Parlament, R den Regierungen der Eurozone, V der Euro-

päischen Kommission, Z in erster Linie den Bürgerinnen und Bürgern der EU

9 Wer kann bei der EZB Kredite aufnehmen?

G Regierungen, O private Haushalte, T Banken, Z Unternehmen

10 Wie hoch ist die von der EZB angestrebte Inflationsrate?

C ca. 0 Prozent, F ca. 1 Prozent, I ca. 2 Prozent, W ca. 3 Prozent,

Lösungswort: . . . . . . . . . .

Auswertung:

0 - 3 Punkte: Sie wissen erst sehr wenig über den Fragenkomplex „EZB und Geldpolitik“ und sollten sich unbedingt nochmals gründlich informieren! 4 - 6 Punkte: Sie wissen schon einiges über die EZB, sollten sich aber doch noch genauer informieren! 7 - 8 Punkte: Sie wissen schon recht viel über die EZB! 9 - 10 Punkte: Gratuliere, Sie sind auf dem Weg ein/e Expertin in Sachen EZB zu werden!

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AB2: Die EZB und das Eurosystem in drei Minuten

Sehen Sie sich aufmerksam das Video „Die EZB und das Eurosystem in drei Minuten“ an und beantworten Sie direkt im Anschluss daran die folgenden Fragen. Hinweis: Sie finden dieses Video unter den folgenden Links:

Englische Originalversion: https://www.ecb.europa.eu/explainers/show-me/html/index.en.html Deutsche Version: https://www.ecb.europa.eu/explainers/show-me/html/index.de.html

1. Welche Vorteile hat die gemeinsame Währung für die Menschen in der Eurozone?

2. Woraus besteht das Eurosystem?

3. Worin bestehen die Hauptaufgabe und das Hauptziel des Eurosystems?

4. Warum ist dieses Hauptziel für die Menschen in der Eurozone so wichtig?

5. Was ist das wichtigste Instrument der Geldpolitik?

6. Wer fasst die geldpolitischen Beschlüsse?

7. Welche weiteren Aufgaben hat die Europäische Zentralbank?

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AB 3: Geldpolitische Entscheidungen der EZB und ihre Auswirkun-gen

Lesen Sie die einzelnen Zeitungskurzmeldungen und werten Sie die drei Entschei-dungs-situationen (der EZB) mithilfe der folgenden Tabelle aus.

Entscheidung Nr. 1:

EZB senkt die Leitzinsen (4.9.2014) Der Rat der Europäischen Zentralbank senkt den Hauptrefinanzierungssatz, auch Leitzins genannt, auf 0,05 Prozent. Für kurzfristige Geldeinlagen bei der Notenbank erhalten die Banken nicht nur kei-ne Zinsen, sondern müssen sie sogar einen Strafzins in Höhe von minus 0,2 Prozent bezahlen. Und der Spitzenrefinanzierungssatz, also der Zinssatz, den Kreditinstitute für kurzfristige Kredite bei der EZB zahlen müssen, wird auf einen bisherigen historischen Tiefstand von 0,3 Prozent gesenkt.

Eurokurs fällt, Aktienkurse steigen (4.9.2014) Nach der Zinssenkung durch die EZB fällt der Kurs des Euro gegenüber dem US-Dollar um eineinhalb Cent. Da die Abwertung des Euro die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Exportchancen der euro-päischen Unternehmen verbessert, steigen auch die Kurse ihrer Aktien.

Entscheidung Nr. 2:

Das Anleihekaufprogramm der EZB beginnt (5.3.2015) Am 9.3.2015 wird die Europäische Zentralbank mit einem umfangreichen Anleihekaufprogramm be-ginnen. Bis September 2016 wird sie für mindestens 1140 Milliarden Euro, also 60 Mrd. monatlich, Staatsanleihen und andere Wertpapiere aufkaufen, um der Wirtschaft auf diese Weise zusätzliche Geldmittel zur Verfügung zu stellen.

Der Euro fällt weiter (5.3.2015) Die Entscheidung des EZB-Rates führt zu einer weiteren Abwertung des Euros. Die Aktienkurse und der DAX steigen erneut.

Steigende Importpreise (14.04.2015) Der schwache Euro verteuert nicht nur den Urlaub in den USA, sondern auch viele Importgüter, da-runter Kaffee und Kakao, aber auch Industriegüter, die in US-Dollar gehandelt werden.

EZB-Präsident Draghi räumt Nebenwirkungen der Geldpolitik ein (15.5.2015) In einer Rede vor dem Internationalen Währungsfonds verteidigt EZB-Präsident Mario Draghi das Anleihe-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank als einzig wirksames Mittel gegen eine dro-hende Deflation im Euroraum. Er räumt allerdings auch mögliche Nebenwirkungen dieser Politik, ein: Wenn die Zinsen über einen längeren Zeitraum sehr niedrig seien, könnten den Sparern Nachteile entstehen, während die Schuldner davon profitierten.

Entscheidung Nr. 3:

Noch mehr Notkredite für griechische Banken (16.7.2015) Die griechischen Banken, denen aufgrund der enormen Kapitalabflüsse das Geld auszugehen droht, erhalten weitere Notkredite (Emergency Liquidity Assistance = ELA). Der Rahmen für diese ELA-Kredite, die seit Monaten von der griechischen Zentralbank mit Billigung des EZB-Rates an die Ge-schäftsbanken vergeben werden, wird um 900 Millionen Euro pro Woche ausgeweitet.

Droht eine Immobilienpreis-Blase? (25.07.2015 Die massenhaften Anleihekäufe der Zentralbank drücken nach Auffassung von Analysten deren Ren-diten. Dies habe zur Folge, dass Anleger verstärkt auf Immobilienmärkte auswichen und dadurch die Immobilienpreise in die Höhe trieben

(Anmerkung: Die Textierungen wurden von den Verfassern auf der Basis allgemein zugänglicher Quellen - wie Verlautbarungen der EZB und Börsennachrichten - neu erstellt)

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Beschluss des EZB-Rates

Inhalt der Entscheidung Auswirkungen der Entscheidung

Nr. 1 (4.9.2014)

Nr. 2 (5.3.2015)

Nr. 3 (16.7.2015)

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Ergänzende/vertiefende Aufgabenstellung: Lesen Sie nochmals den Nachrichtenüberblick und versuchen Sie – anhand der folgenden Fragen - die Auswirkungen der geldpolitischen Entscheidungen aufzuzeigen. a) Warum fiel nach den Entscheidungen vom 4.9.2014 und vom 5.3.2015 der Wechselkurs

des Euro gegenüber dem US-Dollar?

b) Wieso stiegen gleichzeitig die Aktienkurse börsennotierter Unternehmen?

c) Welche Auswirkungen hatten diese Entscheidungen für die privaten Haushalte?

d) Inwiefern führte der massenhafte Kauf von Staatsanleihen durch die EZB zu sinkenden

Renditen dieser Anleihen?

e) Wieso trieb die „lockere Geldpolitik“ die Immobilienpreise (insbesondere in den Städ-

ten)?

f) Welche Konsequenzen hätte es gehabt, wenn der EZB-Rat der griechischen Zentralbank

die Gewährung von Notkrediten an die griechischen Geschäftsbanken untersagt hätte.

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AB 4: Aufgaben einer Zentralbank

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Stellen Sie auf Basis der folgenden Darstellung die Unterschiede zwischen Zentralban-ken und Geschäftsbanken in Form einer Tabelle heraus.

2. Recherchieren Sie am Beispiel der Österreichischen Nationalbank und ihrer Vorläufer den Weg von der privaten Notenbank zur Zentralbank. Nützlicher Link: https://www.oenb.at/Ueber-Uns/Unternehmensgeschichte.html

Im Zuge der Herausbildung moderner Volkswirtschaften sind an die Stelle einer Vielzahl priva-ter Notenbanken, die eigene Banknoten ausgeben durften, Zentralbanken getreten, die nicht nur über das alleinige Recht zur Ausgabe (Emittierung) von Bankennoten verfügen (Banknoten-monopol), sondern auch eine Fülle weiterer hoheitlicher (staatlicher) Aufgaben wahrnehmen. Heute sind die Funktionen und Zuständigkeiten von Geschäftsbanken (Kommerzbanken) und Zentralbanken klar getrennt:

Geschäftsbanken wie z.B. Sparkassen, Genossenschaftsbanken (Volks- und Raiffeisenbanken) und Banken sind, unabhängig von ihren jeweiligen Rechtsformen (Aktiengesellschaft, eingetra-gene Genossenschaft etc.), miteinander konkurrierende Wirtschaftsunternehmen, die finanziel-le Dienstleistungen erbringen. Sie bieten ihren Kunden neben den klassischen Bankgeschäften der Kreditvergabe und der Entgegennahme von Einlagen eine breite Palette weiterer Dienstleis-tungen an, z.B. die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, den Kauf, den Verkauf, die Verwahrung und Verwaltung von Vermögenswerten (v.a. Wertpapiere), die Übernahme von Bürgschaften und Garantien, die Beratung von Unternehmen und privaten Anlagern in Finan-zierungsfragen etc.

Zentralbanken sind hingegen Institutionen des Staates und zuständig für die Durchführung der Geld- und Währungspolitik. Ihre Geschäftspartner sind nicht Unternehmen und private Haus-halte, sondern Banken, auf deren Geschäfte (z.B. Kreditvergabe) sie mit ihren geldpolitischen Instrumenten (z.B. Festlegung der Leitzinsen) und den damit verbundenen Entscheidungen (z.B. Leitzinssenkung) einwirkt. Auch wenn im Ergebnis ihrer geld- und währungspolitischen Aktivitä-ten Gewinne (oder Verluste) entstehen können, verfolgen Zentralbanken im Unterschied zu den Geschäftsbanken ausdrücklich keine Gewinnziele.

Im Allgemeinen werden den Zentralbanken die folgenden Aufgaben zugeschrieben, die nur von ihnen und nicht von Geschäftsbanken erfüllt werden können bzw. dürfen:

Hüterin der Währung: Haltung der Währungsreserven,

Bank der Banken: Versorgung der Geschäftsbanken mit Zentralbankgeld, letzte Refinan-zierungsquelle der Geschäftsbanken in Krisensituationen,

Bank des Staates: Hausbank des Staates (Einlagen bei der Zentralbank und Kontoführung durch die Zentralbank),

Notenbank: alleinige Befugnis, die Banknoten zu emittieren und in Umlauf zu bringen, Auf-rechterhaltung der Qualität des Bargeldes (Aussonderung von Falschgeld und Ersetzung be-schädigter Münzen und Geldscheine),

Bankenaufsicht (oft in Aufgabenteilung mit anderen Institutionen): insbesondere Überwa-chung der laufenden Geschäftstätigkeit der Banken, um Missständen im Kreditwesen ent-gegenzuwirken.

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AB 5: Aufbau und Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken [ESZB]

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe der Informationstexte:

1. Erläutern Sie, warum es notwendig ist, zwischen dem Europäischen System der Zen-tralbanken (ESZB) und dem Eurosystem zu unterscheiden.

2. Zeigen Sie auf, welche Konsequenzen das seit 2015 wirksame Rotationssystem bei ei-ner weiteren Vergrößerung der Eurozone für die Stimmgewichte der großen, mittleren und kleinen Euro-Staaten bei Abstimmungen im EZB-Rat hat.

In der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bestehen die nationalen Zentralban-ken (wie die Österreichische Nationalbank oder die Deutsche Bundesbank) fort und üben weiterhin die meisten der traditionellen Zentralbankfunktionen aus. Sie versorgen die Ban-ken mit Zentralbankgeld, bringen das Euro-Bargeld in Umlauf, sorgen für einen reibungslo-sen bargeldlosen Zahlungsverkehr, verwalten die nationalen Währungsreserven, sind an der Bankenaufsicht beteiligt, führen die Konten für die öffentlichen Haushalte, erstellen Statisti-ken usw. Und doch hat sich für sie mit der Einführung der Gemeinschaftswährung Euro et-was ganz Entscheidendes geändert: Nicht mehr sie treffen die Entscheidungen über die Geld- und Währungspolitik, sondern die Institutionen des Systems der Europäischen Zent-ralbanken, an denen sie freilich beteiligt sind. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist – wie die nachfolgende Grafik zeigt – der „Kopf“ des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB). Neben der EZB umfasst das ESZB die nati-onalen Zentralbanken aller EU-Länder. Die Zentralbanken der 19 Länder, in denen der Euro Zahlungsmittel ist, bilden zusammen mit der EZB das Eurosystem.

Die EZB hat ihren Sitz in Frankfurt am Main. Ihr wichtigstes Beschlussfassungsorgan ist der EZB-Rat. Er setzt sich aus den Mitgliedern des Direktoriums und den Zentralbankpräsidenten der Euroländer zusammen. Die Mitglieder des EZB-Rats haben, unabhängig von der Größe des Herkunftslandes, grundsätzlich nur eine Stimme.

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Seine Hauptaufgaben bestehen vor allem darin,

die Geldpolitik in der Eurozone festzulegen (z. B. Entscheidungen über die Höhe der Leit-zinsen oder über die Versorgung der Geschäftsbanken mit Zentralbankgeld zu treffen),

die Ausgabe von Banknoten zu genehmigen,

Interventionen am Devisenmarkt durchzuführen (d. h. ausländische Währungen zu kau-fen oder zu verkaufen, um z. B. den Kurs des Euro zu beeinflussen).

Das Direktorium der EZB sorgt für die Ausführung der Beschlüsse des EZB-Rates und ist für die Abwicklung der laufenden Geschäfte zuständig. Es setzt sich aus dem Präsidenten und der Vizepräsidentin und bis zu vier weiteren Mitgliedern zusammen, die von den im Europäi-schen Rat versammelten Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union gewählt wer-den. Derzeit ist der Italiener Mario Draghi Präsident der EZB.

Dem erweiterten Rat gehören neben dem EZB-Rat die Präsidenten der Nicht-Euroländer an. Er hat nur eine beratende Funktion. Für die EU-Länder, die (noch) nicht am Eurosystem teil-nehmen, liegt die Zuständigkeit für die Geldpolitik bei der jeweiligen nationalen Notenbank, wobei auch diese Länder ihre geldpolitischen Entscheidungen eng mit der EZB abstimmen.

Wem gehört eigentlich die EZB? Und wem gehören die nationalen Zentralbanken? Das Kapital der Europäischen Zentralbank (EZB) stammt von den nationalen Zentralbanken aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Über die Anteile der nationalen Zentral-banken an diesem Kapital und über die Aufteilung der Gewinne oder Verluste informiert die EZB auf ihrer Website: http://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/capital/html/index.de.html

Das Rotationsprinzip im EZB-Rat Am 1.1.2015 erfolgte der Beitritt Litauens zur Eurozone, womit bereits 19 der 28 EU-Staaten Mitglieder der Währungsgemeinschaft sind. Nach den bisherigen Abstimmungsverfahren wäre dadurch die Zahl der Stimmrechte im EZB-Rat auf 25 angestiegen und bei jedem Bei-tritt zur Eurozone hätte sich diese Zahl weiter erhöht. Um die Handlungsfähigkeit des EZB-Rates zu sichern, hat sich die Europäische Union daher schon 2003 darauf geeinigt, die Zahl der Stimmrechte dauerhaft auf 21 zu reduzieren, sobald die Anzahl der Euroländer 18 über-steigt. Dazu wurde ein Rotationssystem geschaffen, das folgende Abstimmungsregeln für den EZB-Rat vorsieht:

Bei 19 bis 21 Mitgliedstaaten im Euroraum erfolgt eine Teilung in zwei Ländergruppen. In der ersten Gruppe werden die fünf (nach ihrer Wirtschaftskraft) größten Volkswirtschaften des Euroraums zusammengefasst. Diese fünf Länder – Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und die Niederlande – teilen sich vier rotierende Stimmen. Die übrigen 14 Länder bilden eine zweite Gruppe und teilen sich elf Stimmen. Das heißt, dass einige nationale Zentralbankprä-sidenten zeitweise keine Stimme im EZB-Rat haben, wohl aber weiterhin teilnehmen und ihre Argumente einbringen können. Die Mitglieder des EZB-Direktoriums berührt das Rotati-onssystem nicht. Sie haben dauerhaft Sitz und Stimme im EZB-Rat

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Bei einer Erweiterung der Eurozone auf mehr als 21 Staaten werden drei Gruppen gebildet. Neben der ersten Gruppe der fünf größten Länder mit weiterhin vier Stimmrechten erhält die zweite Gruppe, welche die Hälfte aller Euroländer ausmacht, acht Stimmrechte. Die rest-lichen kleinsten Länder bilden die dritte Gruppe mit drei Stimmen:

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AB 6: Die Unabhängigkeit der Zentralbank

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe der Informationstexte:

1. Geben Sie in eigenen Worten die Gründe wieder, die im „Gabler Wirtschaftslexikon“ gegen eine von der Politik abhängige Zentralbank genannt werden. (M 1)

2. Veranschaulichen Sie die Aussagen des Wirtschaftslexikons anhand der Vorgeschichte der Österreichischen Nationalbank im 18. Jahrhundert. (M 2)

3. Wirtschaftswissenschaftler haben in Ländervergleichen den Zusammenhang zwischen durchschnittlicher Inflationsrate und Zentralbankunabhängigkeit untersucht. Beschrei-ben Sie die Grafik und fassen Sie Ihre Beobachtungen in einem Satz zusammen. (M3)

4. Die „Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zen-tralbank“ enthält zahlreiche Regeln zur Sicherung der Zentralbankunabhängigkeit. Er-läutern Sie, wie die einzelnen Punkte in dem Schaubild zu diesem Ziel beitragen. (M4)

M 1: Aus dem „Gabler Wirtschaftslexikon“ „Eine unabhängige Zentralbank betreibt ihre Geldpolitik unabhängig von Weisungen der Politik (Regierungen, Parlamente), wobei sie regelmäßig vorrangig auf das Ziel der Preisni-veaustabilität verpflichtet ist. Dies wird häufig als notwendige institutionelle Voraussetzung für Geldwertstabilität betrachtet, da Politiker insbesondere aus drei Gründen in Versuchung geraten könnten, Inflation zuzulassen oder gezielt zu betreiben: a) Eine Regierung kann eine abhängige Zentralbank zu einer erhöhten Geldemission veran-lassen, um Staatsausgaben bzw. Staatsverschuldung zu finanzieren. Dies ist immer wieder zur Finanzierung von Kriegen oder Kriegslasten und –schulden […] sowie zur vermeintlichen Überwindung von Krisen […] betrieben worden und hatte oftmals verheerende Inflationskri-sen bis zur Vernichtung der jeweiligen Währung zur Folge. b) Der Staat kann sich zulasten seiner Bürger gezielt entschulden, wenn die Staatsverschul-dung vorrangig auf langläufigen und festverzinslichen Wertpapieren (Staatsanleihen, Schatz-briefe u.Ä.) beruht, welche durch die Inflation real entwertet werden. c) Der temporär [zeitweise] belebende Effekt einer Inflation („Strohfeuereffekt“) kann ge-nutzt werden, um bspw. in Wahlkampfzeiten einen vorübergehenden Wirtschaftsauf-schwung herbeizuführen […].“ Quelle: Springer Gabler Verlag (Herausgeber), Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Unabhängigkeit der Zentralbank, online im Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/11905/unabhaengigkeit-der-zentralbank-v10.html

M 2: Aus der Vorgeschichte der Österreichischen Nationalbank Schon im 18. Jahrhundert war die Ausgabe von Banknoten einem Institut übertragen wor-den, in das die Geschäftswelt gerade deshalb Vertrauen hatte, weil die Staatsführung keinen direkten Zugriff auf dessen Gebarung hatte. Die erste Ausgabe von sogenannten „Bankozet-teln“ erfolgte […] 1762 durch die bereits 1705 gegründete Wiener Stadtbank. Doch in Kriegs-zeiten übernahm die Staatsführung die direkte Kontrolle der Notenausgabe. Dies ließ den Umlauf der Banknoten stoßweise anschwellen. Betrug die umlaufende Geldmenge im Jahr 1796 noch 44 Millionen Gulden Bankozettel, so waren es 1810 bereits 942 Millionen Gulden. Die Bankozettel verdrängten zunehmend die Silber- und Kupfermünzen aus dem Geschäfts-verkehr […]. Die Staatsführung dekretierte [ordnete an] die Zwangsannahme von Papiergeld im Privatverkehr, worauf der Markt mit einem rasch wachsenden Abschlag (Disagio) auf Banknoten reagierte. Für hundert Gulden Bankozettel erhielt man 1799 nur mehr 92 Gulden in Silbermünzen; im Dezember 1810 hatte die Inflation den Papiergulden auf 15 Prozent des Nominalwertes [Nennwert] der Bankozettel gedrückt. Der Zwang zur Annahme von Banko-

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zetteln löste sogar Revolten unter den im Felde stehenden Truppen aus. Die Habsburger deklarierten [erklärten] nun eine Abwertung der Bankozettel im Verhältnis 5:1. Die Ge-schäftswelt charakterisierte diesen Akt als Staatsbankrott; heftigen Beteuerungen des Staa-tes zum Trotz, in Zukunft von einer übermäßigen Emission Abstand zu nehmen, erlebte auch das nun „Wiener Währung“ genannte Papiergeld eine rasche Entwertung. Quelle: https://www.oenb.at/Ueber-Uns/Unternehmensgeschichte/1816-1818.html

M 3: Aus einer wissenschaftlichen Veröffentlichung zur Frage der Unabhängigkeit von Zentralbanken

Helge Berger: Die aktuelle Debatte um Zentralbankunabhängigkeit: Theoretische und empirische Fragen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 41(1), 1997, S. 89 ff.

M 4: Bestimmungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der EZB

Erläuterungen zur Grafik AUS = Australien B = Belgien CH = Schweiz CND = Kanada D = Deutschland F = Frankreich GB = Großbritannien I = Italien J = Japan NL = Niederlande S = Spanien Index = Grad der Unab-hängigkeit (1 = sehr nied-rig; 4 = sehr hoch)

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Ergänzende/vertiefende Aufgabenstellung:

Arbeiten Sie anhand der „Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank“ Bestimmungen heraus, welche

1) die politische Unabhängigkeit, 2) die finanzielle Unabhängigkeit und 3) die personelle Unabhängigkeit der Zentralbank im Sinne der folgenden Definitionen gewährleisten sollen.

„Die politische Unabhängigkeit kann […] in die Zielunabhängigkeit einerseits und die operationale bzw. Instrumentenunabhängigkeit andererseits eingeteilt werden. Zielunabhängigkeit ist dann gege-ben, wenn die Zentralbank in der Lage ist, das endgültige Ziel der Geldpolitik selbst festzulegen. Bei operationaler Unabhängigkeit kann die Zentralbank die Instrumente, mit denen sie ihre geldpoliti-schen Ziele zu erreichen sucht, selbst bestimmen. Als finanziell unabhängig gilt eine Zentralbank, wenn sie weder direkt noch indirekt gezwungen werden kann, das Staatsdefizit der Regierung zu finanzieren. Dies wird insbesondere durch ein eigenes, vom entsprechenden Staat deutlich getrenn-tes, Budget sowie ein klares Verbot der Staatsausgabenfinanzierung deutlich. Die personelle Unab-hängigkeit betrifft alle Vorgänge, die unmittelbar mit den Personen in der Zentralbank zu tun haben, welche die geldpolitischen Entscheidungen treffen. Dazu gehören die Prozeduren und Bedingungen zur Berufung oder Ernennung und Entlassung der Zentralbanker sowie die Festlegung ihrer Amtszei-ten.“ Quelle: Ralph Michael Wrobel: Unabhängigkeit der Zentralbank, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft - Wirtschaftspolitik von A-Z, Download: http://www.kas.de/wf/de/71.12932/

Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank Artikel 2: […] Es [ist] das vorrangige Ziel des ESZB, die Preisstabilität zu gewährleisten. [...].

Artikel 7: […] Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und diese Satzung übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten [darf] weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Re-gierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.

Artikel 11.1. […] Das Direktorium [besteht] aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier wei-teren Mitgliedern. Die Mitglieder erfüllen ihre Pflichten hauptamtlich. Ein Mitglied darf weder ent-geltlich noch unentgeltlich einer anderen Beschäftigung nachgehen […].

Artikel 11.2. […] Der Präsident, der Vizepräsident und die weiteren Mitglieder des Direktoriums [wer-den] von den Regierungen der Mitgliedstaaten […] einvernehmlich ausgewählt und ernannt. Ihre Amtszeit beträgt acht Jahre; Wiederernennung ist nicht zulässig. […]

Artikel 14.2. […] Der Präsident einer nationalen Zentralbank kann aus seinem Amt nur entlassen wer-den, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat. [...]

Artikel 21.1. […] Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten [Kreditmöglichkeiten] bei der EZB oder den nationalen Zentralbanken für Organe oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sons-tige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten [sind] ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken. […]

Quelle: Protokoll zum Vertrag von Lissabon über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der

Europäischen Zentralbank (EZB), abrufbar unter: http://www.ecb.int/ecb/legal/pdf/c_08320100330de_ecb_statute.pdf

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AB 7: Was ist Inflation, Deflation, Stagflation? Wie wird die Inflationsrate in Österreich und in der EU berechnet?

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Erläutern Sie die Begriffe „Inflation“, „Deflation“ und „Stagflation“.

2. Von welchen zwei Größen wird die Kaufkraftentwicklung des Lohnes beeinflusst?

3. Wie wird die Inflationsrate in Österreich eigentlich berechnet? (Aufbau und Vorgangsweise bei der Berechnung des VPI) 4. Warum werden alle fünf Jahre Konsumerhebungen durchgeführt?

5. Erläutern Sie die Zeitungsschlagzeile „Die Inflationsrate verharrte in Österreich im Juni

2015 den vierten Monat in Folge bei 1,0 Prozent“.

Inflation, Deflation, Stagflation – eine erste Begriffsklärung Der Wert einer Währung wird am Binnen- und Außenwert gemessen. Die Entwicklung des Außenwerts einer Währung kann man am Wechselkurs ablesen (z. B. Kursverhältnis Euro zum US-Dollar), während der Binnenwert anzeigt, ob die Kaufkraft dieser Währung erhalten bleibt.

Die Kaufkraft des Geldes gibt an, welche Gütermenge mit einer Geldeinheit bzw. einer be-stimmten Geldmenge gekauft werden kann und wie sich diese Gütermenge verändert. Eine Währung ist also dann nach innen stabil, wenn man Monate später dieselben Güter und Dienstleistungen zum selben Preis erhalten kann. Der Binnenwert einer Währung sinkt hin-gegen, wenn man für eine Geldeinheit weniger Güter und Dienstleistungen bekommt, weil die Preise steigen. Es kommt also zu Kaufkraftverlusten.

Mit dem Begriff Inflation werden im alltäglichen Sprachgebrauch verschiedene Sachverhalte bezeichnet, wie zum Beispiel Kaufkraftverluste, Kostensteigerungen, Preiserhöhungen, An-stieg des Preisniveaus. Aus der Sicht vieler Volkswirte handelt es sich bei Inflation um einen „Prozess andauernder Preisniveausteigerungen“. Dieser symptomorientierte Inflations-begriff, der auf das äußere Erscheinungsbild der Inflation abstellt, lässt sich wie folgt erklä-ren:

(Quelle: Betriebs- und Volkswirtschaft HLW IV, MANZ Verlag Schulbuch, 2015)

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Der Begriff Deflation stellt das Gegenstück zur Inflation dar und wird als ein Anstieg der

Kaufkraft des Geldes bzw. als (absolutes) Sinken des Preisniveaus dargestellt. Das Phänomen

der Deflation spielt derzeit eine große Rolle, da es in den letzten zwei Jahren zahlreiche Eu-

roländer gibt, in denen es zu einer deflatorischen Entwicklung gekommen ist bzw. kommt.

Ordnet man nun die Begriffe Inflation und Deflation den einzelnen Konjunkturphasen zu, so

treten Preissteigerungen vor allem im Zusammenhang mit Aufschwung- und Hochkonjunk-

turphasen auf, während die Preise in der Abschwung- bzw. Depressionsphase eine sinkende

Tendenz aufweisen. In den letzten Jahrzehnten ist allerdings zu beobachten, dass es auch

möglicherweise während einer Abschwung- bzw. Stagnationsphase zu einem weiteren An-

stieg der Preise kommen kann. Dieses Phänomen – stagnierende Produktion, steigende Ar-

beitslosigkeit und gleichzeitig steigendes Preisniveau – wird in der Literatur als Stagflation

bezeichnet.

Die Kaufkraft des Lohnes gibt an, welche Gütermenge vom Lohn gekauft werden kann und

wie sich diese Gütermenge verändert. Die Kaufkraftentwicklung des Lohnes wird von den

folgenden zwei gegensätzlichen Größen beeinflusst:

vom Ausmaß der Lohnerhöhung = Nominallohnsteigerung (Zunahme der Lohnkaufkraft)

vom Ausmaß der Preissteigerung = Inflationsrate (Abnahme der Lohnkaufkraft)

Wird die Zunahme beim Nominallohn um die Preissteigerung bereinigt, ergibt sich der Real-

lohn.

Misst man den Arbeitszeitaufwand, den ein typischer Arbeitnehmer für den Erwerb wichti-

ger Konsumgüter aufwenden muss, und vergleicht man diese Werte über einen längeren

Zeitraum, so kann man damit die Entwicklung des Lebensstandards sichtbar machen.

Drei Beispiele [aus Österreich]:

Wie viele Kilogramm Rindfleisch, wie viel Laibe Brot, wie viele Paar Schuhe erhielt ein Indus-triearbeiter für einen durchschnittlichen Monatslohn in den Jahren 1955, 1970, 1990 und 2000?

Rindfleisch Brot (1kg) Schuhe

1955 54 355 5

1970 79 587 15

1990 117 724 16

2000 163 761 18

Dieser Vergleich zeigt sehr eindrucksvoll, dass man im Jahre 2000 die drei genannten Güter (und dies gilt auch für sehr viele andere Güter und Dienstleistungen) für viel weniger Arbeits-zeit „kaufen“ konnte als im Jahre 1955.

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Messung von Preissteigerungen Wie werden Änderungen des Geldwertes berechnet?

Die Geldwert- bzw. Preisniveaustabilität ist zweifelsohne das wichtigste Ziel der Europäi-

schen Zentralbank (EZB). Der EZB-Rat, er ist das wichtigste Organ der EZB, hat präzise festge-

legt, was unter Preisstabilität zu verstehen ist

„Preisstabilität wird definiert als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex

(HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter, aber nahe 2% gegenüber dem

Vorjahr. Preisstabilität muss mittelfristig gewährleistet werden.

Wie wird nun aber die Preisstabilität gemessen? Schließlich gibt es Millionen von Preisen

und es ist einfach nicht möglich, sie alle bei der Ermittlung des Preisniveaus einzubeziehen.

Genauso wäre es gefährlich, die Preisentwicklung einzelner Waren und Dienstleistungen zu

beobachten und daraus Rückschlüsse auf die Entwicklung der Inflationsrate zu ziehen. Man

hat daher eine Art Mittelweg gewählt und beobachtet die Preisentwicklung einer repräsen-

tativen Auswahl von Gütern und Dienstleistungen.

In Österreich werden Preissteigerungen – soweit sie den Verbraucher betreffen – mit Hilfe des Verbraucherpreisindex (VPI) berechnet. Dieser VPI gibt an, um wie viel teurer im Durch-schnitt die im Warenkorb enthaltenen Waren und Dienstleistungen geworden sind, für die der durchschnittliche Haushalt im Durchschnitt sein Geld ausgibt. Im Detail sieht die Vor-gangsweise bei der Indexberechnung (gezeigt am Beispiel des Verbraucherpreisindex) in Österreich wie folgt aus:

In einem ersten Schritt führen tausende ausgewählte Haushalte (aktuell waren es 6.534

Haushalte) genaue Aufzeichnungen, welche Waren und Dienstleistungen gekauft wurden

(Konsumerhebung). Diese Erhebungen werden alle fünf Jahre durchgeführt, da sich die Kon-

sumgewohnheiten ändern bzw. durch die rasche technische Entwicklung neue Produkte ein-

bezogen werden müssen, wie die nachfolgende Grafik sehr eindrucksvoll zeigt:

Die Berechnung des Verbraucherpreisindex (2010)(Vom Konsumenten zum Index)

Arbeitsschritte Alle fünf Jahre Monatlich5

Konsumerhebung1

In 6534 Haushalten

werden Aufzeichnungen

über die täglichen

Ausgaben geführt.

Warenkorb2

Daten werden in einem

„Warenkorb“ zusammen-

gefasst

Berechnung4

Die Durchschnittspreise

2010 dienen als Basis

für künftige Preis

vergleiche.

M

Preiserhebung3

Interviewer erheben die

Preise in zwanzig Städten

in Österreich.

M

Haushaltsbücher

Warenbeschreibung

Preise

M

5 5

Warenkorb und Gewichtung werden jährlich angepasst!

19

Der Warenkorb im Wandel der Zeit

Thunfisch,

aromatisiertes

Mineralwasser,

Flachfernseher,

Speichermedien,

Bankdepot-

gebühren

45 PKW-

Modelle, alle

erhältlichen

Tabakwaren,

alle öffentlichen

Tarife

Ausgaben rund

ums Auto,

Schnellimbisse,

Essen auf Rädern,

Fortbildung, Kiwi,

Vollkornbrot,

Zucchini

Sardinen, Tabak

(von 65 auf 2

Positionen);

Trennung von

Bestsellerbüchern

in Sachbücher

und Belletristik

Haaransatz-

nachfärben,

Wörterbuch,

Kindergarten-

essen,

Telegramm

Münzwäscherei,

Nähmaschinen,

Kleiderstoffe,

Schweineschmalz,

Mozartkugeln,

Schweinebraten

VW Käfer

(vertrat bis dato

alle übrigen

Automarken)

Modegetränke,

Internet, Vignette,

Studiengebühren,

DVD-Player,

Digitalkamera,

Autokindersitz,

Tagesmutter,

Kondome, Solarium

582 Pos.

1976

584 Pos.

1986

812 Pos.

2000

770 Pos.

2005

791 Pos.

2010

Schweinslungen-

braten, Frühstück

im Kaffeehaus,

Navigationsgerät,

Thermeneintritt,

Altenpflege, Euro-

millionen-Spiel,

Unilehrgang

Kaffeefiltertüten,

Normalbenzin,

Dauerwelle, Kebab,

tiefgekühltes

Speiseeis,

Postkarte, CD-

Rohlinge

Auf Basis dieser Aufzeichnungen wird in einem zweiten Schritt – alle fünf Jahre – ein so ge-

nannter Warenkorb erstellt. Der Warenkorb stellt die durchschnittliche Verbrauchstruktur

eines Haushalts dar und umfasste im VPI 2010 791 Positionen [Anmerkung: Im VPI 2015 sind

es 792 Positionen], wobei die einzelnen Positionen unterschiedlich gewichtet sind. So ist

Brot – als Grundnahrungsmittel – im Gegensatz zur Schokolade stärker gewichtet. Die Her-

ausforderung bei der Erstellung des Warenkorbs besteht darin, jene Güter auszuwählen,

deren Preise eine für die übrigen Artikel mitbestimmende Leitfunktion ausüben. Selbstver-

ständlich wird die Verbrauchsstruktur eines ganz bestimmten Haushalts häufig von der

Struktur des Warenkorbes mehr oder weniger stark abweichen und damit wird der Haushalt

auch von den jeweiligen Preissteigerungen nicht, teilweise oder voll betroffen sein.

Ein Beispiel: Im Warenkorb 2010 ist die Verbrauchsgruppe „Alkoholische Getränke und Tabak“ mit 3,17 % ge-wichtet [Anmerkung: Im VPI 2015 ist diese Verbrauchsgruppe mit 3,95 % etwas höher gewichtet]. Eine Verteuerung von Tabakwaren wird klarerweise zu einer Erhöhung der Inflationsrate führen. Ein Nichtraucherhaushalt wird aber davon nicht betroffen sein.

In einem dritten Schritt werden monatlich die Preise der einzelnen Positionen des Waren-korbs in zwanzig österreichischen Städten erhoben. Aus allen diesen einzelnen Preismeldun-gen (ca. 39.500) berechnet die Statistik Austria in einem vierten Schritt die Steigerung des Preisniveaus.

Die durchschnittliche Veränderung des VPI gegenüber dem gleichen Monat des Vorjahres

ist jene Ziffer, die am meisten im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht.

20

Ein Beispiel:

Inflationsrate unverändert bei 0,7 Prozent Die Inflationsrate in Österreich hat im Oktober 2015 unverändert 0,7 Prozent betragen. Sie blieb damit am niedrigsten Stand seit Jänner 2015. Hauptpreistreiber blieben die deutlich teureren Bewirtungsdienstleistungen, Hauptpreisdämpfer waren die gesunkenen Treibstoff-preise, so die Statistik Austria. Die Preisrückgänge bei Treibstoffen und Heizöl dämpften die Inflation im Oktober um 0,8 Prozentpunkte. (http://www.format.at/wirtschaft/inflationsrate-prozent-6051858, 16.11.2015, stark gekürzt)

Lösung: Die Verbraucherpreise aller Positionen des Warenkorbes stiegen also im Zeitraum

Oktober 2014 bis Oktober 2015 um 0,7 Prozent. Der Verbraucherpreisindex (VPI) ist also das

statistische Instrument, mit dem die Entwicklung des Preisniveaus auf der Stufe der Konsu-

menten gemessen wird. Ausgehend von einem Basisjahr (2010, Anmerkung: In Zukunft –

Jahr 2015), dessen durchschnittliches Preisniveau gleich 100 gesetzt wird, gibt er das Aus-

maß der durchschnittlichen Veränderungen der Preise für den Endverbraucher an. Ein In-

dexwert von 110,9 (Oktober 2015) bedeutet, dass sich das Preisniveau gegenüber der Basis-

periode (1. Jänner 2011) um 10,9 Prozent erhöht hat.

Anmerkung: Bis Ende Dezember 2015 gilt noch der VPI 2010, ab Jänner 2016 der VPI 2015.

Die neue Indexreihe wird ab Januar 2016 veröffentlicht.

Innerhalb der EU treten beim Vergleich der Verbraucherpreise statistische Probleme auf: Die

Warenkörbe in den EU-Staaten, die den Verbraucherpreisen zugrunde liegen, sind oft sehr

unterschiedlich und auch die Berechnungsmethoden weichen zum Teil voneinander ab.

Um nun aber die Inflationsraten EU-weit vergleichen zu können, wird seit 1997 der Harmo-

nisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) berechnet, der sich auch im Konzept und in der Be-

rechnungsmethode vom VPI in mehreren Punkten unterscheidet.

Ein Beispiel:

Für den österreichischen VPI gilt das Konzept „Inländer im Inland“. Demnach erfolgen Ge-

wichtung und Preisbeobachtung im Inland nach dem Konsumverhalten der in Österreich

ansässigen Bevölkerung. Der HVPI hingegen ist nach dem Inlandskonzept konstruiert und

bezieht sich daher auf den privaten Konsum innerhalb der Landesgrenzen. Demnach sind

beispielsweise die Ausgaben von ausländischen Touristen in Österreich im HVPI enthalten.

Ausgaben der Österreicher im Ausland bleiben in beiden Indizes außer Betracht.

21

AB 8: Geldpolitik der EZB – Ziele und geldpolitische Strategie

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Erläutern Sie, warum man von Preisniveaustabilität statt von Preisstabilität sprechen sollte.

2. Überprüfen Sie anhand von Abbildung 1, inwieweit das geldpolitische Hauptziel der EZB seit der Euro-Einführung erreicht worden ist.

3. Nennen Sie Nachteile erhöhter Inflationsraten für eine Volkswirtschaft wie auch für einzelne Gruppen von Wirtschaftsakteuren. Ziehen Sie dazu auch Abbildung 2 heran.

4. Der Vorrang der Preisstabilität in der EZB-Satzung geht vor allem auf deutsches Drän-gen zurück. Erklären Sie die Beweggründe der deutschen Politik aus den geschichtli-chen Ereignissen, die in dem Hintergrundbericht „Die Große Inflation“ geschildert wer-den.

5. Erklären Sie, weshalb die EZB nicht eine Preissteigerungsrate von null anstrebt. 6. Begründen Sie abschließend, warum die meisten Zentralbanken der Preisniveaustabili-

tät den Vorrang vor anderen wirtschaftspolitischen Zielen einräumen.

Preisstabilität als vorrangiges Ziel der Geldpolitik Die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank nennt in Artikel 2 das übergeordnete Ziel der Geldpolitik: „Es [ist] das vorrangige Ziel des ESZB, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Ge-meinschaft.“ Preisstabilität gilt nach einer Definition der EZB dann als erreicht, wenn die In-flationsrate des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) im Euroraum „mittelfristig unter, aber nahe 2 Prozent“ liegt.

Was heißt eigentlich „Preisstabilität“? „Beim vorrangigen Ziel des Eurosystems, Preisstabilität zu gewährleisten, geht es nicht um die Stabilität einzelner Preise. Im Gegenteil: Einzelne Preise müssen sich ändern können, um auf Angebot und Nachfrage reagieren zu können. Beim Ziel Preisstabilität steht vielmehr das Preisniveau im Mittelpunkt, d. h. der Durchschnitt aller Waren- und Dienstleistungspreise. Deshalb wird auch oftmals der genauere Begriff Preisniveaustabilität verwendet. Der An-stieg des allgemeinen Preisniveaus wird als Inflation, der Rückgang als Deflation bezeichnet. […]

Angesichts der Millionen Einzelpreise in unserer Wirtschaft wäre es weder möglich noch sinnvoll, jeden einzelnen Preis in die Ermittlung des Preisniveaus einzubeziehen. Anderer-seits kann man die Veränderung einzelner Preise auch nicht mit der Entwicklung des gesam-ten Preisniveaus gleichsetzen. Bei der Messung des Preisniveaus wird deshalb ein Mittelweg gegangen, indem eine Auswahl an Preisen betrachtet wird. Dazu wird ein repräsentativer „Warenkorb“ ausgewählter Waren und Dienstleistungen zusammengestellt, der über einen längeren Zeitraum nicht verändert wird. Die Waren und Dienstleistungen werden darin un-terschiedlich gewichtet. Die Preisveränderungen dieses Warenkorbs geben die Veränderung des Preisniveaus an. Auf diese Weise errechnet sich der sogenannte Preisindex. […] Das Eu-rosystem ist dazu verpflichtet, die Preisstabilität im gesamten Euroraum zu gewährleisten. Aus diesem Grund wird ein gemeinschaftlicher Preisindex benötigt, der die nationalen Er-gebnisse in gewichteter Form zusammenführt. Ein solcher Preisindex muss hinreichend har-monisiert sein, d. h. die nationalen Indizes müssen nach einheitlichen Methoden berechnet

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werden, damit sie in einem Gesamtindex für den Euroraum zusammengeführt werden kön-nen. Diese Anforderung erfüllt der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI). Dieser wird vom Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) auf der Basis nationaler Er-gebnisse ermittelt und monatlich veröffentlicht.“ Quelle: Deutsche Bundesbank (2014): Geld und Geldpolitik, Frankfurt a.M.; S. 139 ff.

Warum hat die Preisstabilität den Vorrang vor anderen Zielen? „Herrscht Preisstabilität, sind Veränderungen der relativen Preise leicht erkennbar. Die Preisentwicklungen signalisieren dann unverfälscht, ob ein Gut knapper wird oder im Über-fluss vorhanden ist. Das sind wichtige Informationen sowohl für die produzierenden Unter-nehmen als auch für die Verbraucher. Preisstabilität verbessert somit die Transparenz und erhöht so die Kalkulations- und Planungssicherheit. Das wiederum sorgt für gute Rahmenbe-dingungen für Investitionen und damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wirt-schaftswachstum. Demgegenüber verzerrt Inflation die Preissignale und stört damit den Steuerungsmechanismus der Marktwirtschaft.

Zudem erhält Preisstabilität die Kaufkraft der Einkommen und verhindert die Entwertung von Geldvermögen. Bereits geringe jährliche Preissteigerungsraten schwächen den Geldwert auf mittlere und lange Sicht sehr deutlich. Das spüren besonders die Sparer und Anleger in festverzinslichen Wertpapieren. Zwar steigen mit der Inflation tendenziell auch die Zinsen. Doch kann man höhere Zinsen oft nur bei der Neuanlage eines Geldbetrags erzielen. Liegt das Geld einmal zu einem fixen Nominalzins langfristig fest, hat der Anleger bei unerwartet hohen Preissteigerungsraten gleich doppelt das Nachsehen: Sowohl die laufende Zinszahlung als auch das angelegte Geld verlieren an Wert. Inflation kann damit für die Altersvorsorge geplante Ersparnisse entwerten – und damit den Anreiz nehmen, private Vorsorge zu leisten. Während Inflation die Sparer benachteiligt, begünstigt sie die Schuldner. Denn ihre nomina-len Verbindlichkeiten verlieren real an Wert. Das setzt Anreize, Schulden aufzunehmen und das Geld zum Beispiel in Immobilien zu investieren. Solch eine „Flucht in die Sachwerte“ ist volkswirtschaftlich nicht effizient und kann zu spekulativen „Preisblasen“ führen, die großen Schaden anrichten können. Insgesamt führt Inflation zu einer willkürlichen Umverteilung von Vermögen und zu Wachstumseinbußen. Wie die Erfahrung lehrt, geht Inflation typischer-weise zu Lasten der sozial Schwächeren. Benachteiligt von Inflation sind vor allem die Bezie-her fester Einkommen (z. B. Gehalt, Rente, Sozialleistungen), da sie bei Inflation mit ihrem nominal fixen Einkommen weniger kaufen können.“ Quelle: Deutsche Bundesbank (2014): Geld und Geldpolitik, Frankfurt a.M.; S. 146 f.

Warum aber strebt die EZB eine Inflationsrate von „nahe 2 %“ an? „Auf den ersten Blick überrascht, dass der EZB-Rat auf eine leichte Preissteigerungsrate ab-zielt und nicht eine Preissteigerungsrate von null anstrebt. Die Gründe dafür sind, dass eine leicht positive Preissteigerungsrate nicht nur eventuellen Messfehlern beim HVPI begegnet, sondern auch eine „Sicherheitsmarge“ [Sicherheitspuffer, Anm. d. Verf.] gegen eine deflato-rische Entwicklung bietet. Deflation schadet der Volkswirtschaft ebenso wie Inflation.“ Quelle: Deutsche Bundesbank (2014): Geld und Geldpolitik, Frankfurt a.M.; S. 144

Die Gefahren der Deflation beschreibt die Journalistin Angela Göpfert: „Letzten Endes sind auf breiter Front fallende Preise, sprich eine Deflation, ein Quasi-Todesurteil für jede Volks-wirtschaft. […] Sie gibt den Konsumenten einen starken Anreiz, ihr Geld zu horten. Schließ-lich wird das Guthaben auf der Bank von Monat zu Monat mehr wert. Es lohnt sich, Käufe aufzuschieben, weil morgen alles ja noch billiger ist. Gleiches Spiel bei den Unternehmen. Zudem scheuen sie - wie auch die Haushalte - die Kreditaufnahme, um Investitionen zu fi-nanzieren. Denn in der Deflation werden auch Schulden real immer mehr wert. Die niedrige-

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re Nachfrage führt schließlich bei den Unternehmen zu sinkenden Gewinnen und letzten Endes sogar zu Pleiten. All das lähmt die Wirtschaft massiv. Hat sich die Deflation erst einmal eingenistet, sind steigende Arbeitslosigkeit und Pleitewellen bei den Firmen nicht zu vermei-den. Dadurch wird ein sich selbst verstärkender Prozess in Gang gesetzt, der weitere Jobkündigungen, sinkende Realeinkommen, eine sinkende Nachfrage, sinkende Gewinner-wartungen der Unternehmen und weitere Firmeninsolvenzen zur Folge hat.[…]“ Quelle: boerse.ARD.de, online unter: http://boerse.ard.de/boersenwissen/boersenwissen-grundlagen/wehe-wenn-die-deflation-kommt-100.html

Geldpolitische Ziele bedeutender Zentralbanken im Vergleich Europäische

Zentralbank Bank of England

Federal Reserve System (USA)

Bank of Japan Chinesische Volksbank

Ziele Preisstabilität

Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspoli-tik ohne Beein-trächtigung der Preisstabilität

Preisstabili-tät

Wachstum und Be-schäftigung vorbehalt-lich der Preisstabili-tät

stabile Prei-se

hoher Be-schäfti-gungsstand

moderate Langfristzin-sen

Preisstabili-tät als Bei-trag zur ge-sunden Entwicklung der Ge-samtwirt-schaft

Geldwert-stabilität

Förderung des Wirt-schafts-wachstums als Neben-ziel

Vorrangiges Ziel

Preisstabilität Preisstabilität kein vorrangiges Ziel

Preisstabilität Geldwertstabili-tät

Abbildung 1 https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Dossier/Service/schule_und_bildung_kapitel_

5html?notFirst=true&docId=137764#doc137764bodyText3

24

Abbildung 2 https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Bilder/Geld_und_Geldpolitik/geldwertverlust_bei_iinflationsraten.html?__blob=poster4

Hintergrund: Die Große Inflation

„Warum ist jemand damit einverstanden, einen duftenden Laib Brot gegen einen schnöden Papierzettel zu tauschen? Der Gegenwert des Geldscheins allein kann es nicht sein. Geld ist also mehr als nur Zettelwirtschaft; Geld ist eine gesellschaftliche Übereinkunft. Wer sein duftendes Brot gegen Papier tauscht, glaubt daran, dass er für dieses Papier künftig wieder etwas bekommt, das für ihn von Wert ist. Geld hat immer etwas mit Vertrauen zu tun. Also mit Emotionen. Im Ersten Weltkrieg zum Beispiel, da waren die Emotionen ganz auf Hurra-Patriotismus aus-gerichtet. Und die vielen, vielen Waffen, die viele, viele Tote produzierten, wurden auf Pump hergestellt. Im festen Glauben an den Sieg. Schatzanweisungen und Kriegsanleihen hießen in Deutschland die Zettel, die am Ende keinen Gegenwert hatten, denn es gab bald nichts mehr zu kaufen, nicht einmal Brot, geschweige denn duftendes. Als der Krieg dann verloren ging und Deutschland immense Reparationszahlungen zu leisten hatte, verschärfte sich das Prob-lem der Geldentwertung. Die Mark verlor gegenüber dem US-Dollar ständig an Wert. Im Ja-nuar 1920 hatte sie nur noch ein Zehntel ihres Umtauschwerts vom August 1914, im Oktober 1921 noch ein Hundertstel, ein Jahr später ein Tausendstel. Die Reparationen [Kriegsent-schädigungen] freilich mussten in harter Währung geleistet werden, in Goldmark, Devisen und Sachgütern. Als die Reichsregierung 1923 nicht mehr in der Lage war, die Reparationen zu bezahlen, be-setzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet. Die deutsche Regierung rief zum "Ruhrkampf" auf. Dieser passive Widerstand musste allerdings auch bezahlt werden. Die Streikenden brauchten ja Geld. Also warf die Regierung wieder die Druckerpressen an. Und die Mark wurde immer schneller immer weniger Wert. Im November 1923 musste man für einen US-Dollar bereits 4,2 Billionen Mark bezahlen.

25

Hyperinflation hieß das Gespenst, das fortan mehrere Generationen von Deutschen in Angst und Schre-cken versetzen sollte. Nicht nur, weil das Einkaufen angesichts der vielen Scheine etwas unbequem wurde, nein, vor allem weil die deutsche Wirtschaft kollabierte. Die Arbeitslo-sigkeit stieg, die Reallöhne fielen ins Bodenlose und die radikalen politi-schen Kräfte bekamen Zulauf. Die Nationalsozialisten bedruckten die wertlosen Geldscheine mit antijüdi-schen Karikaturen, um so zu zeigen, wen sie für die wirtschaftliche Kata-strophe verantwortlich machten.

Am 19. November 1923 wurde die Papier-Mark abgelöst durch die Rentenmark. Die Inflation war beendet, aber die Kosten der Geldentwertung blieben. Zu den Gewinnern gehörten die Schuldner - die privaten und vor allem die öffentlichen, also der hoch verschuldete Staat. Die Zeche zahlten die abhängig Beschäftigten. Und all jene, die nur Geldvermögen hatten. Auf diese Weise verlor nicht nur ein großer Teil der Mittelschicht seine finanziellen Rücklagen, auch die Sparguthaben von Arbeitnehmern und Kleingewerbetreibenden gingen verloren. Und mit ihnen das Vertrauen - nicht nur in das Geld, sondern in die Politik. Und das war be-kanntlich die schwerste Hypothek [hier: Belastung] für die junge Demokratie der Weimarer Republik. Quelle: http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/kalenderblatt/1911-hyperinflation-deutschland-geldentwertung-100.html, letzter Zugriff: 25.9.2015

„Nichts hat das deutsche Volk so erbittert, so hass-wütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.“ Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881 – 1942) in seiner im brasilianischen Exil verfass-

ten Biografie „Die Welt von gestern“)

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Geldpolitische Strategien

Wechselkurs-

Orientierung

Geldmengen-

ziel

Zins-

Orientierung Inflationsziel z.B. EZB (Euro-Zone)

BIP-

Orientierungz.B. FED (USA)

IB 1: Wirtschaftspolitische Ziele der Zentralbanken

Lesen Sie den nachfolgenden Informationstext:

Durch bewusste und aktive Steuerung der Geldmenge kann auf die Volkswirtschaft ei-nes Landes maßgeblich Einfluss genommen wer-den. Je nach Stra-tegien und Zielen, die man verfolgt, werden dann die Maßnahmen, die man zur Verände-rung der Geldmenge ergreift, unterschiedlich ausfallen. In der neben-stehenden Grafik sind die wichtigsten Orien-tierungen bzw. Strate-gien, die man mit der Geldmengensteuerung verfolgt, abgebildet.

Eine Orientierung am Wechselkurs bedeutet, dass man versucht, die Exporte durch einen niedrigen Wechselkurs zu fördern. Dies lässt sich aber mit dem Ziel der Geldwertstabilität kaum vereinbaren, weil dadurch zusätzliches Geld ins Land fließt, die Importe sich verteu-ern werden und es damit zu Preissteigerungen kommt.

Auch eine Orientierung an niedrigen Zinsen, um die Investitionslust zu steigern, kann Infla-tionsdruck erzeugen und somit die Geldwertstabilität gefährden.

Ist das angestrebte Ziel ein stetiges und möglichst hohes Wirtschaftswachstum (= BIP-Orientierung), so besteht ebenfalls die Gefahr, dass man durch steigende Nachfrage Infla-tion zulässt oder durch Außer-Acht-Lassen des Wechselkurses übermäßig viele Devisen ins Land holt und die Stabilität des Geldwerts riskiert.

Die EZB hat nach dem Vertrag von Maastricht (1991) das vorrangige Ziel der inneren Geldwertstabilität, also die Inflation möglichst niedrig zu halten und in weiterer Folge über klare Regeln das Geldmengenwachstum zu begrenzen (Anmerkung: Vertiefende In-formationen dazu erhalten Sie im Rahmen des IB 2).

Anmerkung: Der Grund, dass gerade dieses Ziel der Geldwertstabilität in Europa so stark im Vor-dergrund stand bzw. steht, hat vor allem geschichtliche Gründe. Einerseits standen bzw. stehen die Europäer noch immer unter den massiven Eindrücken der Geldentwertungen nach dem 1. und 2. Weltkrieg, andererseits waren die Deutschen nur bereit die Deutsche Mark zugunsten des Euro aufzugeben, wenn die Geldwertstabilität gesichert ist. Allerdings spielten in der Vergangenheit für einige Länder auch andere wirtschaftspolitische Ziele, die nicht unbedingt mit dieser geldpolit i-schen Strategie vereinbar sind, eine wichtige Rolle; z. B. in Österreich die Bekämpfung der Arbeits-losigkeit, in Frankreich die Exportförderung (Wechselkursorientierung).

Quelle: arbeiten + lernen/Wirtschaft, Nr. 33 (1999), leicht verändert

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IB 2: Die zwei Säulen der geldpolitischen Strategie der EZB

Lesen Sie den nachfolgenden Informationstext:

Preisstabilität laut EZB ist – wie Sie bereits wissen - dann gegeben, wenn die Zunahme des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), also der durchschnittliche Preisanstieg in den Ländern des Eurosystems, weniger als zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr beträgt.

Die Preisentwicklung wird von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt. Beispielsweise kann die Ursache einer Preissteigerung in einer starken Nachfrageausweitung begründet liegen, weil die Verbraucher deutlich mehr konsumieren. Auch der Staat oder das Ausland können mit einer zusätzlichen Nachfrage Preisschübe auslösen. Inflation kann aber auch angebotsseitige Ursachen haben. So können ein Anstieg von Rohstoffpreisen oder höhere Löhne die Kosten der Unternehmen nach oben treiben.

Der EZB-Rat stützt sich bei seinen geldpolitischen Entscheidungen auf eine umfassende Ana-lyse von Indikatoren, die auf Risiken für die Preisstabilität hinweisen. Dieser Analyse liegen zwei sich ergänzende Ansätze zugrunde:

Bei der „wirtschaftlichen Analyse“ macht sich der EZB-Rat anhand zahlreicher gesamt-wirtschaftlicher und finanzieller Indikatoren ein umfassendes Bild über die kurz- und mittel-fristigen Inflationsaussichten.

Bei der „monetären Analyse“ steht die Entwicklung der Geldmenge und der Kredite im Mit-telpunkt der Beobachtung. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Inflation durch ein über-mäßiges Wachstum der Geldmenge (geldmengenbedingte Inflation) ausgelöst wird. Daher versucht die EZB, die Preisstabilität durch eine gezielte Steuerung der Geldmenge sicherzu-stellen.

Im Zentrum der wirtschaftlichen Analyse steht also die Beurteilung der realwirtschaftlichen Entwicklungen auf den einzelnen Märkten (z. B. Entwicklungen auf den Güter- und Dienst-leistungsmärkten, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Entwicklung der Nachfrage, die außenwirtschaftliche Lage).

Um seine Entscheidungen transparent zu machen, veröffentlicht das Eurosystem zweimal im Jahr, im Juni und Dezember, eine gesamtwirtschaftliche „Projektion“. Diese liefert eine quantitative Einschätzung der Wachs-tums- und Preisperspektiven auf Basis einer Reihe von Annahmen, wie beispielsweise der vom Markt erwarteten zukünftigen Zentralbankzinsen, der Entwicklung des Wechselkurses und des Ölpreises. Die Projektionen werden zweimal jährlich von EZB-Experten aktualisiert, im März und im September. Die Projektionen des Eurosystems sind, wie alle wirtschaftlichen Prognosen, mit beträchtlicher Unsicherheit behaftet, da sich viele der Grundan-nahmen – z. B. Ölpreise und Wechselkurse – rasch ändern können. Deshalb können die Projektionen nicht die einzige Richtschnur für die geldpolitischen Entscheidungen des EZB-Rats sein. Sie liefern jedoch wichtige An-haltspunkte für die künftige Wirtschafts- und Preisentwicklung im Euroraum.

(Quelle:http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Dossier/Service/schule_und_bildung_kapitel_6.html)

Im Mittelpunkt der monetären Analyse steht der Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisentwicklung. Die EZB beobachtet – über längere Zeiträume hinweg - insbesondere die trendmäßige Entwicklung der Geldmenge M3, die wichtige Informationen für die kommende Preisentwicklung liefert. Die EZB ist bestrebt, die Geldmenge M3 im Vergleich zur Güter-menge angemessen wachsen zu lassen und doch gleichzeitig knapp zu halten. Theoretische Grund-lage für diese Geldmengensteuerung ist die Quantitätsgleichung.

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Die Geldmengenentwicklung kann allerdings kurzfristig durch Faktoren beeinflusst werden, die ihre Aussage-kraft als Indikator für die kommende Inflationsentwicklung beeinträchtigen. Beispielsweise können die Wirt-schaftssubjekte in großem Stil Kredite aus spekulativen Motiven aufnehmen, nämlich um damit Käufe von Vermögenswerten wie Aktien, Anleihen und Investmentfondsanteilen zu finanzieren. Die mit der Kreditauf-nahme verbundene Schöpfung von Buchgeld führt dann nicht zu erhöhter Nachfrage nach Gütern und Dienst-leistungen, aber möglicherweise zu einem Anstieg der Preise für Vermögenswerte. Die Veränderung der Geld-menge sagt in einem solchen Umfeld möglicherweise wenig über die künftige Entwicklung der Verbraucher-preise und Risiken für die Preisstabilität aus. Das Eurosystem untersucht deshalb neben dem M3-Wachstum auch die Entwicklung der Geldmengen M1 und M2, ferner die Gegenposten der Geldmenge, dabei insbesonde-re die Entwicklung der Kredite, sowie weitere Faktoren, die Tendenzen zur Preissteigerung oder -senkung aus-lösen können.

(Quelle:http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Dossier/Service/schule_und_bildung_kapitel_6.html)

Aus der laufenden Beobachtung dieser beiden Kernbereiche (wirtschaftlicher und monetä-rer Entwicklung) versucht die EZB eine geldpolitische Strategie zu entwickeln, die am vor-gegebenen Stabilitätsziel orientiert ist. Die Entwicklung der geldpolitischen Strategie der EZB ruht also auf zwei Säulen, wie die folgende Grafik anschaulich zeigt. Einen zentralen Stellen-wert in diesem Konzept nimmt also das „Prinzip der Geldmengensteuerung“ ein:

Görgens, E., u.a.: Europäische Geldpolitik

Auf der Basis des zu erwartenden Wachstums des realen Bruttoinlandsprodukts und der möglichen Veränderungen der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes lässt sich vereinfacht ge-sagt – in Anlehnung – an die Quantitätsgleichung die angestrebte Ausdehnung der Geld-menge ableiten. Die EZB gibt einen Referenzwert bekannt, der also konkret angibt, um wie viel Prozent die Geldmenge M3 in der Eurozone wachsen soll/darf. Beträgt der Referenzwert z. B. 4,5 %, so bedeutet das, dass die EZB ein jährliches Wachstum der Geldmenge M3 in Hö-he von 4,5 % als mit Preisstabilität vereinbar ansieht. Die Bezeichnung Referenzwert bedeu-tet, dass diese Größe keinen bindenden Charakter hat. Die EZB braucht also bei einer Zu-nahme der Geldmenge nur dann einschreiten, wenn sie die Preisstabilität gefährdet sieht.

Anmerkung: Der Referenzwert für das Geldmengenwachstum liegt laut Vorgabe der EZB seit Beginn der EWU bei 4,5 % pro Jahr. Dieser Wert wurde in den letzten Jahren häufig deutlich überschritten. Beispiel: Feb-ruar 2008: Anstieg der Geldmenge M3 um 11,3 %. In den letzten beiden Jahren sank die Geldmenge M3 teilweise bzw. lag die Wachstumsrate deutlich unter dem Referenzwert. Daher verlor die EZB in ihren Monatsberichten kaum mehr ein Wort über den Referenzwert.

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AB 9: Die geldpolitischen Instrumente der EZB

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Verdeutlichen Sie an dem Schaubbild „Adressaten der Geldpolitik“ Möglichkeiten und Grenzen der Geldpolitik.

2. Nennen Sie die Bestandteile der Zentralbankgeldmenge und erläutern Sie die Bedeu-tung des ESZB-Monopols auf Zentralbankgeld.

3. Analysieren Sie die Entwicklung der drei EZB-Zinssätze hinsichtlich ihrer Höhe und ihres Abstands zueinander.

4. Setzen Sie die Entwicklung der Zinssätze am Interbankenmarkt in Beziehung zur Ent-wicklung der EBZ-Zinsen.

5. Begründen Sie, warum die EZB während der Finanzkrise den Mindestreservesatz von 2% auf 1 % senkte.

6. Familie Meyer plant den Kauf einer Eigentumswohnung. Hocherfreut reagiert Herr Meyer auf die Nachricht, der EZB-Rat habe die Leitzinsen gesenkt: „Dann sollten wir gleich morgen zur Bank gehen und den Kredit beantragen.“ Frau Meyer aber meint: „Freut dich nicht zu früh.“ – Betrachten Sie das Schema „Transmission geldpolitischer Impulse“ und nehmen Sie dann zu der kleinen Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn und Frau Meyer Stellung.

Adressaten der Geldpolitik: Indirekte Steuerung

Die zentrale Aufgabe des Eurosystems besteht darin, die Preisstabilität zu sichern. Die EZB und die nationalen Zentralbanken der Währungsunion, die zusammen das Eurosystem bil-den, können allerdings weder die Preise auf den Gütermärkten noch auf den Faktormärkten direkt steuern, denn diese bilden sich durch Angebot und Nachfrage. Das Eurosystem kann allerdings durch seine geldpolitischen Entscheidungen, zum Beispiel durch eine Senkung oder Erhöhung der Leitzinsen, auf die Kreditvergabe der Geschäftsbanken einwirken und dadurch indirekt auf die Nachfrage der volkswirtschaftlichen Akteure.

Refinanzierungs-konditionen Die Bedingungen (Konditionen), zu denen sich Ban-ken die Mittel für ihre Kreditverga-be bei der Zen-tralbank oder am Geldmarkt be-schaffen können.

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Zentralbankgeld als Hebel

„Ein wichtiger Ansatzpunkt der Geldpolitik ist der Bedarf der Geschäftsbanken an Zentral-bankgeld. Dieser Bedarf ergibt sich zum einen daraus, dass die Bankkunden Zentralbankgeld in Form von Bargeld nachfragen. Zum anderen verpflichtet das Eurosystem die Geschäfts-banken zur Haltung von Mindestreserven in Form von Zentralbankgeld. Demnach muss eine Geschäftsbank auf ihrem Konto bei der Zentralbank […] eine bestimmte Einlage halten, de-ren Umfang sich aus der Höhe ihrer Kundeneinlagen ergibt. Darüber hinaus benötigen Ge-schäftsbanken Zentralbankgeld für die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Um dem Bedarf an Zentralbankgeld nachzukommen, vergibt das Eurosystem an die Geschäfts-banken üblicherweise Kredite. Den Kreditbetrag schreibt die kreditgewährende Zentralbank der Geschäftsbank auf deren Zentralbankkonto als Einlage gut. Diese Einlagen auf Konten der Zentralbanken des Eurosystems sowie das umlaufende Bargeld sind Zentralbankgeld. Die Bezeichnung weist darauf hin, dass dieses Geld nur von der Zentralbank geschaffen werden kann. Dieses Monopol ist ein wichtiger Hebel, mit dem das Eurosystem auf die Geschäftstä-tigkeit der Banken, insbesondere auf deren Konditionen im Kredit- und Einlagengeschäft, Einfluss nimmt.“ Quelle: Deutsche Bundesbank (2014): Geld und Geldpolitik, Frankfurt a.M.; S.165 f.

Zwei Formen der geldpolitischen Einflussnahme

Die EZB hat verschiedene Möglichkeiten, auf die Geschäftstätigkeit der Geschäftsbanken einzuwirken. Sie kann das Kreditangebot der Geschäftsbanken über Liquiditätsmaßnahmen und die Kreditnachfrage der Haushalte und Unternehmen über die Zinshöhe zu beeinflussen.

Beeinflussung der Liquidität: Benötigen die Geschäftsbanken für die Vergabe von Krediten an Unternehmen und Haushalte Zentralbankgeld und stellt die Notenbank dieses Zentral-bankgeld tatsächlich bereit, so kommt es zu einer Liquiditätszuführung, also zu einer Erhö-hung der Geldmenge. Bei normalen Marktreaktionen wird das Angebot an Krediten (= Kre-ditvolumen) also steigen und die Zinsen werden tendenziell sinken.

Beeinflussung des Zinssatzes: Die Bereitschaft der Nichtbanken (Haushalte und Unterneh-men) Kredite aufzunehmen, hängt vor allem von der jeweiligen Zinshöhe ab. Erhöht die No-tenbank die Zinsen, so wird bei normalen Marktreaktionen die Kreditnachfrage sinken und das Kreditvolumen ebenfalls zurückgehen, d. h. die Geldmenge wird sinken.

Geldpolitische Instrumente

Die geldpolitischen Instrumente der EZB, die bis zur Finanz- und Staatschuldenkrise fast aus-schließlich zum Einsatz kamen, kann man in drei Gruppen einteilen:

Offenmarktgeschäfte

Im Rahmen dieser Geschäfte kauft bzw. verkauft die Zentralbank am Geld- oder Kapitalmarkt von den Geschäftsbanken Wertpapiere. Diese Offenmarktgeschäfte werden meist zeitlich befristet abgeschlossen, d. h. es wird im Vorhinein festgelegt, wann der Rückkauf der Wert-papiere durch die Geschäftsbanken bzw. die Rückführung der Wertpapiere an die Zentral-bank zu erfolgen hat. Das wichtigste Instrument der Offenmarktpolitik sind die Hauptrefi-nanzierungsgeschäfte, die wöchentlich mit einer Regellaufzeit von sieben Tagen ausgewähl-ten Geschäftsbanken angeboten werden. Die Offenmarktgeschäfte werden in der Regel im Versteigerungsverfahren (=Tenderverfahren) abgewickelt (engl. tender = Bieter). Der Zins-satz für diese Hauptrefinanzierungsgeschäfte ist der wichtigste Zinssatz im Eurosystem und

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wird daher auch als Leitzins bezeichnet. Daneben gibt es auch längerfristige Refinanzie-rungsgeschäfte mit einer Laufzeit von ursprünglich drei Monaten und seit der Krise von bis zu drei Jahren, die ebenfalls im Tenderverfahren durchgeführt werden.

Ständige Fazilitäten

Die ständigen Fazilitäten (engl. facility „Möglichkeit“oder „Gelegenheit“) dienen dazu, sehr kurzfristig, d.h. für nur einen Tag, Liquidität bereitzustellen bzw. abzuschöpfen. Die Spitzen-refinanzierungsfazilität erlaubt den Geschäftsbanken sich über Nacht gegen Verpfändung von Wertpapieren und Bezahlung von Zinsen Zentralbankgeld zu beschaffen. Über die Einla-gefazilität können die Geschäftsbanken über Nacht Geldüberschüsse bei der EZB anlegen, die zu einem vorgegebenen Zinssatz verzinst werden. Die Zinssätze der ständigen Fazilitäten bilden die Ober- und Untergrenze für den Tagesgeldzins, zu dem Banken am Geldmarkt für die Dauer von nur einem Tag Zentralbankgeld leihen bzw. verleihen: Keine Bank, die über ausreichend Sicherheiten verfügt, wird einer anderen Bank für einen Übernachtkredit einen höheren Zins als den Spitzenrefinanzierungssatz zahlen. Und keine Bank wird Zentralbank-geld an eine andere Bank zu einem niedrigeren Zins als dem Einlagesatz verleihen, den sie bei Zentralbank erhalten kann.

Euribor – Zinssatz für Termingelder in Euro im Interbankengeschäft (Handel mit Zentralbankgeld zwischen den Banken) EONIA – Zinssatz für unbesicherte Ausleihungen in Euro auf dem Interbankenmarkt von einem Tag auf den nächsten („Tagesgeld“)

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Mindestreserve

Die Geschäftsbanken müssen bei den nationalen Zentralbanken Guthaben – auch als Min-destreserven bezeichnet – in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes ihrer kurzfristigen Ver-bindlichkeiten halten. Durch die Veränderung des Mindestreservesatzes kann die EZB eben-falls die Geldschöpfungsmöglichkeiten der Geschäftsbanken beeinflussen. Wird er beispiels-weise gesenkt, müssen sich die Geschäftsbanken weniger Zentralbankgeld beschaffen und entsprechend weniger Sicherheiten beim Eurosystem hinterlegen.

Ein langer Weg von der Zinsentscheidung der EZB bis zum Ziel: Der Transmissionsmechanismus

Der Prozess, durch den sich zinspolitische Entscheidungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen und das Preisniveau im Besonderen auswirken, wird als Transmissionsmechanismus der Geldpolitik bezeichnet. Die Transmission (Übertragung) geldpolitischer Impulse auf die Re-alwirtschaft erfolgt über komplizierte und lange Wirkungsketten und wirkt sich erst mit er-heblicher zeitlicher Verzögerung auf die Preisentwicklung aus, wie selbst die folgende stark vereinfachte Darstellung verdeutlicht.

Deutsche Bundesbank, Januar 2013

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AB 10: Wirkungen der Geldpolitik: Transmissionsmechanismus – eine kurzgefasste Einführung

Beantworten Sie bitte die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Erläutern Sie den Begriff „Transmissionsmechanismus“.

2. Beschreiben Sie stichwortartig, welche Auswirkungen eine Senkung der Leitzinsen über den …

a) Zinskanal b) Wechselkurskanal c) Vermögenskanal d) Bilanzkanal e) Kreditkanal auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bzw. das Preisniveau hat.

3. Über welchen der Kanäle läuft vorwiegend die geldpolitische Transmission im Euro-raum?

4. Geldpolitische Maßnahmen wirken erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auf die Preisentwicklung. Um welche Zeitspanne handelt es sich hier durchschnittlich?

Die Geldpolitik beeinflusst die Wirtschaft und das Preisniveau über verschiedene Kanäle. Der Prozess, der die Wirkung der Geldpolitik beschreibt, wird als „Transmissionsmechanis-mus“ der Geldpolitik bezeichnet.

Am Anfang der (langen) Wirkungskette, über die sich geldpolitische Entscheidungen auf das Preisniveau auswirken, steht eine Änderung der von der Zentralbank für ihre geldpolitischen Geschäfte festgesetzten Leitzinsen. Dadurch übt die Zentralbank einen dominierenden Ein-fluss auf den Geldmarkt aus und kann so die Zinssätze auf dem Geldmarkt steuern. Ände-rungen der Geldmarktsätze wirken sich wiederum auf andere (längerfristige) Zinssätze aus.

Der Transmissionsmechanismus

Die Übertragung geldpolitischer Impulse auf die Realwirtschaft umfasst eine Reihe unter-schiedlicher Mechanismen und Maßnahmen seitens der wirtschaftlich Handelnden (Trans-missionskanäle). Entsprechend schlagen geldpolitische Maßnahmen in der Regel erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auf die Preisentwicklung durch.

Zinskanal

Über diesen Kanal löst eine Anhebung der geldpolitischen Leitzinsen höhere kurzfristige Marktzinssätze aus. Infolgedessen steigen der Realzinssatz sowie die Kapitalkosten und da-her sinken die Investitionen. Darüber hinaus wird mehr gespart bzw. weniger konsumiert. Infolge dessen kommt es zu einer Reduktion der Nachfrage.

Wenn die Nachfrage unter das Angebot sinkt, dürfte es im Ergebnis zu einem Abwärtsdruck auf die Preise kommen. Darüber hinaus kann sich eine geringere Binnennachfrage in einer Verschärfung der Lage am Arbeitsmarkt niederschlagen, was wiederum die Preis- und Lohn-bildung am jeweiligen Markt dämpft.

Der Anstieg der Preise wird durch die Erhöhung der Leitzinsen also insgesamt geringer.

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Die Zinspolitik funktioniert auch in die andere Richtung. Durch eine Senkung der Leitzinsen werden die Nachfrage und damit das BIP-Wachstum angekurbelt und die Inflation steigt.

Wechselkurskanal

Eine Anhebung der geldpolitischen Leitzinsen hat Einfluss auf die Wechselkurse. Steigen die Zinsen im Inland, so gewinnen Anlagen in heimischer Währung – im Vergleich zu Anlagen in Fremdwährungen – an Attraktivität. Infolge dessen strömt Vermögen in den eigenen Wäh-rungsraum und die heimische Währung wertet auf.

Aufgrund dieser Aufwertung werden inländische Güter teurer als importierte Güter. Dies hat einen Rückgang der Nachfrage nach im Inland produzierten Waren und somit eine geringere gesamtwirtschaftliche Produktion zur Folge. Der Wechselkurskanal wirkt umso stärker, je offener eine Volkswirtschaft gegenüber anderen Volkswirtschaften ist.

Zusätzlich gibt es einen direkten Effekt des Wechselkurskanals auf die Inflationsentwicklung. Eine Aufwertung der heimischen Währung bedeutet, dass importierte Güter billiger werden, was die Inflation dämpft.

Vermögenskanal

Die Geldpolitik wird auch über die Preise von Vermögenswerten, wie zum Beispiel Aktien-kursen und Immobilienpreisen, übertragen. Eine Anhebung der Leitzinssätze (sprich eine restriktive Geldpolitik) lässt Anleihen im Vergleich zu Aktien attraktiver erscheinen, da sie nach der Leitzinserhöhung einen höheren Ertrag versprechen. Dies senkt die Aktiennachfra-ge, was wiederum die Aktienkurse dämpft. Andererseits erhöht eine Zinsanhebung die Kos-ten der Wohnungsfinanzierung und senkt damit die Nachfrage nach Wohnraum, wodurch die Immobilienpreise ebenfalls gedämpft werden.

Geringere Aktienkurse und Immobilienpreise bewirken, dass das Vermögen privater Haus-halte abnimmt. Dadurch schrumpfen die Geldmittel der Haushalte. Dies wiederum bewirkt ein geringeres Konsumwachstum und damit eine gedämpfte gesamtwirtschaftliche Nachfra-ge.

Bilanzkanal

Veränderungen in den Preisen von Immobilien, Aktien und anderen Vermögenswerten be-einflussen nicht nur die verfügbaren Geldmittel von Haushalten und Unternehmen, sondern auch deren Möglichkeit, Kredite aufzunehmen. Sinken die Preise der Vermögenswerte, so sinkt in der Bilanz das Reinvermögen. Ein geringeres Reinvermögen bedeutet, dass weniger Sicherheiten für die an eine Firma oder an einen Haushalt vergebenen Kredite vorliegen. Dies führt wiederum zu einer geringeren Kreditvergabe, zu kleineren Investitions- und Kon-sumausgaben und damit zu einer gedämpften gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.

Kreditkanal

Änderungen der Leitzinsen wirken sich auf das Kreditangebot aus. Infolge einer Leitzinserhö-hung refinanzieren sich Geschäftsbanken zu schlechteren Konditionen weil …

die Geldmarktzinsen steigen und die Geschäftsbanken für Einlagen von Privatpersonen mehr bezahlen müssen.

Ist es für eine Geschäftsbank schwieriger (teurer) sich zu refinanzieren, fällt es ihr auch schwerer neue Kredite zu vergeben. Das Kreditangebot geht zurück. Bei einer Zinserhöhung

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steigt auch das Risiko, dass einige Kredite nicht ordnungsgemäß zurückbezahlt werden kön-nen. Dieses Risiko kann aus Sicht der Bank so hoch werden, dass Banken keine Kredite mehr gewähren. Auch in diesem Fall geht das Kreditangebot zurück. In beiden Fällen sind private Haushalte und Unternehmen gezwungen, ihre Konsumausgaben bzw. Investitions-pläne auf-zuschieben.

Mithilfe der nachfolgenden Grafik werden diese komplexen Zusammenhänge nochmals ver-anschaulicht:

(https://www.oenb.at/Geldpolitik/Wirkung-der-Geldpolitik.html, gekürzt, ergänzt und vereinfacht)

Zusammenfassend ist anzumerken:

Geldpolitik in der Eurozone wirkt vorwiegend über den Zinskanal. Eine Anhebung (Senkung) der Zinsen führt zu einem vorübergehenden Rückgang (Anstieg)

der Wirtschaftsleistung, der nach rund 1 – 1 ½ Jahren seinen Höhepunkt erreicht. Die Auswirkungen auf die Inflationsentwicklung dauern noch länger. Einen spürbaren Ef-

fekt auf die Inflation beobachtet man nach rund 1 ½ - 2 Jahren. Schlussfolgerung: Um die Leitzinsen richtig zu setzen, braucht die Zentralbank eine

Prognose über die Entwicklung der Inflation in 1 ½ - 2 Jahren.

([email protected], stark gekürzt und vereinfacht)

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IB 3: Worin bestehen die Unterschiede zwischen „Mengen- und Zinstender“

Lesen Sie den nachfolgenden Informationstext:

Im Zentrum der geldpolitischen Instrumente der EZB stehen die so genannten Offenmarkt-geschäfte, bei denen die EZB Wertpapiere für eigene Rechnung auf dem Geld- oder Kapital-markt kauft oder verkauft. Die Geschäftspartner der EZB sind alle mindestreserve-pflichtigen Kreditinstitute in der Eurozone.

Offenmarktgeschäfte werden überwiegend im Versteigerungsverfahren (= Tenderverfahren) durchgeführt. Bei den Offenmarktgeschäften wird zwischen

Hauptrefinanzierungsgeschäften (sprich „Haupttender“) Längerfristigen Refinanzierungsgeschäften (sprich „Basistender“) Feinsteuerungsoperationen Strukturellen Operationen

unterschieden.

Hauptrefinanzierungsgeschäfte

Bei den Hauptrefinanzierungsgeschäften kauft die EZB Wertpapiere auf Zeit. Nach Ablauf der Frist müssen die Geschäftsbanken die Papiere wieder zurückkaufen. Die wichtigsten Merk-male der Hauptrefinanzierungsgeschäfte sind:

Sie werden regelmäßig durchgeführt (jede Woche). Sie haben normalerweise eine Laufzeit von einer Woche. Sie werden von den nationalen Zentralbanken ausgeführt.

Die EZB führt die Hauptrefinanzierungsgeschäfte in der Regel als Mengentender durch. Die Höhe des Zinssatzes, der den Kreditinstituten verrechnet wird, wird vom EZB-Rat beschlos-sen. Dieser Zinssatz – er wird meist als Leitzinssatz bezeichnet – markiert die zinspolitische Grundlinie der EZB [derzeitige Höhe: 0,05 %; seit September 2014].

Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte

Im Gegensatz zu den Hauptrefinanzierungsgeschäften sollen hier den Kreditinstituten länger-fristig Gelder zur Verfügung gestellt werden. Die wichtigsten Merkmale der längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte sind:

Sie werden regelmäßig durchgeführt (jeden Monat). Sie haben längere Laufzeiten (3 Monate oder auch länger). Sie werden von den nationalen Zentralbanken ausgeführt.

Die EZB führt die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte entweder als Mengen- oder Zins-tender durch.

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Mengentender

Beim Mengentender gibt die EZB neben dem Kreditvolumen auch den Zinssatz vor. Die Ge-schäftsbanken geben Gebote über den Betrag ab, über den sie bei dem gegebenen Zinssatz Geschäfte abschließen wollen. Übersteigt das Bietungsaufkommen den angestrebten Zutei-lungsbetrag, so werden die Gebote anteilig im Verhältnis des vorgesehenen Zuteilungsbetra-ges zum Gesamtbietungsaufkommen zugeteilt. (Quelle: Albers: Volkswirtschaftslehre, 11. Auflage, 2015)

Musterbeispiel für Mengentender:

Zinstender

Beim Zinstender wird von der EZB kein fester Zinssatz vorgegeben; sie kann jedoch einen Mindestbietungssatz festlegen. Die Geschäftsbanken geben Gebote über die Beträge und Zinssätze ab, zu denen sie Geschäfte abschließen wollen.

Banken können für bis zu zehn verschiedene Zinssätze Gebote abgeben. Bei jedem Gebot geben sie den Betrag und den entsprechenden Zinssatz an. Gebote, die unter dem Mindestbietungssatz liegen, werden nicht berücksichtigt. Für die Zuteilung werden die Gebote vom höchsten bis zum niedrigsten Zinssatz aufgelis-tet. Die Gebote mit den höchsten Zinssätzen werden zuerst berücksichtigt; die Gebote mit den darauf folgenden niedrigeren Zinssätzen werden so lange bedient, bis die gesamte vorge- sehene Liquiditätsmenge ausgeschöpft ist. Wenn beim niedrigsten Zinssatz der Gesamtbetrag der Gebote über dem noch zuzuteilen- den Betrag liegt, wird dieser anteilig unter den Geboten aufgeteilt. (Quelle: Albers: Volkswirtschaftslehre, 11. Auflage, 2015)

Musterbeispiel für Zinstender:

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Im Zuge der Euro-Schuldenkrise ging die EZB auf eine Vollzuteilungspolitik über. Den Ge-schäftsbanken wurde/wird in diesem Fall jeder von ihnen gewünschte Betrag an Zentral-bankgeld zur Verfügung gestellt, sofern sie ausreichend Sicherheiten stellen konnten/ kön-nen.

Das nachfolgend – auszugsweise - abgebildete Originalbeispiel veranschaulicht dies:

(Quelle: Albers: Volkswirtschaftslehre, 11. Auflage, 2015 und Monatsbericht der EZB, 12/2014)

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AB 11: Überprüfen Sie Ihr Wissen!

Versuchen Sie bitte die nachfolgenden Fragen zu beantworten:

1. Für die Erfüllung der Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) ist in erster Linie die Europäische Zentralbank (EZB) zuständig. Die EZB ist sozusagen die Schalt-stelle des ESZB. (a) Nennen Sie die Organe der EZB und beschreiben Sie deren Zusammensetzung.

(b) Erläutern Sie die wichtigsten Aufgaben der einzelnen Organe.

2. Die geldpolitischen Entscheidungen im Euro-Währungsgebiet werden im Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken und hier letztlich von der Europäischen Zentral-bank getroffen. Kreuzen Sie an, ob die folgenden Aussagen richtig oder falsch sind. Korri-gieren Sie die falschen Aussagen.

Aussage Richtig Falsch Korrektur

Das Eurosystem umfasst derzeit 18 Länder wobei Litauen und Montenegro erst mit Jahresbeginn 2015 der Eurozone beigetre-ten sind.

Wichtigstes Organ der EZB ist der EZB-Rat. Er setzt sich aus den Mitgliedern des Direk-toriums und den Zentralbankpräsidenten der Euroländer zusammen.

Das Direktorium setzt sich aus dem Präsi-denten und bis zu vier weiteren Mitgliedern zusammen. Es ist für die Abwicklung der laufenden Geschäfte zuständig.

Die Ausgabe von Banknoten in der Eurozo-ne muss durch das Direktorium genehmigt werden.

Eine zentrale Aufgabe des EZB-Rates be-steht darin, Entscheidungen über die Höhe des Leitzinses zu treffen.

Die EZB ist bei der Wahrung ihrer Aufgaben unabhängig, das heißt, weder EU-Institutionen noch nationale Regierungen können ihr Weisungen erteilen.

3. Das vorrangige Ziel der ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Für die Erreichung dieses Zieles ist vor allem die Geldpolitik der EZB zuständig. Ihren Niederschlag findet die-se Politik in der Geldpolitischen Strategie der EZB.

(a) Wie hat der EZB-Rat – in quantitativer Hinsicht – das Ziel „Preisstabilität“ definiert?

(b) Erläutern Sie in diesem Zusammenhang – in kurz gefasster Form – das so genannte „Zwei-Säulen-Konzept“ der EZB.

(c) Erklären Sie den Begriff „Referenzwert“.

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4. Im Zentrum der wirtschaftlichen Analyse der EZB steht die Beurteilung der realwirtschaft-

lichen Entwicklungen auf den einzelnen Märkten. Zur Beurteilung dieser Entwicklungen wendet sie verschiedene Indikatoren an. Kreuzen Sie jene nachfolgenden Indikatoren an, die dazu zählen:

(a) Arbeitsmarkt (Anzahl der Beschäftigten und Arbeitslosen)

(b) Konjunkturelle Entwicklung

(c) Entwicklung der Geldmenge

(d) Entwicklung der Inflationsrate

5. Mehrere Regierungen von Eurostaaten verlangen von der EZB die Senkung der Zinsen, um das Wirtschaftswachstum „anzukurbeln“. Ist dies rechtlich möglich? (Begründen Sie Ihre Antwort!)

6. Erläutern und begründen Sie die voraussichtliche Wirkung folgender Maßnahmen: (a) Die EZB erhöht die Zinsen.

(b) Die EZB führt den Geschäftsbanken Liquidität zu.

7. Nennen Sie jene zwei Faktoren, welche die Kreditnachfrage bzw. das Kreditangebot be-stimmen!

8. Nennen Sie die drei wichtigsten geldpolitischen Instrumente der EZB.

9. Erklären Sie das Instrument der „Ständigen Fazilitäten“ und nennen Sie die zwei Formen der „Ständigen Fazilitäten“.

10. Was sind „Mindestreserven“? Wie wirkt sich eine Erhöhung des Mindestreservesatzes auf die Geldmengenentwicklung aus?

11. Die EZB entschließt sich den Mindestreservesatz zu erhöhen. Welche Auswirkungen hat dies für das Bankensystem? Kreuzen Sie die richtige/n Antwort/en an!

(a) Die Geldschöpfungsmöglichkeit der Geschäftsbanken steigt.

(b) Die Erhöhung der Mindestreserve wirkt wie eine Liquiditätsabschöpfung.

(c) Die Zinsen werden sinken.

(d) Das Kreditvolumen bzw. Kreditangebot verringert sich.

12. Mithilfe welcher Instrumente können Geschäftsbanken einen sehr kurzfristigen Geldbe-darf abdecken? Kreuzen Sie die richtige/n Antwort/en an!

(a) Hauptrefinanzierungsgeschäfte

(b) Devisenswapgeschäfte

(c) Spitzenrefinanzierungsfazilität

(d) Einlagefazilitäten

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AB12: Üben und Anwenden

Versuchen Sie bitte die nachfolgenden praxisbezogenen Beispiele zu lösen:

Ü 1: Leitzinsen – ein ständiges Auf und Ab

Sie lesen die folgende Zeitungsnachricht:

EZB senkt Leitzins unerwartet von 0,15 auf 0,05 Prozent Der Rat der Europäischen Zentralbank reagierte auf die schwächelnde Konjunktur mit einer Leitzins-Senkung. Doch nicht alle EZB-Mitglieder waren dafür.

Damit hat am Donnerstag kaum einer gerechnet: Der Rat der Europäische Zentralbank hat den Leitzins im Euro-raum auf ein neues Rekordtief von 0,05 Prozent gesenkt. Die Entscheidung kam nicht nur überraschend, sie wurde offenbar auch heiß diskutiert: EZB-Chef Mario Draghi bestätigte, dass der Be-schluss nicht einstimmig gefallen ist. Vermutet wird, dass unter anderem die Deutsche Bundesbank dagegen war, Bestätigung gibt es noch keine. Ange-hoben wurde der sogenannte "Straf-zins" für Banken: 0,2 Prozent müssen die Institute ab sofort bezahlen, wenn sie Geld bei der Notenbank parken, anstatt es in Form von Krediten an Unternehmen weiterzureichen.

(Quelle: www.diepresse.com, 4.9.2014, stark gekürzt)

Welche Auswirkungen haben sinkende Leitzinsen in der Eurozone auf …

(a) die Nachfrage nach Konsumkrediten? (b) die Nachfrage nach Fremdwährungskrediten?

(c) die Sparzinsen bzw. auf das Sparvolumen?

(d) die Bereitschaft der Unternehmer zu investieren?

Ü 2: Eurozone – Entwicklung der Inflation

Das vorrangige Ziel der ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Für die Erreichung dieses Zieles ist vor allem die Geldpolitik der EZB zuständig. Ihren Niederschlag findet diese Politik in der geldpolitischen Strategie der EZB. (a) Erklären Sie den Begriff „Referenzwert“.

(b) Um das Preisstabilitätsziel erreichen zu können, erachtet es die EZB als unbedingt not- wendig, die aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen (= wirtschaftliche Analyse) und das Geldmengenwachstum (= monetäre Analyse) laufend zu beobachten und die kurz-, mittel- und langfristigen Risiken für die Preisstabilität zu erfassen.

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Überprüfen Sie mithilfe der folgenden Grafik, ob dies der EZB – auf der monetären Seite – in den Jahren 2013 bis 2015 weitgehend gelungen ist. Begründen Sie bitte Ihre Meinung bzw. Einschätzung.

(Quelle: Reuters EcoWin)

Ü 3: Auswirkungen einer Liquiditätszuführung auf das Kreditvolumen und das

Zinsniveau

(a) Erklären Sie mithilfe der nachstehenden Grafik die Auswirkungen einer Liquiditätszu-

führung (= Erhöhung der Geldmenge durch die EZB) auf das Kreditvolumen und den

Kreditzins.

(b) Erläutern Sie ergänzend dazu, wie sich die Liquiditätszuführung der EZB auf die

Produktion und den Konsum auswirken wird.

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Ü 4: Tenderverfahren

Offenmarktgeschäfte werden von der EZB überwiegend im Versteigerungsverfahren

(= Tenderverfahren) durchgeführt, wobei die Geschäftsbanken für die gewährten Kredite

ausreichende Sicherheiten (= Zurverfügungstellung von Wertpapieren) zu stellen haben.

Hinsichtlich der Zinskonditionen werden der Mengen- und der Zinstender unterschieden.

(a) Beispiel für einen Mengentender:

Zuteilungsvolumen durch die EZB: 200 Mio. Euro

Zinssatz: 1 %

Berechnen Sie – unter der Annahme, dass nur vier Banken Gebote abgeben – die

entsprechenden Zuteilungen für die einzelnen Banken!

Geschäftspartner Gebot (in Mio. Euro) Zuteilung (in Mio. Euro)

Bank 1 90

Bank 2 110

Bank 3 75

Bank 4 125

Gesamtsumme

bzw. Zuteilung

400 200

(b) Beispiel für einen Zinstender:

Zuteilungsvolumen durch die EZB: 200 Mio. Euro

Mindestzinssatz: 1 %

Berechnen Sie – unter der Annahme, dass nur vier Banken Gebote abgeben – die

entsprechenden Zuteilungen für die einzelnen Banken!

Geschäftspartner Gebot

(in Mio. Euro)

Gebotener

Zinssatz

Zuteilung

(in Mio. Euro

Verrechneter

Zinssatz

Bank 1 90 1,2 %

Bank 2 110 1 %

Bank 3 75 1,1 %

Bank 4 125 1,05 %

Gesamtsumme

bzw. Zuteilung

400 200

Ü 5: Quantitative Easing

EZB druckt nicht mehr, aber länger Geldpolitik: Die EZB weitet ihr Anleihekaufprogramm überraschend nicht aus. Allerdings wird es bis mindestens März 2017 verlängert. Die Kritik daran verstummt trotzdem nicht. (Die Presse, 4. 12. 2015)

Nennen und erläutern Sie mindestens drei – häufig genannte - Kritikpunkte am Anleihe-kaufprogramm der EZB.

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AB 13: Kreuzworträtsel – prüfen Sie Ihr Wissen!

Versuchen Sie bitte das folgende Kreuzworträtsel zu lösen, in dem wichtige Fachbegriffe zum Themenfeld „Europäische Zentralbank“ abgefragt werden. Übertragen Sie nach Vervollständigung des Rätsels die markierten Buchstaben in die Lösungszeile. Hinweis: ä=ä, ö=ö, usw. Senkrecht

1) In welcher Stadt hat die EZB Ihren Sitz?

2) Wirtschaftsindikator, der die Veränderung der Preise und Dienst-

leistungen im Zeitablauf misst.

3) Wie heißt der jetzige EZB-Präsident?

4) Wie nennt sich jene Institution der EZB, welche mit der Durchfüh-

rung der Geldpolitik betraut ist?

5) Wie wird das Instrument der EZB bezeichnet, bei welchen Geld-

mengen zu einem fix vorgegebenen Zinssatz versteigert werden?

6) Welches Instrument der EZB bietet Banken die Möglichkeit kurz-

fristig Geldüberschüsse über Nacht bei der EZB anzulegen?

7) Wie wird die Pflichteinlage bezeichnet, welche die Geschäftsban-

ken bei den nationalen Zentralbanken hinterlegen müssen?

9) Bezeichnung für jenen Markt, auf welchem sich die Geschäftsban-

ken gegenseitig Geld borgen können.

Waagrecht

8) Abkürzung für jenes Instrument der EZB, mit welchem kurzfristig

illiquiden Geldinstituten zur finanziellen Überbrückung Mittel ge-

währt werden können.

10) Fachbegriff für den Staatsanleihen-Ankauf einer Zentralbank zur

Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung.

11) Der äußere Wert eine Währung

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AB 14: Das Phänomen „Deflation“ - Begriff, Ursachen, Auswirkungen und Bekämpfung

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Erläutern Sie den Begriff „Deflation“ und beschreiben Sie das Phänomen

„Deflationsspirale“.

2. Erklären Sie, wo die Ursachen bzw. die Auslöser für Deflation liegen können.

3. Zeigen Sie auf, welche problematischen Auswirkungen Deflation haben kann.

4. Erläutern Sie, welche grundsätzlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung der Deflation es

gibt.

5. Nennen und erklären Sie – in kurz gefasster Form –, über welche Instrumente die EZB

verfügt, um den „Kampf“ gegen die Deflation aufzunehmen.

Deflation – eine erste Begriffsklärung

Sinkende Preise und Investitionen der Unternehmen, Banken, die weniger Geld an die Bür-ger verleihen – in der Eurozone läuten die Alarmglocken. Die Angst, dass sich Europa auf dem Weg in die Deflation befindet, steigt.

Auf dem Diagramm, es zeigt die Entwicklung der Verbraucherpreise in Österreich im Zeit-raum 1971 bis 2015, kann man sehr eindeutig erkennen, dass die Inflationsraten seit dem Jahre 2011 stark rückläufig sind.

Datenquelle: Statistik Austria, Berechnungsmethode: VPI

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Aber auch in fast allen EU-Staaten ist die Inflation praktisch zum Stillstand gekommen bzw. in zwölf der Staaten liegt bereits, wie das nachfolgende Diagramm zeigt, eine negative Infla-tionsrate – sprich Deflation – vor.

Datenquelle: Eurostat, Berechnungsmethode: HVPI

Worum genau handelt es sich aber nun beim „Phänomen Deflation“, das Politiker und Wirt-schaftswissenschaftler gleichermaßen in Angst und Schrecken versetzt?

Wenn die nachfragewirksame Geldmenge dem Warenangebot entspricht, dann befindet sich die Wirtschaft im Gleichgewicht.

Wirtschaft im Gleichgewicht

Wenn bei Vollbeschäftigung – aus unterschiedlichen Gründen – mehr Geld in Umlauf kommt, so steigen die Preise, weil für den Kauf der gleichbleibenden Gütermenge mehr Geld zur Verfügung steht. Es kommt also zu einem Missverhältnis zwischen Geld- und Gütermen-ge, da die Geldmenge größer ist als das Güterangebot.

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Wirtschaft im Ungleichgewicht – Inflation

Verkleinert sich hingegen die nachfragewirksame Geldmenge im Verhältnis zur Gütermenge – auf die Gründe soll später eingegangen werden – so sind zu viele Güter vorhanden und die Preise sinken. Es kommt ebenfalls zu einem Missverhältnis zwischen Geld- und Gütermenge, in diesem Fall ist die Geldmenge aber kleiner als die Gütermenge.

Wirtschaft im Ungleichgewicht – Deflation

Wenn in einer Volkswirtschaft das Gesamtniveau der Preise längerfristig sinkt, die Inflations-raten also negativ sind, spricht man von Deflation. Sie stellt somit das Gegenstück zur Inflati-on dar. In einer solchen Situation steigt die Kaufkraft, das Geld wird also mehr wert. Das Grundproblem der Deflation ist vereinfacht gesagt, dass aus unterschiedlichen Beweg-gründen zu wenig konsumiert wird. Durch den Nachfragerückgang sinken die Güterpreise. In Erwartung fallender Preise schieben die Konsumenten ihre Konsum- und in weiterer Folge die Unternehmer ihre Investitionsentscheidungen auf. Durch die sinkenden Ausgaben ist nun weniger Geld im Umlauf bzw. die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes nimmt ab. Damit sinkt die Geldmenge im Vergleich zur Gütermenge – Geld wird verhältnismäßig mehr wert und es kommt zur Deflation.

Ursachen der Deflation

Die Auslöser für Deflation können – ähnlich wie bei der Inflation – auf der Geld- oder auf der Güterseite liegen.

Ursachen auf der Geldseite Die Verminderung der nachfragewirksamen Geldmenge kann von den privaten Haushalten, den Unternehmen, dem Staat oder auch der Notenbank ausgehen. So führen eine sinkende Konsum- und eine wachsende Sparquote (z. B. wegen hoher Zinsen) der privaten Haushalte zu einem massiven Nachfragerückgang auf den Gütermärkten. Dadurch sinken die Güter-preise. In Erwartung weiterer fallender Preise und Zinsen schieben die Konsumenten ihre Konsum- und in weiterer Folge die Unternehmer ihre Investitionsentscheidungen auf. Aus

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der Sicht der Konsumenten lohnt es sich, den Kauf eines Gutes zu verschieben, da die Pro-dukte billiger werden. Das Gütervolumen bleibt zwar gleich, aber die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes nimmt ab, sodass zwar der Geldwert steigt, sich aber ein allgemeiner Schrump-fungsprozess in der wirtschaftlichen Entwicklung ergibt. Zu einer Verminderung der Geld-menge kann es aber auch durch gebremste Neuaufnahmen von Krediten – wegen pessimis-tischer Zukunftserwartungen – durch die Unternehmen kommen.

Ursachen auf der Güterseite Das Anwachsen der Gütermenge kann durch unterschiedlichste Faktoren ausgelöst werden. Beispiele: Importüberschüsse, neu entdeckte Bodenschätze und Energiequellen führen zu vermehrter Produktion und erhöhen das Güterangebot.

Auswirkungen der Deflation

Auch wenn sich viele Ökonomen einig sind, dass Deflation kurzfristig gesehen kein größeres Problem darstellt, so kann sie längerfristig zu schwerwiegenden negativen Auswirkungen führen, wie die nachfolgende Abbildung zeigt:

Deflationsspirale

Aufgrund der Erwartungen der Marktteilnehmer und der Zurückhaltung in der Nachfrage kommt es dazu, dass ein Überangebot besteht. Dies führt zu einer Senkung der Preise, der Produktion sowie der Beschäftigung und damit zu einer Verminderung des Volkseinkom-mens. In Folge geht die Nachfrage noch weiter zurück, die Preise werden weiter sinken und so weiter. Diese Entwicklung kann somit zu einem ausgeprägten Wirtschaftsabschwung und zur Massenarbeitslosigkeit führen. Dieser Sog nach unten wird als Deflationsspirale be-zeichnet. Karikaturisten stellen Deflation daher gerne als „Monster“ bzw. als „gefräßigen Drachen“ dar.

Eine sehr problematische Auswirkung der Deflation besteht darin, dass der Realwert der Schulden zunimmt. Hatte z.B. jemand zu Jahresbeginn 1.000 € Schulden – egal, ob Unter-nehmer oder Privatperson – so kommt es bei einer Halbierung des Preisniveaus bis Jahres-ende zu einer kaufkraftmäßigen Verdoppelung seiner Schuld. Die Folge dieser steigenden Verschuldung ist ein Rückgang des Konsums und der Investitionsfreudigkeit.

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In Kombination mit niedrigen Zinssätzen kann Deflation zu ernsthaften gesamt-wirtschaftlichen Problemen führen und in eine Situation münden, in der die Geldpolitik wir-kungslos wird. Wenn die Preise aufgrund eines Wirtschaftsabschwungs zu sinken beginnen, kann die Zentralbank normalerweise die Wirtschaft ankurbeln, indem sie Zentralbankgeld zur Verfügung stellt und die Zinssätze senkt. Sinken die Preise aber zu rasch, bleibt der Real-zinssatz vergleichsweise hoch. Liegt der Nominalzinssatz beispielsweise bei 0,25 % und sin-ken die Preise um 3,75 % pro Jahr, ergibt dies einen Realzinssatz von 4 % pro Jahr. Ein so hoher Realzinssatz kann die Konsum- und Investitionsneigung der Marktteilnehmer enorm einschränken und in weiterer Folge zu einem starken Wirtschaftsabschwung führen.

Historische Beispiele Lang anhaltende Deflationen, in deren Verlauf die Preise mehrere Jahre lang stetig zurück-gehen, sind ein typisches Erscheinungsbild von Wirtschaftskrisen. An zwei Beispielen aus dem 20. Jahrhundert soll dies veranschaulicht werden: Das markanteste Beispiel für eine große Deflation ist die Weltwirtschaftskrise (1929-1934). Auslöser für die Krise war der Börsenkrach von 1929, begleitet von einem einsetzenden Wirtschaftsabschwung. Das Ende der spekulativen Blase an der Börse führte dazu, dass die Aktionäre ihre Aktien verkauften und es zu einem starken Einbruch bei den Preisen kam. Unsicher und besorgt über die Zukunft entschieden sich die Konsumenten und Unternehmen abzuwarten, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden. Käufe von Investitions- und Ver-brauchsgütern wurden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. So brach etwa in den Mo-naten nach dem Börsencrash der Absatz von Autos drastisch ein. Die Folge war eine starke Deflation in den USA, die 1932 mit 10,8 % ihren Höhepunkt erreichte. 1933 konnte sich die Wirtschaft schließlich aufgrund mehrerer Faktoren (z.B. Ausweitung der Geldmenge, Ankur-belung der Nachfrage durch den Staat, Bankenhilfsprogramme, Maßnahmen am Arbeits-markt usw.) wieder erholen und dem Teufelskreis Deflation entrinnen.

Japan erlebte in den Neunzigerjahren eine Deflation. Verursacht wurde sie u.a. durch einen gewaltigen Preisverfall von Vermögensgegenständen, hauptsächlich Grund und Boden sowie Aktien. Nach dem Jahr 2000 lagen die Zinssätze praktisch bei null Prozent. Mitte des Jahres 2003 betrug z.B. der Ertrag einer Bankanlage 0,032 % pro Jahr. Die Regierung und die Zent-ralbank Japans schienen angesichts der Deflation und der Zinssätze hilflos. Erst ab 2003 er-holte sich die japanische Wirtschaft und die Reformmaßnahmen zeigten ihre Wirkung.

Bekämpfung der Deflation

Wenn man eine Deflation bekämpfen will, so muss man in das Verhältnis zwischen Güter-menge und nachfragewirksamer Geldmenge eingreifen. Grundsätzlich gibt es, wie nachfol-gende Abbildung zeigt, drei Maßnahmenbündel bzw. Konzepte:

Bekämpfung der Deflation Geldpolitische Fiskalpolitische Außenwirtschaftliche Maßnahmen Maßnahmen Maßnahmen

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Aus monetärer Sicht kann eine Deflation durch Maßnahmen der Notenbank, wie z. B. durch die Senkung des Leitzinssatzes, die Herabsetzung der Mindestreserven, durch verstärkte Gewährung von Krediten an Geldinstitute und durch Wertpapierankäufe bekämpft werden. Bei einem Zinssatz von null, wie oben bereits dargestellt, ist die Zentralbank jedoch macht-los.

Ein zentraler Lösungsansatz besteht primär im Einsatz der Fiskalpolitik. Geht von ihr ein sti-mulierender Effekt aus, z. B. indem der Staat die Nachfrage durch höhere, kreditfinanzierte Staatsausgaben ankurbelt, wird sich die Gesamtnachfrage erhöhen, ohne dass hohe Zinssät-ze die Menschen zum Sparen animieren würden. Auch gezielte Vollbeschäftigungsmaßnah-men des Staates können die Wirtschaft wieder positiv beeinflussen. Der Konsum könnte aber auch durch Lohn- und Einkommenssteuersenkungen, Abbau von diversen Förderungen (z.B. Sparprämien) belebt werden. Auch außenwirtschaftspolitische Maßnahmen – wie z. B. die Abwertung der eigenen Wäh-rung (sofern überhaupt möglich!) – zählen zu den Bekämpfungsstrategien.

Grundsätzlich ist anzumerken, dass ein Verlassen des „Teufelskreises Deflation“ kein leichtes Unterfangen ist. Vor allem deswegen, weil die getroffenen Maßnahmen nur dann „greifen“ werden, wenn die einzelnen Beteiligten, vor allem die Konsumenten und Unternehmer, op-timistische Zukunftserwartungen haben.

Beispiel: Eine Senkung der Leitzinsen bedeutet noch nicht automatisch eine höhere Investi-tionsbereitschaft und damit höhere Kreditnachfrage der Unternehmen. Daher ist bei der Bekämpfung der Deflation der Staat ganz massiv gefordert.

Instrumente der EZB im „Kampf“ gegen die Deflation

Bis zum Jahre 2008 bestand die Aufgabe der EZB – wie aus dem nachfolgenden Vertragsauszug ersichtlich - in erster Linie darin, den Wert des Euro zu sichern, d.h. für Preisstabilität zu sorgen.

Ziele und Aufgaben des ESZB Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ( …) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unter-stützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, … (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 127 (Ziele und Aufgaben des ESZB)

Nachdem die Staatsschuldenkrise, die nicht zuletzt eine Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise war, sich zu einer Krise der gemeinsamen Währung entwickelte, bekam das nachrangige Ziel der EZB, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft zu unterstützen, eine immer stärkere Bedeutung.

Die Staatsschuldenkrise in den Euroländern, die Auswirkungen auf die gemeinsame Währung und auch die in den letzten beiden Jahren verstärkt auftretenden deflatorischen Entwicklungen haben die EZB zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen lassen, wie die nachfolgende Grafik zeigt:

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Solche Sondermaßnahmen waren/sind:

Die Senkung der Leitzinsen, der Einlagefazilität und des Mindestreservesatzes auf historische Tiefststände. So beträgt der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte derzeit 0% Prozent, der Zinssatz für die Einlagefazilität – 0,40 Prozent und der Mindestreservesatz nur ein Prozent.

Um besonders hoch verschuldete Euroländer zu unterstützen, hat die EZB seit Mai 2010 in großem Umfang Staatsanleihen von europäischen Krisenländern aufgekauft. Ziel dieses

Ankaufprogramms war es, zeitweiligen Störungen im geldpolitischen Transmissionsprozess entgegenzuwirken. Im Jahre 2012 wurden im Rahmen dieses Programms Anleihen im Wert von rund 220 Milliarden Euro angekauft.

Im Zuge der Krise ging das Eurosystem auf eine Vollzuteilungspolitik über. Den Geschäfts-banken Wurde bzw. wird in diesem Fall jeder von ihnen gewünschte Betrag an Zentral-bankgeld zur Verfügung gestellt – sofern sie ausreichend Sicherheiten stellen konn-ten/können. Ziel dieser Maßnahme ist es, zu verhindern, dass es im Zahlungsverkehr zu krisenhaften Liquiditätsengpässen kommt. Außerdem soll damit einer „Kreditklemme‘‘“ vorgebeugt werden – dass nämlich Kreditinstitute die Vergabe von Krediten an die Wirt-schaft einschränken, weil sie befürchten, benötigtes Zentralbankgeld nicht über den Geldmarkt beschaffen zu können.

Da diese bisherigen Maßnahmen bis Ende des Jahres 2014 nicht den gewünschten Erfolg, sprich eine deutliche Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung bzw. eine Annäherung der Inflations-rate von unter, aber nahe zwei Prozent, gebracht hatten, kündigte die EZB am 22. Jänner 2015 den Einsatz eines neuen geldpolitischen Instrumentes an. Im Zentrum dieses Programms – es trägt den Namen „Quantitative Easing (= Quantitative Lockerung)“ geht es um den verstärkten Ankauf von Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten durch die EZB. (Achtung: Nähere Informationen finden Sie dazu im AB 16, in der PowerPoint-Präsentation „Quantitative Easing – Begriff, Ziele, Funktionsweise, Ergebnisse“ und im Video!)

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AB 15: Geldpolitik in der Krise

1. Arbeiten Sie anhand des folgenden Überblicks die drei ineinander übergehenden Pha-sen der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise heraus.

2. Zeigen Sie anhand der Grafik „Geldmarktzinsen im Euro-Raum“ (in AB 9), mit welchen zinspolitischen Entscheidungen die EZB auf die Krise (seit 2011) reagierte.

3. Erläutern Sie kurz die Sondermaßnahmen, mit denen das Eurosystem seit 2008 ver-sucht, die wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone zu stabilisieren.

4. Zum Staatsanleihekaufprogramm („Quantitative Lockerung“) der EZB hat die „Tages-schau“ ein kurzes Video produziert: http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-56353.html Achten Sie beim Anschauen des Videos auf folgende Punkte: Hintergrund, Bestandtei-le, Ziele und Kritik des Programms.

5. Karikaturen sind gezeichnete Kommentare. Arbeiten Sie durch genaue Auswertung aller Bild- und Textelemente in Jansons Karikatur vom 22.1.2015 die Position des Kari-katuristen zu den massenhaften Staatsanleihekäufen der EZB heraus. Beachten Sie da-bei auch den Untertitel „Bereit zum (letzten) Gefecht“.

Die Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise 2007 - 2015: Ein kurzer Überblick

„Die bisher schwerste Krise in der modernen Geschichte des internationalen Finanzsystems entzündete sich im Sommer 2007. […] In den Jahren vor Ausbruch der Krise hatten amerika-nische Banken Kredite an einkommensschwache Kunden mit geringer Bonität (sog. „Subpri-me-Kredite“) zum Erwerb von Eigenheimen gewährt. Sie verbrieften anschließend einen großen Teil dieser Kredite. Die Ratingagenturen gaben diesen Wertpapieren optimistisch gute Urteile, auf die viele Investoren in der ganzen Welt vertrauten. Doch im Laufe der Zeit konnten immer mehr der amerikanischen Kreditnehmer die Zins- und Tilgungszahlungen nicht mehr leisten. Sie verkauften deshalb ihre Eigenheime. Das löste eine Welle von Immo-bilienverkäufen aus, was einen Verfall der Immobilienpreise zur Folge hatte. Es entwickelte sich eine Abwärtsspirale aus fallenden Immobilienpreisen, steigender Arbeitslosigkeit im Baugewerbe, Konkursen von Immobilienfinanzierern und Panikverkäufen am Immobilien-markt. Gleichzeitig wurden immer mehr Subprime-Kredite nicht mehr mit Zins und Tilgung bedient. Die Wertpapiere, in denen die Suprime-Kredite verbrieft waren, verloren an Wert oder fielen ganz aus. Viele Investoren und Banken mussten daraufhin massive Verluste ein-stecken.

Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern erlitten zahlreiche Banken bzw. ihnen verbundene Zweckgesellschaften vom Sommer 2007 an hohe Verluste. Manche konn-ten nur dadurch vor dem Zusammenbruch bewahrt werden, dass andere Banken oder staat-liche Institutionen sie stützten. Die weitverbreitete Sorge, dass Banken über Nacht in den Strudel gerissen und Pleite gehen könnten, löste eine Vertrauenskrise unter den Banken aus: Kreditinstitute kürzten anderen Instituten die Kreditlinien oder gewährten ihnen überhaupt keine Kredite mehr. […] Die Finanzkrise erreichte im Herbst 2008 einen Höhepunkt, als die große amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden musste. Die Sorge über weitere Zusammenbrüche ergriff weite Teile des globalen Finanzsystems: Banken scheuten sich, überhaupt noch Kredite zu vergeben. Investoren stießen riskante Investments zu Schleuderpreisen ab. An den Aktienmärkten rund um den Globus stürzten die Kurse und bereiteten den Anlegern Vermögenseinbußen.

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Die allgemeine Unsicherheit erfasste auch die übrige Wirtschaft: Viele Unternehmen stellten Investitionen zurück oder konnten geplante Investitionen mangels Bankkrediten nicht finan-zieren. Das löste in vielen Ländern rund um den Globus einen ungewöhnlich scharfen Ein-bruch der Wirtschaftstätigkeit aus. Zum Beispiel ging das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2009 um 5,2 Prozent zurück. Das war der bei Weitem stärkste Rückgang seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Um die Finanz- und Wirtschaftskrise einzudämmen, beschlossen die Regierungen der 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt („G20“) und globale Institutionen wie der Interna-tionale Währungsfonds zahlreiche Programme. […] Die Konjunkturprogramme bewirkten, dass sich die Wirtschaft in vielen Ländern rasch erholte. […] Doch hatten die großangelegten staatlichen Programme zur Stabilisierung von Finanzindustrie und Konjunktur eine Kehrseite: Um die Maßnahmen zu finanzieren, mussten viele Staaten ungewöhnlich große Kredite auf-nehmen. […]

Gegen Jahresende 2009 wurde der massive Anstieg der Staatsverschuldung zu einer neuen Quelle von Unsicherheit. Die Besitzer von Staatsanleihen stellten sich die Frage, ob die hoch-verschuldeten Staaten künftig in der Lage sein würden, ihre Schulden mit Zins und Tilgung zu bedienen. Viele Anleger verkauften die von ihnen gehaltenen Staatsanleihen und hielten sich beim Ankauf neu begebener Titel zurück. Davon besonders betroffen waren wegen ihrer schlechten Finanz- und Wirtschaftslage Griechenland, Irland und Portugal. Im Frühjahr 2010 war die griechische Regierung nicht mehr in der Lage, am Kapitalmarkt Geld aufzunehmen, um auslaufende Anleihen zu tilgen und die laufenden Staatsausgaben zu finanzieren.

Um der nunmehr entflammten Staatsschuldenkrise zu begegnen, schnürten die EU-Länder und der Internationale Währungsfonds im Mai 2010 ein „Rettungspaket“ in Form von Kredi-ten. Im Gegenzug musste sich die griechische Regierung zu weitreichenden Reformen ver-pflichten, die das Ziel hatten, die Staatsverschuldung zu verringern und das Wirtschafts-wachstum zu fördern. Wenig später beschlossen die EU-Länder die Gründung eines großen Krisenfonds („EFSF“). Zudem brachten sie Programme zur besseren Überwachung und Koor-dination der wirtschaftlichen Entwicklung sowie der staatlichen Finanzen auf den Weg. Der EFSF wurde im Oktober 2012 durch den „permanenten Rettungsschirm“ Europäischer Stabi-litätsmechanismus (ESM) abgelöst. Im Jahre 2010 musste Irland, 2011 Portugal, 2012 Spani-en und wiederum Griechenland sowie 2013 Zypern Kredite aus einem europäischen Krisen-fonds in Anspruch nehmen, jeweils gegen strenge Auflagen.“ Quelle: https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Dossier/Service/schule_und_bildung_kapitel_4.html?notFirst=true&docId=147560

Sondermaßnahmen bzw. -instrumente des Eurosystems in der Krise

In der Finanz- und Staatschuldenkrise hat das Eurosystem über die konventionellen Maß-nahmen der Geldpolitik hinaus verschiedene Sondermaßnahmen ergriffen, um den negati-ven Auswirkungen der Krise entgegenzuwirken. Diese Maßnahmen hatten/haben das Ziel, die Lage kurzfristig zu stabilisieren und den Verantwortlichen, allen voran den Regierungen, eine gewisse Zeit für die notwendigen Reformen und strukturellen Anpassungen zu verschaf-fen.

Beispiel 1: Vollzuteilungspolitik [2008]

Im Zuge der Krise ging das Eurosystem auf eine Vollzuteilungspolitik bei Refinanzierungsge-schäften über. Den Geschäftsbanken wurde bzw. wird in diesem Fall jeder von ihnen ge-wünschte Betrag an Zentralbankgeld zur Verfügung gestellt – sofern sie ausreichend Sicher-

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heiten stellen konnten bzw. können. Ziel dieser Maßnahme ist es, zu verhindern, dass es im Zahlungsverkehr zu krisenhaften Liquiditätsengpässen kommt. Außerdem soll damit einer „Kreditklemme‘‘ vorgebeugt werden – dass nämlich Kreditinstitute die Vergabe von Krediten an die Wirtschaft einschränken, weil sie befürchten, benötigtes Zentralbankgeld nicht über den Geldmarkt beschaffen zu können.

Beispiel 2: Programm zum Ankauf von gedeckten Wertpapieren [2009, 2011]

In den Jahren 2009 und 2011 beschloss der EZB-Rat ein Programm zum Ankauf von ausfallsi-cheren („gedeckten“) Wertpapieren“ (z.B. Pfandbriefe). Ziel dieses Programms war es, den Markt für diese Wertpapiere zu stabilisieren. Es wurden in diesen beiden Jahren Wertpapie-re im Gesamtvolumen von 100 Milliarden Euro angekauft.

Beispiel 3: Ankauf von Euro-Staatsanleihen [Mai 2010]

Im Mai 2010 legte der EZB-Rat ein weiteres Programm zum Ankauf von Euro-Staatsanleihen am Sekundärmarkt auf (Markt für bereits im Umlauf befindliche Wertpapiere, die an Börsen gehandelt werden). Bis zum Jahr 2012 wurden im Rahmen dieses Programms Anleihen im Wert von rund 220 Milliarden Euro angekauft, um europäischen Krisenstaaten, die sich am Markt nur noch sehr teuer frisches Geld besorgen konnten, zu helfen.

Beispiel 4: „Whatever it takes“ - Draghis drei magische Worte [Juli 2012]

Als sich die Staatsschuldenkrise im Sommer 2012 verschärfte, kündigte EZB-Präsident Mario Draghi am 26. Juli auf einer Investorenkonferenz in London an, die EZB werde alles Notwen-dige tun, um die Währungsunion zu erhalten: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ Obwohl Draghi diese Ankündigung nicht konkretisierte, bewirkten seine in beschwörendem Ton vorgetra-genen Worte, dass die Zinsen für Anleihen der Krisenländer schlagartig fielen, der Euro sich stabilisierte und die Börsenkurse steil anstiegen.

Beispiel 5: Quantitative Easing (Quantitative Lockerung) [Januar 2015]

Angesichts deflationärer Tendenzen hat sich der EZB-Rat am 22. Januar 2015 mit dem „Er-weiterten Programm zum Ankauf von Vermögenswerten“ für ein „Quantitative Easing“ (Quantitative Lockerung) entschieden: Da der Leitzinssatz bereits nahe null Prozent liegt und weitere zinspolitische Maßnahmen nicht mehr möglich sind, kauft die Zentralbank von März 2015 bis mindestens September 2016 monatlich für insgesamt 60 Milliarden Euro Anleihen (insbesondere langlaufende Staatsanleihen) an und weitet auf diese Weise die Geldmenge aus. Das Programm soll solange durchgeführt werden, bis nach Einschätzung des EZB-Rats sich die Inflation wieder der Zielgröße von „unter, aber nahe 2%“ über die mittlere Frist an-nähert.

Beispiel 6: Noch mehr Notkredite für griechische Banken [Juli 2015]

Die klammen griechischen Banken bekommen weitere Notkredite (Ela). Die sogenannten Ela-Hilfen werden demnach um 900 Millionen Euro für eine Woche erhöht. Zuletzt lagen sie bei rund 90 Milliarden Euro. Ohne die milliardenschweren Notkredite, die seit Monaten von der griechischen Zentralbank mit Billigung des EZB-Rates vergeben werden, wären die Insti-tute längst pleite.

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Die Entscheidung des EZB-Rats vom 22. Januar 2015 im Spiegel der Karikatur

Jürgen Janson (22.1.2015): „Bereit zum (letzten) Gefecht“ http://janson-karikatur.de/wp-content/uploads/2015/01/Euro-Krise-15-01-22-rgb.jpg

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AB16: Quantitative Easing (QE) – Begriff, Ziele, Funktionsweise, Ergebnisse

Beantworten Sie die nachfolgenden Fragen mithilfe des Informationstextes:

1. Erläutern Sie – in kurz gefasster Form – den Begriff „Quantitative Easing“.

2. Welches zentrale Ziel will die EZB mithilfe des QE erreichen?

3. Beschreiben Sie die Eckdaten (Umfang, Zeitdauer …) des QE-Programms der EZB.

4. Erklären Sie die einzelnen Schritte, wie das geldpolitische Instrument QE funktioniert

bzw. laut Plan funktionieren soll.

5. Erläutern Sie in anschaulicher Form (eventuell anhand eines konkreten Beispiels),

warum bei QE die Anleihekurse steigen, im Gegensatz dazu die Renditen der Anleihen

fallen und damit die Zinsen langfristig sinken werden.

6. Überprüfen Sie anhand der Entwicklung der Indikatoren „Inflationsrate“ und „reales Wirtschaftswachstum“, inwieweit das QE-Programm im Bereich der Eurozone bisher „erfolgreich“ war, d.h. ob die zentralen Ziele der EZB erreicht wurden. 7. Lösen Sie die zwei Übungsbeispiele, die Sie am Ende des Informationstextes finden.

Was ist Quantitative Easing?

Quantitative Easing (= Quantitative Lockerung) ist eine Geldpolitik der Zentralbanken für au-ßergewöhnliche Umstände [z.B. im Falle sehr niedriger Inflation bzw. Deflation], mit der die Geldbasis ausgeweitet wird (= Geldschöpfung durch die Zentralbank), um private und/oder Staatsanleihen zu kaufen.

Welche Ziele verfolgen Notenbanken mit diesem geldpolitischen Instrument?

Im Zentrum steht die Bekämpfung einer (drohenden) Deflation bzw. Rezession. Durch die Ausweitung des Geldangebots sollen folgende Zwischenziele erreicht werden:

Senkung der Realzinsen

Erhöhung des Geldangebots der Geschäftsbanken

Verstärkte Vergabe von Krediten durch die Geschäftsbanken

Steigerung des privaten Konsums und der Investitionen durch Unternehmen

Abwertung der eigenen Währung (Exporte → billiger; Importe → teurer) Stimulierung des Wirtschaftswachstums

Erhöhung der Inflation

Welche Schritte wurden seitens der EZB bisher gesetzt?

22. Jänner 2015: Ankündigung der EZB, sie wolle zwischen März 2015 und September 2016 Staatsanleihen und Anleihen von privaten Schuldnern in Höhe von 1,14 Billionen Euro (60 Mrd. Euro pro Monat) auf dem Sekundärmarkt aufkaufen. Die Käufe sollen bis Herbst 2016 andauern bzw. auf jeden Fall so lange, bis die EZB die Inflationsrate wieder nahe zwei Prozent sieht.

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3. Dezember 2015: Ankündigung der EZB, dass das Anleihen-Kaufprogramm bis mindestens März 2017 verlän-gert wird.

21. Jänner 2016: Ankündigung der EZB, dass bei der nächsten Sitzung im März die Geldpolitik überprüft und gegebenenfalls neuerlich angepasst wird. 10. März 2016

Es wird die Leitzinssenkung auf 0% und eine Erhöhung des Anleihenankaufs auf monatlich 80 Mrd. Euro bekannt gegeben

Wie funktioniert Quantitative Easing?

„Nehmen wir an, die Zentralbank kauft Staatsanleihen in der Höhe von 10 Millionen Euro auf dem Sekundärmarkt - also nicht direkt vom Emittenten, sondern von einer Bank, die diese Anleihen schon zuvor erworben hat. Die Anleihen werden in der Bilanz der Notenbank auf der Aktivseite verbucht, weil sie Vermögen darstellen. Auf der Passivseite wird das Guthaben der Geschäftsbank oder des Fonds (wer auch immer der Verkäufer der Anleihen war) bei der Zentralbank um diese 10 Millionen Euro erhöht. Die Bilanzsumme der Notenbank erhöht sich dadurch insgesamt um 10 Millionen Euro. Und den Geschäftsbanken steht frisches Geld zur Verfügung, das einstweilen auf ihrem Konto bei der Nationalbank lagert. Das Aufblähen der Bilanzsumme ist ja auch das erste Etappenziel der EZB, wenngleich es nicht automatisch zu Inflation führt. [Anmerkung: Eine Erhöhung der Geldmenge wirkt sich – aus monetaristischer Sichtweise – im Regelfall inflationstreibend aus]

Von nun an gibt es verschiedene Wirkungskanäle für das QE-Programm:

1. Die 10 Millionen Euro der Geschäftsbanken, die jetzt auf dem Reservekonto in der Zent-ralbank lagern, werden in andere Titel angelegt. Das, was die Notenbank zu Beginn macht, wiederholt sich also auf dem Kapitalmarkt. Die Bank erwirbt zum Beispiel Aktien von einem Fonds um 10 Millionen Euro. Der Fonds hat soeben seine Aktien verkauft und kann nun über die 10 Millionen Euro verfügen. Er wird versuchen, das Geld weiter zu in-vestieren. Es findet also eine finanzwirtschaftliche Umschichtung statt. Das führt einer-seits zu steigenden Wertpapierkursen von Unternehmen. Diese kommen da-durch leich-ter zu frischem Kapital und werden überdies angeregt, mehr zu investieren. Andererseits drücken die steigenden Kurse die Renditen, das Zinsniveau einer Volkswirtschaft sinkt.

2. Da die Zinsen durch QE weiterhin sinken, könnten dadurch die Kreditvergabe der Ge-schäftsbanken und folglich Investitionen angeregt werden. Das führt zu einer Auswei-tung der Geldmenge. Und das wiederum kann Inflation bewirken.

3. Die Renditen der Staatsanleihen spiegeln auch immer die Inflationserwartungen der Marktteilnehmer wider. In der Eurozone rechnet derzeit niemand mit anziehenden Prei-sen. Durch QE, der womöglich aggressivsten Form "konventioneller" Geldpolitik, vermit-telt die EZB ein starkes Signal. Sie versichert den Marktteilnehmern, dass sie die Absicht hat, das niedrige Zinsniveau langfristig zu halten und alles zu tun, um das Inflationsziel von "knapp unter 2 Prozent" zu erreichen. Auf diese Weise sollen die Inflationserwartun-gen der Verbraucher wieder steigen. Und das wirkt sich wiederum auf das Konsumver-halten und die Lohnentwicklung im Euroraum aus.

4. Zuletzt wirkt QE auch über den Außenwert des Euro. Ein schwächerer Euro begünstigt wiederum die europäischen Exporte ins Ausland.“

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(www.wirtschaftsblatt.at, 21.1.2015, gekürzt und leicht vereinfacht)

Grafisch dargestellt sieht dies wie folgt aus:

(Quelle: Arthold, B./Kapeller, A.: EZB Geldpolitik [Seminararbeit], 2015, WU-Wien)

Quantitative Easing – warum sinken die Zinsen?

Der Schritt in der Wirkungskette des QE „Anleihekurse steigen → Renditen von Anleihen fallen“ wird nachfolgend anhand eines Originalbeispiels (inklusive der Lösung) – in Form ei-ner Berechnung - veranschaulicht:

Beispiel - Angabe:

Die vielfältigen Aufgaben der Republik Österreich werden u.a. durch die Ausgabe von Staats-anleihen finanziert.

Am 15.3.2009 hat die Republik Österreich eine festverzinsliche Staatsanleihe mit einer No-minalverzinsung von 4,850 % p.a. ausgegeben. Am Ende der Laufzeit (14.3.2026) wird die Anleihe zu 100 % getilgt.

Frau Trischler ist von der hohen Nominalverzinsung begeistert und plant die Anleihe zu zeichnen. Aufgrund der hohen Nachfrage kostet die Anleihe aber - beim Kauf über die Börse -EUR 141,67 (Kurs am 3.2.2016; der Kurs gilt für ein Nominale von EUR 100,--).

Das bedeutet Frau Trischler muss 141,67 % des Kurswertes beim Kauf bezahlen, bekommt jährlich 4 % Nominalzinsen (vor Abzug der KESt) und am Ende der Laufzeit 100 % zurück.

Wie viel Zinsen bekommt Frau Trischler tatsächlich???

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Beispiel – Lösung:

Mithilfe der nachfolgenden Formel kann die jährliche Effektivverzinsung (Rendite) berechnet werden:

Das Ergebnis zeigt sehr anschaulich folgenden wichtigen Zusammenhang:

Je höher der aktuelle Kurs ist, desto niedriger ist die Effektivverzinsung (Rendite) der An-leihen.

Schlussfolgerung: Damit führen die in enormer Höhe durchgeführten Anleihekäufe der EZB über den dargestellten Effekt zu einer Senkung des langfristigen Zinsniveaus im Euroraum.

Quantitative Easing der EZB – eine erste Zwischenbilanz

Ein Blick auf die beiden nachfolgenden Grafiken zeigt, dass die EZB von ihrem zentralen Ziel Preisstabilität (d.h. eine Inflationsrate unter, aber knapp bei zwei Prozent zu erreichen), der-zeit (Jänner 2016) weit entfernt ist und auch die Belebung der Realwirtschaft (= Entwicklung des realen BIP-Wachstums) nur in Ansätzen gegeben ist.

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Übungsbeispiele:

(Quelle: Arthold, B./Kapeller, A.: EZB Geldpolitik [Seminararbeit], 2015, WU-Wien)

1. Kreuze Sie an, wie sich die jeweiligen Einflussgrößen beim Einsatz eines QE- Pro-

gramms verändern bzw. verändern sollten (bitte ankreuzen!).

Änderung der Geldmenge durch Qantitative Easing der EZB

steigt sinkt

Geldmenge □ □

Kreditvergabevolumen der Banken □ □

Kurs von Anleihen □ □

Rendite für Anleihen □ □

Langfristiges Zinsniveau □ □

Kreditnachfrage durch Nichtbanken □ □

Außenwert des Euro □ □

Exporte der Euroländer □ □

Investitions- und Konsumgüternachfrage □ □

Preisniveau in Euroländern □ □

2. Berechnen Sie, ausgehend von den untenstehenden Informationen einer fest-

verzinslichen Bundesanleihe, mithilfe der Formel die jährliche Anleiherendite und in-

terpretieren Sie das Ergebnis im Lichte der aktuellen EZB-Politik! (Bitte runden Sie auf

2 Kommastellen!)

Berechnung & Interpretation:

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AB17: Quantitative Easing – kritisch betrachtet

Lesen Sie die nachfolgenden Textauszüge, in denen sich einzelne Autoren aus verschiede-nen Blickwinkeln kritisch mit dem geldpolitischen Instrument „Quantitative Easing“ (QE) auseinandersetzen.

Arbeiten Sie jeweils die zentralen Kritikpunkte heraus und ordnen Sie diese (in einer Tabel-le oder einem Schaubild) hinsichtlich der Auswirkungen des QE auf die Akteure

Staat(en), Geschäftsbanken, übrige Unternehmen, private Haushalte sowie auf die Entwicklung der Gesamtwirtschaft.

Textauszug – Nr. 1:

Die EZB liegt falsch Der Aufkauf von Wertpapieren belebt die Wirtschaft nicht. (Mathias Binswanger) In Wirklichkeit war es also bisher nicht weit her mit den Wirkungen der geldpolitischen Maß-nahmen der EZB. Das ist auch nicht weiter erstaunlich. Gigantische Wertpapierkauf-programme von Zentralbanken, wie die gegenwärtig von der EZB durchgeführten monatli-chen Käufe von 60 Milliarden Euro pro Monat, haben zunächst einmal kaum eine Auswirkung auf die Wirtschaft. Sie führen nur dazu, dass die Geschäftsbanken nachher weniger Wertpa-piere aber dafür mehr Geld auf ihren Konten bei der Zentralbank haben. Der einzige sofort spürbare Effekt ist ein leichter Kursanstieg der Wertpapiere aufgrund der starken Nachfrage. Dieser Anstieg führt dazu, dass die ohnehin schon nahe bei null liegenden Zinsen noch weiter gesenkt oder sogar in den negativen Bereich gedrückt werden. Doch dieser minimale Effekt belebt die Wirtschaft noch lange nicht.

Ein tatsächlicher Impuls auf die Wirtschaft ergibt sich erst dann, wenn die Banken mit ihren steigenden Reservemengen auch zusätzliche Kredite vergeben. Doch gerade hier steht die EZB wie auch andere Zentralbanken vor einem fundamentalen Dilemma.

Wesentlich für eine Stimulierung der Wirtschaft wären zusätzliche Kredite vor allem an mit-telständische Unternehmen außerhalb des Finanzsektors. Zusätzliche Kredite würden dann im Idealfall zur Finanzierung von Investitionen in neue Maschinen und Anlagen dienen, die zu einer Erweiterung oder qualitativen Verbesserung der Produktionskapazität führen. Solche „produktiven Kredite“ ermöglichen dann die Produktion von mehr oder besseren Gütern und Dienstleistungen und beleben damit auch das Wirtschaftswachstum.

Die aus makroökonomischer Sicht wertvollen „produktiven“ Kredite sind aber bei Geschäfts-banken im Allgemeinen wenig beliebt. Für sie spielen Erträge, Kosten und Risiken die ent-scheidende Rolle und nicht die makroökonomischen Wirkungen. Und da schneiden „produkti-ve“ Kredite oft schlecht ab. Kredite an kleine und mittlere Unternehmen verlangen viel indivi-duelle Abklärung, da diese Firmen meist kein Rating besitzen, während die Summe eines ein-zelnen Kredits im Durchschnitt nicht besonders hoch ist. Dies bedeutet: Viel Aufwand und hohes Risiko bei wenig Ertrag. Also lässt man lieber die Finger davon. Umgekehrt lassen sich Hypothekarkredite in standardisierter Form an eine Vielzahl von Kreditunternehmen verge-ben, was die Ausnutzung hoher Skalenerträge ermöglicht. Gleichzeitig ist das mit diesen Kre-diten verbundene Risiko in normalen Zeiten auch gut abgesichert. Für Hypothekarkredite gilt

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also tendenziell: Viel Ertrag bei wenig Aufwand und (kurzfristig) geringem Risiko. Kein Wun-der, dass Banken diese Kreditvergabe bevorzugen. Hypothekarkredite machen inzwischen in wichtigen Industrieländern im Schnitt etwa 60 Prozent der gesamten Bankkredite aus. Es ist deshalb schwierig, Geschäftsbanken gegen ihre ökonomischen Interessen selektiv zur Vergabe von Krediten drängen zu wollen, die für sie unattraktiv sind. (Quelle: www.zeit.de, 13.6.2015, gekürzt)

Textauszug – Nr. 2:

Staatsschulden: Billiges Geld aus der Notenpresse Die EZB wird bis März 2017 etwa 14 Prozent der österreichischen Schuldpapiere aufgekauft haben. Der Staat profitiert von den niedrigen Zinskosten, die Schulden steigen dennoch. Die direkte Staatsfinanzierung ist der Europäischen Zentralbank (EZB) zwar verboten. Das hindert sie aber nicht daran, indirekt zum Gläubiger einzelner Nationalstaaten zu werden. Denn die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) kauft stellvertretend für die EZB heimische Staatsanleihen auf. Dies führt dazu, dass die Zentralbanker bis zum März des kommenden Jahres im Besitz von rund 14 Prozent aller ausstehenden Bundesanleihen sein werden. Staatsanleihen sind nichts anderes als Schulden, die die Republik bei Investoren aufnimmt, um ihre Ausgaben zu finanzieren. Die OeBFA [Österreichische Bundesfinanzierungsagentur] ist für das Schuldenmanagement der Republik Österreich verantwortlich. Der Wert von 14 Prozent ist freilich nur eine Hochrechnung und unter der Prämisse zu se-hen, dass die Währungshüter in Frankfurt ihre selbst gesteckten Vorgaben einhalten. Weil die Konjunktur in der Eurozone nicht überragend und die Inflation weit von dem entfernt ist,

wo die EZB sie haben will (bei zwei Prozent), hat sie 2015 ein umfassendes Anleihekaufpro-gramm aufgelegt.

EZB drückt Renditen Die Banken in Europa sollen auf diese Weise zum Verkauf ihrer Staatsanleihen animiert werden. Mit dem Geld, das die Institute einnehmen, sollen sie mehr Kre-dite vergeben, was in der Theorie sowohl der Wirtschaft als auch der Teuerungsrate zugute-kommt. Doch weil das Programm der Quantitativen Lockerung nicht die gewünschten Erfolge erzielte, wurde es erst im Dezember 2015 verlängert. Statt es im Herbst dieses Jahres auslaufen zu lassen, wird die Notenbank nun bis min-

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destens März 2017 auf dem Markt intervenieren. Unterm Strich geht es für die EZB um mo-natliche Ankäufe von 60 Mrd. Euro, Österreich nimmt sie laufend rund 1,2 Mrd. Euro ab. Ein so großer Käufer drückt freilich auf die Renditen.

Die Anleihekäufe der EZB haben seitdem den Trend zu extrem niedrigen Anleihezinsen nur noch beschleunigt, was den Krisenländern genauso nützt wie den potenten Schuldnern Deutschland und Österreich. Lag die durchschnittliche Verzinsung neu aufgenommener österreichischer Schulden im Vor-jahr bei 0,49 Prozent, erreichte sie 2009 noch 3,33 Prozent. Hier kam es also zu einem deut-lichen Rückgang. Dies hat die Verzinsung des gesamten Schuldenportfolios Österreichs be-einflusst. Es fiel im Vorjahr erstmals unter die Marke von drei Prozent.

Zinsen sparen Seit dem Jahr 2009 konnte sich die Republik Österreich auf diese Weise rund fünf Mrd. Euro an Zinsen ersparen. Für die seither aufgenommenen Schulden werden sich die Einsparungen auf rund 40 Mrd. Euro belaufen. Für Anleger ist diese Entwicklung freilich bitter, weil sie für ihr Geld keine Zinsen mehr be-kommen. Wer kurzfristig investiert, zahlt heute vielfach sogar noch drauf. In Österreich be-trifft dies beispielsweise sämtliche Staatsanleihen mit einer Laufzeit von bis zu vier Jahren. Die Republik ist damit aber nicht allein. In Deutschland sind alle Staatspapiere mit einer Lauf-zeit von bis zu sechs Jahren betroffen. Unterm Strich liegen in der Eurozone Rentenpapiere (Staatsanleihen) mit einem Volumen von 1,9 Billionen Euro im Bereich negativer Zinsen.

Eine problematische Folge: Mit niedrigen Zinsen haben die Staaten keinen Druck, ihren Schuldenberg abzuarbeiten. Notwendige Reformen werden auf die lange Bank geschoben. Die Finanzschuld des Bundes lag zum Jahresende bei rund 199 Mrd. Euro. 2008 waren es fast 40 Mrd. Euro weniger. (Quelle: www.diepresse.com, 15.1.2016, leicht gekürzt)

Textauszug - Nr. 3:

Es ist ein Satz, der Sparer noch viel Geld kosten wird. „Der EZB-Rat geht davon aus, dass der Schlüsselzins in der Euro-Zone noch für einen längeren Zeitraum auf dem aktuellen oder auch einem niedrigeren Niveau bleibt“, sagte Mario Draghi, Präsident der EZB. Und er legte noch nach: „Der Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik sei in der Euro-Zone noch weit ent-fernt, das aktuelle Rekordtief des Leitzinses von 0,5 Prozent nicht die Untergrenze“ [Anmer-kung: aktueller Leitzins – 0,05 Prozent]. (Quelle: www.welt.de, 5.7.2013, stark gekürzt)

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Textauszug – Nr. 4:

Ausstieg wird schwierig, Ausgang des Geldexperiments ist ungewiss

Insgesamt haben sich die Notenbanken in den vergangenen Jahren als sehr kreativ erwiesen, was „unkonventionelle“ geldpolitische Maßnahmen betrifft. Angesichts dessen dürfte es für sie in Zukunft schwer werden, sich erfolgreich gegen Forderungen der Politik zu wehren, wenn es erneut zu Problemen auf den Finanzmärkten oder in der Realwirtschaft kommt. Dann wird es für die Notenbanken schwer, sich nur auf ihre Kernaufgabe „Sicherung des Geldwertes“ zu beschränken. Jim Reid, Investment-Stratege der Deutschen Bank, bezeichnet die derzeitige Geldpolitik der Notenbanken als „Blindflug von historischer Bedeutung“. Mohamed El-Erian, Chef der zum Allianz-Konzern gehörenden US-Vermögensverwaltung Pimco, bemüht ein anderes Bild: „Die Notenbanken verhalten sich wie ein Pharmakonzern, der dem Markt Medikamente auf-zwingt, die noch nicht klinisch getestet wurden.“ Schon diese Bemerkungen zeigen, dass die Notenbanken ein Experiment eingegangen sind, dessen Ausgang noch niemand voraussagen kann. (Quelle: http://meine-bank-vor-ort.de/kzp/zentralbanken-risiken-der-neuen-geldpolitik-und-ihre-folgen-fur-

anleger; nur zwei Absätze wurden übernommen, 2014)

Textauszug – Nr. 5:

QE beschleunigt das Bankensterben So funktioniert Kapitalismus. Ein Blog von Dieter Wermuth Für die Banken wird es eng, wenn ihre Zinseinnahmen weiter sinken. Sie sind ihre wichtigste Einnahmequelle. Durch das Quantitative Easing (QE), den massiven Ankauf von staatlichen Anleihen und anderen Vermögenswerten durch die Notenbanken des Eurosystems dürften vor allem die Zinsen für längere Laufzeiten unter Druck geraten – die kurzen haben ja bereits die Nulllinie erreicht. Obwohl die Banken nicht fürchten müssen, dass die Leitzinsen in den nächsten Jahren erhöht werden und sie daher davon ausgehen können, dass sie ihre Kredite und festverzinslichen Wertpapiere weiterhin fast kostenlos und ohne großes Risiko am Geldmarkt und durch Einlagen ihrer Kunden finanzieren können, schmilzt ihnen doch die sogenannte Marge weg. Je flacher die Zinskurve ist, also je geringer der Abstand zwischen den kurzfristigen und den langfristigen Zinsen, desto weniger bleibt für sie übrig. Mit der sogenannten Fristentransformation lässt sich kaum noch Geld verdienen.

In den 40 Jahren, die die folgende Grafik abdeckt, übertrafen die Geldmarktsätze die Rendi-ten von länger laufenden Wertpapieren immer dann, wenn die Bundesbank und später die EZB eine restriktive Politik betrieben hat, um die Inflation unter Kontrolle zu halten. Negative oder sehr geringe Margen kamen also stets nur vor, wenn die Notenbank versuchte, die Kon-junktur abzubremsen. In den restlichen “normalen” Zeiten betrug die Zinsmarge (hier der Spread [sprich Abstand] zwischen der Rendite 10-jähriger Bundesanleihen und dem 3-Monatsgeld-marktzins) im Durchschnitt komfortable 173 Basispunkte.

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Damit ist es vorerst vorbei (im Januar 2015 lag dieser Spread nur noch bei 44 Basispunkten), denn die EZB versucht mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, gegen das Risiko vor-zugehen, dass die Inflationsraten zu lange zu niedrig bleiben. Durch das Ankaufprogramm soll die Bilanz der Notenbank deutlich verlängert und ihre Struktur verändert werden, mit dem Ziel, die Inflationserwartungen zu stützen, die Realzinsen zu senken und eine uner-wünschte Verschärfung der Finanzierungsbedingungen zu verhindern. Darüber hinaus wer-den die Ankäufe die Renditen der Staatsanleihen reduzieren, wodurch die Konjunktur belebt und die Inflationsrate wieder auf knapp unter zwei Prozent erhöht werden soll. Insgesamt setzt die EZB darauf, dass sich die Finanzierungsbedingungen im gesamten privaten Sektor verbessern werden, angestoßen durch den Renditerückgang bei den Staatsanleihen.

Mit anderen Worten, die langen Zinsen werden nach dem Drehbuch von Mario Draghi nicht nur so lange niedrig gehalten, bis die Konjunktur wieder Tritt gefasst hat, sondern “bis der EZB-Rat eine nachhaltige Korrektur der Inflationsentwicklung erkennt“. Real sollen sie offen-bar für eine Weile im negativen Bereich gehalten werden. Für die Banken sind das schlechte Nachrichten. Sie können nicht damit rechnen, dass sich die Zinsmarge erholen wird, viel-mehr müssen sie sich auf eine lange Durststrecke einstellen. Konkret: Sie werden nicht darum herumkommen, ihre Kosten dramatisch zu vermindern. Der Bankensektor steht daher vor einer neuen Konsolidierungswelle.

Auch aus anderen Gründen sind die Erträge unter Druck geraten: Nach den Skandalen der Finanzkrise müssen die Banken neuerdings gegenüber der Aufsicht striktere, umfangreichere und damit teurere Auflagen erfüllen; durch technische Neuerungen im Zahlungsverkehr und im Wertpapiergeschäft versiegen zudem zunehmend Teile ihrer traditionellen Einkommens-quellen. Sie sind darüber hinaus gezwungen, ihre Kapitalpuffer zu verstärken, also Reserven zu bilden – am ehesten geht das zurzeit durch strikte Sparprogramme. Ein Grund für den Zusammenbruch von Banken war schlicht und einfach gewesen, dass sie mit zu viel geliehe-

nem Geld operiert hatten, im Vertrauen darauf, dass sie im Ernstfall von den Steuerzahlern

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gerettet würden. Es darf nicht noch einmal passieren, dass sie schon durch einen relativ mo-deraten Preisverfall ihrer Aktiva ins Schleudern geraten. Die Bankmanager sollten zudem im Hinterkopf behalten, dass die EZB eines Tages wieder einmal eine restriktive Politik verfolgen, also die Leitzinsen erhöhen wird, wenn nämlich die Inflation endlich angesprungen ist und das Ziel der Übung damit erreicht ist. Aus einer mick-rigen Zinsmarge wird dann schnell eine negative – und wer dann nicht über genügend Reser-ven verfügt, fliegt aus dem Markt. Ich vermute, dass die Zinsmargen mindestens bis zum Sommer 2017 unter Druck bleiben werden.

Von 1990 bis heute hat sich die Anzahl der Banken bereits von 4.700 auf 1.800 vermindert – ich kann nicht erkennen, dass das Tempo des Prozesses nachlassen wird. Fusionen, Verkür-zung der Bilanzen, Schließung personalintensiver Zweigstellen und, last but not least, ein dramatischer Personalabbau werden auf Jahre hinaus die Nachrichten beherrschen. Selbst im Investmentbanking sind die goldenen Zeiten vorbei. Die smarten Absolventen der ameri-kanischen Business Schools, die davon leben, dass sie das Gras wachsen hören, zieht es neu-erdings eher ins Consulting und in die Software-Entwicklung. [Anmerkung: Die Zukunft der Geschäftsbanken dürfte sich in Österreich sehr ähnlich entwickeln].

Die niedrige Zinsmarge ist kein Intermezzo, sondern Ausdruck des Strukturwandels, der sich lange hinziehen wird. Noch wirft der Großteil der Bankaktiva im Vergleich zu den Refinanzie-rungskosten (von Null) gute Erträge ab. Die meisten wurden zu Zeiten erworben, als die Welt für die Banken noch in Ordnung war. In dem Maße aber, wie diese Aktiva auslaufen, werden sie ersetzt durch solche, bei denen das nicht mehr der Fall ist. (Quelle: http://blog.zeit.de/herdentrieb/2015/02/18/qe-beschleunigt-das-bankensterben_8160, 18.2.2015, stark gekürzt)

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AB 18: Die Macht der Notenbanken

Lesen Sie bitte die nachfolgenden Texte und beantworten Sie die drei ergänzenden Fragen:

Die Zentralbank ist die mächtigste Einzelinstitution im gesamten Geldsystem. Sie schöpft Geld aus dem Nichts und steuert die Geldmenge, sie legt den Leitzins fest, an dem sich die Markzinsen orientie-ren. Sie steuert mit Zins und Geldmenge Inflation und Konjunktur, sie dreht den Kredithahn für die Volkswirtschaft auf und zu, sie kann Banken mit Liquidität fluten oder verdursten lassen, sie kann auch Staaten finanzieren oder dies verweigern – sie betätigt die zentralen Stellschrauben des Geldsys-tems und ist damit die mächtigste Institution der Wirtschaftspolitik. Kein Wunder, dass bei den öffentlichen Äußerungen der Chefs von Fed und EZB jede Silbe auf die Waagschale gelegt wird, jede feinste Nuance hat Auswirkungen wie das Wort kaum einer anderen Machtfigur. (Felber, Christian: Geld. Die neuen Spielregeln, Wien, © Deuticke 2014)

Das wohl bekannteste Beispiel der letzten Jahre ist jener berühmte Satz von Mario Draghi, Präsident

der Europäischen Zentralbank, den er am 26. Juli 2012 formuliert hat und den Historiker eines Tages

vermutlich zum Wendepunkt in der Eurorettung erheben werden. Genau genommen war es nicht

mal ein ganzer Satz. Sondern nur drei Wörter: "Whatever it takes" - was immer nötig sein wird. Im

nachfolgenden Textauszug wird dies noch näher erläutert:

Draghis historische Rede am 26. Juli 2012

Drei Wörter, die den Euro retteten Nicht die dreistelligen Milliardenhilfen retteten den Euro, sondern drei einfache Wörter: "Whatever it takes". EZB-Chef Mario Draghi sprach sie am 26. Juli 2012. tagesschau.de erinnert an die historische Rede. Und erklärt deren Wirkungsmacht.

Mit drei einfachen Wörtern brachte EZB-Präsident Mario Draghi die Wende in der Eurokrise.

2010 - der erste Tabubruch

Als Draghi diese Worte sagt, tobt die europäische Schuldenkrise beinahe schon drei Jahre. Alles be-ginnt im Herbst 2009, als die griechische Regierung eingestehen muss, dass das Staatsdefizit nicht nur bei - ohnehin besorgniserregenden - sechs Prozent, sondern bei mehr als zwölf Prozent der Wirt-schafts-leistung liege. Unter Investoren, die dem Land Geld geliehen haben, kommt Unruhe auf. Die Ratingagenturen senken die Bonitätsnoten, die Risikoaufschläge auf griechische Staatsanleihen stei-gen. Bald erfasst die Verunsicherung auch weitere Länder wie Irland, Portugal oder Spanien.

Im Frühjahr 2010 schlägt die Unsicherheit in nackte Panik um. Die Regierung in Athen ist nicht mehr in der Lage, ihre Schulden aus eigener Kraft zu bedienen. Das erste Rettungspaket für Griechenland wird geschnürt - wider den Geist der europäischen Verträge, die eigentlich ausschließen, dass ein Euroland für ein anderes finanziell haftet ("No-Bailout-Klausel"). Es ist der erste Tabubruch in der Eurorettungspolitik. Viele weitere werden folgen.

Zwei Jahre, in denen alles Schlag auf Schlag geht

Denn tatsächlich geht es nun Schlag auf Schlag. Was in den 24 Monaten zwischen der ersten Grie-chenland-Rettung und der Londoner Draghi-Rede passiert, lässt sich selbst im Stakkato-Stil nur unzu-reichend zusammenfassen: Nach den Griechen gehen auch die Iren und die Portugiesen faktisch plei-te und brauchen milliardenschwere Rettungspakete. In Spanien und Italien stürzen die Regierungen, im Fall Berlusconi übrigens nicht auf Druck der Wähler, sondern auf Druck der Investoren. Hunderte Milliarden schwere Rettungsfonds mit kruden Namen wie EFSF und ESM werden aufgelegt. Im Ge-genzug für die Kredithilfen geben die Krisenländer de facto die Hoheit über ihre Staatshaushalte ab. Private Gläubiger nehmen beim griechischen Schuldenschnitt milliardenschwere Verluste in Kauf.

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Fast im Wochentakt finden europäische Krisengipfel statt, die in kürzester Zeit weitreichende Be-schlüsse wie die Gründung des "Fiskalpakts" fassen.

Die Schieflage der spanischen Großbank Bankia schürte Mitte 2012 die Panik unter Investoren.

Trotz der unzähligen Rettungsversuche tobt die Krise aber immer weiter. Mehrmals scheint es, als stünde die Währungsunion kurz vor dem Zusammenbruch: Im August 2011 etwa, als die Panik plötz-lich sogar Frankreich erfasst und die Kurse an den Börsen einbrechen; oder im November desselben Jahres, als der griechische Premier Giorgios Papandreou ein Referendum über die EU-Rettungshilfe ankündigt - und das Vorhaben nur sechs Tage später wieder verwirft; schließlich im Mai 2012, als die griechische Parlamentswahl im Chaos mündet und die Schieflage der spanischen Großbank Bankia den nächsten Börsenrutsch verursacht.

Von zehn Prozent auf zweieinhalb Prozent

Doch dann kommt Draghi. Und schafft mit wenigen Worten, was zwei Jahre intensivster Rettungspo-litik nicht vermocht haben - nämlich die Lage nachhaltig zu beruhigen. Wörtlich sagt er: "Die EZB ist innerhalb ihres Mandats bereit, zu tun, was immer nötig sein wird, um den Euro zu schützen." Übersetzt heißt dies: Wer Ländern wie Spanien oder Italien Geld leiht, braucht keine Angst mehr zu haben, sein Geld nicht zurückzubekommen. Denn im Zweifel wird die EZB den Investoren die ent-sprechenden Staatsanleihen abkaufen.

Wie sehr sich die Investoren auf die Zusage verlassen, lässt sich heute, zwei Jahre nach der Draghi-Rede [Anmerkung: Juli 2014], beispielhaft an der sogenannten Risikoprämie zehnjähriger spanischer Staatsanleihen ablesen. Diese ist von mehr als sieben auf rund zweieinhalb Prozent gesunken. Euro-pas Süden gilt wieder als kreditwürdig. Dank Draghi.

Zwei konträre Schulen ...

Unter den Exegeten der europäischen Krisenpolitik gibt es zwei konträre Schulen. Die eine ist der Meinung, dass die die EZB das "Whatever it takes"-Versprechen viel früher hätte geben müssen. Dann nämlich, so die Argumentation, wäre die Panik an den Märkten rasch erstickt worden. Und der griechischen oder portugiesischen Wirtschaft wäre der Zusammenbruch erspart geblieben. Vor allem viele angelsächsisch geprägte Ökonomen sehen das so.

Auf der anderen Seite steht die "deutsche Schule", als deren bekanntester Vertreter ifo-Chef Hans-Werner Sinn gilt. Für sie ist das "Whatever it takes"-Versprechen der ultimative Tabubruch, der letzt-lich auf eine Vergemeinschaftung sämtlicher Staatsschulden in der Eurozone hinausläuft. Trost findet die Sinn-Schule höchstens darin, dass das Draghi-Versprechen eben nicht schon 2009 oder 2010 kam. In diesem Fall nämlich, so die Lesart, hätte sich der Süden notwendigen Wirtschaftsreformen von vornherein verweigert und würde lieber weiter auf Kosten der Nordländer leben, statt die eigenen Unternehmen wettbewerbsfähiger zu machen.

(Quelle: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/eurorettung-100.html, 26.7.2012, stark gekürzt)

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Über die Macht und das Ausmaß der Unabhängigkeit der EZB lässt sich zu Recht diskutieren, wie der nachfolgende Textauszug veranschaulicht. Es wird auch klar aufgezeigt, dass die Ziele und Aufgaben der EZB zu wenig präzise formuliert sind und diese Tatsache zwangsläufig zu Problemen führen muss:

Seit dem Beginn der Euro-Krise tobt in der EZB ein Richtungskampf. Einige Mittelmeerländer unter der Führung von EZB-Chef Mario Draghi befürworten die „fiskal- und konjunkturpolitische“ Funktion der Zentralbank, während der „harte Kern“ unter der Führung von Bundesbank-Chef Jens Weidmann die „geld- und stabilitätspolitische“ Linie vertritt. Diejenigen Staaten, die sich der Pleite entgegenschlit-tern sehen, wollen die Zentralbank verständlicherweise als billigen „lender of last resort“ anzapfen. [Anmerkung: als Kreditgeber letzter Instanz wird im Finanzwesen eine Institution bezeichnet, die als Kreditgeber oder Garant bei Schuldnern freiwillig oder auf gesetzlicher Grundlage agiert, wenn hierzu niemand anders mehr bereit ist]. Hingegen wollen diejenigen Staaten, die sich außerhalb der Gefahr einer Staatsinsolvenz sehen und die Rolle der „Transferzahler“ fürchten, die Unabhängigkeit der Zent-ralbank wahren. Beides dient bestimmten Interessen. Während die „Anzapfer“ die Linderung ihrer Staatsschuldenprobleme im Auge haben, wobei ihnen eine höhere Inflation durchaus zurechtkäme, schützt die „Die-EZB-ist-tabu“-Fraktion die Geldvermögen und den Finanzplatz Frankfurt wie Deutsch-land. Sie fürchtet Inflation wie der „Teufel das Weihwasser“. Die „Hardliner“ agieren jedoch kurzsich-tig: Ihre strenge Haltung zur Inflation könnte in den nächsten Jahren über die Staatsinsolvenz der Schuldnerländer zu einem fatalen Bumerang gegen die Gläubiger werden […]. Die „Unabhängigkeit“ der Zentralbank ist eine ähnliche Illusion wie die „Objektivität“ der Wissenschaft. Jede EZB-Entscheidung folgt einem bestimmten ideologischen Muster und bedient bestimmte Interessen. Des-halb sollten alle großen Interessensgruppen gleich transparent und demokratisch in den Leitungsor-ganen der Zentralbank vertreten sein. […] In jedem Fall bedarf es eines klareren Auftrags als heute. Die vertraglichen Mandate der EZB wider-sprechen einander. Zum einen sagt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, dass die Union „nicht für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedsstaates haftet“ und nicht für diese „eintritt“. Zählt die Zentralbank zur „Union“, dann darf sie also weder haften noch für Staatsschulden eintreten. Hingegen „verbietet“ das Protokoll des Lissabon-Vertrages über die Zentralbank nur den „unmittel-baren Erwerb von Schuldtiteln (von Mitgliedstaaten) durch die EZB oder die nationalen Zentralban-ken“. Heißt das, dass der „mittelbare“ Erwerb erlaubt ist? Wenn ja, begrenzt oder unbegrenzt? Staatsfinanzierung verboten, Aufkauf von Staatsanleihen auf den Märkten erlaubt: Mit einer so wi-dersprüchlichen Zielvorgabe können die Zentralbankgremien verständlicherweise nicht vernünftig arbeiten, sondern nur begründet streiten. (Felber, Christian: Geld. Die neuen Spielregeln, Wien, © Deuticke 2014; gekürzt und sprachlich vereinfacht)

Fragen:

1. Erläutern Sie anhand von drei Beispielen, warum die Zentralbanken die mächtigsten Institutionen im gesamten Geldsystem sind.

2. Wer ernennt die Mitglieder des Direktoriums der EZB? Wie lange werden sie bestellt?

Wer kontrolliert die Organe der EZB (Rat und Direktorium)? [Hinweis: https://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/decisions/govc/html/index.de.html, https://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/decisions/eb/html/index.de.html]

3. Nehmen Sie zu nachfolgender Aussage Stellung:

„Politisch legitimiert, aber nicht wirklich demokratisch kontrolliert, bestimmen die Notenbanken die Höhe der Zinsen, die Wechselkurse und damit die für die Wirtschaft wichtigsten Preise. Dies hat zur Folge dass z.B. Rohstoffe sich verbilligen oder verteuern, Börsenwerte geschaffen oder

vernichtet werden. Es ist an der Zeit, Handeln und Tun, Macht und Unabhängigkeit der Noten-banken verstärkt zu hinterfragen.“

(http://www.welt.de/wirtschaft/article141483418/Es-wird-Zeit-die-Zentralbanken-zu-entmachten.html, 26.5.2015, Textauszug, stark gekürzt)

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AB19: Die Ohnmacht der Notenbanken Lesen Sie bitte die nachfolgenden Texte und beantworten Sie die nachfolgende Frage:

Nennen und erläutern Sie – in kurzgefasster Form – die in den drei Textauszügen ange-sprochenen Problemfelder bzw. Grenzen der Geldpolitik der Notenbanken.

Textauszug – Nr. 1:

Die Grenzen der Geldpolitik Die große Inflation, die nie kam Als die wichtigsten Zentralbanken in den letzten Jahren begannen, ihre Geldschleusen zu öffnen und die Märkte zu fluten, rechneten viele Beobachter mit einem deutlichen Anstieg der Inflation. Doch dieser Anstieg kam nie. Im Gegenteil, heute befinden sich die Inflations-raten in sämtlichen entwickelten Volkswirtschaften auf Tiefstständen – und das nicht nur aufgrund des eingebrochenen Ölpreises. Trotz Nullzinsen und Billionenschweren Anleihekäu-fen der Zentralbanken liegt die Inflation weiterhin deutlich unterhalb der offiziellen Zielra-ten. Was sind die Gründe?

Inflationsraten auf Tiefständen (Erwartete durchschnittliche Inflation 2015)

(Quelle: Consensus Forecast, IWF, apoBank)

Die Ohnmacht der Notenbanken

Im Normalfall wirkt Geldpolitik über die Beeinflussung der privaten Schuldenaufnahme durch das Zinsniveau. Niedrige Zinsen sollten sich der Theorie nach in einer höheren Nach-frage nach Krediten auswirken, die dann wiederum Wachstum und Inflationsentwicklung antreibt. Es lässt sich allerdings niemand dazu zwingen, neue Kredite aufzunehmen. Das Problem der heutigen Zeit besteht darin, dass die Kreditnachfrage der Unternehmen und Haushalte trotz Nullzinsen gering bleibt. Auch die Schaffung von frischem Geld allein – wie sie durch die großangelegten Wertpapierkäufe stattfindet – führt nicht zu einer nachhaltig

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steigenden Inflation, da im Gegensatz zur Kreditvergabe keine neue Kaufkraft erzeugt wird. Offensichtlich ist das Instrumentarium der Notenbanken dafür derzeit nicht ausreichend. Sie würden das allerdings nie zugeben. Und so geben sie weiter Vollgas im Leerlauf und verzer-ren dadurch die Finanzmärkte, während sich realwirtschaftlich nichts tut.

Vollgas im Leerlauf

Während der globalen Finanzkrise wäre es ohne die massiven Eingriffe der Notenbanken zu einem Kollaps der Finanzmärkte gekommen. Heutzutage stehen die Notenbanken vor dem Dilemma, dass sie einen Auftrag haben, den sie aktuell nicht erfüllen können, nämlich eine bestimmte Zielinflation zu erreichen (in der Eurozone knapp 2%). Die unkonventionelle Geldpolitik wird uns deshalb trotz ihrer Ohnmacht und trotz ihrer Nebenwirkungen noch lange begleiten. (Quelle: https://www.apobank.de/expertenblog/autoren/blog-hanno-kuehn/grenzen-der-geldpolitik.html, 11.9.2015)

Textauszug – Nr. 2:

Wenn die Notenbanken an die Grenzen ihrer Macht stoßen Notenbanken sind mächtig. Umso fataler ist es, wenn ihre Macht an Grenzen stößt. (Albert Steck, Migros Bank) Als die Migros Bank letztes Jahr mit finews.ch den Begriff «Nullzinspolitik» zum Finanzwort des Jahres kürte, konnten wir nicht erahnen, dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) wenig später Negativzinsen einführen würde. Auch das abrupte Ende des Euro-Mindestkurses sahen wir nicht voraus. Was wir hingegen feststellten, war, dass sich die Geldpolitik in eine schlechte Richtung entwickelte. Die Notenbanken waren immer mächti-ger geworden – oder zumindest suggerierten sie dies.

Euro-Mindestkurs – Kurzinformation: Die Schweizerische Nationalbank hob im Jänner 2015 den Mindestkurs von 1,20 Franken pro Euro auf. Zugleich senkte sie den Zins für Guthaben auf den Girokonten, die einen bestimmten Freibetrag übersteigen, auf minus 0,75 %. Der Mindestkurs wurde in einer Zeit der massiven Überbewertung des Frankens und größter Verunsicherung an den Finanzmärkten eingeführt. Diese außerordentliche und befristete Maßnahme hat die Schweizer Wirtschaft vor schwerem Schaden bewahrt, da sie sich auf die neue Situation (= gestiegener Frankenkurs) leichter einstellen konnte.

Enttäuschungen programmiert

Konkret hatten wir bei der Begründung des Finanz-Wortes 2014 unsere Kritik so formuliert: «Die Notenbanken selber haben dazu beigetragen, dass die Erwartungen in ihre Politik im-mer höher geschraubt wurden. Doch sind diese Ansprüche an die Geldpolitik inzwischen so hoch, dass Enttäuschungen programmiert sind.» Wie beim Euro-Mindestkurs: SNB-Präsident Thomas Jordan erklärte noch am 10. April 2012 sowie in ähnlicher Form bei anderen Gele-genheiten: «Die Nationalbank setzt den Mindestkurs mit allen Mitteln durch. Wir sind bereit dazu, unbegrenzt Devisen zu kaufen.» Das entscheidende Wort lautete: «unbegrenzt».

Also unbegrenzt?

Inzwischen wissen wir, dass dieses Limit bei ungefähr 500 Milliarden Franken liegt. Sie hätte zwar auch etwas höher sein können. Aber unbegrenzt?

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Am 26. Juli 2012 versprach Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB): «The ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.» Die entscheidenden Worte lauteten: «whatever it takes». Also unbegrenzt?

An die Grenzen der Macht

Noch hat die EZB ihr Arsenal nicht gänzlich ausgeschöpft. Mit dem Kauf von Staatsanleihen kann sie die Zinsen noch stärker nach unten drücken und vor allem den Euro weiter schwä-chen. Auch hier gilt allerdings: Die EZB selbst hat die Erwartungen in ihre eigenen Fähigkei-ten höher und höher getrieben. Diese übermäßigen Ansprüche muss sie früher oder später enttäuschen.

Fazit: Notenbanken sind mächtig. Doch wehe, wenn ihre Macht an Grenzen stößt. (http://www.finews.ch/news/banken/17214-migros-bank-albert-steck-finanz-wort-zentralbanken-notenbanken-mario-

draghi-thomas-jordan-snb-nullzinspolitik, 20.1.2015, gekürzt)

Textauszug – Nr. 3:

Zentralbanken: Primat der Politik

Politiker aus dem linken wie aus dem rechten Lager neigen dazu, Notenbanken den Schwar-zen Peter zuzuschieben. So sei die Europäische Zentralbank seit der Finanzkrise zu mächtig geworden, beklagte kürzlich der grüne Europaparlamentarier Sven Giegold, immerhin ge-lernter Alternativ-Ökonom. Die zu große Macht der Notenbanken beklagen ebenfalls Wirt-schaftswissenschaftler, wie der eher rechte Hans-Werner Sinn. Doch haben die Zentralban-ken wirklich zu viel Macht?

Die Bilanz der Nullzinspolitik der Notenbanken fällt eher bescheiden aus: Zunächst hatten sie mit einer Geldschwemme nur auf den Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 reagiert. Vorher-gesagt hatten sie die große Krise nicht. Die Finanzmärkte konnten stabilisiert werden. Miss-trauen herrscht dort allerdings immer noch vor. Zugleich wurden durch die Scheinerfolge der Geldpolitik wichtige Reformen vereitelt und mit den Schattenbanken neue Probleme ge-schaffen. Später verhindern die Herren des Geldes mit Dame eine Deflation. Doch wie groß diese Gefahr tatsächlich war und ist, bleibt umstritten.

Trotz unterschiedlicher politischer Vorgaben – die EZB kümmert sich direkt nur um Preissta-bilität, andere Notenbanken, wie die amerikanische Fed, auch um Wachstum und Vollbe-schäftigung – folgten sie einer Leitidee: Sinkende Zinssätze führen zu mehr Krediten. Bei-spielsweise, weil es für Firmen billiger wird, in neue Maschinen und Anlagen zu investieren. Beispielsweise, weil Banken durch die Geldschwemme zu einer lebhafteren Kreditvergabe gegenüber Unternehmen und Verbrauchern angeregt werden. Dies soll Konsum und Investi-tionen anregen.

Keine Investitionen – trotz null Zinsen

Doch das hat nicht funktioniert. Weil es den Unternehmen an Nachfrage fehlt – China-Exporte sind eben nicht alles. Darum wird zu wenig in die Zukunft investiert. In vielen Län-dern sind die Kapazitäten der Wirtschaft ohnehin unterausgelastet. Im Unternehmenssektor hat sich der Anteil des Geldkapitals spürbar um vier Prozentpunkte auf 44 Prozent erhöht, so die KfW-Bank in einer Studie. KfW-Chefvolkswirt Jörg Zeuner: „Bereits seit 2002 wird in den Firmen durchgängig netto mehr gespart (Geldkapital gebildet) als investiert (Realkapital ge-

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bildet).“ Kein deutsches oder europäisches Phänomen. US-Konzerne wie Google oder Apple schwimmen in Bargeldreserven, die sie nicht real investieren können.

Historisch und international ist der Trend ungewöhnlich: Typischerweise sind die privaten Haushalte die volkswirtschaftlichen Nettosparer. Deren Ersparnisse werden über das Finanz-system an die Unternehmen vermittelt, um sie dort in realwirtschaftliche Projekte zu inves-tieren. Werden neben den Haushalten auch – politisch gewollt – der Staat und sogar die Un-ternehmen zu Nettosparern, bleibt den Geldvermögen per Saldo nur ein Weg: ins Ausland. Im Ergebnis haben die westlichen Notenbanken die Welt mit Geld geflutet. Nicht aber die heimische Wirtschaft angekurbelt.

So viel Theorie muss sein

Mitschuld an der Ohnmacht der Zentralbanken trägt eine prinzipielle Verlegenheit: Inflation und Wirtschaftswachstum werden von den Konsum- und Investitionsausgaben von Unter-nehmen, Staat und Bürgern bestimmt sowie vom Außenhandel. Auf diese Größen hat die Geldpolitik aber keinen (direkten) Einfluss. Die Zentralbanken können nur indirekt über Fi-nanzdienstleister wirken. Aber die Übertragungswege sind unübersichtlich, die Wirkungen selbst theoretisch umstritten.

Weiter geschwächt hat Fed & Co. die Globalisierung. Einst konnte noch die Bundesbank mit ihrer Zinspolitik die Wirtschaftspolitik etwa der ungeliebten Regierung von Willy Brandt aus-bremsen. Damals bestand Geld aber noch überwiegend aus von der Bundesbank herausge-gebenem Bargeld. Heute ist Geld vor allem Buchgeld, Guthaben von Unternehmen und Su-perreichen. Und dieser Überfluss liegt auch nicht mehr in einem bestimmten Land, sondern rast über den Globus. Selbst Giganten wie Fed, Bank of England oder People’s Bank of China haben nur Einfluss auf einen Teil des Spielfeldes.

Von der Nullzinspolitik profitieren vor allem Banken, Reiche und Staaten. Abhilfe sollten al-lerdings ausgerechnet die Regierungen schaffen. Es gilt das Primat der Politik: In den USA zieht die Geldpolitikerin Janet Yellen längst am gleichen Strang wie Barack Obamas Finanzpo-litik. Beide waren expansiv. Und die positiven Wirkungen auf Wirtschaft und Jobs sind offen-sichtlich. Im Euroraum ist es umgekehrt. Zwar wirkt die Geldpolitik der EZB „expansiv“. Die Finanzpolitik jedoch ist, nicht zuletzt auf Drängen der deutschen Regierung, „restriktiv“. Auf Kosten der Euro-Wirtschaft. (Quelle: https://www.bilanz.de/maerkte/zentralbanken-primat-der-politik, 17.12.2015, gekürzt)

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IB 4: Geldpolitik der EZB – Pro und Kontra-Argumente

Soll die Geldflut enden? - NEIN Es ist Zeit für eine strengere Geldpolitik der EZB, sagt Philip Faigle. Es ist dafür viel zu früh, der Aufschwung beginnt doch gerade erst, sagt Mark Schieritz.

Philip, ich erinnere mich vor allem daran, wie die Ankündigung des Anleiheprogramms in Deutschland aufgenommen wurde: Man hat argumentiert, dass es nicht wirken werde, weil die Zinsen schon niedrig seien. Und man hat der EZB vorgeworfen, das billige Geld führe nur dazu, dass die Staaten das Reformieren einstellen.

Das war womöglich etwas voreilig. Jedenfalls nimmt die Wirtschaft in Europa an Fahrt auf, und es deutet vieles darauf hin, dass das auch an der EZB liegt. Die Anleihekäufe haben dazu beigetragen, dass der Euro kräftig an Wert verloren hat. Dadurch konnten die europäischen Unternehmen ihre Waren auf dem Weltmarkt günstiger anbieten. Und obwohl die Zinsen bereits niedrig waren, sind sie noch weiter gesunken. Damit kommen die Firmen leichter an Kapital für Investitionen. Währenddessen wird in Europa genauso schnell – oder langsam – reformiert wie vorher.

Es scheint also ganz so, als habe Notenbankpräsident Mario Draghi Europa ein zweites Mal vor dem Abgrund bewahrt. Im Juli 2012 sorgte er mit der Ankündigung, er werde alles tun, um den Euro zu retten, für Ruhe an den internationalen Finanzmärkten. Nun schafft er mit seinem Anleiheprogramm die Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wa-rum soll Draghi also auf die Kritiker hören, die ganz offensichtlich ziemlich danebenlagen, und ein äußert erfolgreiches Programm beenden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das tun wird, und es gibt dafür auch keine überzeugenden Argumente.

Richtig ist: An den Börsen geht es aufwärts, und vielleicht wird das eine oder andere Papier inzwischen über seinem eigentlichen Wert gehandelt. Aber von einer Blase kann keine Rede sein. Die Unternehmen fahren schließlich auch satte Gewinne ein, was höhere Aktienkurse rechtfertigt.

Richtig ist auch: Die Immobilienpreise steigen in Deutschland kräftig. Aber sie sind vorher eben auch jahrelang gefallen und vor allem: Bislang zeichnet sich nicht ab, dass sich die Deutschen im großen Stil verschulden, um Häuser und Wohnungen zu kaufen. Erst dann aber wäre ein Preisanstieg am Immobilienmarkt für die Stabilität der Wirtschaft gefährlich, weil die Banken in Schieflage geraten, wenn die Kredite nicht mehr bedient werden können.

(http://www.zeit.de/2015/23/geldpolitik-ezb-streitfall-schieritz, 3. 6. 2015)

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Soll die „Geldflut“ enden? – JA Es ist Zeit für eine strengere Geldpolitik der EZB, sagt Philip Faigle.

Mark, ich muss in diesen Tagen oft an Alan Greenspan denken, den früheren Chef der ameri-kanischen Notenbank Fed. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit nach der großen Krise, als alle Welt von Greenspan wissen wollte, warum er nicht früher den Geldhahn zugedreht ha-be. Warum er es zugelassen habe, dass sich die Blase immer weiter aufblähte und schließlich die Weltwirtschaft einstürzen ließ.

Die Frage nach dem Timing in der Geldpolitik ist heute wieder brandaktuell. Denn ähnlich wie Greenspan sind die Notenbanker gerade dabei, den richtigen Moment für den Ausstieg zu verpassen. Es wäre eine tragische Wendung, denn sowohl in Europa als auch in den USA war die Krisenpolitik der Zentralbanken eine Erfolgsgeschichte – und sie könnte es bleiben, wenn vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) endlich einen Ausstiegsplan präsentieren würde.

Ein solcher Plan tut auch deshalb Not, weil die Nebenwirkungen der bisherigen Strategie immer deutlicher werden. Seit die EZB ihr milliardenschweres Anleiheprogramm aufgelegt hat, boomen die Aktienmärkte wie schon lange nicht mehr. In Deutschland ist ein Großteil der Aktien mittlerweile deutlich überbewertet. Und an den Immobilienmärkten steigen die Preise nicht mehr nur in den Großstädten rasant, sondern auch in einigen ländlichen Regio-nen. Das ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, weil von dem Boom vor allem die Reichen profitieren, während die meisten Bürger zusehen, wie die Niedrigzinsen ihr Erspartes auf-fressen. Es erhöht auch die Gefahr eines neuen Börsencrashs, der die wirtschaftliche Erho-lung in Europa zunichtemachen würde.

Angesichts solcher Risiken braucht es gute Gründe, um die bisherige Politik fortzusetzen. Befürworter der EZB-Politik wie du argumentieren gern, dass die Preise in Europa immer noch zu langsam stiegen und dass deshalb eine Deflation drohe. Aber dieses Argument setzt unter anderem voraus, dass die Notenbank auf diese Entwicklung noch einen nennenswer-ten Einfluss hat. Ich habe da meine Zweifel. In Europa sind die Zinsen an der Nullgrenze, die EZB druckt Geld wie verrückt – aber die Inflation reagiert kaum noch auf das, was die Noten-banker in Frankfurt machen. Zuletzt sind die Preise zwar wieder etwas gestiegen. Aber das lag vermutlich auch daran, dass durch den schwächeren Euro die Importe teurer wurden und auch der Ölpreis sich wieder deutlich erholt hat.

(http://www.zeit.de/2015/23/geldpolitik-ezb-streitfall-faigle, 3. 6. 2015)