Die Homilien zum Ersten Buch Samuel () || III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken...

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III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes Bei seiner Gastpredigt in Jerusalem hat Origenes sich sehr viel Mühe gege- ben, den Zuhörern eine gute Predigt zu liefern. Die lateinische Samuel- homilie gehört zu den gehaltvollsten, die von ihm erhalten sind. Origenes erläutert seinen Zuhörern anhand des zugrundeliegenden Bibeltextes (1 Sam. 12) seine Vision vom Leben des vollkommenen Christen. 129 Der Text enthält gleichsam in nuce die gesamte, in engstem Konnex mit der Ethik konstruierte Metaphysik des Origenes. Der metaphysische und ethische Rahmen seines Denkens ist von einer philosophisch-platonisch geprägten Einheitsvision in – und das ist das eine christliche Element daran – univer- salen Dimensionen bestimmt. Das zweite christliche Element ist die Inkar- nation: Der Eine (Gott Vater) bleibt nicht der Welt schlechthin transzendent, sondern lässt sich im Sohn, den Origenes im Rahmen der antiken Prinzi- pientheorie als Eines-Vieles beschreibt, in die Welt des Vielen verwickeln, um dieser dadurch den Weg zum Einen zu eröffnen. 130 Man kann an dieser Predigt sehen, wie Origenes in seinen Homilien zwar nicht sein komplexes theologisch-philosophisches Denken oder ein- zelne Aspekte ausführlich erörtert, gleichwohl aber seinen Zuhörern Kern- gedanken zumutet, auch wenn diese intellektuell anspruchsvoll sind. Ausge- hend vom Bibeltext, den er erklärt, legt er Grundgedanken seiner Theologie in einer Weise dar, dass die Zuhörer daraus etwas für das Verständnis und die Praxis des Christentums mitnehmen können. 129 Die (schon älteren, aber immer noch mit Gewinn zu lesenden) Standardwerke hier- zu sind Völker, Vollkommenheitsideal; Lieske, Logosmystik; Rahner, Menschen- bild des Origenes; Crouzel, Connaissance mystique; Gruber, ZVH. 130 Siehe dazu den vorzüglichen Aufsatz von Hengstermann, Leben des Einen, in dem grundlegende Einsichten in die im Folgenden dargelegten Zusammenhänge aufge- zeigt werden. Die oberflächlichen und zum Teil konfusen Anfragen von V olp, Tugendbegriff des Origenes, werden weder der Komplexität des origeneischen Denkgefüges gerecht noch erfassen sie den Kern der Darstellung von Hengster- mann, vor allem weil sie – von Fehlern im Detail abgesehen (etwa Origenes eine negative Theologie zuzuschreiben: ebd. 458f.) – auf einem falschen Gegensatz von gelebtem christlichem Ethos und philosophischer Ethik aufbauen (ebd. 461), aus der christlichen Kritik an manchen Zügen des Platonismus fälschlich auf Antiplatonis- mus schließen (ebd. 462) und die zentrale Bedeutung des Freiheitsbegriffs für Ori- genes, der keineswegs im Gegensatz zum Gerechtigkeitsbegriff steht, sondern diesen gerade fundiert, schlechterdings verkennen (ebd. 457. 462f.). Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/6/14 2:42 PM

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III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenkendes Origenes

Bei seiner Gastpredigt in Jerusalem hat Origenes sich sehr viel Mühe gege-ben, den Zuhörern eine gute Predigt zu liefern. Die lateinische Samuel-homilie gehört zu den gehaltvollsten, die von ihm erhalten sind. Origeneserläutert seinen Zuhörern anhand des zugrundeliegenden Bibeltextes (1Sam. 1–2) seine Vision vom Leben des vollkommenen Christen.129 Der Textenthält gleichsam in nuce die gesamte, in engstem Konnex mit der Ethikkonstruierte Metaphysik des Origenes. Der metaphysische und ethischeRahmen seines Denkens ist von einer philosophisch-platonisch geprägtenEinheitsvision in – und das ist das eine christliche Element daran – univer-salen Dimensionen bestimmt. Das zweite christliche Element ist die Inkar-nation: Der Eine (Gott Vater) bleibt nicht der Welt schlechthin transzendent,sondern lässt sich im Sohn, den Origenes im Rahmen der antiken Prinzi-pientheorie als Eines-Vieles beschreibt, in die Welt des Vielen verwickeln,um dieser dadurch den Weg zum Einen zu eröffnen.130

Man kann an dieser Predigt sehen, wie Origenes in seinen Homilienzwar nicht sein komplexes theologisch-philosophisches Denken oder ein-zelne Aspekte ausführlich erörtert, gleichwohl aber seinen Zuhörern Kern-gedanken zumutet, auch wenn diese intellektuell anspruchsvoll sind. Ausge-hend vom Bibeltext, den er erklärt, legt er Grundgedanken seiner Theologiein einer Weise dar, dass die Zuhörer daraus etwas für das Verständnis und diePraxis des Christentums mitnehmen können.

129 Die (schon älteren, aber immer noch mit Gewinn zu lesenden) Standardwerke hier-zu sind Völker, Vollkommenheitsideal; Lieske, Logosmystik; Rahner, Menschen-bild des Origenes; Crouzel, Connaissance mystique; Gruber, ZVH.

130 Siehe dazu den vorzüglichen Aufsatz von Hengstermann, Leben des Einen, in demgrundlegende Einsichten in die im Folgenden dargelegten Zusammenhänge aufge-zeigt werden. Die oberflächlichen und zum Teil konfusen Anfragen von Volp,Tugendbegriff des Origenes, werden weder der Komplexität des origeneischenDenkgefüges gerecht noch erfassen sie den Kern der Darstellung von Hengster-mann, vor allem weil sie – von Fehlern im Detail abgesehen (etwa Origenes einenegative Theologie zuzuschreiben: ebd. 458f.) – auf einem falschen Gegensatz vongelebtem christlichem Ethos und philosophischer Ethik aufbauen (ebd. 461), aus derchristlichen Kritik an manchen Zügen des Platonismus fälschlich auf Antiplatonis-mus schließen (ebd. 462) und die zentrale Bedeutung des Freiheitsbegriffs für Ori-genes, der keineswegs im Gegensatz zum Gerechtigkeitsbegriff steht, sondern diesengerade fundiert, schlechterdings verkennen (ebd. 457. 462f.).

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32 Einleitung

1. Metaphysik und Ethik in der Religionsphilosophie des Origenes

Die Religionsphilosophie des Origenes beruht auf dem Programm der kon-templativen und aktiven Teilhabe der Seele und überhaupt der gesamtenWirklichkeit an dem einen Gott. In diesem Programm wird die Metaphysikethisch reformuliert. Alle Wirklichkeit entspringt in einer ursprünglichenEinheit (Gott Vater), die absolut eines und einfach ist,131 und kehrt durchKontemplation des Einen-Vielen (Gott Sohn), der um der Einheit des Vie-len willen in die Welt des Vielen kommt und diese durch seine dauerhaftegeistige (pneumatische) Präsenz heiligt (Gott Heiliger Geist), in einem lang-wierigen Prozess, der universal den ganzen Kosmos und die Geschichteumfasst, wieder in diese zurück.132 Dieser Prozess wird zwar von GottesVorsehung gelenkt, ist aber nicht als notwendig und determiniert gedacht,sondern als Interaktion zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen inFreiheit. Indem die göttliche Vorsehung vorausschauend und vorauswissenddie Welt jeweils so einrichtet, dass den Geschöpfen diese Möglichkeit stän-dig eröffnet wird, ruft sie die Geschöpfe dazu auf und leitet sie dazu an, auseigener Einsicht und aus eigenem Willen das zu werden, als was der Schöp-fer sie gedacht hat, nämlich Wesen freier Selbstbestimmung und eben darinEbenbild Gottes zu sein.133 Im Anschluss an die Begrifflichkeit von Gen.1,26f. in der Septuaginta versteht Origenes den Menschen als ,nach demBild Gottes‘, d.h. Christus, geschaffen, dies allerdings nicht in einem stati-schen Sinne, sondern dynamisch-prozessual so, dass ihm die Aufgabe zu-kommt, sich die ,Ähnlichkeit‘ mit diesem Bild und damit mit dem Urbild,Gott, durch eigene ethische Anstrengung zu erwerben. Darin steckt dasantike philosophische Programm der „Angleichung an Gott“ (oë moiÂvsiw

ue ìvÄ ), das auch für Origenes „das höchste Gut (summum bonum) ist, zu demdie Vernunftnatur insgesamt strebt“: „Durch eigenen Eifer“ soll der Mensch„sich selbst diese Ähnlichkeit durch Nachahmung Gottes erwerben“ mit

131 Zur Bestimmung Gottes als mona w und eë na w vgl. Origenes, princ. I 1,6 (GCS Orig. 5,21f.). Siehe ferner ebd. II 8,2 (5, 154); in Ioh. comm. I 20,119 (GCS Orig. 4, 24): oëueoÁ w meÁ n oyËn pa nth eÏn eÆsti kaiÁ aë ployÄn; Cels. IV 14 (GCS Orig. 1, 284); VII 38 (2,188); in Num. hom. 21,2 (GCS Orig. 7, 201): omnia enim ad monadem rediguntur. Zudiesem Gedanken bei Philon vgl. leg. all. II 2f. (I p. 90 Cohn/Wendland); deusimmut. 11. 82 (II p. 58. 74f.); rer. div. her. 182 (III p. 42); spec. leg. III 180 (V p.200); dazu Maas, Unveränderlichkeit Gottes 109f.

132 Ausführlich beschrieben von Hengstermann, Neoplatonism of Origen, bes. 85–87;vgl. auch ders., Weltseele bei Origenes.

133 Zur Interdependenz von Vorsehung und Freiheit bei Origenes siehe Benjamins,Eingeordnete Freiheit, bes. 117–121. 147–165. Vgl. dazu v.a. das Fragment aus demersten Buch des Römerbriefkommentars in philoc. 25 (SC 226, 212–232) = frg. 1Ramsbotham, übersetzt bei Heither, FC 2/6, 30–43, und Benjamins, ebd.105–107.

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33III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

dem Ziel, „am Ende selbst durch eigenes Wirken die vollkommene Ähn-lichkeit zu vollenden.“134 Im Kontrast zur frühen griechischen Wesenson-tologie betreibt Origenes eine „wechselseitige ,Ontologisierung‘ des Wil-lensbegriffs und eine ,Voluntarisierung‘ des Seinsbegriffs“.135 „Weder Geistnoch Welt sind demnach in sich fest gefügte Wesenheiten, sondern Stufenbewegter Freiheit, deren je spezifisches Sein sich ausschließlich von derindividuellen Willensentscheidung für und gegen das Absolute ableitet.“136

Das „dynamische Kontinuum zielgerichteter geistiger Freiheiten“, als dassich die Wirklichkeit in der origeneischen Philosophie darstellt,137 wird vor-angetrieben durch die Interaktion zwischen der ungeschaffenen und un-wandelbaren, schöpferischen und erlösenden Freiheit Gottes und der ge-schaffenen und daher wandelbaren und fehlbaren Freiheit des Menschen alsVernunftwesen. Da somit Wille und Tat über das ,Wesen‘ alles Seiendenentscheiden, ist das Konstruktionsprinzip der origeneischen Metaphysik dieEthik.

Bereits bei Platon ist die „Angleichung an Gott, soweit das möglich ist“,ethisch gefasst: „Die Angleichung besteht darin, gerecht und fromm mitEinsicht zu werden“.138 Das entspricht Platons Konzept der Einfachheit undUnveränderlichkeit Gottes als beständige Identität mit sich selbst,139 dieebenfalls in ethischen Kategorien expliziert wird: Insofern Gott (bzw. dasGöttliche) das Gute schlechthin ist, dem es als dem Besten und Vollkom-

134 Origenes, princ. III 6,1 (GCS Orig. 5, 280); Übersetzung nach p. 643–645 Gör-gemanns/Karpp. Für diese aus Gen. 1,26f. entwickelte Anthropologie des Origenessiehe bes. in Gen. hom. 1,13 (GCS Orig. 6, 15–18), ferner in Ioh. comm. XX22,182f. (GCS Orig. 4, 355); orat. 29,15 (GCS Orig. 2, 389–391); Cels. IV 30 (GCSOrig. 1, 299); in Rom. comm. IV 5 (p. 307 Hammond Bammel): „Nach dem BildGottes wurde er (sc. der Mensch) zwar erschaffen, die Ähnlichkeit mit Gott wurdeihm jedoch nicht sogleich gewährt. Er sollte zuerst auf Gott vertrauen und so ihmähnlich werden. Der Mensch sollte hören, dass jeder Gott ähnlich wird, der auf ihnvertraut“; Übersetzung: Heither, FC 2/2, 219. Siehe dazu Lieske, Logosmystik100–161; Crouzel, Theologie de l’image 147–179. 217–245; ders., L’imitation et la„suite“ de Dieu 34–37; ders., Origene 130–137; Comoth, Homoiosis; Kobusch,Bild und Gleichnis Gottes.

135 So Holz, Begriff des Willens 70, der zusammen mit Kobusch, Bedeutung 97–102,diese grundlegende Leistung des Origenes herausgearbeitet hat. Siehe auch Scho-ckenhoff, Zum Fest der Freiheit 162–187.

136 Hengstermann, Leben des Einen 433, im Anschluss an Holz, Begriff des Willens,der dieses Konzept anhand der Hauptlehren des Origenes (Präexistenz und Schöp-fung, Apokatastasis) detailliert darlegt.

137 Hengstermann, ebd. Vgl. Völker, Vollkommenheitsideal 91: „Es liegt in ihrem (sc.der Seelen) ganzen Dasein eine leidenschaftliche Bewegtheit.“

138 Platon, Theait. 176 b 1–3.139 Vgl. Phaid. 78 c 1 – 80 b 7, bes. 80 b 1f., wo das Göttliche als unsterblich, intelli-

gibel, von einer einzigen Gestalt und unauflöslich qualifiziert wird, „das sich inBezug auf sich selbst stets in gleicher Weise verhält“, also unveränderlich ist.

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34 Einleitung

mensten in keiner Weise irgendwie an Schönheit oder Tugend fehlt, un-terliegt er keinerlei Wandlung oder Veränderung.140 Auch für Origenes ist es„die tugendhafte Praxis, die den Menschen an den Logos angleicht“:141

„Durch die Tugend wird die Seele Bild des Bildes Gottes.“142 Plotin hatebenso gedacht.143 Dieses ethische Bemühen versteht Origenes allerdingsnicht bloß als Vorstufe zur Angleichung an eine über das Reich der Tugen-den ihrerseits erhabene göttliche Ordnung, wie das in der Tugendlehre Plo-tins der Fall ist,144 sondern seinerseits schon als wirkliche Teilhabe an Chris-tus als dem Prinzip wie der Gesamtheit aller einzelnen Tugenden.145 Aktivesund kontemplatives Leben, ethisch-soziales Handeln in dieser Welt undSchau Gottes als jenseitiges Ziel des Menschen bedingen und befördern sichin der ethisch gefassten Mystik des Origenes gegenseitig.146 Die ethische

140 Vgl. polit. II 380 d 1 – 383 c 7, bes. 381 b 4. 6. c 1f. 8f.: „Jeder Gott ist offenbar soschön und so gut als überhaupt möglich und bleibt deshalb allezeit unveränderlich(wörtlicher: einfach) in seiner eigenen Gestalt“; Übersetzung: p. 179 Rufener. AmEnde dieses Passus wird der Gedanke mit dem „göttlich Werden, soweit dies einemMenschen überhaupt möglich ist“, verknüpft: ebd. 383 c 4f.; Übersetzung: p. 185Rufener. – Maas, Unveränderlichkeit Gottes 42–53, verzeichnet diesen GrundsatzPlatons, weil er die ethische Füllung der Unveränderlichkeit „im Sinne der Wahr-haftigkeit, des Sich-nicht-Verstellens, des Nicht-Betrügens“ (ebd. 47) gerade aus-blendet und das Konzept auf seine kosmologischen Aspekte reduziert (ebd. 52);analog für Aristoteles (ebd. 58–61), der in frg. 16 Ross die Stelle aus Platons Politeiaaufgreift.

141 Hengstermann, Leben des Einen 446. Zum Tugendbegriff als Ermöglichungsgrundder Angleichung an Gott siehe auch Horn, Antakoluthie der Tugenden 19, der aufdas reiche Quellenmaterial dazu bei Preaux, Les quatre vertus, verweist. Vgl. Ori-genes, Cels. VI 63 (GCS Orig. 2, 134); VII 66 (2, 216): Die Gottesebenbildlichkeitdes Menschen in dem Sinne, dass er „nach dem Bild Gottes“ (Gen. 1,27), also nachdem Logos, der das Bild Gottes ist, geschaffen ist, „liegt in der vernunftbegabtenund tugendhaften Seele“; Übersetzung: Barthold, FC 50, 1317.

142 So in einem Fragment aus dem ersten Buch des Römerbriefkommentars in philoc.25,2 (SC 226, 218).

143 Plotin, enn. 19,15 bzw. I 2,3: „Einen solchen Zustand nun der Seele, in welchem siein der geschilderten Weise denkt (geistig tätig ist) und dabei ohne Affekte ist, kannman doch treffend als Gleichwerdung mit Gott bezeichnen“; Übersetzung: Ia p. 339Harder.

144 Ausführlicher dazu Hengstermann, ebd. 435–440.145 Vgl. Hengstermann, ebd. 445f. Nach Origenes, in Cant. comm. I 6,13f. (GCS

Orig. 8, 112f. bzw. SC 375, 256), ist Christus „die Substanz der Tugenden selbst“(ipsarum uirtutum substantia), was Origenes an den ,Tugenden‘ Gerechtigkeit, Friedenund Wahrheit exemplifiziert: „Dies alles jedenfalls, so heißt es (sc. in der Schrift), ister (sc. Christus) und begreift er wiederum in sich ein.“

146 Grundlegend hat Völker, Vollkommenheitsideal 76–196, das „innere Verflochten-sein“ von „Gnosis und Tat, Beschauung und Wachsen in den Tugenden“ (ebd. 76f.)herausgearbeitet. Sehr erhellend ist ferner Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit234–239. 269–297; Weiteres bei Hengstermann, ebd. 447–451. – Lieske, Logos-mystik 38–100, erörtert das Verhältnis der „Individualseite“ und „Sozialseite“ der

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35III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

Praxis, die mit der Reinigung von Affekten beginnt – weshalb Origenes inseinen Predigten sehr oft mit deutlichen Mahnungen hierzu einsetzt147 –, istihm nicht nur Vorstufe zur Gottesschau, sondern ihrerseits bereits Schau,näherhin des Sohnes, dessen „Aspekte“ (eÆpiÂnoiai) der Mensch nachahmt,wenn er, mit Platon formuliert, „gerecht und fromm mit Einsicht“ handelt,denn er hat dadurch real an ihnen teil. Nach Ansicht des Origenes wird „dervollkommene Mensch durch die Tugend mit dem Logos in Person (ayÆ to -logow) verbunden und vereinigt“.148 In der Mystik des Origenes kommtdurch solche tugendhafte Praxis der Logos selbst im Innersten der Seele, das,nach seinem Bild‘ geschaffen ist, zur Entfaltung und gleicht sich derMensch durch jeden einzelnen ethischen Akt Gott an: „Wenn jemand voll-kommen wird, wie der himmlische Vater vollkommen ist, … und in seinetugendhafte Seele die Wesenszüge Gottes aufnimmt“, dann „besitzt“ einsolcher Mensch „in der Seele aufgrund der Gestalt ,nach dem Bild Gottes‘Gott selbst.“149 Umgekehrt ergibt sich aus dieser ethisch vermittelten Kon-templation des Wortes Gottes in der eigenen Seele wiederum eine intensi-viertere Praxis als gleichsam Ausfluss (oder, im Bild des Origenes: ,Über-fluss‘) der zunehmenden Angleichung an Gott (was eben heißt: an GottesGüte und Gerechtigkeit): „Folglich handelt, wer den Sohn ehrt, der derLogos ist, nicht unvernünftig, da er aus seiner Ehrung“, die „durch einintegres Leben erfolgt“, „Nutzen erfährt und durch Ehrung dessen, der ,dieWahrheit ist‘ (vgl. Joh. 14,6), besser wird, als Frucht seiner Ehrung derWahrheit, ebenso seiner Ehrung der Weisheit, Gerechtigkeit und aller We-sensmerkmale, die die göttlichen Schriften vom Sohn Gottes aussagen.“150

Für jede Tugend gilt: „Was immer jemand aus natürlicher Beschaffenheit (exnaturali creatione bzw. eÆk kataskeyhÄw fysikhÄw) besitzt, dasselbe empfängt er,wenn er es ausübt, auch aus der Gnade Gottes, so dass er Überfluss hat undgerade in dem sicherer ist, was er besitzt … Wenn wir also wollen, dass unsdie vollkommenere Tugend (uirtus perfectior) gegeben wird und in uns über-fließt, dann lasst uns durch Eifer ganz erwerben, was unter den Menschenvollkommen ist.“151

Logosmystik von veralteten katholisch-dogmatischen Kategorien aus und führt dieThematik insofern eng, als er zur (von Origenes auf die gesamte Menschheit undWelt bezogenen) Sozialseite, so sehr die ekklesiale Dimension zu dieser dazugehört,nur nach dem Verhältnis des „Logosmystikers“ zur konkreten, hierarchisch verfass-ten Kirche fragt (vgl. ebd. 74–100).

147 Siehe dazu oben S. 20–26.148 Cels. VI 48 (GCS Orig. 2, 119); Übersetzung: Barthold, FC 50, 1107.149 Ebd. VI 63 (2, 134); Übersetzung: ebd. 1139. Vgl. zu dieser „Gottwerdung“ des

Menschen in Ioh. comm. XXXII 27,338f. (GCS Orig. 4, 472); dazu Rist, Eros andPsyche 202.

150 Cels. VIII 9f. (GCS Orig. 2, 227f.); Übersetzung: Barthold, ebd. 1341.151 In Matth. comm. ser. 69 (GCS Orig. 11, 162f.); Übersetzung: Vogt, BGrL 38, 211f.

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36 Einleitung

In dieser „zirkulären Einheit von Theorie und Praxis“152 – „denn wederdie Praxis noch die Theorie gibt es ohne das jeweils andere“153 – kommt derpraktischen Liebe, ohne die in den Augen des Origenes jede Gottesschauihren Wert verliert, prinzipiell Priorität zu. Origenes denkt sein durchausüberweltliches Vollkommenheitsideal der Hinwendung zum einen Gottkonsequent mit der Pflicht zu einer sittlichen, und zwar nicht nur indivi-duellen, sondern auch sozialen Praxis in der Hinwendung zu den vielenMitmenschen zusammen. Es ist die Erfüllung der universalen Liebespflichtaus dem biblischen Gebot der Nächstenliebe, in der Origenes die Anglei-chung an Gott durch Nachahmung Christi sieht. Origenes modifiziert damitdas Schema, über die ethische Praxis zur Schau Gottes zu gelangen, ja erkehrt es letztlich um: Praxis ist kein Stadium vor der Theorie, sondern inihrer Ausübung Teilhabe an Gott, und die Schau Gottes ist nicht eigentlichFrucht ethischer Anstrengung – wiewohl diese die conditio sine qua non fürjene ist –, sondern deren gnadenhaft geschenkter Ermöglichungsgrund undAnsporn zu immer weiterem und besserem ethischem Verhalten. Origenesdenkt das aktive wie das kontemplative Leben in ihrer gegenseitigen Ver-schränkung ebenso von der Ethik her wie seine Metaphysik und Mystik.

2. Tugendlehre der Einheit

Das ist in den wesentlichen Zügen der ethisch-metaphysische Hintergrund,vor dem Origenes den Anfang des Ersten Buches Samuel auslegt. Darin liester gleich im ersten Vers eine Wendung, uir unus (1 Sam. 1,1), die, wie er ineiner textkritischen Notiz betont, in den besseren Handschriften belegt seiund auch vom hebräischen Text bestätigt werde.154 Diese Ausdrucksweise,die er gemäß seiner biblischen Hermeneutik nicht für zufällig, sondern fürvom eigentlichen Autor der Schrift, dem Heiligen Geist,155 bewusst undabsichtsvoll gewählt hält, ist ihm Anlass, über ,Einheit‘ im ethischen Sinnnachzudenken und dabei eine „Spiritualität der Einheit“ zu entwerfen.156

152 Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit 283. Vgl. Völker, Vollkommenheitsideal 77.145 und bes. 192–196; ferner die Fußnote bei Martens, Origen and Scripture 209Anm. 69.

153 Origenes, in Luc. frg. 39 Rauer1 (GCS Orig. 9, 252) = 171 Rauer2 (GCS Orig.92, 298). Vgl. sel. in Ps. 5,13 (PG 12, 1173): Erkenntnis Gottes vollzieht sich in Praxisund Theorie gleichermaßen.

154 Zur Philologie dieser Junktur in 1 Sam. 1,1 siehe unten S. 126 Anm. 19.155 Siehe dazu unten S. 95.156 So Kasper, Erat vir unus 235, in seiner kurzen Revue der Auslegung des Origenes

(ebd. 232–235). Ebd. 236–241 geht Kasper den wenigen Spuren dieser origeneischenAuslegung in der altkirchlichen Exegese von 1 Sam. 1,1 nach: Sie findet sich in einerNotiz bei dem Presbyter Philippus (einem Hieronymusschüler), in Iob 1 comm. (PL

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37III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

Der „Gerechte“, dem das „Lob“ zuteil wird, „ein einziger Mann“ zusein, „ahmt“ eben dadurch „den einen Gott nach“.157 In diesem Zusam-menhang versteht Origenes die Einheit Gottes als eine ethische: Dem uirunus korrespondiert der deus unus. Dazu zitiert er das Grundbekenntnis Is-raels zur Einzigkeit Gottes aus Dtn. 6,4: „Höre, Israel! Der Herr, dein Gott,ist ein einziger Gott“, das auch im Frühchristentum die Basis für den Glau-ben an die Einzigkeit und Einheit Gottes abgab,158 interpretiert dieses abernicht numerisch in dem Sinne, dass es für Israel nur einen Gott gebe, son-dern in Verknüpfung mit der philosophischen Kategorie der Unveränder-lichkeit Gottes in ethischem Sinne: In dieser Aussage des Propheten Mosewerde „Gott nicht einfach nur der Zahl nach als einer bezeichnet, weil manja annehmen muss, dass er jenseits jeder Zahl ist,159 sondern ist seine Be-zeichnung als einer vielmehr in dem Sinn zu verstehen, dass er niemals einanderer als er selbst wird, das heißt sich niemals verändert, sich niemals inetwas anderes verwandelt …160 Unveränderlich also ist Gott, und als einerwird er deshalb bezeichnet, weil er sich nicht verändert.“161 Das ethischeVerständnis der Unveränderlichkeit Gottes, das Origenes in biblischem Sin-ne propagiert, wird in der Samuelhomilie an der Übertragung dieser Un-veränderlichkeit auf den Gerechten, der wie Gott „einer“ ist, sichtbar: „Soalso wird auch der Nachahmer Gottes (vgl. Eph. 5,1), der Gerechte, der

26, 657), und sehr ausgeprägt bei Faustus von Riez, epist. 6 (CSEL 21, 198) und 9(21, 213), die beide den Vers in Verbindung mit Hiob 1,1 interpretieren: Erat uirunus (so Faustus abweichend vom Vulgata-Text, wo unus fehlt) abstinens se ab omni remala. „Dem Text der Origenes-Homilie wohl am nächsten“ (Kasper, ebd. 240)steht Beda Venerabilis, in I Sam. I 1,1 (CChr.SL 119, 11f.), während bei Gregor demGroßen, in I Reg. expos. I 2f. (CChr.SL 144, 56f.), kein Einfluss des Origeneserkennbar ist. Bauer, Corpora orbiculata 334–338, trägt Argumente dafür vor, dassder Passus im Hiobkommentar des Presbyters Philippus auf eine verlorene Hiob-homilie des Origenes zurückgeht.

157 Origenes, in Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 5f. bzw. OWD 7, 126f. 128f.).158 Für Jesus vgl. Mk. 10,18 par. Lk. 18,19; Mk. 12,28–33; für das Urchristentum:

Paulus, Röm. 3,30; Hermas, mand. 1,1 (SUC 3, 190). Siehe dazu Klauck, Mo-notheisten 41f.

159 Siehe dazu unten S. 128 Anm. 21.160 Die in der Auslassung zitierten Bibelstellen Ps. 101(102),28 und Mal. 3,6 zieht Ori-

genes auch andernorts für die Unveränderlichkeit Gottes heran, etwa Cels. I 21(GCS Orig. 1, 72); IV 14 (1, 284); VI 62 (2, 133). Vgl. Maas, UnveränderlichkeitGottes 129f.

161 Origenes, in Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 6 bzw. OWD 7, 128–131). Vgl. inNum. hom. 23,2 (GCS Orig. 7, 213f.): „Alle diese Stellen, an denen es heißt, Gotttrauere oder freue sich, empfinde Hass oder Freude, sind so aufzufassen, dass sie vonder Schrift im übertragenen Sinn und so, wie das bei Menschen üblich ist, formu-liert werden. Weit entfernt von jeglicher leidenschaftlichen Empfindung und Wan-delbarkeit ist das Wesen Gottes, das stets auf jenem Gipfel der Glückseligkeit unbe-weglich und unerschütterlich verharrt.“

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38 Einleitung

nach seinem Bild geschaffen ist (vgl. Gen. 1,27), selbst auch, wenn er zurVollkommenheit gelangt ist, einer genannt, weil auch er sich, wenn er festauf dem Gipfel der Tugend steht, nicht verändert, sondern immer einerbleibt.“162

Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, dass diese Gedanken des Origeneswie so viele andere bei Philon von Alexandria vorgeformt sind: Die Un-veränderlichkeit Gottes besteht für Philon im Anschluss an Dtn. 32,4: „Gottist treu“ in der Unveränderlichkeit seiner Güte und Treue.163 „Welche Seele

162 In Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 6 bzw. OWD 7, 130f.). – Aufgrund dieserethischen Füllung des Gedankens der Einheit und Unveränderlichkeit Gottes er-weist sich das Urteil von Maas, Unveränderlichkeit Gottes 128, als falsch, dass „derbiblisch-heilsgeschichtliche Gedanke eines leidenden und damit auch veränderlichenGottes (sogar des Vaters) gelegentlich zum Durchbruch kommt, sich aber im ganzennicht durchsetzt und herrschend wird, sondern zumindest überlagert – wenn nichtsogar inhaltlich unterdrückt – wird von einer griechisch-philosophischen Begriff-lichkeit“. Hinter diesem Fehlurteil steht die falsche Entgegensetzung, auf der dasganze Buch von Maas beruht, gemäß der dem philosophischen Gottesbegriff eine„starre Unbeweglichkeit und fixe Unveränderlichkeit Gottes im Sinne griechischerGottesvorstellung“ (ebd. 25), eine „fixe, starre Selbstidentität“ (ebd. 29) unterstelltwird (vgl. z.B. noch ebd. 76. 80. 118), im Gegensatz zur biblischen unwandelbarenTreue Gottes, der „Unwandelbarkeit seiner Güte“ (ebd.), als die Origenes die Un-veränderlichkeit Gottes gerade im Sinne der Bibel interpretiert. Aus diesen falschenEntgegensetzungen resultiert das Fehlurteil von Maas, ebd. 130, über die origenei-sche Interpretation der Unveränderlichkeit: „Hier wird der lebendige Gott der Bibelgeopfert zugunsten eines in ferner Seligkeit waltenden, unbeweglich und unverän-derlich bleibenden, leidenslosen Gottes platonisch-aristotelischer Provenienz.“ Auchder von de Lubac, Geist aus der Geschichte 285, als „erstaunlicher, wunderbarerText“ gepriesene Passus in Hiez. hom. 6,6 (GCS Orig. 8, 384f.) über das MitleidenGottes des Vaters (ipse pater non est impassibilis, sagt Origenes nachdrücklich) mit demLeiden der Geschöpfe in der Menschwerdung des Sohnes, sein „Leiden der Liebe“(caritatis passio), vermag Maas in dieser Einschätzung nicht zu beirren, indem erdiesen Text nur als „punktuellen Durchbruch biblischen Denkens“ wertet, der„nicht zum tragenden Verstehenshorizont origenistischer Gotteslehre geworden“ sei(Maas, ebd. 138). Leidenschaftslosigkeit, also das Freisein der Seele von (negativen)Affekten (d.h. von Sünde), ist zu unterscheiden von Leidenslosigkeit, weshalb dieAnnahme der Apathie (Affektfreiheit) Gottes durchaus vereinbar ist mit dem Ge-danken des Mitleidens (Erbarmens) Gottes an menschlichem Leid aus Liebe – wieOrigenes beides gedacht hat; vgl. beispielsweise sel. in Hiez. 16,8 (PG 13, 812); inMatth. comm. X 23 (GCS Orig. 10, 33); dazu Kobusch, Passibilität Gottes 329f.Zur Überordnung der Liebe über ,Apathie‘ siehe Völker, Vollkommenheitsideal147f. 153–156, und Rist, Eros and Psyche 197, der zudem darauf hinweist, dassschon Clemens von Alexandria diese Unterscheidung vorgenommen hat: „To saythat God is aÆ pauh w then is for Clement not to say that He is passionless, but that Heis sinless.“ Frohnhofen, Affektlosigkeit Gottes 179–212, nähert sich dieser Diffe-renzierung, bekommt sie aber nicht konsequent zu fassen, weil er sie als „Paradoxon“versteht, das Origenes nicht aufzulösen vermocht habe (ebd. 202–209).

163 Philon, plant. 87–91 (II p. 150f. Cohn/Wendland), bes. 87 (II p. 150): „Sofern“

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39III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

könnte diesen Gedanken fassen, dass der Herr und Lenker aller Dinge, ohnesein Wesen zu ändern, vielmehr sich stets gleichbleibend, fortgesetzt gut undohne Unterbrechung gebefreudig ist? Daher ist er in der Tat die vollkom-menste Ursache grenzenloser, ewiger Güter für die Seligen.“164 Diese Be-ständigkeit steht im Gegensatz zur Wandelbarkeit des Menschen,165 der frei-lich aufgerufen ist, in seiner Treue zu Gott so fest und vollkommen zuwerden, dass sie sich in nichts von der in jeder Hinsicht vollkommenenTreue Gottes unterscheidet.166

In der Metaphysik des Origenes werden die ethischen Kategorien aufGott übertragen, wodurch dessen Nachahmung eigentlich erst möglichwird.167 Die logische Basis dafür ist die Univozität des Moralischen. DieGüte Gottes beispielsweise kann der Mensch nur nachahmen, wenn dasGute, zu dem ein Mensch fähig ist, qualitativ dasselbe ist wie die GüteGottes. Für jede andere Tugend gilt das entsprechend. Der Unterschied istein quantitativer bzw. gradueller: Die Güte Gottes ist unendlich viel größer,als die einem Menschen mögliche Güte je sein könnte. Insofern bleibt eindauerhafter Unterschied zwischen Gott und Mensch, der jedoch nicht imBegriff des Guten liegt, sondern an der Relation von Schöpfer und Ge-schöpf hängt. Gott eignet das Sein substantiell, weil „allein er das Sein ist“und daher „sein Sein immer hat“ und es „keinen Anfang genommen hat“,„während die Geschöpfe ihr Sein von ihm empfangen haben“, ihr Sein alsonicht „von Natur aus“, sondern nur akzidentell haben. In ethischer Hinsichtgilt dieselbe Differenz, die Origenes in der Aussage von 1 Sam. 2,2 findet:„Keiner ist heilig wie der Herr.“ Das ist nach Origenes nicht so zu verste-hen, dass der Mensch gar nicht heilig werden könne, sondern so, dass zwar„viele heilig werden können“, denn dazu fordere Gott auf: „Seid heilig, daauch ich heilig bin!“ (Lev. 20,26), „doch welche Fortschritte auch immerjemand in der Heiligkeit macht, wie viel Reinheit und Lauterkeit auchimmer jemand erwirbt, so heilig wie der Herr kann der Mensch nicht sein,

Gott „Wohltäter ist, richtet sich sein Wille nur auf das Eine: das Wohltun“; Über-setzung: IV p. 169 Heinemann.

164 Ebd. 91 (II p. 151); Übersetzung: ebd. 170.165 Vgl. mut. nom. 180 (III p. 187 Cohn/Wendland); 186 (III p. 188): Die „Eigenart

des Sterblichen“ besteht darin, „dass er nicht anders als von Natur der Wandlungunterliegt“; Übersetzung: VI p. 145 Theiler.

166 Ebd. 182 (III p. 188). – Maas, Unveränderlichkeit Gottes 118–121, spannt dieseAusführungen Philons in denselben falschen Gegensatz von „starrer Unveränder-lichkeit im Sinne griechischer Philosophie“ und biblisch-heilsgeschichtlicher „Un-veränderlichkeit der Treue Gottes“ wie das Konzept des Origenes.

167 Kasper, Erat vir unus 233, entgeht die enge Verschränkung von Metaphysik undEthik, die Origenes schmiedet, denn die „Nachahmung von Gottes Wesenheit“steht nicht im Gegensatz zur Nachfolge Christi oder der Nachahmung seines Tuns(so ebd.), sondern besteht gerade darin.

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40 Einleitung

denn jener schenkt die Heiligkeit, dieser empfängt sie, jener ist die Quelleder Heiligkeit, dieser aber trinkt aus der heiligen Quelle, jener ist das Lichtder Heiligkeit, dieser betrachtet das heilige Licht (vgl. Ps. 35[36],10)“.168

Auch die biblischen Spitzenaussagen, dass die Menschen Gott ähnlich bzw.gleich (vgl. 1 Joh. 3,2), ja Götter sein werden (so versteht Origenes mit dergesamten altkirchlichen Theologie die Aussage in Ps. 81[82],1.6), erläutertOrigenes auf der Basis dieser ontologischen Differenz: Nur durch Gnadewird der Mensch als Gott bezeichnet, „doch gibt es keinen, der Gott anMacht oder im Wesen (uel in potentia uel in natura) gleicht“; die „Ähnlichkeit“bzw. „Gleichheit“, von der in 1 Joh. 3,2 die Rede sei, „wird nicht auf dasWesen (natura), sondern auf die Gnade zurückgeführt“, wie ein Bild demDargestellten „hinsichtlich der Gnade“ ähnlich genannt wird, „hinsichtlichder Substanz (substantia) aber ganz unähnlich (longe dissimilis) ist“.169

Dieser Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf bedingt auch denUnterschied zwischen der Unveränderlichkeit Gottes und der Wandelbar-keit der Menschen. Er liegt in der mit der Geschöpflichkeit gegebenenKontingenz, die ein veränderliches Sein bewirkt.170 Aufgrund seiner onto-logischen Identität mit sich selbst ist Gott „einer“ im ethischen Sinn, gibt es

168 Origenes, in Regn. hom. lat. 11 (GCS Orig. 8, 20f. bzw. OWD 7, 158f.).169 In Ex. hom. 6,5 (GCS Orig. 6, 196f.). Dazu Völker, Vollkommenheitsideal 130f.

(vgl. ebd. 164. 191f.), mit Verweis auf weitere Stellen: In princ. III 6,1 (GCS Orig. 5,280) interpretiert Origenes 1 Joh. 3,2 so, dass die Ähnlichkeit bzw. Gleichheit mitGott, die er als „vollkommene“ (perfecta) bezeichnet, „für die Vollkommenheit (per-fectio) der Verdienste verliehen wird“ (Görgemanns/Karpp 645 übersetzen perfectiohier zu schwach mit „auf Grund eines hohen Grades an Verdiensten“). Zur Aussagein Joh. 1,12f. über die Zeugung des Frommen aus Gott weist Origenes nachdrück-lich auf den „großen Unterschied“ zwischen dem „wahren Gott“ bzw. dem „ein-zigen Sohn Gottes“ und denen, die „Götter“ bzw. „Söhne des Höchsten“ (Ps.81[82],6) genannt werden, hin: Letztere sind dies nicht „von Natur aus“, und siewerden nicht „zur Natur Gottes emporgehoben, sondern erhalten aus Gnade Anteilan seiner Würde“: in Ioh. comm. V frg. bei Pamphilus, apol. Orig. 93 (SC 464,162); in Luc. frg. 42 Rauer1 (GCS Orig. 9, 253) = frg. 174 Rauer2 (GCS Orig. 92,299f.). In dieser Hinsicht findet der Ansatz von Lieske, Logosmystik, seine Berech-tigung, „die mystische Christusgemeinschaft“ als „ontischen Ausdruck unserer rea-len Teilhabe am Dasein des trinitarischen Logos im Geheimnis unseren Gnadenle-bens“ (ebd. 17) zu beschreiben.

170 Princ. II 9,2 (GCS Orig. 5, 165): „Diese Vernunftwesen … erhielten eben dadurch,dass sie nicht waren und dann zu sein begannen, notwendigerweise ein wandelbaresund veränderliches Sein“; Übersetzung: p. 403 Görgemanns/Karpp. Vgl. ebd. I 2,4(5, 31f.): „Weil das Gute“ den geschaffenen Wesen „nicht von Natur, das heißtwesenhaft, sondern nur als Akzidens innewohnte“, waren sie nicht fähig, „unwan-delbar und unveränderlich zu verharren und immer in denselben Gütern in einemgleichmäßigen und beherrschten Gleichgewichtszustand zu bleiben“, sondern sie„wendeten sich um und änderten sich und stürzten von ihrem Standort herab“;Übersetzung nach ebd. p. 129.

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41III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

keine Spaltung Gottes in „vieles“, die immer Ausdruck von Uneinigkeit mitsich selbst ist. Da dem Menschen die Tugenden nur akzidentell zukommen,sind sie wandelbar und sogar verlierbar, ist der Mensch nicht beständig einigmit sich selbst, sondern gespalten auf vielfältige Orientierungen und Fehl-orientierungen hin, so dass „jeder von uns nicht ein einziger ist, sondernviele“, wie Origenes in einer eindringlichen Psychologie menschlicher Wan-delbarkeit, in die er sich selbst miteinschließt, vor Augen führt: „Betrachtemir nur einmal das Gesicht eines solchen Menschen: mal erzürnt, mal wie-der traurig, kurz darauf wieder fröhlich, erneut beunruhigt, dann wiederentspannt, im einen Moment mit göttlichen Dingen und Verrichtungen desewigen Lebens beschäftigt, im Augenblick danach aber voll auf Raffgierund irdischen Ruhm konzentriert. Du siehst, wie jener, von dem manglaubt, er sei ein einziger, nicht ein einziger ist, sondern offenbar so vielePersonen in sich hat wie Verhaltensweisen … Denn solange jemand laster-haft lebt, wird er zwischen vielen Dingen hin und her gerissen und zerstreutsich in verschiedene Dinge, und solange er sich in vielerlei Arten von Las-tern befindet, kann er nicht als einer bezeichnet werden.“171 Der Menschkann sich aufgrund seiner Entscheidungsfreiheit für das Schlechte entschei-den, „weil er nicht imstande ist, die völlige Unveränderlichkeit Gottes an-zunehmen“.172 „Die Menschen tun nicht, was sie sagen, und wegen derVerderbnis der menschlichen Unbeständigkeit halten sie ihre Worte nicht;denn der Mensch ist veränderlich, Gott aber ist unveränderlich.“173 DieseUnveränderlichkeit Gottes wird von Origenes nicht als metaphysisch-on-tologische, sondern als ethische konzipiert: Deus unus, quod non mutabitur. Andieser ethischen Qualität Gottes wird die Gottesebenbildlichkeit, auf dieOrigenes anspielt (Gen. 1,27), festgemacht, um daraus eine Aufgabe für denMenschen zu formulieren: Vollkommenheit als Angleichung an Gott be-steht darin, wie Gott „einer“ zu werden und „immer einer zu bleiben“ (unuspermanet semper).174 „Der aber ist“, schreibt Origenes gegen Kelsos, „zum

171 In Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 5. 6 bzw. OWD 7, 128f. 130f.). Vgl. dasFragment aus dem Hoseakommentar über Hos. 12,5 in philoc. 8,3 (SC 302, 340):„Wer einmal Eins war, der wird, wenn er sündigt, zu einem Vielen, abgeschnittenvon Gott und in Teile zerteilt und aus der Einheit gefallen.“ Übersetzung: Rahner,Menschenbild des Origenes 208. Zur breiten Enfaltung dieser Thematik in in Hiez.hom. 9,1 (GCS Orig. 8, 405f.) siehe unten S. 128 Anm. 20.

172 Cels. V 21 (GCS Orig. 2, 23).173 In Num. hom. 16,4 (GCS Orig. 7, 140). In Ex. hom. 6,5 (GCS Orig. 6, 197) zählt

Origenes die Unveränderlichkeit (neben Unsichtbarkeit, Unkörperlichkeit, Unbe-grenztheit bzw. Ewigkeit und Unbedingtheit im Sinne des Schöpfer-Seins) zu denEigenschaften Gottes, in denen sich der Mensch von Gott unterscheidet (siehe dazuoben S. 40 Anm. 170). Vgl. Benjamins, Eingeordnete Freiheit 52f.

174 In Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 6 bzw. OWD 7, 130f.). Völker, Vollkom-menheitsideal 126f., konstruiert daher einen falschen Gegensatz, wenn er zu der

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42 Einleitung

über allem waltenden Gott aufgestiegen, der ihn ohne Spaltung, Trennungund Teilung durch seinen Sohn verehrt, Gottes Wort und Weisheit, die manin Jesus betrachtet.“175

Im Blick auf eine Affektenlehre lässt sich dieses Konzept so fassen: DieVielheit, die dem Leben des einen Mannes, also dem Leben aus der Vernunftdes einen Logos, entgegensteht, ist die Mannigfaltigkeit der Affekte des,Fleisches‘, der körperlich-fleischlichen Verfasstheit des Menschen. DerMensch ist ,vieles‘, weil er den vielen Vorstellungen und Antrieben in sichfolgt, die das Wesen seiner Seele ausmachen. In dieser Hinsicht hat derMensch die Seele, seine ,animalische‘ Seite, mit den Tieren gemeinsam,deren Bewegungen ausschließlich von ihren intentionalen Impulsen gesteu-ert werden.176 Frei und im eigentlichen Sinne er selbst – und dadurch auch„einer“ – ist der Mensch, wenn er sich nicht von seinen zufälligen Launenbeherrschen lässt, sondern diese stets mittels der Vernunft bewertet und soseine vielen Impulse, die er als biologisches Wesen mit der Tierwelt teilt,beherrscht. Durch den (göttlichen) Geist (Pneuma) von der einen Vernunft(Logos) gesteuert, hat die spezifisch menschliche Freiheitsbewegung nichteinen zufälligen, sondern einen aus Vernunftgründen gewählten Affekt zumGrund, ist also eine Handlung aus Gründen.177 In einem solchermaßen,bewussten Leben‘ wird die Seele, die erst durch den Fall der Vernunft bzw.des Geistes entstanden ist, wiederum zu Vernunft bzw. Geist, „wenn sie mitTugenden ausgestattet ist“,178 und in diesem Sinne wird der Mensch ,ei-ner‘.

similitudo, „die ein innerer Zustand ist, den man als ethische Vollkommenheit be-zeichnen könnte“ (eine Bestimmung, die das Konzept des Origenes richtig wieder-gibt), „das unum als höhere Stufe in Gegensatz“ stellt, „welche die ethische An-gleichung durch eine mystische Einheit ersetzt“. Bei Origenes besteht die mystischeEinheit vielmehr in der Vollkommenheit der ethischen Angleichung.

175 Cels. VIII 4 (GCS Orig. 2, 223f.); Übersetzung: Barthold, FC 50, 1333. – DerGedanke ist vorgeprägt bei Clemens von Alexandria, strom. IV 151,3–152,1 (GCSClem. Al. 2, 315). Vgl. dazu Maas, Unveränderlichkeit Gottes 125–128.

176 Von Origenes grundsätzlich dargelegt in princ. II 8,1f. (GCS Orig. 5, 152–155), woer die Seele aristotelisch-stoisch (dazu Görgemanns/Karpp 383 Anm. 4) als „Sub-stanz mit Vorstellungs- und Strebungsvermögen“ (substantia fantastikh et oë rmhtikh ,von Rufinus mit sensibilis et mobilis übersetzt) definiert: ebd. II 8,1 (5, 152); vgl. ebd.II 8,2 (5, 154).

177 So die Freiheitstheorie ebd. III 1,2–5 (5, 196–201) mit dem Schlusssatz, ebd. III 1,5(5, 201): „Die vernünftige Überlegung zeigt also, dass die äußeren Umstände“, dieals Handlungsimpulse auf den Menschen einwirken, „nicht in unserer Macht sind,dass es aber unser Tun ist, sie so oder anders zu gebrauchen, wobei wir die Vernunftheranziehen, damit sie entscheide und prüfe, wie man bestimmten äußeren Um-ständen zu begegnen hat.“ Übersetzung: p. 475 Görgemanns/Karpp (leicht modi-fiziert). Vgl. auch orat. 6,1f. (GCS Orig. 2, 311f.).

178 Princ. II 8,3 (GCS Orig. 5, 161) aus Hieronymus, epist. 124,6 (CSEL 56, 104): NoyÄw,id est mens, corruens facta est anima, et rursum anima instructa uirtutibus mens fiet. Über-setzung: p. 395 Görgemanns/Karpp.

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43III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

Eine Schwierigkeit dieses henologischen Tugendkonzepts ist die An-wendung des Tugendbegriffs und der Telosformel uir unus auf Gott.179

Durch standhafte Beherrschung der Affekte wird der Mensch Gott ähnlich.Um Tugend in diesem Sinn zu erwerben, muss er über Entscheidungsfrei-heit verfügen, die als ambivalentes Vermögen, das zum Guten wie zumSchlechten fähig ist, einerseits den Menschen von Gott unterscheidet, derzum Schlechten nicht fähig ist, andererseits aber zugleich Bedingung derMöglichkeit dafür ist, dass der Mensch durch dauerhaften Erwerb der Tu-gend Gott ähnlich wird. Denn, so der freiheitstheoretische Grundsatz vonOrigenes’ Metaphysik, Gott gewährte den Vernunftwesen gerade diese Fä-higkeit, „damit in ihnen ein ihnen eigenes Gut entstehe, da sie es mit ihremeigenen Willen bewahrten“,180 denn nur dann sind sie als Wesen, die sich inFreiheit selbst bestimmen, Gott, der „ungeschaffenen Freiheit“,181 ähnlich.In diesem Sinne sind die Tugend des Menschen und die Tugend bei Gottsachlich dieselbe (semantisch univok); sie unterscheiden sich nicht qualitativ,sondern graduell sowie hinsichtlich ihrer Substanzialität oder Aktualität (beiGott) und ihrer Akzidentalität oder Potentialität (beim Menschen). Strenggenommen ist es aber inkonsequent und eigentlich inadäquat, von Tugendbei Gott zu reden, weil Gott keine Affekte beherrschen muss und die Mög-lichkeit, das Schlechte zu wählen, nicht hat, von Tugend aber doch nur dieRede sein kann, wenn das Gute in freier und bewusster Entscheidung gegendas Schlechte gewählt wird. Da Origenes freilich die Güte Gottes, die manso verstehen kann, dass Gott sich frei und bewusst und im Unterschied zumMenschen beständig immer schon für das Gute entschieden hat, für eineTugend hält,182 kann er Gott doch Tugend zuschreiben.183

Vor allem aber löst Origenes das Problem, indem er wie Plotin die„aristotelische Metriopathie und stoische Apathie“ als „organisch aufeinan-der folgende Stufen des einen Vollkommenheitsschemas“ konzipiert, „nachdem die Affekte zunächst zu beherrschen und zu formen und dann rundwegauszulöschen sind“.184 Die Lösung Plotins, der das Problem in Enneade I 2

179 Vgl. dazu Benjamins, Eingeordnete Freiheit 53; Hengstermann, Leben des Einen444.

180 Origenes, princ. II 9,2 (GCS Orig. 5, 165); Übersetzung: p. 405 Görge-manns/Karpp.

181 In Lev. hom. 16,6 (GCS Orig. 6, 502).182 Vgl. princ. II 9,2 (GCS Orig. 5, 165): Die „Tugend“, uirtus (p. 403 Görge-

manns/Karpp irreführend mit „Kraft“ übersetzt), die in der „Substanz“ der verän-derlichen Vernunftwesen enthalten ist, „lag nicht von Natur darin, sondern wardurch die Güte des Schöpfers bewirkt“; Übersetzung: ebd.

183 Vgl. Benjamins, Eingeordnete Freiheit 53 Anm. 19. In Cels. VI 62 (GCS Orig. 2,132) wird Tugend neben Glückseligkeit und Göttlichkeit zu den Prädikaten Gottesgezählt.

184 Hengstermann, Leben des Einen 446. – Zur Nähe zwischen Metriopathie und

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44 Einleitung

ausgiebig diskutiert, läuft darauf hinaus, dass das Ziel der Erlangung vonTugend durch die Reinigung von den Affekten in der Überwindung undLoslösung von der Welt besteht, in der Tugend im Sinne von Beherrschungder Affekte notwendig ist. Dabei setzt er Tugend im psychischen und imnoetischen Bereich in ein Verhältnis der Analogizität: Die seelische Ord-nung der Affekte in der Metriopathie, die dem Menschen obliegt, ist Bildder geordneten geistigen All-Einheit, die ihrerseits Prinzip der Tugend ist,ohne selbst Tugend zu sein. Von daher erreicht der Mensch erst in derApathie einen Zustand, der dem Geist nahekommt: Wenn die irdischenAffekte überwunden sind, wird der Mensch zu dem reinen Geistwesen, dasim nächsten Schritt, der Aufhebung der praktischen Tugend in der theore-tischen, ganz der Schau, der Daseinsweise der zweiten Hypostase (des Geis-tes) leben kann.185 Analog dazu macht Origenes in der „subtileren Überle-gung“, die er an seine Auslegung des uir unus in 1 Sam. 1,1 anschließt und inder er „noch eine andere Einheit entdeckt“,186 „die Metriopathie innerhalbseines Aufstiegsschemas zur Vorstufe einer vollständigen Überwindung deswidergöttlichen Gesetzes der körperlichen Affekte, der Apathie“.187 In derberühmten Homilie über die symbolische Bedeutung der Lagerstätten derIsraeliten auf ihrem Zug in das ,Gelobte Land‘ (vgl. Num. 33,1–49) be-schreibt Origenes die Reise der Seele als Abkehr von Lastern und Voran-schreiten zur Tugend durch andauernde Versuchungen hindurch (proficien-tibus ad uirtutem et uariae et frequentes mansiones in tentationibus fiunt), die auchnicht aufhören, wenn der „Wanderer auf dem Weg in den Himmel (uiatoritineris coelestis) im Verfolgen der Tugenden der Reihe nach (successione uir-tutum) der höchsten Vollkommenheit schon ganz nahe gekommen ist“; derletzte Schritt besteht im Verachten alles Weltlichen, in der Reinigung vonallem Irdischen und im Übergang in die „Region der Tugenden“, in welchedie Seele von Gott versetzt wird (esse fecit in regione uirtutum): „Denn wo dieSeele ihren Weg durch alle diese Tugenden zurückgelegt hat und zur höchs-ten Vollkommenheit aufgestiegen ist, überschreitet sie bereits die Welt undverlässt sie.“188

Apathie, die sich weniger in ihrer Affektenlehre als vielmehr in ihrer Seelenlehreunterscheiden, siehe den erhellenden Aufsatz von Dillon, Metriopatheia and Apa-theia.

185 Näheres bei Hengstermann, ebd. 435–440, sowie in der Interpretation von enn. I 2bei Rist, Eros and Psyche 169–191, und Dillon, Grades of Virtue 92–102; sieheauch Horn, Antakoluthie der Tugenden 19f.

186 Origenes, in Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 7 bzw. OWD 7, 130f.).187 Hengstermann, Leben des Einen 446. Dillon, Grades of Virtue 102–105, vermag

bei (Philon und) Origenes nur „some adumbrations“ von Plotins Konzept zu ent-decken, „but no more“ (ebd. 105). Kasper, Erat vir unus 235, verfehlt den tieferenSinn dieser Deutung, indem er subtilius mit „etwas ganz Schlichtes“ übersetzt.

188 In Num. hom. 27,12 (GCS Orig. 6, 272–279, die Zitate ebd. 276. 278. 279); ebenso

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45III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

Anders, als Plotin das gedacht hat, partizipiert im Konzept des Origenesder Mensch bereits auf dem Weg der (metriopathischen) Beherrschung derAffekte an der (apathischen) tugendhaften Einheit Gottes, insofern er darinan Christus teilhat, der „die Tugend“ ist, „die alle Tugenden in sich ein-begreift“,189 „der Erlöser, auf den sich jede Tugend richtet“,190 der „selbstdie Substanz der Tugenden“ ist,191 wie umgekehrt die Tugenden „dem We-sen nach Christus sind“.192 Christus ist sowohl das Prinzip der Tugend alsauch der alle Konkretionen umfassende und in sich vereinende Inbegriffsämtlicher Tugenden. Doch erst, wenn die Seele „von den störenden Lei-denschaften vollständig gereinigt ist“, erreicht sie wirklich „die Ähnlichkeitmit dem über alle Leidenschaften erhabenen Gott“.193 „Glückseligkeit“, soOrigenes in einem Fragment seiner Psalmenexegese, besteht „in Leiden-schaftslosigkeit der Seele gepaart mit Einsicht.“194 „Wenn ich“, sagt er in der

schon ebd. 27,5 (7, 263): „Von Tugend zu Tugend“ (de uirtute in uirtutem), wieOrigenes mit Ps. 83(84),8 wiederholt sagt: ebd. sowie ebd. 27,7 (7, 265), erwirbt sichdie Seele einen stetigen Zuwachs an Einzeltugenden, bis sie die letzte, höchste Stufeder Tugenden erreicht. Vgl. in Ios. hom. 4,4 (GCS Orig. 7, 312f.): Mittels derVervollkommnung jeder einzelnen Tugend (ipsius uirtutis sua quaeque perfectio) durchlange Übung (longa meditatione) gelangt die Seele zu der „umfassenden Vollkom-menheit“ (perfectio generalis), nämlich der „Vollkommenheit sämtlicher Tugenden“(perfectio uirtutum omnium), die das Höchstmaß sämtlicher Vollkommenheiten in sichenthält.“

189 Cels. V 39 (GCS Orig. 2, 43): hë periektikhÁ pasvÄn aÆ retvÄ n aÆ reth .190 In Ioh. comm. VI 19,107 (GCS Orig. 4, 128): oë svth r, eiÆw oÊn paÄsa eÆstin aÆ reth .191 In Cant. comm. I 6,13 (GCS Orig. 8, 112 bzw. SC 375, 256): ipsarum uirtutum

substantia (vgl. dazu oben S. 34 Anm. 145). Vgl. auch in Num. hom. 27,3 (GCSOrig. 7, 260): … ipse Christus, qui est uirtus dei (vgl. 1 Kor. 1,24), wo uirtus zwar dieBedeutung „Kraft, Stärke“ hat, angesichts der Doppeldeutigkeit der Vokabel uirtusim christlichen Latein aber auch die Bedeutung „Tugend“ einen Sinn ergeben wür-de. Weitere Belege bei Martens, Origen and Scripture 213 Anm. 91, der diesenGrundgedanken aber nur nebenbei erwähnt.

192 In Matth. comm. ser. 63 (GCS Orig. 11, 146): uirtutes, quae sunt substantia Christus.In Kontext geht es um die Antakoluthie der Tugenden (dazu Horn, Antakoluthieder Tugenden 24–26), die deshalb anzunehmen sei, weil sich Christus, die „Substanz“der Tugenden, nicht von sich selbst trennen könne. Im griechischen Scholion dazuist davon die Rede, dass die Tugenden der Substanz Christi folgen (… vë w aië aÆ retaiÁ

t ìhÄ yë posta sei toyÄ XristoyÄ), was keinen so rechten Sinn ergibt, weshalb die Zwei-fel von Vogt, BGrL 38, 223 Anm. 4, an der Echtheit dieses Scholions berechtigtsind. – In diesem Sinne sagt Faustus von Riez, epist. 6 (CSEL 21, 198f.) = epist. 9(21, 213), der Christ soll „in eben dem Christus, der in ihm wirkt, bewegt werden,damit er mit immer neuen Tugenden (bzw. Gnadengaben) bekleidet wird“; Über-setzung: Kasper, Erat vir unus 237.

193 Hengstermann, Leben des Einen 446f.194 Origenes, sel. in Ps. 1,1 (PG 12, 1085): makario thw deÁ cyxhÄw aÆ pa ueia metaÁ gnv sevw

tvÄ n oÍntvn aÆ lhuoyÄw; vgl. ebd. 36,11 (12, 1317): plhÄuow deÁ eiÆrh nhw eÆstiÁn aÆ pa ueia

cyxhÄw metaÁ gnv sevw tvÄ n oÍntvn aÆ lhuoyÄw. Vgl. dazu Völker, Vollkommenheitsideal153f.

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46 Einleitung

Predigt über 1 Sam. 1,1, „meine Glieder so sehr abgetötet habe (vgl. Kol.3,5), dass ,das Begehren des Fleisches sich‘ nicht mehr ,gegen den Geistrichtet‘ noch ,das Begehren des Geistes gegen das Fleisch‘ (Gal. 5,17), wennes in meinen Gliedern kein anderes Gesetz mehr gibt, das dem Gesetz mei-nes Verstandes widerstreitet und mich unter das Gesetz der Sünde gefangennimmt (vgl. Röm. 7,23), wenn alles, was in mir ist, in ein und demselbenSinn vollkommen ist und sich nach ein und derselben Meinung richtet (vgl.1 Kor. 1,10), dann werde ich ebenfalls ,ein einziger Mann‘ sein.“195 Erstdurch die dauerhafte Überwindung des inneren Zwiespalts im Menschengelangt der Mensch zu der Einheit, die ihn Gott ähnlich macht.

Im Unterschied zum Platonismus, dessen Tugendkonzept diese Gedan-ken des Origenes weitgehend entsprechen, sieht er den Ermöglichungs-grund für die Angleichung des Menschen an Gott durch ethisches Strebennach Tugend jedoch darin, dass der Eine (Gott) in Gestalt des Einen-Vielen(Christus) in die Welt kommt, um die Vielen zur Einheit zu führen. Da dasWesen Christi in der origeneischen Freiheitsmetaphysik, in der das Handelndas Sein bestimmt, in seinem Wirken besteht, das heißt in seiner schöpfe-rischen und erlösenden Mittlerschaft zwischen der Vielheit der Welt und derEinheit Gottes, ist auch der Logos erst dann glückselig und vollkommen,wenn er alle Logika in ihren und seinen göttlichen Urgrund zurückgeführthat.196 Aufgrund dieser Verbindung wird durch jedes auch nur stückweisePartizipieren des Vielen am Einen die Einheit wirklich schon realisiert. Aufdieser Basis kann Origenes an der Univozität der Tugenden festhalten, weilsein Gott in der Heilsgeschichte aus freien Stücken zum Teil der Welt unddabei zum Leidenden wird: In seiner Freiheitsmetaphysik nimmt das eigent-lich apathische höchste Sein, Gott, in Freiheit Liebe und Leid an.197 DieUnivozität der Tugenden ist innerhalb der Heilsgeschichte gewissermaßenKonsequenz der „ungeschaffenen Freiheit“ des Vaters, der sein Wesen inSohn und Heiligem Geist selbst von seiner aus freien Stücken eingegange-nen Beziehung zu seinen Geschöpfen bestimmen lässt.

Neben der Inkarnation gründet auch der zweite Hauptunterschied vomplatonischen Denken, die universale Dimension dieses Geschehens, in der

195 In Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 7 bzw. OWD 7, 130f.).196 Siehe dazu Fürst/Hengstermann, OWD 10, 148–150, zur Christus-Epinoia der

„Fülle der Herrlichkeit Gottes“ (plenitudo gloriae dei) aus in Is. hom. 1,1 (GCS Orig.8, 244). Vgl. dazu in Eph. frg. 9 (p. 398 Gregg).

197 Siehe dazu Kobusch, Passibilität Gottes 330f., bes. 331: „Da aber das göttlicheWesen selbst schon der adäquate Ausdruck, die eigentliche Entsprechung der gött-lichen Freiheit ist, verliert das in Freiheit auf sich genommene Leiden den Charakterdes Zufälligen, des Akzidentellen, des Ergänzenden und wird selbst Ausdruck desWesens Gottes. Insofern kann sinnvoll von der Passibilität Gottes gesprochen wer-den.“

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47III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

logisch-metaphysischen Universalität des Logos, die Origenes anthropolo-gisch-ethisch ausbuchstabiert. Beim christlichen Alexandriner steht nicht derEine der Vielheit der Welt gegenüber, aus der ein Einzelner sich zur Einheitflüchtet, wie Plotin das in der Formel von der „Flucht des Einen zum Einen“programmatisch zum Ausdruck bringt,198 sondern bildet der Eine gleichsamdie „Spitze des Baus“, der seine Einheit durch seine Ausrichtung als ganzerauf die Eins hin erhält: „Doch die Spitze des gesamten Baus (Origenes redetvon der Konstruktion der Arche) wird auf die Zahl Eins hin ausgerichtet,weil es ,einen Gott Vater gibt, aus dem alles hervorgeht, und einen Herrn‘ (1Kor. 8,6), und ,einen Glauben der Kirche, eine Taufe, einen Leib und einenGeist‘ (Eph. 4,4f.) und alles zu dem einen Ende der Vollkommenheit Gotteseilt.“199 Alle Einzelnen zusammen bilden gleichsam eine Person,200 in derdiese Einheit real wird, die mehr ist als bloß die Summe der Teile. In denvielen Einzelnen, die sich dem Einen zuwenden, wird die Einheit auf wun-derbare Weise – mirabilis haec unitas, „diese wunderbare Einheit“, in der „derGerechte einer ist, vielmehr sogar mehrere Gerechte einer sind“201 – in allerVielheit schon hergestellt, nämlich die mystische Einheit Gottes mit derWirklichkeit, insofern die Kirche in der strikt personalistischen Ekklesiolo-gie des Origenes als Gesamtheit der zur Vollkommenheit gelangten Ver-

198 Plotin, enn. 9,79 bzw. VI 9,11: „Das ist das Leben der Götter und göttlicher, seligerMenschen: Abscheiden von allem andern, was hienieden ist, ein Leben, das nichtnach dem Irdischen lüstet, Flucht des Einsamen zum Einsamen (fyghÁ mo noy proÁ w

mo non)“; Übersetzung: Ia p. 207 Harder. Vgl. dazu Dillon, Grades of Virtue 101:„The sage is concerned with saving himself, with becoming a god …“ Einen elitärenGedanken wie den bei Plotin, enn. 33,77 bzw. II 9,9, dass es zweierlei Arten vonLeben auf der Erde gebe, „eines für die Weisen und eines für die Masse der Men-schen“, und dass „der gemeine Haufe sozusagen nur zum Handlanger der notwen-digen Bedürfnisse für die Edleren da“ sei (Übersetzung: IIIa p. 129 Harder), hätteweder Origenes noch sonst ein christlicher Philosoph der Antike denken können:Rahner, Menschenbild des Origenes 198f.; Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit236f.

199 Origenes, in Gen. hom. 2,5 (GCS Orig. 6, 35); Übersetzung: Habermehl, OWD1/2, 83. Ebenso in Ios. hom. 4,2 (GCS Orig. 7, 310): „Zu Recht ist der Teil derer,die gerettet werden, ein einziger, weil auch das Brot ein einziges ist, das vomHimmel herabsteigt und dieser Welt das Leben spendet (vgl. Joh. 6,33), und derGlaube ein einziger ist, ebenso die Taufe eine einzige und der Geist ein einziger, mitdem wir alle in der Taufe getränkt werden, und Gott, der Vater von allem, eineinziger ist (vgl. Eph. 4,4–6).“

200 So explizit in Cant. comm. I 1,5 (GCS Orig. 8, 90 bzw. SC 375, 178): Haec ergoecclesia sit quasi omnium una persona. Vgl. in Lev. hom. 7,2 (GCS Orig. 6, 378) mitBerufung auf die Körper-Metaphorik des Paulus in 1 Kor. 12,20f.: „Ein Leib ist es,der zur Rechtfertigung erwartet wird, ein Leib ist es, der zum Gericht auferstehensoll.“ In Ios. hom. 7,6 (GCS Orig. 7, 333): „Ein Leib sind wir alle, die glauben,einen Gott haben wir, der uns in Einheit verbindet und zusammenhält: Christus.“

201 In Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 7 bzw. OWD 7, 130f.).

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48 Einleitung

nunftwesen202 das eine Geheimnis der Wirklichkeit zum Ausdruck bringt.203

In diesem Sinne legt Origenes die Aussage des Paulus in 1 Kor. 9,24: „Allelaufen, doch einer erhält die Siegespalme“, dahingehend aus, dass „alle Ge-rechten“ (omnes iusti) nicht nur „eins“ (unum), sondern „einer“ (unus) sind.204

Nicht erst, wenn alle Laster überwunden sind, ist der Zustand der Tu-gend erreicht, sondern im Weg dahin wird schon die eine Tugendhaftigkeitreal, die als vollkommene angestrebt wird. Und das ist möglich, weil dereine Gott, die eine Tugend, als Seinsgrund von allem in jedem Einzelnenenthalten ist. Immer wenn ein Mensch Sünde überwindet und etwas Tu-gendhaftes tut, bringt er die eine Tugend zum Ausdruck, die in seinemInnersten den Kern seiner Existenz bildet, realisiert er das Bild Gottes in sich,nach dem er geschaffen ist. Das „Wachsen in den Tugenden“ bedeutet zu-gleich ein „Wachsen Christi“,205 der als „der gute Hirte die unvernünftigenRegungen in mir hütet, damit sie nicht mehr aufs Geratewohl auf die Weidehinausgehen, sondern geführt vom Hirten das, was ihm einmal fremd war,ihm zu eigen wird“.206 Weil das für alle Einzelwesen gilt, ist es nie ein

202 In Cant. comm. I 1,5 (GCS Orig. 8, 90 bzw. SC 375, 178) bezeichnet Origenes dieKirche neben ihrer Qualifizierung als „gleichsam eine Person“ auch als „Versamm-lung aller Heiligen“ (coetus omnium sanctorum), ebd. II 5,6 (8, 142 bzw. 375, 356)definiert er ecclesia regelrecht als animae credentium. Nach ebd. IV 2,17 (8, 232 bzw.376, 708) „bilden die zur Vollkommenheit gelangten Seelen alle zusammen den Leibder Kirche“, von Völker, Vollkommenheitsideal 182, als Engfassung des Kirchen-begriffs gedeutet. Siehe dazu auch Lieske, Logosmystik 32–38 (vgl. ebd. 79), demdas streng Personalistische aber entgeht, weil er, hierin ganz unorigeneisch, eineeigenständige Größe ,Kirche‘ den Einzelseelen vorordnet.

203 Vgl. auch Cels. VI 48 (GCS Orig. 2, 119): „Die göttlichen Worte (der Schrift)lehren, dass der Leib Christi die ganze Kirche Gottes ist (vgl. Kol. 1,24), die vomSohn Gottes beseelt wird, und dass die Glieder dieses Leibes als eines Ganzen dieGläubigen darstellen, welche es auch immer konkret sind; denn wie die Seele denLeib beseelt und bewegt, der seiner Natur nach die zum Leben gehörende Bewe-gung nicht selbst hervorbringen kann, so bewegt der Logos durch wirkkräftigeBewegung zu den erforderlichen Zielen den ganzen Leib, die Kirche und jedeseinzelne ihrer Glieder, das ohne den Logos nichts tun kann.“ Übersetzung: Bar-thold, FC 50, 1109.

204 In Regn. hom. lat. 4 (GCS Orig. 8, 6 bzw. OWD 7, 128f.). Vgl. in Gen. hom. 2,6(GCS Orig. 6, 37): Wer sich ganz auf Gott ausrichtet, „richtet die Gesamtheit seinerTaten auf den Einen (ad unum, worunter unus, nämlich unus Deus zu verstehen ist),denn er weiß, dass ,zwar alle laufen, doch nur einer (unus) die Palme empfängt‘ (1Kor. 9,24)“; Übersetzung nach Habermehl, OWD 1/2, 87 (der ad unum sächlichversteht: „auf das Eine“). Im Fragment zu Hos. 12,5 in philoc. 8,2f. (SC 302,338–340) erläutert er ausgiebig, dass die, die sich in ihrem Lebenswandel nach denGeboten Gottes richten und auf sein Wort hören, durch ihre Einmütigkeit, auchwenn sie viele sind, eins (eÏn) bzw. einer (eiÎw) sind.

205 So Völker, Vollkommenheitsideal 100, der dies allerdings zu Unrecht nur „mehrbildhaft“ versteht und das für Origenes typische „Nebeneinander und bisweilensogar Ineinander von Moralismus und Mystik“ als „Schwanken“ kritisiert.

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49III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

solitärer Akt, sondern immer einer, der zugleich an der einen Gemeinschaftaller mitwirkt. Nicht erst die Vollendung der Tugend ist wertvoll, sondernjeder einzelne Schritt dahin, und sei er noch so klein, und es ist kein solip-sistischer Akt, so dass der Einzelne für sich glücklich werden könnte, weil erTeil „dieser wunderbaren Einheit“ ist, die nicht vollkommen ist, solangenicht jeder daran vollkommen teilhat. Die universale Dimension bedeutet,dass im christlichen Sinn der Einzelne sein Glück nicht allein für sich ver-folgen kann, weil es ohne die Anderen nicht vollständig zu haben ist.207 Ineiner der beeindruckendsten Passagen in seinen Predigten schildert Origenesausführlich, wie die bereits Erlösten (die Propheten, die Apostel, die Hei-ligen) und wie auch Christus wartet, bis das letzte Vernunftwesen das BildGottes in sich ausgebildet hat, weil die Einheit nicht als vollkommen ge-dacht werden kann, solange das nicht der Fall ist.208

206 Origenes, in Hier. hom. 5,6 (GCS Orig. 32, 36). Origenes greift hier einen Gedan-ken Philons auf, sacr. Abel. et Cain. 45 (I p. 220 Cohn/Wendland): „Als der Geistdas hörte, wendet er sich weg von der Lust und gesellt sich der Tugend zu … Nunwird er auch ein Hirt der Schafe, der unvernünftigen Seelenkräfte Leiter und Len-ker, der sie nicht ohne Ordnung aufsichts- und führerlos in der Irre schweifen lässt…“; Übersetzung: III p. 233 Leisegang.

207 Völker, Vollkommenheitsideal 217, schreibt im Zusammenhang mit dem ThemaNachfolge: „Wie endlich Gott als der Eine der Vielheit der Erscheinungswelt ge-genübersteht, so wird auch der wahre Gnostiker in seiner Nachfolge zur Einheitemporsteigen. Als Sünder ist er immer ein Vieles, hin- und hergezogen durch dieFülle seiner Sünden, als Vollkommener ist er ,unus‘, unwandelbar gleich Gott.“ Indieser Paraphrase von in Regn. hom. lat. 4 (vgl. ebd. Anm. 2) fehlen gerade diebeiden für Origenes charakteristischen Momente: Gott der Eine steht der Vielheitder Erscheinungswelt nicht einfach nur gegenüber, sonder ist als der Eine-Viele insie verwickelt. Und es fehlt die soziale universale Dimension, denn es geht nicht umden einzelnen wahren Gnostiker in ,seiner‘ Nachfolge, sondern um diesen in seinerunaufhebbaren Gemeinschaft mit der mirabilis unitas, die nicht die des einzelnenGnostikers mit dem einen Gott ist, sondern die Einheit der Vielen in der EinheitGottes.

208 Origenes, in Lev. hom. 7,2 (GCS Orig. 6, 374–380), daraus: „Mein Erlöser trauertauch jetzt noch über meine Sünden. Mein Erlöser kann sich nicht freuen, solangeich in meiner Ungerechtigkeit verharre“ (6, 374). „Er ist also solange in Betrübnis,solange wir im Irrtum verharren“ (6, 375). „Er wartet also, dass wir uns bekehren,dass wir sein Vorbild nachahmen, dass wir seinen Spuren folgen und er sich mit unsfreuen kann“ (6, 375). „Er wartet auf uns … Er wartet darauf, sich freuen zukönnen … Denn jetzt ist sein Werk solange noch unvollkommen, solange ich un-vollkommen bleibe“ (6, 376). „Wenn er aber sein Werk vollendet und seine gesamteSchöpfung zum Höchstmaß der Vollkommenheit geführt haben wird, dann wirdman von ihm selbst sagen können, dass er dem Vater unterworfen ist in denen, dieer ihm unterwirft und in denen er das Werk, dass der Vater ihm aufgetragen hat,vollendet hat (vgl. Joh. 17,4), so dass Gott alles in allem ist (vgl. 1 Kor. 15,28)“ (6,377). „Aber auch die Apostel warten darauf, dass auch ich an ihrer Freude teilhabenwerde … Die Heiligen warten auf uns, mögen wir auch säumig und träge sein.

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50 Einleitung

3. Menschliche Schwachheit und göttliche Gnade

Die Überwindung der Affekte durch Heilung der inneren Zerrissenheit desMenschen, die Origenes im Rückgriff auf die diesbezüglichen Aussagen desPaulus über den Widerstreit von ,Fleisch‘ und ,Geist‘ formuliert (vgl. Gal.5,17), hängt eng mit seinem Menschenbild zusammen. Origenes ist sich dermenschlichen Schwäche, die aus diesem inneren Zwiespalt resultiert und der,Einheit‘ im Wege steht, überaus bewusst.209 Anhand der Reflexionen desPaulus in Röm. 7,14–25 erörtert er im Römerbriefkommentar eingehenddas Phänomen der Willensschwäche (das antike Akrasieproblem), die dieUmsetzung eines ethischen Vorsatzes in konkrete Taten behindert. Das„Elend“ des Menschen besteht darin, dass „der Zwang zu sündigen“, „dieTyrannei des Fleisches“, „die Macht der Gewohnheit“ und „der Geschmackan den Lastern so groß ist, dass selbst wenn der Verstand bereits nach derTugend strebt und beschließt, dem Gesetz Gottes zu dienen, trotzdem dieBegierden des Fleisches dazu veführen, der Sünde zu dienen und ihrenGesetzen zu gehorchen“.210 Allerdings versteht Origenes die Klage des Pau-lus über die Unfähigkeit zum Tun des Guten, obwohl er das Gute tun will(vgl. Röm. 7,15.18f.21f.), nicht in dem Sinne, dass der Mensch zum Gutengrundsätzlich unfähig wäre – womit die Freiheit des Menschen massiv inFrage gestellt wäre –, sondern so, dass der Wille zum Guten zwar vorhandenist, seine Umsetzung in die Tat aber nicht gelingt: „Dennoch ist dieserMensch, der hier (sc. in Röm. 7,14–25) vorgestellt wird, nicht ganz und gardem Guten entfremdet, vielmehr hat er begonnen, mit seinem Streben undWollen das Gute zu suchen, doch gelingt es ihm noch nicht, das Gute in Tatund Werk zu verwirklichen. Denn in denen, die anfangen umzukehren,findet sich eine gewisse Schwäche: Wenn jemand sogleich alles Gute voll-

Denn ihre Freude ist nicht vollkommen, solange unsere Irrungen ihnen schmerzlichsind und sie über unsere Sünden trauern“ (6, 377). „Auch Abraham wartet noch …,Isaak wartet, Jakob wartet, alle Propheten warten auf uns, um zusammen mit uns dievollkommene Glückseligkeit zu erlangen“ (6, 378). „Auch du wirst auf andere war-ten, so wie auch auf dich gewartet worden ist“ (6, 378). Der Erlöser „will nämlichselbst in diesem Leib seiner Kirche und in diesen Gliedern seines Volkes wie dieSeele wohnen, damit alle ihre Bewegungen und all ihr Tun seinem Willen ent-sprechend gestaltet sind“ (6, 379). Vgl. dazu Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit274–276.

209 Ebd. (6, 376): „Hier und jetzt bin ich, um ein Beispiel zu geben, Gott dem Geistenach unterworfen, das heißt vorsätzlich und willentlich; doch solange in mir ,dasFleisch wider den Geist und der Geist wider das Fleisch begehrt‘ (vgl. Gal. 5,17) undich noch nicht imstande war, das Fleisch dem Geist zu unterwerfen, bin ich zwarGott unterworfen, aber nicht im Ganzen, sondern nur zum Teil.“

210 In Rom. comm. VI 10 (p. 518f. Hammond Bammel); Übersetzung: Heither, FC2/3, 287.

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51III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

bringen will, folgt dem Willen nicht unmittelbar die Ausführung.“211 Auf-grund der Gewohnheit im Sündigen „ist ein Mensch, wenn er sich zumGuten bekehren will, nicht sogleich auch schon darin geübt, gute Werke zutun. Der Wille ist nämlich schnell und wandelt sich ungehindert; die Tataber geschieht langsam, weil das Handeln Übung, Geschicklichkeit undAnstrengung verlangt.“212 Es ist dem Menschen nicht möglich, dieserSchwachheit zu entgehen, denn „die Lust am Leben erregt diese Begierde“:„Es ist unmöglich für eine menschliche Seele, den Leidenschaften nicht zuunterliegen, auch wenn es durch Bemühen später erreicht wird, dass siesozusagen leidenschaftslos wird.“213 Der innere Zwiespalt des Menschen be-steht nach Origenes gerade darin, dass er auf der Basis, dass im Gesetzes-verständnis des Origenes „sittliche Forderungen … nicht als ein externesGebot an ihn herangetragen werden, sondern … in ihm selbst durch diegraduell sich entwickelnde vernünftige Einsicht in das sittlich Gute undBöse“ erwachsen, „weiß, dass er im Widerspruch zu den sittlichen Forde-rungen seiner eigenen Vernunft steht und handelt“.214 Aus der Erkenntnisdes sittlich Guten ergibt sich nämlich für Origenes weder automatisch dasWollen noch das Tun des Guten, sondern es bedarf einer eigenen, freienEntscheidung des Willens dafür, das von der Vernunft Erkannte in eineentsprechende sittliche Praxis umzusetzen.215 Die Willensschwäche bedrohtalso nicht grundsätzlich die Willensfreiheit im Sinne moralischer Selbstbe-stimmung, wohl aber die moralische Identität des Menschen, insofern sie dieUmsetzung der allgemeinen Ausrichtung der Lebensführung auf das Gute inkonkrete einzelne Handlungen behindert.216

So sehr der Mensch aufgerufen ist, sich im Widerstreit zwischen,Fleisch‘ und ,Geist‘ grundsätzlich und in einzelnen Handlungen immerwieder neu für die Tugend zu entscheiden, und so sehr Origenes davonüberzeugt ist, dass der Mensch dazu grundsätzlich fähig ist, in eben solchemMaße ist er davon überzeugt, dass der Mensch seinen inneren Zwiespalt vonsich aus nicht zu heilen vermag. Dafür bedarf es der Hilfe des Geistes Gottes,der im Gebet darum angefleht wird. Im zweiten Teil der Predigt über 1Sam. 1–2 geht Origenes daher anlässlich des Dankliedes der Hanna (1 Sam.

211 Ebd. VI 9 (p. 511); Übersetzung: ebd. 275.212 Ebd. (p. 513); Übersetzung: ebd. 279. Siehe dazu die sehr erhellenden Erläuterungen

von Müller, Willensschwäche 242–284; ders., Willensschwäche und innererMensch.

213 In Rom. frg. 38 Ramsbotham; Übersetzung: Heither, FC 2/6, 199.214 Müller, Willensschwäche 247f.215 Müller, ebd. 250: „Die Erkenntnis des Guten, wie sie dem Menschen qua Vernunft

und Geist zukommt, hat noch nicht per se das Wollen des Guten im Gefolge,sondern bedarf einer freien Entscheidung dafür.“

216 Vgl. dazu Müller, ebd. 255–257.

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52 Einleitung

2,1–10) ausführlich auf das Beten ein.217 Allerdings stellt er im Zuge derAuslegung keine allgemeineren Reflexionen auf das Beten an, obwohl derText dies anbieten würde – und genausowenig erwähnt Origenes das Ma-gnificat Marias (Lk. 1,46–55), für das Hannas Danklied das Vorbild ist –,sondern beschränkt sich auf Einzelaussagen über das Beten anhand von spe-zifischen Beobachtungen zu den besonderen Formulierungen des Textes.218

In seiner Schrift über das Gebet jedoch führt er das Danklied Hannas alsBeispiel für ein Gebet an, das „der Geist (pneyÄma) im Herzen der Frommenbetet“ und das „voller unaussprechlicher und wunderbarer Lehren“, „vonLehren der Weisheit Gottes erfüllt“ ist.219 Im Zuge dessen kommt er auf dieRolle des Geistes (des Pneuma) beim Beten für die Heilung des Menschenzu sprechen: Aufgrund seiner Schwachheit vermag der Mensch nichts ohneden vorangehenden Geist Gottes, der im Herzen der Heiligen betet unddessen Beten dem Beten des menschlichen Verstandes vorangeht. Zur Aus-sage des Paulus: „Ich werde beten mit dem Geist (pneyÄma), ich werde aberauch beten mit dem Verstand (noyÄw); ich werde lobsingen mit dem Geist(pneyÄma), ich werde aber auch lobsingen mit dem Verstand (noyÄw)“ (1 Kor.14,15) erläutert Origenes: „Denn unser Verstand (noyÄw) kann gar nicht beten,wenn nicht vor ihm der Geist (pneyÄma) gleichsam in Hörweite von ihmgebetet hat, ebenso wie er auch den Vater in Christus nicht mit dem Sai-tenspiel besingen und in schönem Takt und wohllautend und im rechtenMaß und harmonisch lobpreisen kann, wenn nicht ,der Geist, der alle Din-ge, auch die Tiefen Gottes erforscht‘ (vgl. 1 Kor. 2,10), vorher diesen be-sungen und gepriesen haben wird, dessen ,Tiefen er erforscht‘ und nachseinen Kräften erfasst hat.“220 „Mit unaussprechlichen Seufzern“ – damitgreift Origenes eine weitere Paulusstelle auf – „tritt der Geist für die Sünderbei Gott ein“ (Röm. 8,26), „indem er in seiner großen Menschenliebe(filanurvpiÂa) und Mitempfindung (sympa ueia) unsere Seufzer auf sichnimmt“,221 die wir aus eigener Kraft nicht zur inneren Harmonie gelangenkönnen. Nur geführt vom einen Geist Gottes, der die zahllose Schar der,Dämonen‘ im Herzen überwindet222 und den Menschen in einer Tiefen-

217 Origenes, in Regn. hom. lat. 8–19 (GCS Orig. 8, 13–25 bzw. OWD 7, 142–171).218 Aufgrund seiner eingehenden Überlegungen zu einzelnen Formulierungen des Tex-

tes kommt Origenes in seiner Auslegung lediglich bis 1 Sam. 2,6. Für die Detailssiehe die Erläuterungen unten in den Fußnoten zur Übersetzung.

219 Origenes, orat. 2,5 (GCS Orig. 2, 303); Übersetzung nach Koetschau, BKV2 I 48,14.

220 Ebd. 2,4 (2, 301f.); Übersetzung: ebd. 13.221 Ebd. 2,3 (2, 301); Übersetzung: ebd. 12.222 Vgl. in Regn. hom. lat. 5 (GCS Orig. 8, 7 bzw. OWD 7, 132f.): „Gewiss ist jener,

von dem gesagt ist, dass er ,ein einziger Mann‘ ist (1 Sam. 1,1), Besitz Gottes undnicht Besitz der Dämonen. Wer nämlich von Dämonen besessen ist, der ist nichteiner, sondern viele, wie auch die Dämonen selbst über den sagten, der von ihnen

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53III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

dimension heilt, die seinem aktiven Tun unzugänglich ist, vermag derMensch zum Ideal des uir unus im oben dargelegten „subtileren“ Verständniszu gelangen, „wenn ich meine Glieder so sehr abgetötet habe (vgl. Kol. 3,5),dass ,das Begehren des Fleisches sich‘ nicht mehr ,gegen den Geist richtet‘noch ,das Begehren des Geistes gegen das Fleisch‘ (Gal. 5,17), wenn es inmeinen Gliedern kein anderes Gesetz mehr gibt, das dem Gesetz meinesVerstandes widerstreitet und mich unter das Gesetz der Sünde gefangennimmt (vgl. Röm. 7,23), wenn alles, was in mir ist, in ein und demselbenSinn vollkommen ist“,223 die menschliche Schwachheit also überwundenund die Ausrichtung auf das Eine, auf das Gute im Denken, Wollen undHandeln stabil ist. Wirkliche „Fortschritte in der Tugend“ macht derMensch erst, wenn die „Reinigung von den Sünden“ dadurch erfolgt ist,dass „das Herz aus Stein ausgerissen und ein Herz aus Fleisch eingesetztwird“ (Ez. 11,19), wenn er sich „der Zeichen der Sterblichkeit entledigt“hat, als die Origenes die Sandalen in Ex. 3,5 und Mt. 10,10 interpretiert,sobald er „den Weg des Lebens“ zu beschreiten gedenkt.224

In diesen Zusammenhang gehört die Zuordnung von Gnade und Be-kehrung, die Origenes anhand der Etymologien der Namen ,Hanna‘ und,Peninna‘ durchbuchstabiert. Die Einzelexegesen des Origenes in der latei-nischen Samuelhomilie beruhen oft auf Namensetymologien. Nach altori-entalischer ebenso wie nach platonischer Vorstellung, wie sie im Didaskalikosdes Alkinoos greifbar ist,225 verweisen Namen, sofern sie adäquat gewähltsind, auf das Wesen der bezeichneten Sache und enthalten eine Kraft, diewirksam wird, wenn der Name ausgesprochen wird.226 Auch Origenes ist

besessen war, als sie zur Antwort gaben, sein ,Name ist Legion‘ (Mk. 5,9; vgl. Lk.8,30).“ Vgl. in Lev. hom. 5,12 (GCS Orig. 6, 358), zitiert unten S. 132 Anm. 26. –Hierzu gehört auch die Stelle, an der Origenes anlässlich der Interpretation von 1Sam. 2,1: „Mein Herz jubelte im Herrn“ einen Vorfall während des Gottesdienstesaufgreift (siehe dazu unten S. 152 Anm. 66), in Regn. hom. lat. 10 (GCS Orig. 8,17f. bzw. OWD 7, 152–155): „Und da gerade bei diesen Worten einer von denAnwesenden von einem unreinen Geist ergriffen wurde und so laut aufschrie, dassdie Leute zusammenliefen, wollen auch wir sie aussprechen, denn bei Hannas Wor-ten: ,Mein Herz jubelte im Herrn‘ vermochte der feindliche Geist unseren Jubel,im Herrn‘ nicht zu ertragen; er will ihn vielmehr umwandeln und beseitigen, uman seine Stelle Trauer zu setzen und uns zu hindern zu sagen: ,Mein Herz jubelte imHerrn.‘ Wir aber wollen uns daran nicht hindern lassen, sondern mehr und mehrsagen: ,Mein Herz jubelte im Herrn‘ …, denn wenn die Gnade des Herrn den bösenGeist vertrieben hat, führt sie den Heiligen Geist ein, und die Seele, die von einemunreinen Geist erfüllt war (vgl. Mk. 1,23), ist künftig von Heiligem Geist erfüllt.“

223 Ebd. 4 (8, 7 bzw. 7, 130f.).224 Ebd. 6 (8, 10f. bzw. 7, 138f.).225 Vgl. Alkinoos, didask. 6,10 (p. 14f. Whittaker/Louis bzw. p. 12f. Dillon).226 Siehe dazu Gögler, Theologie des biblischen Wortes 211–217. – Eustathius, engastr.

c. Orig. 22,2 (CChr.SG 51, 45 bzw. p. 176 Simonetti), hat Origenes dafür kritisiert,

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54 Einleitung

der Meinung, dass in einem Namen die eigentümliche Beschaffenheit des-sen zum Ausdruck kommt, der diesen Namen trägt.227 In einer Grundsatz-bemerkung anlässlich der Deutung des Namens ,Abraham‘ in Gen. 17,5 als„Vater vieler Völker“ fordert er deshalb dazu auf, „nach der Bedeutung derNamen zu forschen, denn hinsichtlich ihrer Kraft stammen die Namen vomHeiligen Geist.228 Allerdings muss man auch dies wissen, dass die Namen aufEinstellungen, Zustände und Eigenschaften verweisen, aus denen man dieEigentümlichkeit des Bezeichneten erkennen kann.“229 Von daher lässt sichder Sinn der biblischen Texte von der Bedeutung der darin verwendetenNamen her erschließen.

Im Falle der Namen ,Hanna‘, der ,Gnade‘ bedeutet, und ,Peninna‘,,Bekehrung‘,230 beschreibt Origenes ein komplexes Verhältnis der Rezipro-zität. Während die Gnade der Bekehrung zeitlich und sachlich vorausgeht,gehen Werke aus der Bekehrung Werken aus der Gnade voraus: Als erstessoll der Mensch sich mit Hanna vermählen, der Gnade, dann mit Peninna,der Bekehrung, „weil es nach der Gnade des Glaubens zur Besserung desVerhaltens und Bekehrung des Lebens kommt“. Die Priorität der Gnade isthier streng gewahrt, doch ohne das (von Gnade getragene) Wirken desMenschen, der nicht einfach alles dem Wirken der Gnade überlassen kann,kann die Gnade nicht im Leben fruchtbar werden. Die „ersten Früchteentstammen“ deshalb „unserer Bekehrung“, „unseren Taten und Werken“,und zwar die „Abkehr von den Sünden“ und „vom Bösen“ als „das ersteWerk der Gerechtigkeit“. Um von dieser Abkehr vom Bösen jedoch dahinzu kommen, Gott anzuhängen, bedarf es der „Früchte der Gnade“, nämlich„sich Gott zu widmen und dem Wort Gottes“.231 Ohne des Menschen ak-tives Mitwirken vermag die Gnade Gottes nicht fruchtbar zu werden: DieKinder Penninas sind des Menschen Werk, nicht Gottes Geschenk. Aberohne die göttliche Gnade vermag der Mensch nichts Gutes zu bewirken undvermag sein Wirken nicht sein Ziel zu erreichen: Das Kind Hannas, Samuel,ist ,Gott selbst‘.232

die allegorische Auslegung auf die etymologische Bedeutung von Eigennamen zustützen, weil dadurch die geschichtliche Grundlage der biblischen Geschichten zer-stört werde.

227 Origenes, orat. 24,2 (GCS Orig. 2, 353). Viele weitere Stellen dafür bei Gögler,ebd. 214f. Anm. 29–39.

228 Die Namen ,Johannes‘ und ,Jesus‘ beispielsweise führt Origenes, in Luc. hom. 9,4(GCS Orig. 92, 55) und 14,2 (92, 84), explizit auf „Eingebung des Heiligen Geistes“zurück.

229 In Gen. frg. E 40 Metzler (OWD 1/1, 228).230 Siehe dazu unten S. 133 Anm. 30.231 In Regn. hom. lat. 5 (GCS Orig. 8, 8f. bzw. OWD 7, 132–135). Siehe dazu die

Interpretation dieses Textes bei Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit 44–47.232 Siehe zu dieser Etymologie des Namens ,Samuel‘ unten S. 136 Anm. 34.

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55III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

Im intrikaten Verhältnis zwischen menschlicher Freiheit und göttlicherGnade verschränkt Origenes immer beide Sinnrichtungen und kann den-selben Gedanken aus verschiedenen Perspektiven so einseitig formulieren,dass es widersprüchlich klingt. Erst aus der Zusammenschau aller für diesesThema relevanten Stellen wird sein Gesamtkonzept sichtbar.233 Gegen De-terminismen jeglicher, insbesondere astrologischer und gnostischer Couleurhebt er hervor, „dass es unsere eigene Leistung ist, gut zu leben, und dassGott dies von uns fordert als etwas, das nicht von ihm ist oder von einemanderen kommt oder, wie manche meinen, von der Schicksalsnotwendig-keit, sondern als unser eigenes Werk“.234 Zwar hat der Mensch die Fähigkeitdes Wollens und des Vollbringens von Gott, dem Schöpfer erhalten, „aberwir selbst gebrauchen das Wollen entweder zum Besten oder zum Gegenteil,und ebenso das Vollbringen“.235 Das Ziel, in Freiheit beständig gut zu leben,worin der Mensch Gott ähnlich wird, kann nicht gelingen, wenn es sich derMensch nicht in Freiheit durch sein eigenes Tun aneignet und erringt.236

Angesichts des Phänomens der Willensschwäche meint er jedoch: „Wernicht seine eigene Schwäche gespürt hat und die Gnade Gottes, der wird,wenn er Wohltaten empfängt, ohne sich selbst vorher erprobt und sich selbstverurteilt zu haben, sich einbilden, es sei seine eigene sittliche Leistung, wasihm von der himmlischen Gnade geschenkt wird.“237 Wenn ein Gerechtereine gute Tat vollbringt, dann ist es Gott, der ihn darin gleichsam „gebärt“.238

„Grund der Schlechtigkeit“ im Menschen ist seine „freie eigene Entschei-

233 Völker, Vollkommenheitsideal 102 Anm. 3, formuliert mit Blick auf das Verhältnisvon irdischem Jesus und verherrlichtem Logos: „Origenes hat eben beides, und erkann das Eine oder das Andere je nach Belieben in den Vordergrund treten lassenoder verschweigen, wie es der jeweilige Zusammenhnag bzw. der auszulegendeBibeltext erfordern. Nie hat man in einer Stelle oder einer Schrift den ganzen Mann.“

234 Princ. III 1,6 (GCS Orig. 5, 201); Übersetzung: p. 475 Görgemanns/Karpp.235 Ebd. III 1,20 (5, 235); Übersetzung nach ebd. p. 543. Vgl. in Cant. comm. IV 1,20

(GCS Orig. 8, 227 bzw. SC 376, 688): „… jede einzelne Seele verfüge über dieKraft des Könnens und die Entscheidungsfreiheit, mit der sie alles, was gut ist,ausführen könne.“ In Rom. comm. VIII 10(11) (p. 693 Hammond Bammel): „Weilalle geistbegabten Wesen eine Natur haben und sie in gleicher Weise mit der Frei-heit des eigenen Willens begabt sind, darum bringen sie alle aufgrund der Machtihres freien Willens eigene Regungen hervor und führen die ihnen unterworfeneSeele entweder zur Tugend oder zur Begierde“; Übersetzung: Heither, FC 2/4,289.

236 Vgl. princ. II 9,2 (GCS Orig. 5, 165); III 2,3 (5, 250).237 Ebd. III 1,12 (5, 216); Übersetzung: p. 505 Görgemanns/Karpp. In Ex. hom. 6,1

(GCS Orig. 6, 191): „Es ist ja Brauch bei den Heiligen, wo ein Widersacher (sc. dieSünde) besiegt wird, Gott ein Danklied darzubringen, da ihnen gleichsam bewusstist, dass der Sieg nicht durch ihre Kraft, sondern durch Gottes Gnade zustande kam.“

238 In Hier. hom. 9,4 (GCS Orig. 32, 70): „Denn nicht nur einmal, möchte ich sagen,wurde der Gerechte von Gott geboren, sondern er wird ständig in jeder guten Tatgeboren, in der Gott den Gerechten gebärt.“

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56 Einleitung

dung, die das Böse tut“, doch „Grund der Gerechtigkeit“ ist nicht einfachebenso seine freie Entscheidung, auch wenn diese dazukommt, weil GottesGnade nicht automatisch wirkt, sondern „das Wort (sc. Gottes), das wirangenommen haben, welches die Gerechten ausrüstet“.239 Wo Origenesmenschliches Tun und göttliche Hilfe vergleicht, beschreibt er sie als imGrunde inkommensurable Größen, die beide erforderlich sind, bei denenaber die unendliche Gnade Gottes den endlichen Beitrag des Menschenunendlich übersteigt, so „dass auch von der Seite des Menschen etwas ge-schehen ist, doch wird man die Leistung in Dankbarkeit Gott dem Vollenderzuschreiben … Ebenso geschieht auch unsere Vollendung nicht, ohne dasswir etwas tun; aber sie wird nicht von uns zu Ende geführt, sondern Gottwirkt das meiste dabei … Gewiss ist bei unserer Erlösung der Beitrag Gottesunendlich viel größer als der, der von unserer freien Entscheidungkommt.“240 Erst aus der Zusammenschau aller seiner Bemerkungen ergibtsich, dass Origenes beides, Gnade und Freiheit, in enger Verschränkungbetont, wie etwa aus folgendem Satz hervorgeht: „Obgleich er selbst (sc.Christus) es ist, der in uns siegt, liegt doch ein höherer Wert darin, dass erdurch uns siegt, als dass er durch sich selbst siegt.“241 Eine nähere Verhält-nisbestimmung nimmt Origenes jedoch nicht vor, weil eine solche demmenschlichen Denken entzogen bleibt. Allerdings betont er, wie in derPredigt über das Verhältnis von Gnade und Bekehrung, die zeitliche undsachliche Priorität der Gnade,242 weil der Mensch das Gute als solches nichtzu erschaffen vermag,243 weil dem Menschen das Sein und (als Bild Gottes)das Gut-Sein unverdient als reines Geschenk zuteil wird,244 weil keinMensch von sich aus die Macht hat, Kind Gottes zu werden,245 und weil

239 In Matth. comm. X 11 (GCS Orig. 10, 12); Übersetzung: Vogt, BGrL 18, 72; vgl.dazu die erläuternde Fußnote von Vogt, ebd. 99 Anm. 16.

240 Princ. III 1,19 (GCS Orig. 5, 231. 232. 233); Übersetzung: p. 535. 537. 539 Gör-gemanns/Karpp (leicht modifiziert). Vgl. ferner philoc. 26,7 (SC 226, 256–262); inRom. comm. VII 14 (p. 621f. Hammond Bammel).

241 In Num. hom. 7,6 (GCS Orig. 7, 48).242 Siehe für das Folgende die konzise Auflistung der hierfür ausschlaggebenden Ar-

gumente bei Blanc, SC 157, 44, übernommen von Schockenhoff, Zum Fest derFreiheit 121f.

243 Vgl. in Ioh. frg. 45. 125 (GCS Orig. 4, 519. 569).244 Vgl. in Rom. comm. IV 5 (p. 300 Hammond Bammel); X 38 (p. 850); in Rom.

comm. VI frg. 5 (p. 204 Scherer): „Weil man nach meiner Meinung nicht denkenkann, das Sein sei uns von Gott als Lohn gegeben – alles ist nämlich offenbar Gnadedessen, der uns das Sein gab und uns vor allem vernunftbegabt erschuf –, so ist esauch kein Lohn, sondern ganz und gar Gnade, wenn wir gut sind und des ErbesGottes und seiner Verheißung teilhaftig werden“; Übersetzung: Heither, FC 2/6,143. Zur doppelten (kreatürlichen und soteriologischen) Gratuität der Gaben Gottessiehe Gruber, ZVH 229–236.

245 Vgl. in Ioh. comm. XX 33,288f. (GCS Orig. 4, 370).

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57III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

keiner dem Geber (Gott) zuvorkommen und seine Gnade vorwegnehmenkann.246 Aufs Ganze gesehen, konzipiert Origenes Gnade nicht als Gegen-satz von Freiheit, sondern als deren Ermöglichung.247

In der Samuelhomilie stellt Origenes dieses Thema sehr ausgewogen dar.An einer Stelle allerdings scheint er, jedenfalls was den Wortlaut des latei-nischen Textes angeht, nicht dem Vorwurf zu entkommen, dass er einenVerdienst-Gedanken einführt: „Wenn keine Werke der Bekehrung voraus-gehen, werden wir die Gnade des Geistes nicht verdienen (das verwendeteVerbum ist mereri) und können wir aus ihr keine Gabe des Geistes hervor-bringen.“248 Doch im Blick auf die geschilderten Verhältnisse mit den, iso-liert genommen, widersprüchlichen Aussagen, die sich erst nebeneinanderzu einem schlüssigen Konzept fügen, ergibt sich die Sinnrichtung dieserAussage „nach Verdienst“, zumal wenn man sie mit dem dialogischen Ver-hältnis von Freiheit und Vorsehung verbindet, wie Origenes es konzipiert.249

Es geht nicht darum, durch ethische Leistung einen Anspruch zu erwerben,den Gott gleichsam belohnen müsste; einen solchen Verdienst-Gedankenlehnt Origenes ausdrücklich ab (übrigens in einem ebenfalls von Rufinus indas Lateinische übersetzten Text, woraus man schließen darf, dass diese Fra-ge nicht ein Problem des Übersetzens in das Lateinische und damit desTransferierens des Gedankens in neue Problemzusammenhänge ist): Orige-nes „vermag sich nicht zu der Ansicht zu bekennen, dass es irgendein Werkgeben könnte, das, als hätte es einen rechtmäßigen Anspruch darauf, eineVergütung von Gott einfordern könnte, wo wir doch sogar eben die Fä-higkeit etwas zu tun oder zu denken oder auszusprechen aufgrund seinerGabe und seines Geschenks haben“.250 Es geht vielmehr darum, die eigeneEntscheidungsfreiheit so zu gebrauchen, dass Gott „nach Verdienst“ bzw.„Würdigkeit“, katÆ aÆ jiÂan, also „ihr entsprechend“ bzw. dem „angemessen“,was der Mensch tut, agieren kann und agieren wird: Wendet die Seele sichdem Guten zu, macht sie sich „würdig“, den Geist zu empfangen, wendetsie sich dem Schlechten zu, erwirbt sie dieses „Verdienst“ nicht, weil sie sich

246 Vgl. ebd. VI 36,181 (4, 145).247 Die einzige eingehende Darstellung dazu ist Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit

116–123. Aus der älteren Literatur siehe Völker, Vollkommenheitsideal 38–41;Gruber, ZVH 236–240.

248 In Regn. hom. lat. 5 (GCS Orig. 8, 10 bzw. OWD 7, 136f.).249 Siehe dazu Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit 135–137; Benjamins, Einge-

ordnete Freiheit 117–119.250 In Rom. comm. IV 1 (p. 277 Hammond Bammel); eigene Übersetzung. Die Über-

setzung von Heither, FC 2/2, 171, an dieser Stelle ist nicht falsch, lässt aber diemarkanten Konturen der origeneischen Begrifflichkeit nicht hervortreten. Vgl. inIos. hom. 12,2 (GCS Orig. 7, 369): Niemand könne einen Sieg über die dämoni-schen Mächte der eigenen Kraft bzw. Tugend (uirtus) zuschreiben, weil er wisse, dasses Jesus sei, der den Sieg geschenkt habe.

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58 Einleitung

von Gott abwendet und in diesem Sinne kein „Verdienst“ hat, auf das auf-bauend Gott durch die Einwirkung seines Geistes weiter an der Hinwen-dung zum Guten tätig werden könnte.251 Am Ende des Freiheitstraktats inder Grundlagenschrift De principiis formuliert Origenes dieses Verhältnis ineinem Resümee von beiden Polen aus und zieht dazu ebenfalls das Voka-bular von „Verdienst“ bzw. „Würdigkeit“ (katÆ aÆ jiÂan) heran: „Da nun das,was Paulus sagt“, nämlich in 2 Tim. 2,21 einerseits, in Röm. 9,21 anderer-seits, wo das Herstellen des „Gefäßes zur Ehre oder zur Unehre“ einmal nurdem Menschen, einmal nur Gott zugeschrieben wird, „nicht widerprüchlichsein kann,252 muss man beides zusammennehmen und aus beidem eine allesumfassende Lehre entwickeln. Weder ist unsere Freiheit ohne das (Vor-her-)Wissen Gottes, noch zwingt uns das (Vorher-)Wissen Gottes zum sitt-lichen Fortschritt, wenn nicht auch wir einen Beitrag zum Guten leisten.Weder bewirkt unsere Freiheit ohne das (Vorher-)Wissen Gottes und denvollen Gebrauch des (göttlichen) Beitrags, der unserer freien Entscheidungangemessen ist (katÆ aÆ jiÂan toyÄ eÆfÆ hë miÄn), dass jemand (ein Gefäß) zur Ehreoder Unehre wird; noch schafft Gottes Verfügungsmacht allein jemanden(als Gefäß) zur Ehre oder Unehre, wenn er nicht als Grundlage sozusagenfür die unterschiedliche (Bestimmung) unsere eigene sittliche Entscheidunghat, die entweder zum Besseren oder Schlechteren hinneigt.“253 Das ist einanderer Verdienst-Gedanke als das hochmütige Pochen auf Verdienste, dasPaulus kritisiert, so dass die Koppelung von Werken und Verdienst an derzitierten Stelle der Samuelhomilie nur auf der Ebene des reinen Wortlauts(in Rufins Latein) wie ein Verstoß gegen die paulinische Rechtfertigungs-lehre klingt. Im Gesamtkonzept von Vorsehung bzw. Gnade und Freiheitgeht es bei Origenes um ein Zusammenspiel von Gott und Mensch, dasOrigenes nach beiden Seiten hin auszuloten und fein auszutarieren versucht,um beide Seiten zu ihrem Recht kommen zu lassen.254 Zudem wird man

251 In diesem Sinne agiert laut orat. 6,3f. (GCS Orig. 2, 313) die göttliche VorsehungkatÆ aÆ jiÂan, d.h. „entsprechend“ dem Agieren der menschlichen Freiheit.

252 Es ist natürlich widersprüchlich, aber das kann Origenes aufgrund des altkirchlichenAxioms der Widerspruchsfreiheit der Bibel nicht akzeptieren, schon gar nicht, wo erbeide Texte als Paulusbriefe betrachtet.

253 Princ. III 1,24 (GCS Orig. 5, 243f.); Übersetzung: p. 559–561 Görgemanns/Karpp.254 Wenn Benjamins, Eingeordnete Freiheit 119f., die Konstruktion des Origenes als

„problematisch“ und „nicht sehr stabil“ bewertet, trifft er die Problemlage des Ori-genes wohl nicht so ganz. Von einem streng logischen Standpunkt aus ist dieseEinschätzung möglicherweise berechtigt, denn das Konzept des Origenes bietet of-fene Flanken. Aber man muss es doch vor allem im Rahmen der philosophischenDebatten und der theologischen Umstände seiner Zeit sehen, und darin ist dasBemerkenswerte, dass Origenes die von der göttlichen Vorsehung im Sinne einerFreiheitsmetaphysik getroffene Anordnung der Welt streng an die Freiheit der Ver-nunftwesen knüpft (vgl. dazu auch Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit 136), undzwar trotz der Probleme, in die ihn diese Interdependenz bringt.

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59III. Vir unus – das metaphysisch-ethische Einheitsdenken des Origenes

bedenken, dass in ethischer Paränese wie in dieser Predigt, die er damitbegonnen hat, sich als gestrenger Moralprediger vorzustellen, solche Redeeinzuordnen ist: Die Mühe, zu der er seine Zuhörer anspornen will, wirdnicht vergeblich sein, sondern belohnt werden. Auch der Schluss der grie-chischen Samuelhomilie mündet in eine entsprechende Paränese, denn dasist ja überhaupt das Ziel aller Predigten des Origenes: „Wenn wir einmal vonhier fortgehen, werden wir, wenn wir uns zu edlen und guten Menschenentwickelt haben und nicht die Lasten der Sünde mitschleppen, … denLohn vom Hausherrn in Christus Jesus unserem Herrn erhalten.“255

255 Origenes, in Regn. hom. graec. 10 (GCS Orig. 32, 294 bzw. OWD 7, 234–237).

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