Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen...

6
Biblische Irritationen DieKlagendesJeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung des Schicksals, aber auch von der Hoffnung der Menschheit. KARLHEINZKÖNIG ähern wir uns tastend dem Bild: Auf dem Hintergrund eines rötlich-grauen Farbgemischs nimmt eine schwarze Männergestalt mehr als die Hälfte des Bildes ein. Sie kauert, anscheinend auf einem klei- nen Erdhügel, die Beine angezogen und den Rücken gekrümmt. Sie ist tief nach vorne gebeugt, weil sie etwas schützend in den Ar- men hält und bewahrend an sich drückt. In einer Kindergruppe, die das Bild betrachtete, meinten die Jungen, das sei wohl eine Milch- kanne, und die Mädchen glaubten, ein einge- wickeltes Baby zu erkennen. Vordergründig hatten beide Recht. Ich deutete ihnen das Ge- bilde als ein Tongefäß mit der Tora, der heili- gen Schriftenrolle gläubiger Juden, den alten Mann mit Kopfbedeckung und Bart als Rab- bi, einen jüdischen Schriftgelehrten. Aber was soll die angedeutete Menschengruppe vor den Häuserschemen rechts und links im Bild- hintergrund und das auffällig blau gemalte I I'~':~:tlm.lt!ti~ Der Farbdruck von Mare Chagalls »Die Klage des Jeremias« (Seite 64a) ist für die Arbeit in Schule und Gemeinde im Zehner- Set a € 3,80 nachzubestellen beim DKV-Buchdienst, Preysingstr. 97, D-81667 München, Tel.: 089/48092-245, Fax: -237, e-mail: [email protected] 64 KatBI128 (2003) 64-68 Weidentier? Der Schriftgelehrte schaut wie erstarrt vor sich hin und hat keinen äußeren Kontakt zu ihnen. Sind diese aber nicht in Gefahr? Denn über ihnen breitet sich ein feuerroter Himmel aus, allmählich in ein trauriges Violett übergehend. Anscheinend keine freudige Situation, alles strahlt Trauer und Beklommenheit aus. Was auffällt, ist das Gesicht des alten Mannes im Blickmittelpunkt, das keine Panik, sondern traurige Versunkenheit ausdrückt. Was be- kümmert ihn? Worüber grübelt er? Die auf- leuchtend helle Farbe im dunklen Umfeld verrät: Sein Gesichtsausdruck hat etwas mit dem Gefäß und seinem bedeutungsvollen, heiligen Inhalt zu tun. Das nimmt ihn ganz gefangen, macht ihn traurig. - Wahrschein- lich liegt hier der Schlüssel zur Bild- bedeutung. Was beklagt der Prophet? Mare Chagall nennt sein Bild: »Die Klage des Jeremias«. Wer war Jeremias, was hatte er zu beklagen? Jeremias ist 650 v. Chr. geboren und entstammte einer Priesterfamilie im Lan- de Juda. Schon 23-jährig fühlte er sich als Prophet berufen und wirkte von da ab vor- wiegend in Jerusalem. Er kämpfte gegen den religiösen und sittlichen Verfall seines Volkes an. Wortgewaltig hielt er den Leuten, beson- ders der Oberschicht, ihre Sünden und Ver- gehen vor Augen und warnte sie vor einem nahenden Strafgericht Jahwes: »Denn sie sind alle Ehebrecher, eine Rotte von Treu-

Transcript of Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen...

Page 1: Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen Die Klagen des Jeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung

Biblische Irritationen

DieKlagendesJeremiasIn den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung des

Schicksals, aber auch von der Hoffnung der Menschheit.

KARLHEINZKÖNIG

ähern wir uns tastend dem Bild: Aufdem Hintergrund eines rötlich-grauenFarbgemischs nimmt eine schwarze

Männergestalt mehr als die Hälfte des Bildesein. Sie kauert, anscheinend auf einem klei-nen Erdhügel, die Beine angezogen und denRücken gekrümmt. Sie ist tief nach vornegebeugt, weil sie etwas schützend in den Ar-men hält und bewahrend an sich drückt. Ineiner Kindergruppe, die das Bild betrachtete,meinten die Jungen, das sei wohl eine Milch-kanne, und die Mädchen glaubten, ein einge-wickeltes Baby zu erkennen. Vordergründighatten beide Recht. Ich deutete ihnen das Ge-bilde als ein Tongefäß mit der Tora, der heili-gen Schriftenrolle gläubiger Juden, den altenMann mit Kopfbedeckung und Bart als Rab-bi, einen jüdischen Schriftgelehrten. Aber wassoll die angedeutete Menschengruppe vorden Häuserschemen rechts und links im Bild-hintergrund und das auffällig blau gemalte

I I'~':~:tlm.lt!ti~

Der Farbdruck von Mare Chagalls »DieKlage des Jeremias« (Seite 64a) ist für dieArbeit in Schule und Gemeinde im Zehner-Set a € 3,80 nachzubestellen beimDKV-Buchdienst, Preysingstr. 97,D-81667 München,Tel.: 089/48092-245, Fax: -237,e-mail: [email protected]

64 KatBI128 (2003) 64-68

Weidentier? Der Schriftgelehrte schaut wieerstarrt vor sich hin und hat keinen äußerenKontakt zu ihnen. Sind diese aber nicht inGefahr? Denn über ihnen breitet sich einfeuerroter Himmel aus, allmählich in eintrauriges Violett übergehend.Anscheinend keine freudige Situation, allesstrahlt Trauer und Beklommenheit aus. Wasauffällt, ist das Gesicht des alten Mannes imBlickmittelpunkt, das keine Panik, sonderntraurige Versunkenheit ausdrückt. Was be-kümmert ihn? Worüber grübelt er? Die auf-leuchtend helle Farbe im dunklen Umfeldverrät: Sein Gesichtsausdruck hat etwas mit

dem Gefäß und seinem bedeutungsvollen,heiligen Inhalt zu tun. Das nimmt ihn ganzgefangen, macht ihn traurig. - Wahrschein-lich liegt hier der Schlüssel zur Bild-bedeutung.

Was beklagt der Prophet?

Mare Chagall nennt sein Bild: »Die Klage desJeremias«. Wer war Jeremias, was hatte er zubeklagen? Jeremias ist 650 v. Chr. geborenund entstammte einer Priesterfamilie im Lan-de Juda. Schon 23-jährig fühlte er sich alsProphet berufen und wirkte von da ab vor-wiegend in Jerusalem. Er kämpfte gegen denreligiösen und sittlichen Verfall seines Volkesan. Wortgewaltig hielt er den Leuten, beson-ders der Oberschicht, ihre Sünden und Ver-gehen vor Augen und warnte sie vor einemnahenden Strafgericht Jahwes: »Denn siesind alle Ehebrecher, eine Rotte von Treu-

Page 2: Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen Die Klagen des Jeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung
Page 3: Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen Die Klagen des Jeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung

.' .-

--Marc Chagall, Rahab und die Kundschafter(Werkverzeichnis Mourlot 244)

Der1. Bibelzyklus »La Bible« von MarcChagall ent-stand 1956 und beinhaltet u.a. 18 Farblithografien mitden männlichen Gestalten der Bibel, wie beispiels-weise )eremias.Der 2. Bibelzyklus »Dessins pour la Bible« entstand1960 und beinhaltet u.a. 24 Farblithographien mit vor-wiegend weiblichen Gestalten der Bibel, u.a. auchRahab.

losen ... Lüge, nicht Wahrheit herrscht imLand ... Ja, sie schreiten von Verbrechen zuVerbrechen... Jeder Bruder betrügt und jederNächste verleumdet - Ein jeder täuscht sei-nen Nächsten, die Wahrheit reden sie nicht... Sie handeln verkehrt, zur Umkehr sind siezu träge... Überall Unterdrückung, nichts alsBetrug ... Frieden sagt man zum Nächsten,doch im Herzen plant man den Überfall«(jer 9,2-7). Dann lässt der Prophet in seinemKlagelied den Herrn fragen: "Sollte ich siedafür nicht bestrafen und an einem solchenVolk keine Rache nehmen?« (jer 9,8). DasUnheil vorausahnend klagt Jeremias: "Er-hebt über die Berge hin Weinen und Klagen,über die Weideplätze der Steppe ein Toten-

lied! Denn sie sind verwüstet, niemand ziehthindurch, und sie hören die Stimme der Her-de nicht mehr. Von den Vögeln des Himmelsbis zum Vieh ist alles geflohen, auf und da-von« (jer 9,9). Vor diesem Hintergrund lässtsich der bekümmerte Gesichts- und Körper-ausdruck des Propheten im vorliegenden Bildso deuten: Jeremias scheint zu resignierenund sieht das Unheil unweigerlich kommen,da sein Volk seine Prophetien nicht ernst neh-men will. Das erschüttert ihn und macht ihnfassungslos.Leider geht die Vision des Jeremias in Erfül-lung. Nachdem er mehrmals den König unddie Oberen seines Landes vor der feindlichenÜbermacht Babyions gewarnt hatte, erhebendiese sich gegen den babylonischen Herr-scher Nebukadnezzar. Der rückt daraufhinsofort an und erobert 597 v. ehr. Jerusalem.Die Mitglieder des königlichen Hofes lässt erverschleppen. Als die Stadt zehn Jahre spätererneut aufmuckt, setzt er sie in Brand, zer-stört den Tempel und schickt alle, die Rangund Namen haben, ins Exil. Jeremias bleibtverschont. Aber er leidet mit seinem Volke,wenn er auch überzeugt ist, dass Gott ledig-lich aus Liebe straft, um sein Volk zur Um-kehr zu bewegen. Folgerichtig verheißt ernun eine hoffnungsvollere Zukunft. Ist auchzur Zeit der Bund Gottes mit seinem Volkzerrissen, so ist doch ein neuer Bund in Aus-sicht: "Spruch des Herrn: Denn das wirdder Bund sein, den ich nach diesen Tagen mitdem Haus Israel schließe. Ich lege meinGesetz in sie hinein und schreibe es auf ihrHerz. Ich werde ihr Gott, und sie werden

Ist es nicht auch denkbar, dass Chagall

selbst in die Rolle des Jeremias schlüpftund stellvertretend für alle Juden die

Katastrophe seines Volkes beklagt?

mein Volk sein... Denn ich verzeihe ihnen dieSchuld, an ihre Sünden denke ich nichtmehr« (jer 31,33-34). Nach Heinrich A.Mertens beruft sich Jesus auf diese Prophetiedes Jeremias, wenn er vom »neuen Bund«spricht.

65

Page 4: Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen Die Klagen des Jeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung

Biblische Irritationen

- Bildwahrnehmungs-Obungen _

-

Wahrnehmungs-Übung:Um ein Bild genauer zu erfassen, ist eineWahrnehmungsübung hilfreich:. Für jede Teilnehmerin, jeden Teilnehmermuss das Bild deutlich sichtbar sein. Nacheinem kurzen Hinsehen schließen alle die

Augen. Der Leiter, die Leiterin gibt Impulsezur Erinnerung an bestimmte Bilddetails inder Vorstellung.. Nach einer kurzen Zeit öffnen alle wieder

ihre Augen und überprüfen die soeben ab-gerufene Vorstellung und korrigieren sie inder konkreten Bildanschauung. Das führt zueinem vertieften Einprägen.. Dann beginnt die zweite Wahrnehmungs-phase nach gleichem Verfahren mit demnächsten Impuls.

KonkreteWahrnehmungs-Impulse:1. Im Vordergrund des Bildes ist ein Manndargestellt. Welche Körperhaltung nimmt erein: Was macht er mit den Armen - mit den

Beinen - mit dem Kopf? Welchen Gesichts-ausdruck hat er?

2. Wie sieht der Gegenstand aus, den derMann in den Armen hält?

3. Was sieht man im Hintergrund des Bildesauf der rechten Seite - auf der linken Seite?

4. Welche Farben kommen im Bild vor: amHimmel- beim alten Mann - bei den Men-

schen, bei den Häusern und dem Tier - in der

Hintergrundfläche des Bildes?5. Wie ist die Linienführung bzw. Strichartdes Maiens: bei dem Mann im Vordergrund -bei den Menschen, Häusern und dem Tier imHintergrund?6. Zum Abschluss sehen wir nun die Gesamt-

komposition des Bildes vor unserem innerenAuge: den Vordergrund - den Hintergrund -die Farben.

Im Anschluss daran lohnt es sich, das Bild ausder Erinnerung ohne Vorlage nachmalen zulassen.

Eine andere Möglichkeit der formalen Bilder-fassung ist ein Abmalen in meditativer Stille.Ist wenig Zeit vorhanden, so genügt auch eineeinfarbige Bildstrukturskizze anhand derBildvorlage.

Ob nun Chagal/ sein Bildmotiv der bibli-schen Klage des Jeremias vor oder nach derZerstörung Jerusalems ansiedelte oder ob erbeide Momente synchronisierte, ist nichtauszumachen, wahrscheinlich auch unerheb-lich. Der Künstler hat das Bild 1956 im Rah-men eines Bibelzyklus gestaltet. Von daherkönnte noch einanderer Deutungsaspekt hin-zukommen: Ist es nicht auch denkbar, dassChagal/ zu diesem Zeitpunkt selbst in dieRolle des Jeremias schlüpft und stellvertre-tend für alle überlebenden Juden die Kata-strophe seines Volkes beklagt? Der die Torawie eine Mutter ihren Säugling schützend festan sich drückt, um sie vor dem Brand derSynagogen und den Flammen der KZ-Gas-öfen zu bewahren? Der in seiner Innenschau

66

die kleine Schar der Übriggebliebenen ab-wartend stehen sieht, jetzt nach dem grausa-men Krieg, vor einem zaghaften Neubeginn?Und die Kreatur, die der Vernichtung entgan-gen ist, hat wieder Lebenschancen, »Weide-land auf Gottes grünen Wiesen« '"

Betrachtet man Chagal/s Kunstwerke derdarauffolgenden Jahre, dann sieht man, dasser wie Jeremias nicht bei seiner Klage stehengeblieben ist. Denn in seinen bunten Bildernbekundet er Lebensfreude, Liebe zum Schöp-fer, Liebe zum Nächsten und zur Kreatur.Nach Christian Rietschel zielte Chagal/ im-mer darauf ab »diese elende Welt als GottesWelt zu verstehen, in deren Winkeln und Rit-zen das überschwängliche Glück der Gottes- -begegnung wartet« (Traudisch-Schröter 12).

Page 5: Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen Die Klagen des Jeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung

Und das ist unschwer in seinen übrigen Bil-dern auszumachen.

Dergläubige JudeMareChagaU

Mare ChagallwarJude,gläubigerJude. 1887wurde er in Witebsk in Weißrussland ge-boren. Die familiären Verhältnisse warenärmlich. Sein Vater arbeitete in einem Fisch-lager, seine Mutter unterhielt ein kleinesLebensmittelgeschäft, beide bemüht, die Fa-milie ernähren zu können. Ihren Lebens-mut schöpften sie aus der mystischen Erwe-ckungsbewegung des Chassidismus, die eineausgesprochen lebensbejahende Tendenz hat.Zu essen hatte die Familie Chagall gerade ge-nug, aber ihre geistige Nahrung schöpftesie überreich aus täglichen Bibellesungen. Sielebte förmlich mit den alttestamentlichenGestalten und Geschichten. Ihre Religiositätund Frömmigkeit waren erheblich mehr alsnur äußere Tradition, sie waren hautnah mitLeben erfüllt: »Nicht die Äußerlichkeit einer

religiösen Handlung, die genaue Befolgungder Gesetze, galten als wichtig, sondern dieinnere Übereinstimmung mit dem Göttli-chen, die Begeisterung und Freude, die denMenschen angesichts der wohlgemeintenWeisungdes ewigen Gottes erfasst« (Trau-diseh-Sehröter12).So ist es nicht verwunderlich, dass die Bibel,genauer gesagt das »Alte« bzw. »Erste Testa-ment« einen Großteil des Chagall'schen Bild-sujets ausmacht. Der Künstler sagt selbst:»Von meiner Kindheit an hat mich die Bibelmit Visionen über die Bestimmung der Welterfüllt. In Zeiten des Zweifels haben ihre

Größe und dichterische Weisheit mich ge-tröstet. Sie ist für mich eine zweite Natur ...«So war es ihm auch ein großes Bedürfnis,heutigen Menschen einen neuen, visuellenZugang zur Bibel zu verschaffen. Er hoffte,dass, durch seine ijibelbilder angestoßen,»alle Menschen, welches ihre Religion auchimmer sei«, vom Traum der biblischen Got-tes- und Menschenliebe sprechen, »abseitsvon allen Feindseligkeiten und Aufregungen,denn in der Kunst sowie im Leben ist alles

möglich, wenn es auf Liebe beruht«. Riet-sehel formuliert das so: »Durch alles Dunkeldieser Welt schimmert für den chassidischFrommen das ewige Licht« (Traudiseh-Schröter 13). Das drückt sich in der Bilder-welt Chagalls aus: in der Lebensfreude desAlltags, in der Fröhlichkeit der Feste undFeiern, in Tanz und Musik und in der zärt-lichen Zuneigung erotischer Liebe.Der Künstler war selbst zweimal 30 Jahrelang jeweils mit einer Russin glücklich ver-heiratet. Als 1944 im amerikanischen Exilseine erste Frau Bella starb, verfiel er in einelanganhaltende, lähmende Trauer, die er, wiedas Bild ja hier zeigt, ebenso kennt wie dieFreude. Man bedenke nur, dass Chagallschonvor Jahrzehnten, in einer männer-kirchlichenUmwelt, in seinen biblischen Darstellungenden Männern der Heilsgeschichte ganz be-wusst auch die Frauen der Heilsgeschichtegegenüberstellte. Das tat er nicht nur 1979in den beiden Bibelfenstern von St. Stephanin Mainz, sondern auch schon in den beidenBibelzyklen der 1950er-Jahre, denen unserhier vorgestelltes Bild zugehört.

"Von meiner Kindheit an hat mich die Bibel

mit Visionen über die Bestimmung derWelt erfüllt. ce

Nun mag es nach allem bisher Gesagten ver-wundern, dass biblische Themen bei Chagallbis 1930 nur selten vorkommen. Das ändertsich erst mit seiner Entdeckung der druck-graphischen ~löglichkeiten, der Radierung,der Gouache und ganz besonders der Litho-grafie, dem farbigen Steindruck. Denn dieseTechnik ermöglichte eine spontanere Arbeits-weise und erlaubte eine größere künstlerischeFreiheit mit unterschiedlichen Mitteln zu ge-stalten, ob nun mit Feder,Stift, Nadel, Kreideoder sogar Pinsel. So ist auch unser Jeremias-bild entstanden: in vier Farbdruckvorgängenvom Stein in rot, blau, gelb und schwarz. Dieletztgenannte Farbe dominiert, weil es dasTrauerthema hier verlangt. Diese Art Grafikerlaubte einen lockeren Zeichenstrich, derhier nur schemenhaft Menschen und Häuser

67

Page 6: Die Klagen des Jeremias - Karl-Franzens-Universität Graz · 2013-04-09 · Biblische Irritationen Die Klagen des Jeremias In den Werken Marc Chagalls spürt man viel von der Erduldung

Biblische Irritationen

andeutet und in der Hauptfigur eine aus-drucksstarke Bewegung erzeugt.1985 starb Chagall in Saint-Paul-de-Vence,seiner südfranzösischen Wahlheimat. Aberseine künstlerischen Werke sind uns geblie-ben: »Mare Chagall hinterließ ein fast un-überschaubares CEuvre,das neben den Ölbil-dern, den Arbeiten auf Papier, den Radier-und Lithografiefolgen, den Bühnen- undKostümentwürfen für das Theater, denWand- und Deckenbildern, den Mosaiken,den Glasfenstern und Teppichen, den Skulp-turen und Keramiken eben auch Dichtungenenthält. Unübersehbar ist die religiöse Di-mension in seinem Werk, zutiefst von seiner(russischen und jüdischen) Herkunft her inihm verwurzelt.« In seinen Werken spürtman deutlich »viel von der Erduldung des

68

Marc Chagall, Das Hohelied(VERVE Bibel 11, Nr. 69)

Dieses Bild gehört zwar zum2. Bibelzyklus Chagalls, ist aberkeine lithografie, sondern eineKohle-, Tusche- und Aquarell-zeichnung.

Schicksals, aber auch von der Hoffnung derMenschheit« (Roland 10 u. 15).

Karl Heinz Königwar Lehrer und Schulleiter in Ber-gisch Gladbach, Fachbereichsleiter im ILFMainz und istMitautor gemeindekatechetischer Werke.

LITERATUR

Chagal/, Mare, Die biblische Botschaft, Genf1973.Mertens, Heinrich. A., Handbuch der Bibelkun-de, Düsseldorf 1966.Roland, Berthold, Marc Chagall, Die Bibel. Aus-stellungskatalog, Landesmuseum Mainz 1990.Traudisch-Schröter, Iris, Marc Chagall, Bilderzur Bibel. Ausstellungskatalog, Kunstbuchgale-rie Wiehl 1992.