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dtv Taschenbücher Die kurze Geschichte der deutschen Literatur von Heinz Schlaffer 1. Auflage Die kurze Geschichte der deutschen Literatur – Schlaffer schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Deutsche Literatur dtv München 2003 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 34022 9

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Erst von 1750 an – lange nach den klassischen Epochen deritalienischen, spanischen, französischen und englischen Li-teratur – entstehen in Deutschland Werke, die zur Weltlite-ratur zählen. Als späte Auswirkung der Reformation undder Aufklärung entwickelte sich die Literatur der klassisch-romantischen Epoche – eine Blütezeit von rund achtzigJahren, gefolgt von einer zweiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hauptgrund für diesen verspäteten Ein-tritt in die Weltliteratur ist, so Heinz Schlaffer, daß inDeutschland »das Mittelalter nicht enden wollte«. Provo-kant, geistreich und pointiert vermittelt Heinz Schlafferneue Einsichten in die Geschichte der deutschen Literatur,die die bisherigen Erkenntnisse der Germanistik gehörigauf den Kopf stellen.

Heinz Schlaffer, geboren 1939, ist Professor für Literatur-wissenschaft an der Universität Stuttgart. Neben litera-turwissenschaftlichen und -kritischen Veröffentlichungenschreibt er regelmäßig Glossen in der ›Frankfurter Rund-schau‹.

Heinz Schlaffer

Die kurze Geschichte derdeutschen Literatur

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte AusgabeJuli 2003

3. Auflage August 2008Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH&Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

© 2002Carl Hanser Verlag München WienDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch

auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.Unschlagskonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: ›Verbum-Photoserie‹ (1999)von Peter Wüthrich

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, AichstettenDruck und Bindung: Druckerei C.H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · isbn 978-3-423-34022-9

Inhalt

Deutsch 7

Mißglückte Anfänge

Das verschollene Mittelalter 22Die verspätete Neuzeit 35

Der geglückte Anfang: Das 18. Jahrhundert

Pfarrersöhne, Musensöhne 54Die neue Sprache 73

Die unsterbliche Poesie 93

Fortgang, Wiederkehr und Ende

Fortgang: Das 19. Jahrhundert 113Wiederkehr und Ende: Das 20. Jahrhundert 132

Geschichte der Literatur 153

Deutsch

Es fällt deutschen Studenten der Sinologie, der Gräzistik,auch der Romanistik und Anglistik nicht schwer, die Wahlihres Faches mit einer besonderen Liebe zur Sprache undLiteratur, zur Kunst und Kultur Chinas, Griechenlands,Frankreichs oder Englands zu begründen. Studenten derGermanistik dagegen weisen die Vermutung, eine Neigungzum vergangenen oder gegenwärtigen Deutschland habe siezu diesem Studium geführt, verstört zurück. Unter Deut-schen, die dem Anspruch auf moralische und politische Inte-grität genügen wollen, sind Liebeserklärungen an die deut-sche Kultur undenkbar, zumindest unaussprechlich. Bereitsin der Schule haben die Deutschlehrer diese Schranke durchzwei einander widersprechende und doch einander verstär-kende Maximen errichtet, die nun für alle öffentlichen Stel-lungnahmen gelten: 1. Das Deutsche gibt es nicht (denn dieVorstellung von Nationalcharakteren ist nur ein Klischee);2. das Deutsche kann nur (falls es vielleicht doch so etwas ge-geben haben und immer noch oder gar wieder geben sollte)von Übel sein.

Wer sich mit deutscher Kultur beschäftigt, muß es beden-kenlos oder kritisch tun. Er darf mit dem Zufall der Geburtund der Erziehung entschuldigen, daß er gerade Deutschspricht und deshalb – als Germanist – deutsche Literaturleichter versteht oder – als Dichter – leichter hervorbringt. Ineine Anthologie deutscher Lyrik im 20. Jahrhundert, Jahr-hundertgedächtnis (1998) genannt, nimmt der HerausgeberHarald Hartung ein programmatisches Gedicht RainerMalkowskis auf, das ein offensichtlich belastetes Gedächt-nis von den Bürden der historischen Erinnerung entlastet

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und es allein an die territoriale Zufälligkeit von Geburt undkindlichem Spracherwerb bindet: »Alles, wonach ich zumerstenmal die Hand ausstreckte, hieß deutsch./ Mein Patrio-tismus beruht auf einer Buchstabenkombination./ Ist dieErinnerung an den Klang, den ein Ding gab, wenn es miteinem Wort zusammenstieß./ Nicht mehr. Nicht weniger./Ich bin mein Gedächtnis – was sonst?« Was sonst? Nichtmehr? Das Gedächtnis am Ende des Jahrhunderts reichtnicht weit zurück. Malkowskis Vorschlag, die Zugehörig-keit zum Deutschen auf das Unvermeidliche, auf die deut-sche Sprache nämlich, zu beschränken, darf als repräsentativgelten: Die guten Deutschen geben sich heute durch die An-strengung zu erkennen, lieber nicht zu den Deutschen zugehören. Leichter fällt es ihnen, Hamburger oder Bayern zusein, die das Gemeinsame, das Deutsche, lediglich als Mittelzur sprachlichen Kommunikation benötigen.

Wenn es das Deutsche gäbe, so müßte es allerdings vonÜbel sein, da es die Anlage zu den Verbrechen des DrittenReichs einschließt. Diese begannen zwar erst 1933 und ende-ten 1945; aber die unbestreitbare Einsicht, daß nichts wirk-lich werden konnte, was nicht möglich war, wirft auf die ge-samte deutsche Geschichte den Verdacht, Vorgeschichte einesungeheuren Verbrechens gewesen zu sein. Wann hat dieseVorgeschichte begonnen? Mit den Freikorps nach 1918, mitdem Antisemitismus um 1900, mit dem Bayreuther Kreis,mit der Verklärung des Volkstümlichen und des Ursprüng-lichen in der Romantik, mit der Wendung von der Auf-klärung zur Innerlichkeit, mit den Bauernkriegen? MitErnst Jünger, mit Richard Wagner, mit Ernst Moritz Arndt,mit Herder oder schon mit Luther? Für und gegen solchefrühen Datierungen eines deutschen Sonder- und Irrwegssind viele Gründe angeführt worden. Zumindest hat die an-haltende Diskussion zur Folge, daß kaum ein Phänomender deutschen Geistesgeschichte von der Vermutung frei-

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gehalten worden ist, es habe, gewollt oder ungewollt, zurVorbereitung des nationalistischen Denkens und national-sozialistischen Handelns beigetragen. Deshalb ist bei denNachgeborenen die Bereitschaft, in einer spezifisch deut-schen Geschichte die Voraussetzung, gar die Prägung dereigenen Existenz zu erkennen und zu akzeptieren, verständ-licherweise gering.

Fluchten vor dem Vaterland heißt eine 1999 bei Wagenbacherschienene Sammlung von Texten, die der intellektuellenNicht-Übereinstimmung mit den deutschen Verhältnisseneine ehrwürdige Ahnenreihe von Kritikern, Verfolgten, Exi-lanten, wirklichen und »inneren« Emigranten verschafft. Sieläßt noch auf die amüsanteren Arten von »Fluchten«, aufFerienreise und Ferienhaus im Ausland, den Abglanz he-roischer Proteste gegen deutsche Identität fallen. Die Sehn-sucht, nicht unter Deutschen sein zu wollen, die »deutscheSelbst-Antipathie«, wie Thomas Mann sie nannte, ist gutedeutsche Tradition. Bereits im 18. Jahrhundert fiel ausländi-schen Beobachtern auf, daß es Deutschen peinlich ist, in derFremde auf Landsleute zu treffen, während etwa Engländerihresgleichen mit Freude begegnen. Andere Nationen wun-derten sich, in welchem Maß die Deutschen gerade dasNicht-Deutsche bewunderten: im 17. Jahrhundert die römi-sche und die französische Kultur, im 18. Jahrhundert diegriechische und die englische – wozu sie freilich Grund ge-nug hatten, da die weltliche Kultur in Deutschland an dieantiken und westlichen Vorbilder nicht heranreichte. Ausdem paradoxen Wunsch, lieber anderswo zu Hause zu sein,gehen um 1800 die geglückte Reihe klassischer Übersetzun-gen und die neue Disziplin einer verstehenden Philologiefremder Literaturen hervor. (Erst im 19. und 20. Jahrhun-dert wurden die Deutschen zu Romantikern ihrer selbstund lebten, von mythisierender Rede berauscht, im eigenenLand, als wären sie in einem fremden.)

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Von der Katastrophe des Dritten Reichs, ihrer Vor- undNachgeschichte, sind die Germanisten und ihre Literaturge-schichtsschreibung in höherem Maße abhängig, als es ihnenselbst bewußt ist. Sie verbergen diese Abhängigkeit hinterder Diskussion von Methodenfragen und weichen damitder Überlegung aus, ob an der deutschen Literatur nichtdoch etwas spezifisch Deutsches sei. Immerhin ist das un-ausgesprochene Problem insgeheim gegenwärtig, indem lite-rarische Abwendungen von Deutschland oder politischeVertreibungen aus Deutschland die besondere Aufmerk-samkeit und Einfühlung der Germanistik auf sich ziehen:von den deutschen Jakobinern bis zu den deutschen Juden.Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich eineauffällige und fast einhellige Umwertung vollzogen: Schrift-steller, deren Stil typisch »deutsch« wirkt, galten nun weni-ger als die, denen dieses nicht genauer zu bestimmendeMerkmal zu fehlen schien; Mörike galt weniger als Heine,Stifter weniger als Fontane. Es muß demnach, wenngleich inder Form der Negation, dennoch eine Vorstellung davon ge-ben, was charakteristisch für die deutsche Literatur sei.Aber diese Vorstellung darf nicht ausgesprochen werden,weil ungewiß ist, ob dann nicht neben den negativen auchpositive Aussagen über jene verdrängten deutschen Zügenötig würden; patriotischer Stolz, diese Vorstufe des Chau-vinismus, könnte die Folge sein.

Gibt es also eine eigentümliche Geschichte der deutschenLiteratur? Bevor noch diese bedenkliche Frage aufkommt,geht ihr die Befürchtung voraus, daß dadurch – unabhängigvon jeder erdenklichen Antwort – nationalistische Klischeesbestätigt würden. Bereits die Frage weckt den Verdacht, einBeleg für die unselige Wissenschaftsgeschichte der Germa-nistik und nicht ein Schlüssel für die Geschichte der deut-schen Literatur zu sein. Alles »Deutsche« in Literatur undKunst wird heute als eine Folge ihrer Rezeption und Inter-

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pretation aufgefaßt und damit beiseite geschafft. Diese me-thodische Wende erlaubt es, deutsche Kunst- und Literatur-geschichte zu betreiben, ohne sagen zu müssen, was daran»deutsch« sei. Befreit atmet Hans Belting, dessen Buch Die Deutschen und ihre Kunst (1992) die falschen Antwor-ten auf eine, wie er annimmt, falsche Frage referiert, im letz-ten Satz auf: »Das Problem, von dem die Rede ist, liegt heutenicht in der deutschen Kunst, sondern in der Geschichteihrer Aneignung durch die Deutschen, von der dieser Essayhandelt.« Der erste Satz in dem von Martin Warnke ver-faßten Band einer Geschichte der deutschen Kunst (1999)braucht daher das Problem, das sich in Nichts aufgelöst hat,nur noch zu nennen, um es für immer abzutun: »DiesesBuch über die deutsche Kunst verwendet nicht einen Satzauf die Frage, was das Wesen deutscher Kunst ausmache.«Absichtsvoll wählt Warnke das früher so beliebte und heuteso kompromittierende Wort »Wesen«: Es ist in der Tat ne-bulös genug, um die Sache, die es mehr verdeckt als enthüllt,absurd erscheinen zu lassen. Niemand möchte heute noch»Wesen« ergründen. Spräche er jedoch von »Eigenart«, sowürde mancher Leser bezweifeln, ob der kategorische Aus-schluß der Frage dem vorliegenden Problem gerecht wird.Wer ein Teilgebiet der europäischen Geschichte der Kunstund Literatur behandelt, eben das deutsche, muß doch an-nehmen, daß es sich durch benennbare Merkmale vom Gan-zen unterscheidet – andernfalls wäre die Beschränkung einesBuchs auf dieses Teilgebiet sinnlos.

Gelehrte ebenso wie populäre Gesamtdarstellungen derdeutschen Kunst gab es bis 1945 in großer Zahl, danachwurden sie – mit gebührendem Abstand – erst wieder in denneunziger Jahren gewagt. Deutsche Literaturgeschichten je-doch entstanden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkriegnicht weniger als davor. Kunsthistorikern gegenüber hattenLiteraturhistoriker den Vorteil, daß sie sich, um ihren Ge-

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genstand abzugrenzen, mit der am wenigsten anstößigenDefinition von »deutsch« begnügen konnten: Pragmatischverstanden, bezeichnet dieses Adjektiv eine bestimmteSprache, in der seit mehr als tausend Jahren auch Dichtunghervorgebracht wurde. Sprache überhaupt und eine Natio-nalsprache insbesondere sind konstitutive Elemente der Li-teratur. Bauwerke und Gemälde hingegen sprechen keineNationalsprache, so daß hier das Merkmal »deutsch« einegrößere Verlegenheit auslöst: Es muß geographisch, histo-risch, kulturell oder biographisch definiert werden. DasKriterium der deutschen Sprache jedoch wirkt sinnfälligund korrekt zugleich, da es auch die Literatur Österreichsund der – von keinem politischen Argwohn verfolgten –deutschsprachigen Schweiz einschließt. In den letzten Jah-ren allerdings verstärkt sich die Neigung, Schweizer undÖsterreichische, ja sogar die Südtiroler Literatur als eigen-ständige Territorien zu betrachten, so daß der Oberbegriffnun »deutschsprachige Literatur« heißen müßte (und beimanchen auch schon so heißt), von der dann die deutschedeutschsprachige Literatur nur eine Unterabteilung wäre.Sprache ist ein notwendiges Unterscheidungsmerkmal derdeutschen Literatur, aber kein hinreichendes. Käme es alleinauf die Sprache an, dann müßten englische oder französi-sche Dichtungen, sobald sie übersetzt sind, dem deutschenLeser wie deutsche Originale erscheinen. Auch verlieren dieWerke Goethes, Jean Pauls, Novalis’ in englischer Versionfür ein englisches Publikum nicht ihre Fremdheit. Es folgteiner ästhetischen Erfahrung und nicht nur einem Vorur-teil, wenn es sie für »typisch deutsch« erklärt.

Auf die Frage, was der Grund solch spürbarer Unter-schiede bei der Lektüre verschiedener Literaturen sei, gebendie in den letzten Jahrzehnten entstandenen Literaturge-schichten keine Antwort, denn keiner ihrer Verfasser schriebeine Geschichte der deutschen Literatur – er arbeitete ledig-

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lich an einer mit. Seit den sechziger Jahren sind, bedingtdurch die Spezialisierung auf immer kleinere Teilbereiche,Literaturgeschichten nichts anderes als mehr oder wenigerheterogene Zusammenstellungen von Beiträgen mehrererSpezialisten, denen je ein historischer Abschnitt von etwazehn bis hundert Jahren zugewiesen wurde. Keiner vonihnen also mußte sich Gedanken über das Ganze machen.Einleitungen zu solchen Sammelbänden begnügten sichdamit, methodische Maximen und organisatorische Schwie-rigkeiten darzulegen. Die Synthese zu einer Gesamtge-schichte der deutschen Literatur bleibt dem Leser überlassen,der jedoch seinerseits meist nur bestimmte Partien aus demein- oder mehrbändigen Werk zu seiner speziellen Unter-richtung auswählt. Unbedenkliche Produktion von Litera-turgeschichten vertrug sich gut mit dem Verzicht auf dieFragestellung, ob die deutsche Literatur über die Inkohärenzeinzelner Epochenabschnitte hinaus nicht doch eine innereKohärenz besitze.

Die Bedeutung der Literatur erschöpft sich nicht in einerGeschichte der Literatur. Da zumindest einige der poeti-schen Werke (ihrer Absicht nach sogar alle) die Zeit, in dersie entstanden sind, überdauern, kann die historische An-und Zuordnung der Autoren nicht der Wirkung ihrerWerke bei der Nachwelt gerecht werden. Gewiß war es eineBornierung der vom historischen Denken des 19. Jahrhun-derts geprägten Germanistik, als ihre vornehmste Aufgabedie geschichtliche Darstellung der deutschen Literatur an-zusehen; und es ist zweifellos ein Gewinn der neueren Lite-raturwissenschaft, daß sie sich, über das Historische hin-aus, auch anderen Aspekten der Dichtung zuwendet: demEinzelwerk, den Gattungen, der Sprache, der Poetik, denInstitutionen der Literatur. Diesen ästhetisch und soziolo-gisch begründeten Aufgaben steht die Gesamtheit der deut-schen Literatur als Anwendungsgebiet zur Verfügung, ohne

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daß sich die alte Aufgabe, die nationale Identität dieses Ge-biets zu erweisen, dabei noch stellen müßte. Man verläßtsich auf die Faktizität der Konvention: Seit dem frühen Mit-telalter gibt es deutsche Literatur (es wird sich zeigen, daßdies eine Erfindung der Germanistik ist), und vor allem gibtes (dies ist keine Erfindung) Professuren und Studiengänge,die nach ihr benannt sind. »Deutsch« meint also in der heu-tigen Literaturwissenschaft nicht mehr als eines der vielenAdjektive, die der als förderlich oder unvermeidlich angese-henen Spezialisierung der Wissenschaften ein Kriteriumder Abgrenzung gegen andere – etwa romanistische, angli-stische – Spezialgebiete liefern.

In der Methodik des Fachs tritt das Wort »national« le-diglich dann auf, wenn es durch die Vorsilbe »inter-« aufge-hoben wird. Die gegenwärtige Germanistik schätzt undprämiert alle internationalen, interkulturellen und interdis-ziplinären Unternehmungen. Die Emphase, mit der sie pro-pagiert werden, läßt ein versteckt wirksames Neben- oderHauptmotiv vermuten: Die Germanistik flieht vor ihrem ei-genen Begriff und der an ihn gebundenen Zumutung, denUmriß des Faches aus der Einheit seines Gegenstandes»deutsche Literatur« herleiten zu müssen. Der englischeHistoriker Timothy Garton Ash hat in seinem Buch ImNamen Europas behauptet, daß die deutsche Politik seit1945 ihre nationalen Interessen nicht mehr offen auszuspre-chen wage und sie deshalb, scheinbar uneigennützig, alsZiele der Europäischen Gemeinschaft verfolge. Eine ähn-liche Strategie leitet die deutsche Literaturwissenschaft: Nurdann darf sie weiterhin vom Eigenen sprechen, wenn sie sotut, als spräche sie nicht davon.

Mit Recht schreckt die Überlegung, ob der deutschen Lite-ratur etwas Spezifisches über ihre Sprache hinaus eigne, vorden falschen Antworten zurück, die solche Überlegungen bis1945 erhielten, ehe sie dann wegen ihrer fatalen Implikatio-

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nen und Konsequenzen verstummten. 1927 hatte EduardWechssler den »Versuch einer Wesenskunde des Deutschenund des Franzosen« unter den antagonistischen Titel Espritund Geist gestellt. »Wesenskunde« beruhte auf der An-nahme, es gebe stabile, durch Rasse, Herkunft, Sprache un-terschiedene Nationalcharaktere, und deren »Wesen« lassesich als innere Einheit in kulturellen Zeugnissen, insbeson-dere der Literatur, feststellen. Dabei mußten die histori-schen Unterschiede vom frühen Mittelalter bis zur Moderneebenso vernachlässigt werden wie die kulturellen Unter-schiede zwischen den oberen und unteren Bevölkerungs-schichten. Literatur war – was die völkische Ideologie nichtwahrhaben wollte – stets das Privileg einer Oberschicht ge-wesen, die sich damit in bewußten Gegensatz zum Ge-schmack des »Volkes« setzte. Zu ihm gelangten nur entstellteTeile der hohen (d.h. den höheren Ständen dienstbaren) Lite-ratur – was nicht ausschloß, daß eben aus diesem »abgesunke-nen Kulturgut« die literarische Produktion der Gebildetenneue Anregungen zog. Lieder der höfischen Gesellschaft imMittelalter wurden zu sogenannten Volksliedern »zersun-gen«, die, in Des Knaben Wunderhorn gesammelt, nun ihrer-seits romantische Gedichte inspirierten, von denen einigewieder den Status von Volksliedern erlangten. Doch diesestäuschende Spiel gegenseitiger Entlehnungen ist noch keinBeweis für die kulturelle Homogenität einer ganzen Nation.Eigentümlichkeiten der deutschen Literatur sind nicht auseinem – lediglich vermuteten – Wesenszug der Gesamtbe-völkerung herzuleiten, sondern aus der Bildungsgeschichteihrer kulturellen Elite. Nur indirekt hängt auch ihre Prä-gung mit der politischen und sozialen Geschichte allerDeutschen zusammen.

Der Versuch, spezifisch deutsche Bedingungen und Ei-genschaften der deutschen Literatur auszumachen, kannsich auf Beobachtungen vor allem angelsächsischer Germa-

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nisten stützen. Sie sind, anders als ihre deutschen Kollegen,nicht durch Ängste und Verbote eingeschränkt; dazukommt, daß für sie die deutsche Literatur fremdartig unddaher erklärungsbedürftig ist. Problemstellungen und Er-kenntnisse, wie sie in Eric A. Blackalls Buch The Emergenceof German as a Literary Language (1959; deutsch 1966), inTheodore Ziolkowskis German Romanticism and Its Insti-tutions (1990; deutsch 1992) und im ersten Band von Nicho-las Boyles Goethe – The Poet and the Age (1990; deutsch1992) zu finden sind, haben in der bundesdeutschen Ger-manistik keine Entsprechung. Man muß in die Zeit um 1930zurückgehen, um von den religionsgeschichtlichen Stu-dien Herbert Schöfflers (besonders in Deutscher Geist im 18. Jahrhundert, 1956 gesammelt) sowie von den formge-schichtlichen Darstellungen Günther Müllers (Geschichtedes deutschen Lieds, 1925) und Gottfried Zeißigs (Die Über-windung der Rede im Drama, 1930) vergleichbare Auf-schlüsse über die deutsche Literatur zu erhalten.

Nicht zufällig sind die genannten Studien auf das 18. Jahr-hundert konzentriert. In einer Spanne von weniger alsfünfzig Jahren gelingt der deutschen Literatur, die bis 1750europäischen Maßstäben nicht standhielt, eine unverhoffteVerwandlung, die bereits um 1800 Bewunderer in England,Skandinavien und Frankreich überraschte. Dieser plötzlicheAufschwung teilt die deutsche Literatur in zwei ungleicheHälften: in eine lange Periode, da literarische Werke entste-hen, die erst durch die Literaturhistoriker der Vergessenheitentrissen wurden und fast ausschließlich ihrem Gedächtnisüberlassen sind; und in eine kurze Periode, in der Werkeentstehen, die zur Weltliteratur zählen und noch heute zumKanon des gebildeten Deutschen gehören, zumindest ge-hören sollten. Zwischen Gottsched und Lessing, zwischenJohann Gottfried Schnabel und Wieland, Hagedorn undKlopstock verläuft diese Grenze. Von ihr aus gesehen, ord-

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nen sich die zwölfhundert Jahre einer Dichtung in deut-scher Sprache zur Vor- und Nachgeschichte eines einzigenfruchtbaren Moments.

Die Kürze dieser Kurzen Geschichte der deutschen Lite-ratur ist zweifach gerechtfertigt: methodisch, insofern siesich auf jene Momente der deutschen Sozial-, Bildungs- undGeistesgeschichte beschränkt, die für die deutsche Literaturfolgenreich waren; sachlich, insofern die Abschnitte, in de-nen eine im literarischen Gedächtnis der Nachwelt aufbe-wahrte Dichtung gelungen ist, in der deutschen Geschichteselten sind und zudem kurz. Was vor 1750 in deutscherSprache geschrieben wurde und unserem modernen Begriffder Literatur entspricht, ist nahezu ausschließlich durch dieDisziplin der Germanistik aufgespürt, veröffentlicht undkommentiert worden. (Einige Kirchenlieder muß man aus-nehmen, die sich ohne akademische Nachhilfe vom 16. und17. Jahrhundert bis in die Gegenwart gehalten haben.) Einverdienter Herausgeber barocker Dichtung weist stolz aufdie Entdeckungen seines Faches auf diesem Gebiet hin:»man denke nur an die Leichabdankungen, die Florilegienund Collectaneen«. Aber von diesen und anderen Speziali-täten der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert ist nichtsins Gedächtnis der Gebildeten eingegangen, die aus dieserEpoche immerhin die Werke Calderóns, Racines, Molières,vielleicht sogar die Robert Burtons und John Miltons gele-sen haben. Zwar kennen sie manchen Titel altdeutscherWerke, aber zu einer wirklichen Lektüre des höfischenVersromans im Hochmittelalter, der didaktischen Dichtungim Spätmittelalter, der Narrenbücher des 16. Jahrhunderts,der Trauerspiele des 17. Jahrhunderts kommt es außerhalbgermanistischer Seminare nicht. Die Ausgrabungen derGermanisten sind lediglich Umbettungen: von den Biblio-theken, in denen die Handschriften und halbverschollenenDrucke schlummerten, gelangen sie über Edition, Kom-

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mentar und Interpretation wieder zurück in die ewige Ruheder Bibliotheken – unter Umgehung der Leser, für die doch,so möchte man annehmen, der mühselige und kostspieligeAufwand gedacht war. Unablässig wächst die Zahl der vonGermanisten bereitgestellten Texte aus vergangenen Jahr-hunderten, während die Zahl der den Lesern bekanntenWerke vergangener Jahrhunderte schrumpft. Viel wird ge-forscht, wenig gelesen. Versteht man unter Nationalliteraturdie Gesamtheit der von einer Nationalphilologie herausge-gebenen Texte, so ist die Geschichte der deutschen Literaturunüberschaubar lang und breit. Versteht man unter Natio-nalliteratur jedoch den Zusammenhang der im literarischenGedächtnis lebendigen Werke, so ist die Geschichte derdeutschen Literatur überschaubar kurz und konzentriert.

Widersprüchlich muß es erscheinen, daß die Deutschenzu den alten Kulturvölkern Europas gehören, im Mittel-alter als Zentralmacht sich auf die Tradition des ImperiumRomanum beriefen, und daß dennoch eine kontinuierlichwirksame literarische Überlieferung erst seit 250 Jahren be-steht. Bei anderen europäischen Nationen besteht sie seit500 Jahren – so in Frankreich, England, Spanien – oder garseit 700 Jahren – so in Italien, wo sich die Erinnerung anDante, Petrarca und Boccaccio bis heute nicht verloren hat.Deutsche Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeithingegen stehen wie eine fremde Literatur mehr außer- alsinnerhalb der literarischen Tradition in Deutschland. Alsletzte unter den westeuropäischen Sprachen, lange nach derportugiesischen und selbst nach der niederländischen (diesich von der hochdeutschen getrennt hat), findet das Deut-sche, von Gottsched auf den Weg und von Goethe ans Zielgebracht, zur allgemein akzeptierten Gestalt einer Litera-tursprache, die dann auch zur grammatischen und stilisti-schen Norm nicht-literarischer Prosa wird. Traditionen sindin der Geschichte der deutschen Literatur so kurzlebig, daß

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sie gar nicht Traditionen heißen dürften. Die Kenntnis alt-hochdeutscher Dichtung geht nach 1150 verloren, die dermittelhochdeutschen nach 1450, die der frühen Neuzeitnach 1770. Die Geschichte der deutschen Literatur bestehtaus einer Serie verlorener Anfänge, ehe es zu einem Anfangkam, der Bestand haben sollte. Die ältesten deutschenWerke, die das literarische Gedächtnis der Gebildeten ohneUnterbrechung bis heute behalten hat, sind Lessings Dra-men, Goethes Werther, einige Gedichte Klopstocks, Bür-gers, Claudius’ und des jungen Goethe. Der von den Litera-turgeschichten suggerierte Zusammenhang einer deutschenLiteratur vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart isteine erfundene Tradition. Sie wurde von Germanisten ebenin der klassisch-romantischen Periode der deutschen Lite-ratur behauptet, um den nationalen Anspruch auf ein uraltesFundament zu stützen. So plötzlich trat im 18. Jahrhunderteine deutsche Literatur von höchstem Rang hervor, daßselbst die Zeitgenossen glaubten, es müßten vergessene Vor-läufer in der deutschen Vergangenheit zu finden sein.

Charakteristisch für die Geschichte der deutschen Litera-tur ist, daß viele ihrer bedeutenden Werke nachträglich erstanerkannt, mitunter überhaupt erst konstituiert wurden –im Unterschied zu Italien, England, Spanien, Frankreich,wo die klassischen Autoren bereits unter den Lebenden ihrPublikum fanden. In Deutschland hat die Mitwelt meistensdie falschen Bücher gelesen. Lichtenberg, Lenz, Novalis,Hölderlin, Kleist, Büchner, Robert Walser, Kafka, Benjaminsind Schriftsteller für die Nachwelt; Philologen mußten die»Werke«, die als solche gar nicht existierten (man denke anLichtenbergs Sudelbücher, Hölderlins Hymnen, BenjaminsPassagen), zusammenstellen und edieren, ehe sie als ein we-sentlicher Teil der deutschen Literaturgeschichte erkanntwurden. Nicht einmal Goethes Spätwerk – vom West-öst-lichen Divan bis zum zweiten Teil des Faust – ist diesem

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Schicksal der diskontinuierlichen Überlieferungs- undWirkungsgeschichte entgangen. Revision der bestehendenRangfolge und Wiedergutmachung historischen Unrechtssind daher bis heute Hauptaufgaben der Germanistik. Obwohl es unzulässig ist, Geschichte im Konjunktiv zuschreiben, drängt dieses Mißgeschick der besten Dichter in Deutschland die Erwägung auf: »Was wäre gewesen,wenn . . .« Was hätte etwa aus der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts werden können, wenn Hölderlin nichtwahnsinnig, Brentano nicht fromm geworden, Kleist, Grabbe,Büchner und Niebergall nicht so früh gestorben, und vorallem, wenn sie vom Publikum ihrer Zeit bemerkt wordenwären?

Die Diskontinuität ihrer Geschichte und die Kürze ihrerGeltung verschaffen der deutschen Literatur höchstens einenegative und formale Einheit: Ihr fehlt gerade, was zum Be-griff einer Nationalliteratur gehört. Es gibt jedoch auch einepositive und innere Einheit der deutschen Literatur, wirk-sam als Reichtum in ihren fruchtbaren und als Mangel inihren dürftigen Zeiten. Diese Einheit wird durch das wech-selnde, doch nie gleichgültige Verhältnis der deutschen Lite-ratur zur christlichen Religion erzeugt, vor allem zu derenmystischen, protestantischen und pietistischen Richtungen(also zu Häresien, die sich behaupten konnten). Keine an-dere geistige Haltung hat die Bildungsgeschichte der deut-schen Intelligenz seit dem Mittelalter und in besonderemMaße seit der Reformation so nachhaltig bestimmt wie dieReligiosität – also nicht die Aura der Höfe, das Stilideal derAristokratie, die empirische Erkundung der Welt, die an-tikisierenden Formspiele und Sinnenfreuden, wie sie dieDichtung in anderen europäischen Ländern prägte. Ver-zichteten die deutschen Dichter auf die intellektuelle Ener-gie religiöser Herkunft, so gerieten sie in einen erborgtenFormalismus; blieben sie in ihrer Nähe, so gewannen sie

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