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74 bergundsteigen 2/13 Die Liste der eingeladenen Gäste für den großen ZDF-Jahresrückblick „Menschen 2012“ war lang und prominent und quoten- fördernd: Ministerpräsident Beck, Halbschwester Obama, Popqueen Loreen, Gewichtheber Steiner, Costa Concordia-Überlebende ... und der Mann, der sechs Tage in der Gletscherspalte überlebt hat. Auf einem aperen Gletscher alleine in eine Spalte zu stürzen, ist alpinistisch gesehen wahrlich keine Glanzleistung. Doch hat der Mann gezeigt, wie ausweglose Situationen gemeistert werden können, und damit nicht nur unsere Alpinmediziner überrascht. Sechs Tage in der Gletscherspalte

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Die Liste der eingeladenen Gäste für den großen ZDF-Jahresrückblick „Menschen 2012“ war lang und prominent und quoten-fördernd: Ministerpräsident Beck, Halbschwester Obama, Popqueen Loreen, Gewichtheber Steiner, Costa Concordia-Überlebende ...und der Mann, der sechs Tage in der Gletscherspalte überlebt hat. Auf einem aperen Gletscher alleine in eine Spalte zu stürzen, istalpinistisch gesehen wahrlich keine Glanzleistung. Doch hat der Mann gezeigt, wie ausweglose Situationen gemeistert werden können, und damit nicht nur unsere Alpinmediziner überrascht.

Sechs Tage in der Gletscherspalte

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von Putzer Gabriel Putzer, Hermann Brugger, Volker Wenzel und Peter Paal

Ein 70-jähriger Rentner aus Bayern war im August 2012 alleineauf einer dreitägigen Rundtour in den Stubaier Alpen unter-wegs, als er unweit des Schrankogels auf dem Längentalfernerin eine Gletscherspalte stürzte. Bis zu diesem Zeitpunkt war derMann nie ernsthaft krank gewesen: Er war Nichtraucher, sport-lich immer aktiv und damit überdurchschnittlich fit für seinAlter. In den von ihm geliebten Bergen war er oft alleine unter-wegs, da es in seinem Alter zunehmend schwieriger wurde,Wanderkameraden in einer ähnlich guten körperlichen Verfas-sung zu finden. Seinen Söhnen hatte er vor der Abreise dieWandertour auf einer Karte eingezeichnet und auch den Stand-ort des geparkten Autos genannt. Eine Rückmeldung seinerseitssollte erst nach Abschluss der Tour erfolgen.Nach einer Nächtigung im Westfalenhaus (Stubaital, Tirol, 2.273m) brach er nach dem Frühstück in Richtung Amberger Hütteauf. Nach etwa zwei Stunden überquerte er den Gletscher,wobei er mit seinen Teleskopstöcken kontinuierlich den Unter-grund auf Trittsicherheit und Schneefestigkeit prüfte. Als ber-gerfahrener Wanderer glaubte er, die Gefahren eines Gletscher-feldes zu kennen.

Erster Tag

Kurz darauf stürzte er plötzlich - wie durch eine Falltür - ca. 10 m in eine Gletscherspalte. Seine Füße und seine Handschuhewaren sofort nass, sein Oberkörper hingegen blieb trocken.Schmerzen hatte er keine, er bemerkte aber, dass er am linkenOhr blutete. Aufgrund schlechter Lichtverhältnisse konnte erkaum etwas sehen, da die Spalte mit einer dicken Schneeschichtbedeckt war. Ein Entkommen aus eigener Kraft schien unmög-

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lich. Er versuchte, mit seinem Mobiltelefon einen Notruf abzu-setzen, jedoch war in der Gletscherspalte kein Empfang undsomit funktionierte auch der Euro-Notruf 112 nicht. Zudem warder Akku bald entladen. Deshalb setzte sich der Bergsteiger mitseinem Rucksack als Unterlage auf eine kleine Schneestufe (ca.40x40 cm). Über ihm hing ein ca. 9 m³ großer Eisblock, hinterihm meinte er Wasser wahrzunehmen und vor ihm war schwar-zes Nichts. Immer wieder plagte ihn Kältezittern. Bewegung waraufgrund der beengten Verhältnisse in der Gletscherspalte nursehr eingeschränkt möglich. Ihm war sofort bewusst, dass esTage bis zu seiner Rettung dauern könnte - wenn es überhauptdazu kommen sollte. Trotz dieser ausweglos erscheinenden Situ-ation geriet er nicht in Panik:

Er rationierte seinen Proviant und rief jeden Tag zwischen 10 und 16 Uhr um Hilfe, weil er sich in diesem Zeitraum diegrößten Chancen versprach, von vorbeikommenden Bergsteigerngehört zu werden. Der Bergsteiger wickelte sich in eine mitge-führte Aluminium-Rettungsdecke (ca. 200x135 cm) ein, stecktedie Hände unter die Achseln und atmete unter seine Jacke undHemd aus, um wertvolle Körperwärme zu recyclen. Die Teleskop-stöcke rammte er in den Boden, um die wichtigsten Sachen auf-zuhängen, damit sie nicht ins Wasser fallen konnten. Zudemstützte er sich im Schlaf auf die Stöcke, um nicht in das Wasseroder das Schwarze Nichts wegzukippen.

Zweiter Tag

Der Durst wurde von Tag zu Tag stärker, bereits ab dem zweitenTag war dies für ihn die größte Qual. Das einzige Trinkbare warGletscherwasser, welches er mit Hilfe seiner Trinkflasche nur amNachmittag aufgrund höherer Temperaturen von tropfenden Eis-zapfen sammeln konnte. Er schätzte seine tägliche Trinkmengeauf 100 ml. Einmal am Tag ließ er Wasser.

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Der Unfallort Der Bergsteiger war alleine unterwegs und stürz-te auf dem Längentalferner (Stubai) in diese Gletscherspalte -wo er sechs Tage verbringen musste.

Pro Tag aß er ein paar Kekse und eine Rippe Schokolade (max.800 kcal/Tag); das Hungergefühl war aber insgesamt wenig aus-geprägt.

Dritter Tag

Am dritten Tag fiel seine Mütze tiefer in die Gletscherspalte,weshalb er sich eine Unterhose um den Kopf wickelte, um nichtzu frieren.

Vierter und fünfter Tag

Ab dem vierten Tag rechnete er nicht mehr damit gerettet zuwerden, und er nahm im Geiste Abschied von seiner Familie.

Sechster Tag

Am sechsten Tag jedoch wurden seine Hilferufe von drei Berg-steigern gehört, welche umgehend die Rettungsleitstelle Tirolalarmierten und somit die Rettungskette in Gang setzten. Beiseiner Bergung durch 12 Bergretter und einen Notarzt schiender 70-Jährige lediglich leicht verletzt, unterkühlt underschöpft; er wurde mit dem Christophorus 1-Notarzthub-schrauber in die Universitätsklinik Innsbruck geflogen.

Klinik

Im Schockraum wurde eine Körperkerntemperatur von 33,5°Cgemessen. Der Bergsteiger war wach und orientiert, hatte einenstabilen Blutdruck von 120/70 mmHg, eine Herzfrequenz von85/min, jedoch Zeichen eines beginnenden Nierenversagens und

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Die Gletscherspalte In dieser mit Wasser Spalte setzte sichder Verunfallte auf seinen Rucksack, wickelte sich mit einerAluminium-Rettungsfolie ein und steckte seine Hände unterdie Achseln, um sie vor der Kälte zu schützen. Zudem atmeteer unter seine Kleidung, um wertvolle Körperwärme zu recyclen. So kühlte er in sechs Tagen nur auf 33,5°C ab und konnte überleben.

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einen ausgeprägten Salzmangel. Zusätzlich hatte er sich beimSturz in die Spalte diverse Knochenbrüche an der Halswirbel-säule, dem Jochbein, mehreren Rippen, am Becken und amOberschenkel sowie eine große Rissquetschwunde am Ohr undzahlreiche Schürfwunden zugezogen, die jedoch nicht operativversorgt werden mussten.

Die Therapie der Unterkühlung, des Salzmangels und des Nie-renversagens erfolgte auf der Intensivstation; bereits nach 48 Stunden konnte er auf eine Normalstation verlegt werden.

Danach

Nach sechs Wochen wurden an beiden Großzehen aufgrunddrittgradiger Erfrierungen Amputationen durchgeführt. Im Rahmen eines Treffens vier Monate nach dem Unfallbeschäftigte ihn der Sturz seelisch noch deutlich, körperlichhingegen war er in einem guten, wenn auch gewichtsreduzier-ten Allgemeinzustand. Das Gehen war aufgrund von Gefühlsstö-rungen an den Füßen beschwerlich, was wahrscheinlich auf Käl-teschäden in der Gletscherspalte zurückzuführen ist.

Fazit

Dieser Fall ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert:

� Es handelt sich um das längste bekannte Überleben in einerGletscherspalte. Bis heute überlebte niemand dokumentiert län-ger als einen Tag in einer Gletscherspalte (vgl. Joe Simpson‘sBuch bzw. Film „Sturz ins Leere“).

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� Der Verunglückte kühlte innerhalb von sechs Tagen trotz ein-geschränkter Bewegungsmöglichkeiten und einer Luftfeuchtig-keit nahe der Wassersättigungskonzentration nur auf ca. 33,5°CKörperkerntemperatur ab. Im Vergleich dazu ist ein Überleben in0°C kaltem Wasser ohne Isolierung nicht einmal für eine Stundemöglich. Wir hätten also auch in der Gletscherspalte eineraschere Abkühlungsrate erwartet, die Rettungsfolie isolierteaber erstaunlich gut.

� Kritischer als der Nahrungsmangel waren Wasser- und Salz-mangel durch den Verlust über Atemluft und Urin. Das nahezusalzlose Gletscherwasser führte über die sechs Tage in der Spal-te zu einer beträchtlichen Störung des Wasser- und Salzgleich-gewichts im Körper.

� Der Sommer 2012 war der drittwärmste seit Beginn der Klimaaufzeichnungen in Tirol im Jahr 1811. Die Lufttemperaturam Gletscher bewegte sich Tag und Nacht stets im Bereich von5-17°C (!) und die Temperatur in der Gletscherspalte war kons-tant um 0°C. Kältere Umgebungstemperaturen hätten die Über-lebenschancen des Bergsteigers wohl deutlich vermindert. EineWoche nach diesem Gletscherspaltensturz kam es zu heftigenSchneefällen am Unglücksort, was ein Überleben zu diesemZeitpunkt sehr unwahrscheinlich gemacht hätte.

Zusammenfassend war die Rettungsfolie wahrscheinlich derausschlaggebende Faktor für das Überleben des Bergsteigers:Durch Rückstrahlung der Körperwärme und Schutz vor Durch-nässung schützte sie den Bergsteiger maßgeblich vor Unterküh-lung und Nässe. In vielen Ländern sind Rettungsdecken vorgeschriebenesBestandteil von Verbandskästen in Kraftfahrzeugen. Aus unsererSicht sollten sie auch Bergsteigern empfohlen werden, um sichbei Unfällen in einer kalten und nassen Umgebung vor einerlebensbedrohlichen Unterkühlung schützen zu können.

Fotos: Alpinpolizei - Hansjörg Knoflacht / Illu: Lisa Manneh �