Die Meyerholdsche Biomechanik im Lichte der ... · 4 Einleitende Worte Im Seminar zur Physik des...

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Körper – Bewegung – Seele – Körper Die Meyerholdsche Biomechanik im Lichte der aristotelischen Physik, unter besonderer Berücksichtigung von Jean-Luc Nancys Corpus Eingereicht von: Sebastian Müller Matrikelnummer: 0402048 Studienkennzahl: 296/317

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Körper – Bewegung – Seele – Körper

Die Meyerholdsche Biomechanik im Lichte der aristotelischen Physik, unter

besonderer Berücksichtigung von Jean-Luc Nancys Corpus

Eingereicht von: Sebastian Müller

Matrikelnummer: 0402048

Studienkennzahl: 296/317

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Vorbemerkung

Um eine bessere Erkennbarkeit der verschiedenen Zitate im Fließtext zu gewährleisten, wur-

den lediglich diese unter Anführungszeichen gesetzt. Im Text angeführte Werktitel von Aris-

toteles, Jean-Luc Nancy oder anderen Autoren wurden unter Kursivschrift angegeben. Wörter,

die mir als wichtig erschienen, oder denen in den jeweiligen Primärwerken eine gewisse Be-

deutung zukommt, wurden ebenfalls durch Kursivschrift hervorgehoben. Kursiv gedruckte

Worte oder Satzteile in direkten Zitaten stammen nicht von mir, sondern aus den jeweiligen

Werken selber. Da sich in den Werken von Aristoteles sehr häufig in Klammern gesetzte

Worte oder Wortgruppen vorfinden, wurden sämtliche von mir eingefügte Änderungen und

Auslassungen in eckige Klammern gesetzt, um dadurch eine bessere Trennbarkeit zu gewähr-

leisten.

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Inhalt

Einleitende Worte 4

Erster Teil: Der aristotelische Körper in der Betrachtung Jean-Luc Nancys 5

Die Grenze des Unbegrenzten – der Ort und sein Körper 6

Grenze und Berührung 8

Grenze in Bewegung und Veränderung 10

Möglichkeit und Wirklichkeit 11

Die Seele – der vollendete Körper 13

Zweiter Teil: Die biomechanische Körperauffassung im Lichte Aristoteles’

und Nancys 16

Zur Genese der Biomechanik 16

Otkas – (Gegen-)Bewegung und Raum 18

Emotion – Bewegtheit in Bewegung 21

Abschließende Worte 23

Literaturverzeichnis 25

Primärliteratur 25

Sekundärliteratur 25

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Einleitende Worte

Im Seminar zur Physik des Aristoteles wurden während des Semesters neben diesem zentralen

Text antiker Naturphilosophie auch Teile der Werke von Wittgenstein und Jean-Luc Nancy

behandelt. Die Motivation, die der hier vorliegenden Arbeit nun zugrunde liegt, ist der Ver-

such, einzelne Aspekte der Physik argumentativ zu öffnen und diese in Zusammenhang mit

einem zwar auch geisteswissenschaftlichen, aber nicht unbedingt philosophischen Thema zu

bringen, welches auf den ersten Blick außerhalb dieses von uns behandelten thematischen

Kontexts liegt. Der Grundansatz dabei ist folgender: ausgehend von der aristotelischen Auf-

fassung, wonach Prinzipien immer „Prinzipien von etwas“1, also einem Etwas zuordenbar

sein müssen, dem sie Prinzip sein können, aus denen etwas entstehen kann (sei es Ortsbewe-

gung, Veränderung oder etwas, das für diese Arbeit sehr wichtig sein wird: Körper), und von

Wielands These, der zufolge Aristoteles „[…] einige Satzformulierungen der konkreten Um-

gangssprache [nimmt] und […] sie gleichsam so lange aneinander [reibt], bis sich gewisse

Prinzipien ergeben[…]“2, dass er also bei der Bestimmung der Anfänge und Beschaffenheiten

verschiedener thematischer Aspekte der Naturphilosophie zunächst betrachtet, in welchen

Arten und Weisen die jeweiligen Sachen in unserer Alltagssprache vorkommen, wie wir also

unmittelbar über eine Sache wie Körper sprechen, um dadurch zu einer vor allem sprachlich

ausdifferenzierten Bestimmung der Beschaffenheit und der Prinzipien des jeweiligen Aspekts

zu kommen, soll die Physik des Aristoteles hier nicht unbedingt als eine Prinzipienphilosophie

(und genauso wenig als eine Naturphilosophie) verstanden werden. Denn aufgrund dieser

Bestimmungen dienen die Prinzipien hier dazu, die Sachen, denen sie Prinzip sind, umfassend

in ihrer jeweiligen Beschaffenheit verständlich zu machen. Und das nicht unbedingt nur im

Sinne ihrer Verwissenschaftlichung, sondern auch im Sinne ihrer sprachlichen Erschließung,

damit man überhaupt in richtiger und ausreichender Weise darüber sprechen kann. Aristoteles

setzt also nicht umsonst in seinen jeweiligen Betrachtungen immer bei den Aussageweisen

der Alltagssprache an. Er fragt auch nicht umsonst nach den Thesen verschiedener Denker vor

seiner Zeit, die Naturphilosophie betrieben haben. Es geht dabei nicht nur um eine etwaige

Widerlegung ihrer Argumente – sondern auch um die sprachliche Freilegung der jeweils be-

handelten Themenbereiche. Insofern soll hier die Physik des Aristoteles grundsätzlich als eine

Art Verständnisphilosophie aufgefasst werden, die nicht nur nach dem Wissen von den natür-

1 Wieland: Die aristotelische Physik. S. 110 – vgl. dazu auch: Aristoteles: Physik. I, 2, 185a8. 2 ebd.: S. 112.

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lichen Dingen fragt, sondern auch danach, wie dieses Wissen – durch den Umstand, dass wir

über Dinge sprechen – eigentlich zustande kommen kann.

Jean-Luc Nancy hat in neuerer Zeit versucht, das aristotelische Denken über Körper,

Ort, Bewegung und auch Seele neu zu erschließen. In seinem Buch Corpus bringt er einem

eine andere, man könnte auch sagen: eigentliche Art des Denkens und des Wahrnehmens des

(eigenen) Körpers und der Seele bei. Und zwar dadurch, dass er zunächst durch diesen

sprachlich dicht verwobenen und schwer durchdringbaren Text in gewohnten Mustern zu

denken und zu sprechen verbietet – um sich dann notgedrungener Weise alles Verständnis

darüber neu zu erdenken. Einige grundlegende Gedanken von Nancy lassen sich in ähnlicher

Art und Weise auch bei Aristoteles finden. Entgegen der Annahmen, die durch die bisherige

Einleitung vielleicht entstanden sein mögen, soll es hier aber nicht um eine sprachphilosophi-

sche Betrachtung der Physik gehen. Der entscheidende Punkt ist: sprechen ist Tätigkeit.

Nicht nur über die Sprache kann man z.B. Körper verstehen lernen, sondern auch und

vor allem durch die Betätigung desselben. Diesbezüglich möchte ich in dieser Arbeit auf eine

Theater-Erneuerungs-Bewegung eingehen, die in Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts

entstanden ist, und die in einem radikal anderen Körperverständnis begründet lag: die Biome-

chanik Wsewolod Meyerholds. Mit der Hilfe Jean-Luc Nancys möchte ich bestimmte Aspekte

der aristotelischen Physik und auch des Werkes Über die Seele mit den theoretischen und

praktischen Grundlagen der Biomechanik in Verbindung bringen – der Begriff des Verständ-

nisses soll dabei leitender Hintergedanke sein, da sich solches nicht nur aus der Sprache, son-

dern auch aus den Erfahrungen praktischer Betätigung ergibt. Kurzum: ausgehend von der

aristotelischen Physik und den neuen Perspektiven in der Betrachtung des Körpers, die durch

Jean-Luc Nancy gewonnen wurden, soll hier eine kleine philosophische Nachbetrachtung der

Meyerholdschen Biomechanik angestellt werden.

Erster Teil: Der aristotelische Körper in der Betrachtung Jean-Luc Nancys

Die Biomechanik, zu deren finaler Erscheinungsform vor allem auch die gesellschaftspoliti-

schen Veränderungen im Zuge der sowjetischen Revolution in Russland beigetragen haben,

ist ein stark körperbetontes Theaterkonzept. Nicht nur auf das kräftigende, auch auf das Trai-

ning der richtigen Bewegungen und des auf einander und auf die Bühne abgestimmten Spiels

ist dabei sehr viel Wert gelegt worden. Dementsprechend möchte ich mich bei der Betrach-

tung der aristotelischen Physik auf die für meinen Arbeitskontext wesentlichen Aspekte be-

6

schränken: den Körper bzw. das Werden oder Entstehen des Körpers, den Ort des Körpers

und die Bewegung des Körpers, hier in Erscheinung tretend als Ortsbewegung. Zusammen-

hängend mit diesem Themenbereich möchte ich auch ein wenig auf die Seele als erste Entele-

chie des Körpers eingehen. Dabei sollen allerdings immer wieder die Betrachtungen Jean-Luc

Nancys zu den jeweiligen Themen ergänzend eingefügt werden, damit so ein möglichst ge-

schlossener Argumentationszusammenhang zwischen den Thesen beider Denker entsteht.

Die Grenze des Unbegrenzten – der Ort und sein Körper

Der Begriff des Körpers lässt sich bei Aristoteles von verschiedenen Kontexten her erschlie-

ßen. Einer dieser Kontexte ist jener Teil der Physik in Buch III, in dem er sich mit dem Unbe-

grenzten beschäftigt. Dabei erscheint es hier als nicht so wichtig, dass er sich zunächst mit

den Überlegungen anderer Philosophen zum Unbegrenzten und mit der Frage, ob es grund-

sätzlich irgendeine „sinnlich wahrnehmbare Größe von unbegrenzter Ausdehnung gibt[…]“3,

auseinander setzt,4 als vielmehr der Umstand, dass die Beschäftigung mit der Frage nach ei-

nem „Körper, unbegrenzt hinsichtlich seines möglichen Anwachsens[…]“5 wichtige Bestim-

mungen für die Beschaffenheit des (beispielsweise menschlichen) Körpers selbst liefert.

Nachdem man von einem Unbegrenzten als Anfangsgrund nur unsinniger Weise spre-

chen kann, scheint es logischer, nach einem eventuellen konkreten Körper zu fragen, der sei-

ner Möglichkeit nach unbegrenzt ausdehnbar ist. Dem setzt Aristoteles allerdings zunächst

Folgendes entgegen: „Ist die Begriffsbestimmung von ‚Körper’ dies: ‚durch eine Oberfläche

begrenzt’, dann kann es ja wohl keinen unbegrenzten Körper geben […].“6 Die Argumente

sind logisch: einen Körper mit unbegrenzter Ausdehnung kann man weder einem bestimmten

Ort zuordnen, noch kann man an ihm irgendwelche Ausrichtungen erkennen; das heißt, es

stellt sich die Frage, wo an solch einem Körper denn Vorne und Hinten, Oben und Unten oder

geschweige denn die Mitte sich befindet. Das wichtige bei einem unbegrenzten Körper ist,

dass er seinem Begriff nach keine Grenze seiner Ausdehnung besitzt. Die Grenze ist aller-

dings wesentliches Bestimmungsmerkmal des jeweiligen Ortes, auf dem sich ein Körper be-

findet, wie noch zu zeigen sein wird. Dementsprechend schreibt Aristoteles dazu: „Alles

Wahrnehmbare ist von Natur aus mit der Eigenschaft ausgestattet, irgendwo zu sein, und es

3 Aristoteles: Physik. III, 4, 204a1 – 2. 4 Mit dieser Frage hängt die Vermutung anderer antiker Denker zusammen, wonach das Unbegrenzte der An-fangsgrund des Entstehens und Werdens von Dingen und Elementen und es deshalb als grundsätzliche Größe sinnlich wahrnehmbar sei. Diese Argumentation erliegt aber schließlich dem Widerspruch, als Anfangsgrund teilbar sein zu müssen, obwohl es als Unbegrenztes per se unteilbar ist und unter Aufrechterhaltung dieser Ei-genschaft zur bloßen Zusatzbestimmung verkommt. Vgl. dazu: Aristoteles: Physik. III, 202b54 – 204a60. 5 ebd.: III, 5, 204b4 – 5. 6 ebd.: III, 5, 204b8 – 11.

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gibt einen bestimmten Ort eines jeden […].“7 Da ein Körper etwas Wahrnehmbares ist, muss

er dementsprechend irgendeinen Ort haben, einen begrenzten Bereich also, durch den er in-

nerhalb der Erde den anderen Körpern, Plätzen und Erscheinungen zugeordnet werden kann,

wodurch er als an diesem Ort sich befindend erscheint.

Auch in dieser Konstellation erweist sich das Unbegrenzte also als nicht möglich.

Dennoch muss es für Aristoteles zumindest in irgendeiner Weise Unbegrenztes geben, da er

sonst vor der Schwierigkeit stünde, beispielsweise für das Phänomen der Zeit Anfang und

Ende suchen, oder die unendliche Teilbarkeit (mathematischer) Körper plausibel erklären zu

müssen.8 In gewisser Weise dreht Aristoteles den Spieß einfach um: „Von der (Raum-)Größe

gilt wie gesagt: In tätiger Wirklichkeit ist sie nicht unbegrenzt; in der Weise von Teilung geht

es wohl.“9 Er betrachtet somit, inwiefern einer Sache das Attribut unbegrenzt in der Art der

Teilung, aber auch in der Art der Hinzusetzung zukommen kann. Man kann nun zwar einem

Körper oder einer Größe unbegrenzt viele Teile hinzufügen, aber trotzdem bleibt es immer

eine begrenzte Größe, und damit innerhalb ihrer Grenzen auch immer durchdringbar. Dersel-

ben Größe oder demselben Körper kann man aber unbegrenzt viele Teile entnehmen, und

diese Teile kann man wieder unbegrenzt teilen. Nach innen also lässt sich ein Körper ins Un-

endliche teilen, wodurch er in seinen Teilen undurchdringbar wird, was laut Aristoteles eine

der verschiedenen umgangssprachlichen Bedeutungen des Wortes unbegrenzt ist.10 In diesem

Sinne kommt er auch zu dem Schluss, „dass ‚unbegrenzt’ das Gegenteil von dem bedeutet,

was man dafür erklärt: Nicht ‚was nichts außerhalb seiner hat’ sondern ‚wozu es immer ein

Äußeres gibt’, das ist unbegrenzt.“11

Aus diesen Beobachtungen lassen sich für den Körper und seinen Ort nicht unwesent-

liche Bestimmungen erkennen. Ein Körper muss also begrenzt sein, damit er einen Ort haben

kann. Wird er allerdings in Teile geteilt, sind diese Teile ebenso Körper wie jener, in dem sie

sich befinden. Indem sie begrenzt sind, können auch sie potenziell einen Ort haben. Ein Kör-

per kann also auch selbst als ein Ort interpretiert werden, der etwas umschließt, gleich einem

Gefäß, das man befüllen kann.12 Daraus ergibt sich die Frage, was Ort bedeuten soll, damit er

nicht als Körper bestimmt ist (dann müsste es auch einen Ort des Ortes als Körper geben, und

das ließe sich unendlich fortsetzen), damit er aber auch seine verschiedenen Erscheinungs-

formen begrifflich erfassen kann (Ort kann auch eine Fläche sein). Wichtig dabei ist, dass der

7 ebd.: III, 5, 205a13 – 15. 8 Vgl.: ebd.: III, 6, 206a18 – 22. 9 ebd.: III, 6, 206a31 – 33. 10 Vgl.: ebd.: III, 4, 204a3 – 13. 11 ebd.: III, 6, 206b53 – 207a1. 12 Vgl.: ebd.: IV, 1, 208b1 – 10.

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Ort zwar als existierende Sache (als Gefäß, als ebenerdige Fläche) ablösbar von dem jeweili-

gen Körper ist, der sich an ihm befindet, dass er aber trotzdem immer Ort von einem Körper

ist. In diesem Sinne spricht Aristoteles auch von Ortsbewegung13, wenn er die Bewegung ei-

nes Körpers meint. Damit ist der Ort allerdings nicht ein Abstraktum, das vom Körper in dem

Sinne abhängig ist, dass dieser den jeweiligen Platz, an dem er sich befindet, zu seinem Ort

macht. Er ist aber auch nicht immer (auch wenn kein Körper an ihm ist) als Ort existierend;

wenn sich auf einer Fläche nichts befindet, ist es eine Fläche, kein Ort. Man könnte den Ort in

seiner gefragten Bedeutung vielleicht als das den Körper immer unmittelbar real Umgebende

bezeichnen, etwas, das einen Körper ständig umfasst, durch dessen Bewegung in seiner Ge-

gebenheit aber ständig wechselt. Diesbezüglich spricht Aristoteles von der „Grenze des um-

fassenden Körpers, <insofern sie mit dem Umfassten in Berührung steht>.“14 Der Ort wird

also durchaus als ein Körper aufgefasst – allerdings gilt es dabei nicht zu vergessen, dass ein

meist unbewegliches körperlich Seiendes als Ort für einen beweglichen Körper dient. Dem-

entsprechend fügt er hinzu, dass „[d]ie unmittelbare, unbewegliche Grenze des Umfassenden

[…]“15 Ort sei. Das heißt, dass auch ein Ort „irgendwo“ ist, aber nicht als Ort, sondern als

„Grenze an dem Begrenzten; denn nicht ‚alles Seiende’ ist an einem Ort, sondern nur der der

Bewegung fähige Körper.“16 Der begrenzte Körper hat also auch deswegen diese Bestimmung

an sich, weil die Grenze des ihn umfassenden Ortes seine eigene Begrenzung ist.

Grenze und Berührung

Im vierten Kapitel des vierten Buches der Physik schreibt Aristoteles über den Ort eines Kör-

pers auch: „Wenn (das Umfasste) […] deutlich getrennt ist (von dem Umfassenden) und in

Berührung (mit ihm), dann befindet es sich unmittelbar innerhalb des (inneren) Randes des

Umfassenden […]; denn die Ränder von sich berührenden (Dingen) sind an der gleichen Stel-

le.“17 Der Körper wird hier nicht als begrenzt aufgefasst, weil er in sich geschlossen und auf

seine Teile abgestimmt ist, und sich deshalb nicht weiter auszudehnen braucht, sondern, weil

ihm durch den Ort als umfassenden Körper seine Grenze gesetzt wird. Dies ist einer der An-

satzpunkte, auf denen Jean-Luc Nancy in Corpus aufbaut. Der Begriff der Grenze ist ein äu-

ßerst prägender Bestandteil dieses Buches. Allerdings fallen gewisse Unterschiede ins Auge.

Es ist zu bemerken, dass bei Aristoteles eine meist klare Aufteilung besteht: der Kör-

per als Ort hat immer eine Grenze und ist als Umfassendes also auch immer ein Begrenzen-

13 Vgl.: ebd.: III, 1, 201a24 – 25. 14 ebd.: IV, 4, 212a7 – 9. 15 ebd.: IV, 4, 212a39 – 40. 16 ebd.: IV, 5, 212b43 – 46. 17 ebd.: IV, 4, 211a50 – 57.

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des; der Körper, der sich an einem Ort befindet, ist immer ein begrenzter, er hat keine Grenze,

sondern eine Begrenzung. Jean-Luc Nancy versucht, diese Unterscheidung zu überwinden

und den angesetzten Gedanken folgendermaßen weiterzuführen: „Sie [die Körper, S.M.] ha-

ben auf der Grenze Statt, als Grenze: Grenze – äußerer Rand […].“18 Ein Körper wird hier

nicht als Begrenztes, sondern selbst als Grenze, und nur als Grenze angesetzt. Nancy entlastet

den Begriff des Körpers, indem er ihn zunächst seiner Teile und Gliedmaßenstruktur, sowie

seiner Beschreibung und seiner Besprechung, also seiner Körpersprache,19 entledigt.20 Sein

Inneres (seine Organe, seine Glieder, seine Muskeln) wird zu einer bloßen Ansammlung von

Knochen und Fleisch. Übrig bleibt die Grenze, das Äußere, bis zu dem Nancy den Körper im

wahrsten Sinne des Wortes getrieben hat.

In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der Haut21 besonders wichtig. Als sol-

che wird nämlich der Körper selbst als eine Art Ort etabliert:

Die Körper sind nichts Volles, kein gefüllter Raum (Raum ist überall gefüllt), sie sind offener Raum, d.h. in gewisser Hinsicht eigentlich räumlicher Raum, viel mehr als geräumiger Raum, oder auch das, was man als die Stätte bezeichnet. Die Körper sind Existenz-Stätten, und es gibt keine Existenz ohne Stätte, ohne Da, ohne ein „Hier“, ohne ein „Sieh-hier“ für das Dies.22

Nancy höhlt den Körper quasi aus, er wird dadurch aber kein befüllbares Gefäß, sondern eben

jene Stätte, die er auch als räumlichen Raum bezeichnet, als Raum, in dem man sich ent-falten

kann. Man braucht Räumlichkeit zur Ausdehnung, bis man an eben jenen Raum stößt (so wie

der Körper ist auch der Raum Grenze). Insofern ist an ihm als Grenze Existenz, und zwar im

Sinne des Ex. Der Körper ist eine Existenz-Stätte, weil er seiner inneren Ansammlung die

Möglichkeit eines Außen gibt. Darauf soll allerdings später noch genauer eingegangen wer-

den. Wichtig in diesem Zusammenhang ist lediglich, dass ein Körper „[…] Ausdehnung [ist].

Ein Körper ist Exposition. […] Und um exponiert zu sein, muss er ausgedehnt sein.“23 Er

muss also Aus-Stellung, Äußeres, sein, so liegt an ihm auch die Möglichkeit der Berührung,

des Berührens und des Berührt-Werdens. Genau diese Bestimmung kommt auch der aristote-

lischen Auffassung des Ortes zu. Indem also der Ort genauso Körper ist, wie der, den er be-

rührt, ist nicht der Ort begrenzend und der Körper begrenzt; sondern beide Seiten sind Grenze.

Und indem der Körper ein Äußerstes sein muss, um Existenz-Stätte sein zu können (die als

18 Nancy: Corpus. S. 20. 19 Der Körper soll also nicht im Sinne seiner spezifischen Anatomie beschrieben, und auch nicht als ein mit Bedeutung aufgeladenes Zeichen besprochen werden, da ihn dies zu einem bloßen Sprachrohr für ein vermeintliches seelisches Inneres degradiert. Vgl. dazu: Nancy: Corpus. S. 25. 20 Vgl.: ebd.: S. 9 – 23. 21 Vgl.: ebd.: S. 18, sowie S. 32 – 35. 22 ebd.: S. 18. 23 ebd.: S. 107.

10

solche als ein Da bezeichnet werden können muss, was ihr nur als Außen selbst, als Haut,

möglich ist), hat er seinerseits etwas Ort-haftes an sich. Im Sinne Nancys steht sich hier also

Beides in gleicher Weise gegenüber. Sowohl Umfassendes, als auch Umfasstes sind Körper,

somit Grenze. Sie berühren sich aber nicht im Sinne des Ausdrucks Grenze an Grenze. Viel-

mehr ist die Grenze selbst Berührung.

Grenze in Bewegung und Veränderung

Was soll das bedeuten? Nicht, dass, wenn sich Körper berühren, sie beide zu einer Grenze

verschmelzen. Auch nicht, dass ein Körper ständig mit etwas in Berührung ist (was natürlich

rein physikalisch selbstverständlich ist, da die Bodenlosigkeit – das Fehlen des Ortes – unend-

lichen Fall bedeuten würde). Aber es bedeutet durchaus, dass der Körper im Berühren eines

anderen Körpers sein äußerstes Außen erreicht. Er fällt an den Anderen, er verliert sich an

ihm; indem er einen Körper berührt, spürt er ihn und fühlt sein Außen. Als Berührender ertas-

tet er sich den anderen Körper, als gleichsam Berührter spürt er sich selbst als Außen. Anders

gesagt: „Ein Körper, das ist das, was die Grenzen bis zum Äußersten treibt, indem er im Dun-

keln tappt, tastet, also berührt. Erfahrung von was? Die Erfahrung des ‚Sich-Spürens’, die

Erfahrung, an sich selbst zu rühren.“24 Beide Körper sind sowohl berührend, als auch berührt.

Im Berühren erreicht man im wahrsten Sinne des Wortes sein Außen durch das Sich-Spüren,

doch man stößt auch an sein Äußerstes im Spüren des Anderen. Körper machen keineswegs

halt vor der Grenze anderer Körper (bei sich selbst als Grenze könnte man ohnehin niemals

Halt machen), im gegenseitigen sich Berühren erschließen sie andere Körper als Außen. Es

kommt so zu Grenzverschiebungen, zu Grenzerweiterungen und zu Grenzbewegungen – viel-

leicht hat Nancy dies bereits zuvor mit dem Begriff des offenen Raumes ausgesagt. Das soll

obiger Satz nun bedeuten: Grenze ist Berührung, weil Berührung selbst die äußerste Grenze

ist. Und diese Grenze, diese Berührung, ist die Stätte, in der die Bewegung des Körpers be-

gründet liegt. Bleibt man ganz bei Aristoteles, so ist die Grenze des Ortes als einem festen,

unbeweglichen Körper immer jener Grund, an dem sich ein beweglicher Körper abstoßen und

weiter bewegen kann.25 Und auch bei jeder anderen Bewegung eines Körpers muss dieser

entweder eine Berührung aufgeben, oder etwas Anderes wieder berühren. Andererseits liegt

im sich Spüren zweier Körper, in genau dieser Grenze, der Grund für das gegenseitige Bewe-

gen nach dem Schema von Aktion und Reaktion. Dieses hier herausgearbeitete Moment soll

an späterer Stelle nochmals aufgegriffen werden.

24 ebd.: S. 124. 25 Ein Ball zum Beispiel, wenn man ihn auf den Boden fallen lässt, wird von diesem abgestoßen und springt wieder auf.

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Über diesen Berührungszusammenhang schreibt Aristotetels in zwar nicht unähnlicher

Weise, aber doch in einem anderen thematischen Kontext: „Veränderung (ist) Zum-Ziel-

Bringen des Veränderbaren, sofern es veränderbar ist; dies geschieht aber durch Berührung

mit dem in Veränderung Setzenden, so dass also gleichzeitig auch dieses etwas erfährt.“26 Der

Begriff der Veränderung meint hier nicht nur eine qualitative Veränderung, sondern auch die

Bewegung von Körpern. Er spricht also auch davon, dass ein bewegbarer Körper durch einen

anderen bewegt werden kann, indem er von diesem berührt wird. Wichtig sind diesbezüglich

auch die Begriffe der Einwirkung auf Seiten des Verändernden, und ihres Erleidens durch das

Veränderte (wahrscheinlich resultiert daraus die spätere Unterscheidung von Begrenzendem

und Begrenztem bei der Ortsdefinition).27 Dieses Erleiden birgt eben jenes Zum-Ziel-Bringen

in sich, also jene Verwirklichung, in der ein bewegbarer Körper (welcher der Möglichkeit

nach Bewegung an sich hat) durch Einwirkung, durch Berührung eines Bewegenden zu seiner

Wirklichkeit als sich bewegender Körper gelangt. Es soll allerdings nicht der Eindruck entste-

hen, als würden diese Begrifflichkeiten schlicht vorausgesetzt. Vielmehr eröffnet sich hier ein

ganz anderer Kontext. Denn die Veränderung meint nicht nur das Verändern von Eigenschaf-

ten oder die Bewegung von einem Ort zum anderen; sondern auch ganz grundsätzlich Verän-

derung, im Sinne des Entstehens und Werdens von Dingen. Mit Werden und Verändern hat

Aristoteles zwei grundlegende Begriffe eingeführt, mit denen er alle Phänomene des Wech-

sels der Zustände, der Veränderung von Eigenschaften und Attributen, der Bewegung im wei-

testen Sinne, oder in weitest möglicher Auffassung schlicht das Anfangen und Fortschreiten

der Evolution umfassen kann. Veränderung ist gewissermaßen immer eine Art Werden, das

als Veränderung immer zwischen einem Gegensatzpaar stattfindet (von einem Samen zur

Pflanze, von einem Baumstamm zum Zahnstocher, von einem bunten zu einem einfärbigen

Ding, von einem Hier zu einem Dort). Diese Veränderung muss sich natürlich an etwas voll-

ziehen, das den beiden Gegensätzen zugrunde liegt und sich von einem zum anderen verän-

dert – in diesem Sinne kann man die Bewegung als die Wirklichkeit eines bewegbaren Kör-

pers betrachten.28 Doch mehr dazu im folgenden Kapitel.

Möglichkeit und Wirklichkeit

Wenn etwas Veränderndes verändernd auf etwas Veränderbares einwirkt, gilt es zu beachten,

dass dabei die Tätigkeit des Einwirkens und die Tätigkeit des Erleidens den im Grunde selben

Vorgang bezeichnen, der in der oben dargebrachten Aussage Aristoteles’ an der Berührung

26 Aristoteles: Physik. III, 2, 202a13 – 17. 27 Vgl.: ebd.: III, 202a – 203a. 28 Vgl. zu diesen Ausführungen: ebd.: I, Kap. 6 – 9, sowie III, Kap. 1 – 3.

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Statt hat. Es lässt sich kein sauberer Schnitt machen – das Verändernde wirkt nicht nur, das

Veränderbare leidet nicht nur. Dies fällt schon deutlicher auf, wenn man die Begriffe ange-

sichts der Tatsache, dass es sich bei der Veränderung um einen stattfindenden Vorgang han-

delt, spezifiziert: das Verändernde verändert das sich Verändernde. Außerdem trägt nicht nur

das Veränderbare die Möglichkeit des verändert Werdens in sich, sondern das Verändernde

trägt vorher die Möglichkeit des verändernd Seienden in sich. Einem Veränderungsprozess ist

also Alles unterworfen, das in irgendeiner Weise damit in Zusammenhang steht: das Verän-

dernde verändert sich genauso zu seiner Wirklichkeit als Veränderndes hin, wie das Verän-

derbare zu seiner Wirklichkeit als Verändertes. Im Grunde kommen also beiden Seiten dieser

Konstellation das Attribut des Verändert-Seins zu.29

Der Begriff der Veränderung ist bei Aristoteles also weit gefasst und betrifft alles Sei-

ende dieser Welt, das sich irgendwie verändern kann – nicht umsonst erwähnt er, dass „[es]

von Veränderung und Wandel […] so viele Formen wie von ‚seiend’ [gibt].“30 Dem gemäß

lassen sich also alle Zustände vor und nach einem Veränderungsprozess dem allgemeinen

Gegensatzpaar von Möglichkeit und Wirklichkeit zuordnen, zwischen dessen Enden sich eine

Veränderung vollzieht:

Indem nun in jeder Gattung genau getrennt sind das eine als „in angestrebter Wirklichkeit da“, das an-dere als „der Möglichkeit nach vorhanden“, so (gilt): Das endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist (entwickelnde) Verände-rung; […]31

Die jeweilige Möglichkeit ist mit dem Wort insofern behaftet. Das bedeutet, dass sich z.B. ein

Körper nicht einfach irgendwie verändern lässt, sondern dass die Möglichkeit zur Verände-

rung immer schon auf eine bestimmte Wirklichkeit vorausdeutet, das heißt, dass der Körper

die Möglichkeit zu einer bestimmten Wirklichkeit in sich, oder besser gesagt, an sich haben

muss.32 Die Möglichkeit bestimmt, weil sie auf eine mögliche Richtung einschränkt, insofern

ist die Wirklichkeit eines Körpers die Summe aller bisher verwirklichten Möglichkeiten. Man

darf allerdings nicht dem Trugschluss erliegen, dass der Körper in seinen Möglichkeiten die

Gründe eigenständiger Entwicklung hat: „Es muss etwas den Gegensätzen zugrunde liegen,

und die Gegensätze müssen zwei sein.“33 Vielmehr muss also etwas der Möglichkeit zugrunde

29 Vgl. zu den Ausführungen dieses Absatzes: ebd.: III, Kap. 3. 30 ebd.: III, 1, 201a11 – 12. 31 ebd.: III, 1, 201a13 – 17. 32 Wenn man beispielsweise einen Körper verletzt, oder ihm gar ein Gliedmaß entfernt, geschieht dies im Sinne einer eigenständigen Entwicklung nicht seiner Möglichkeit nach. In dieser Situation wird ein Körper verändert, obwohl er diesbezüglich nicht veränderbar ist, daher spricht man – weil er entgegen seiner Möglichkeit verändert wird – dabei auch von einer Gewalteinwirkung. 33 ebd.: I, 7, 191a7 – 8.

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liegen, an dem sie sich verwirklichen kann. Daher sind die Möglichkeit und das Zugrundelie-

gende eigentümlich miteinander verwoben, da die Möglichkeit nicht für sich selbst bestehen

kann, sondern immer als mögliche Wirklichkeit in jenem Zugrundeliegenden vorhanden sein

muss. Dementsprechend unterscheidet Aristoteles zwischen dem Stoff, der sich der Möglich-

keit nach auf bestimmte Weise verwirklichen kann, und der Form bzw. Entelechie als die

vollendete (verwirklichte) Möglichkeit.34 In einem anderen grundlegenden aristotelischen

Werk, Über die Seele, wird der Form statt dem Stoff der Begriff der Materie gegenüberge-

stellt. Damit ist nun ein entscheidender Schritt getan.

Die Seele – der vollendete Körper

Denn wenn man die Entelechie als das vollendet Sein der Möglichkeit betrachtet, stellt sich

angesichts eines menschlichen Körpers die Frage, wann dieser als vollendet betrachtet werden

kann. In diesem Fall müsste nämlich das Beispiel der Pflanze, die aus einem Samen entsteht,

auch darauf übertragbar sein: ein befruchtetes Ei, das der Möglichkeit nach zu einem mensch-

lichen Körper wird. Angesichts dessen, dass ein Mensch bis zu seinem Tod einer körperlichen

Entwicklung unterliegt, durch die er vom Baby zum Kind, vom Kind zum Erwachsenen, vom

ausgewachsenen zum alternden und schließlich zum toten Menschen wird, ist allerdings nicht

klar zu bestimmen, wann die Möglichkeit eines menschlichen Körpers als vollendet bezeich-

net werden kann. Einen toten Körper als Vollendung anzusetzen birgt die Schwierigkeit in

sich, dass es sich beispielsweise bei einer Totgeburt zwar um einen toten Körper, aber nicht

um einen seiner ursprünglichen Möglichkeit nach ausgewachsenen Körper handelt. Diese

Frage nun betrifft in gleicher Weise auch die Tiere und Pflanzen und alle anderen Körper, die

in irgendeiner Weise im Sinne von körperlicher Entwicklung leben.

Aristoteles führt in Über die Seele einen weiteren Begriff ein, und versucht, dieses

Problem zu lösen:

Wir nennen nun eine Gattung des Seienden das Wesen (Substanz), und von diesem das eine als Materie, das an sich nicht dieses bestimmte Ding da ist, ein anderes aber als Gestalt und Form, nach welcher et-was schon ein bestimmtes Ding ist, und drittens das aus diesen (beiden Zusammengesetzte). Die Mate-rie ist Potenz/Möglichkeit, die Form aber ist Vollendung (Entelechie) […]. Leben nennen wir sowohl Ernährung, als auch Wachstum und Schwinden. Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, ein Wesen (Substanz), und zwar im Sinne eines zusammengesetzten Wesens.35

Er bestimmt hier also sowohl das Zusammengesetzte, als auch die Form, als auch die Materie

als jeweils eine Art Wesen. Man darf nicht vergessen, dass in diesem Werk das Schema der

34 Vgl.: ebd.: I, Kap. 8 – 9, sowie III, Kap. 1 – 3. 35 Aristoteles: Über die Seele. II, 1, 412a5 – 21.

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Veränderung mit der Betrachtung der Seele gekoppelt wird. Diesem Sachverhalt kann man

mehr Verständnis entgegen bringen, wenn man davon ausgeht, dass Aristoteles mit einem

beseelten Körper einen lebensfähigen Körper meint, der eben am Leben teilhat, also sich ent-

wickeln kann, wofür er sich allerdings ernähren muss (er hat also eine gewisse Aktivität an

sich). Die Seele ist also dasjenige Wesen, das einen Körper zu leben befähigt; durch sie ist er

im Stande ein lebender Körper zu sein. Allerdings ist sie damit nicht der Materie zugeordnet,

die ja das zugrunde liegende Wesen ist und nur die Möglichkeit des Lebens an sich trägt. In-

dem die Seele den Körper befähigt, macht sie ihn lebend, sie bestimmt ihn als solchen. Auf

den zweiten Blick lässt sie sich also dem Wesen der Form zuordnen.36 Als solche „[ist] [d]as

Wesen aber Vollendung (Entelechie). Also ist sie Vollendung eines solchen Körpers.“37 Die

Seele ist also die Vollendung, das zur Wirklichkeit Kommen eines Körpers, der seiner Mög-

lichkeit nach Leben hat. Als Entelechie ist sie demnach Wirklichkeit, die Wirklichkeit eines

lebendigen Körpers. Aristoteles bestimmt die Seele nun als „die erste Vollendung eines natür-

lichen, organischen Körpers.“38 Die Seele ist erste Vollendung eines Körpers. Nicht im Sinne

einer höchsten Vollendung, sondern im Sinne eines ersten Zustande-Kommens. Damit lässt

sich nun auch die obige Fragestellung beantworten. Die Seele als erste Vollendung eines or-

ganischen Körpers, das ist zunächst einmal die Vollendung eines Körpers, der lebt. An diesem

Punkt kann ein Körper als vollendet betrachtet werden, nämlich als Körper, welcher die Anla-

gen dafür hat, nicht nur zu leben, sondern ein Leben zu führen im Sinne einer weiteren zielge-

richteten Entwicklung.

Bisher wurden verschiedene Bestimmungen des Körpers aufgezeigt. Er ist nicht unbe-

dingt begrenzter Körper, als vielmehr selber Grenze, der in gleichberechtigter Weise mit dem

ihn Umfassenden in Berührung steht; er ist ein zur vielfachen Veränderung fähiger Körper,

der aber genau dafür als Grenze, als äußerstes Außen, offen sein muss; er ist seiner Möglich-

keit nach Wirklichkeit und befindet sich als Stoff in einem ständigen Verwirklichungsprozess.

Mit der Seele hat er aber nun etwas an sich, von dem nicht ganz klar ist, ob man es als ewiges

Lebensprinzip, das sich im Körper befindet, auffassen soll, oder als etwas anderes. Bei der

Betrachtung des Werkes Über die Seele, von der Jean-Luc Nancy sagte, dass Aristoteles „in

dieser Abhandlung […] ausschließlich vom Körper[…]“39 spreche, wurde die Antwort dieser

Frage bereits angedeutet – die Seele ist die Wirklichkeit eines lebendigen Körpers. Das macht

es auch möglich, über den Grenz-Körper als die Seele zu sprechen:

36 Vgl.: ebd.: II, 1, 412a21 – 28. 37 ebd.: II, 1, 412a28 – 30. 38 ebd.: II, 1, 412b5 – 7. 39 Nancy: Corpus. S. 110.

15

Indem ich „über die Seele“ sagte, wollte ich einfach folgendes sagen: „über die Seele“ oder „über den Körper außerhalb von sich“. Wenn der Körper nicht Masse ist, wenn er nicht verschlossen und von sich durchdrungen ist, so ist er außerhalb von sich. Er ist das Außerhalb-von-sich-Sein. Und darum handelt es sich bei dem Wort „Seele“.40

Der Körper ist keine Masse. Man fühlt sich an jenes aristotelische Argument erinnert, demzu-

folge eine Größe, der ständig ein Teil hinzugefügt wird, trotzdem immer durchdringbar bleibt,

während sie durch unbegrenzte Teilung nach Innen undurchdringlich wird. Eine Masse ist von

sich durchdrungen. Nancy spricht hier vor allem jenen Kontext an, der einen Körper als Zei-

chen, als Offenbarungsebene für jegliche Art innerer psychischer oder gesundheitlicher Gege-

benheiten, auffasst. Von der Oberfläche weg wird das verschlossene Subjekt dahinter voll-

kommen durchdrungen. Hier wird allerdings eine andere Auffassung etabliert: ein Körper als

Grenze, als Außen, ent-schließt sich, indem er außerhalb seiner ist, wodurch er sein mögliches

Sein als Masse verschließt. Das Subjekt befindet sich nicht im Körper und ist auch kein Meta-

Körper, es ist schlicht Körper. Als Subjekt erfährt sich der Körper, indem er sich als Körper

erfährt, also als jenes Außen, das er nur außerhalb von sich erfahren kann: „Ich berühre mich

mit der Haut. Und ich berühre mich von außen, ich berühre mich nicht von innen.“41 Der vor-

her schon angesprochene Kontext der Erfahrung seiner selbst als Außen durch die Berührung

mit einem anderen Körper wird also noch erweitert durch den Aspekt der Selbstberührung.

Ein Körper erfährt sich selbst als Außen, als Subjekt, indem er sich von außen als Äußeres

berührt.42 Dieser Aspekt ist grundlegend, um den Zugang zu sich selbst als Individuum zu

finden. Erst durch sein Außerhalb-von-sich-Sein wird der Körper zu diesem Körper, zu einem

Dieses-Hier.43 Schon bei Aristoteles ist die Seele nicht als abgesondert vom Körper oder als

Wesen im Sinne einer eigens für sich existierenden Idee gedacht. Sondern als die Vollendung,

als die Wirklichkeit eines Körpers; demnach wird sie bei Nancy zum Körper selbst, insofern

er außerhalb von sich ist, sich also spürt: „Körper meint ganz genau die Seele, die spürt, dass

sie Körper ist.“44 Die Selbstbeziehung ist hier radikal als Erfahrung seiner selbst als Außen

durch sich selbst als Außen gedacht. Insofern „[bedeutet] ‚über die Seele’ nur: ‚über die Be-

ziehung des Körpers zu sich selbst’, insofern es eine Außenbeziehung – Außen-Sein – ist.“45

Auf den Punkt gebracht ist mit dem Begriff der Seele der Körper selbst, als dieses Außen-

40 ebd.: S. 110. 41 ebd.: S. 115. 42 Vgl.: ebd.: S. 114f. 43 Vgl.: ebd.: S. 113f. 44 ebd.: S. 119. 45 ebd.: S. 111.

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Sein, als Grenze, gemeint. Und somit hat diese Arbeit ihren argumentativen Mittel- und Wen-

depunkt erreicht.

Zweiter Teil: Die biomechanische Körperauffassung im Lichte Aristoteles’

und Nancys

Durch Aristoteles und Nancy hat sich die Beschaffenheit der Seele nicht als ein ewiges, im-

materielles Lebensprinzip, das von einer Meta-Ebene aus agiert, sondern als der von außen

her auf sich bezogene Körper selbst erwiesen. Die im ersten Teil erarbeiteten Argumente sol-

len nun auf die Grundlagen und Prinzipien des biomechanischen Schauspielstils angewendet

werden. Den einzelnen Aspekten der bisherigen Arbeit – Körper, Ort, Bewegung und Seele –

gemäß, sollen durch die Interpretation der jeweiligen Grundargumente der Biomechanik die

verschiedenen Entsprechungen oder Ähnlichkeiten gesucht werden. Um ein grobes Verständ-

nis von dieser Schauspieltechnik zu gewinnen, sind dazu einige Vorbemerkungen zu ihrer

Entwicklung und Geschichte nötig.

Zur Genese der Biomechanik

Auch wenn sich der Begriff der Biomechanik erst im sowjetischen Russland der 1920er-Jahre

entwickelt, so fand doch bereits vor dem zweiten Weltkrieg die wesentliche Vorarbeit für

diese Schauspielpraxis statt. Wswewolod Meyerhold beginnt nach ersten gescheiterten Expe-

rimenten um die Jahrhundertwende, bereits in den 1910er Jahren mit einigen Schülern und

Schauspielerkollegen in einem dafür eingerichteten Studio an einem neuen Schauspielstil zu

arbeiten, der die überkommenen Praktiken überwinden sollte. Zu dieser Zeit hatte sich mit

dem Moskauer Künstlertheater unter der Leitung von Konstantin Stanislawski und seinen

Aufführungen der Stücke Anton Chéchovs eine sehr starke und angesehene Plattform für das

naturalistische Theater gebildet. Dieses Theaterkonzept legte es darauf an, die Stücke dem

Publikum so realitätsgetreu wie möglich nahe zu bringen, was für Schauspieler bedeutete, die

Emotionen, die sie ihren Rollen gemäß darstellen sollten, nicht nur zu spielen, sondern auch

wirklich zu fühlen. Meyerhold, der zuerst mit Stanislawski zusammen arbeitete, war bereits

sehr früh von dem Gedanken geleitet, dass es sich bei einer Theateraufführung nicht um Rea-

lität, sondern um Kunst handeln, und daher auch der Artefakt-Charakter im Vordergrund ste-

hen sollte. Das verlangte nach einem Schauspielstil, der nicht dem Trugschluss erlag, realis-

tisch zu sein, indem man so emotional wie möglich auftrat, sondern der charakteristische

17

Handlungsabläufe schematisierte und in kompakter, aufeinander abgestimmter Bewegung auf

die Bühne brachte. Voraussetzung dafür war eine genaue Kenntnis der Fähigkeiten seines

eigenen Körpers und das Trainieren desselben, um zum richtigen Zeitpunkt auf die von einem

Schauspielpartner angedeutete Spielsituation reagieren zu können. Ein weiterer wichtiger

Punkt war die Arbeit am Rhythmus und der Musikalität der Sprache. So wie die Bewegungen

aufeinander, so sollte auch das Sprechen auf diese und auf den Verlauf des Stückes abge-

stimmt sein. In dieser Zeit des Experimentierens beschäftigte sich Meyerhold mit einer we-

sentlichen Theatertradition des 16. und 17. Jahrhunderts, die durch die Herausbildung des

bürgerlichen Trauerspiels im Zuge der Aufklärung in den Hintergrund gedrängt, und im 19.

Jahrundert zunehmend romantisch verklärt und mystifiziert wurde: die Commedia dell’ Arte.

Diese Form des Theaters zeichnete sich durch vorgefertigte Rollenbilder und die ständige

Unterbrechung der Haupthandlung durch beim Publikum bekannte und schematisierte Inter-

mezzi aus, die vor allem auf Kunststücken und Akrobatik aufbauten, und durch ihre offen zur

Schau gestellte Künstlichkeit den Meyerholdschen Experimenten sehr entgegen kam. Auch

mit den Bewegungsschemen des japanischen Kabuki-Theaters setzte er sich auseinander.

1917 setzte die sowjetische Revolution ein, was nicht nur das Umfeld, sondern auch

die Ausrichtung der schauspieltechnischen Arbeit von Meyerhold wesentlich beeinflusste. Er

trat – entgegen anderer Angehöriger der russischen Künstler- und Wissenschaft – sehr bald

der bolschewistischen Bewegung bei, und sah in diesen neuen politischen Gegebenheiten vie-

le Möglichkeiten. Der Kommunismus kam ihm nicht nur ideologisch, sondern auch auf Grund

des Umstands entgegen, dass die brach liegende Wirtschaft mit massiver Industrialisierung

angekurbelt werden musste. Das Leitbild des arbeitenden Menschen, des Maschinisten, der

die Apparate bedient, wurde nicht nur zum Leitbild seines Theaterkonzepts, sondern fast der

gesamten russischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre. Die Technik der Konstruktion bei

den Maschinen und die Ausdifferenzierung in arbeitsteilige Prozesse wurde Ansatzpunkt für

die weitere Ausarbeitung des Schauspiels als Technik des Körpers. Der Umbruch in der Ar-

beit Meyerholds durch die russische Revolution lässt sich folgendermaßen beschreiben:

Während in seinen vorrevolutionären Versuchen, einen neuen Schauspielertypus (den Komödianten) zu formen, der anthropologische Ansatz, gleichzeitig damit über eine neue Körperlichkeit ein neues „Men-schenbild“ zu gestalten, letztlich auf einen engen Zirkel der russischen Intelligenz beschränkt blieb, wird mit der Revolution von 1917 der neue, biomechanisch gebildete Schauspieler als Prototyp des „Neuen Menschen“ schlechthin proklamiert.46

46 Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. S. 9.

18

In den folgenden Jahren entwickelte sich die Praxis der Biomechanik zu einem wesentlichen

Bestandteil der russischen Theaterlandschaft. Allerdings blieb sie trotzdem zur Hauptsache

eine Art Experimentier- und Trainingsprogramm, das immer nur ansatzweise in die jeweiligen

Stücke einfloss.47

Die Biomechanik war also im Wesentlichen eine (historisch gewachsene) Praxis, die nicht aus

einem vorher verfassten theoretischen Konzept entstand, sondern vielmehr verschiedene Phä-

nomene früherer Bühnenkulturen in das Experiment eines neuen Schauspielstils mit einflie-

ßen ließ. Zwar gibt es umfassende Überlieferungen und Vorlesungsmitschriften der Schüler

Meyerholds, die teilweise nachträglich zur theoretischen Fundierung der Biomechanik dien-

ten,48 Meyerholds eigene Aussagen dazu trugen aber meist rhetorischen Charakter.49 Es er-

scheint daher als sinnvoll, einerseits nur auf die wesentlichsten Prinzipien biomechanischen

Schauspiels, die sich über die Jahre des Experimentierens als durchgängig erwiesen, einzuge-

hen, andererseits diese Betrachtung der Prinzipien von der Aktion, der Bewegung des Körpers

selbst, ausgehend zu starten.

Otkas – (Gegen-)Bewegung und Raum

Die „Bedeutung der Ausbildung des Materials des Schauspielers, seiner physiologischen

Komponente […]“50, wurde bereits mehrfach erwähnt. Es ging also vordergründig darum,

durch „Training des körperlichen Materials dem Schauspieler einen Vorrat an Darstellungs-

möglichkeiten […]“51 zu geben, über den er dann während der Aufführungen den Stücken

gemäß verfügen konnte. Meyerhold selbst schrieb zu diesem grundlegenden Aspekt der Bio-

mechanik: „Die Kunst des Schauspielers besteht in der Organisation seines Materials, d. h. in

der Fähigkeit, die Ausdrucksmittel seines Körpers richtig auszunützen.“52 Rein theoretisch

deutet sich hier eine gewisse Differenz zwischen dem Schauspieler als handelndem Menschen

und seinem Körper als Handlungsmaterial an, auf die später noch etwas genauer einzugehen

sein wird. Zunächst soll hier lediglich das körperliche und das Bewegungstraining betrachtet

werden. Dieses war allerdings nicht derart gestaltet, dass jeder Schüler individuell durch

Krafttraining seinen Körper ertüchtigte, sondern es wurden als geschlossene Gruppe vorgefer-

tigte und auf eine bestimmte Rhythmik hin ausgestaltete theatrale Handlungsschemen – die so

47 Bei diesem Kapitel handelt es sich lediglich um einen sehr groben Überblick. Für genauere Ausführungen vgl.: Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 19 – 60. 48 Etwa die Prinzipien der Biomechanik von Michail Korenew oder die zahlreichen Abhandlungen Sergej Eisensteins über die Biomechanik. Vgl. dazu: Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 78 – 80. 49 Vgl.: ebd.: S. 69. 50 ebd.: S. 61f. 51 Hoffmeier, Völker (Hg.): Werkraum Meyerhold. S. 68. 52 Meyerhold: Theaterarbeit 1917 – 1930. S. 73.

19

genannten Etüden53 – trainiert, die dann als biomechanische Elemente in den jeweiligen Stü-

cken eingefügt werden konnten. Das Geschehen wurde dabei auf wesentliche Bewegungsab-

läufe reduziert, so dass die verschiedenen Schemen durch das Bewegungsspiel der Schauspie-

ler zum Ausdruck kamen. Es trainierte also selten ein Schauspieler alleine, solche Bewegun-

gen mussten zumindest von Zweien oder in der Gruppe von Allen geübt werden. Es ging hier

also weniger um eine physische Kräftigung des Körpers, als vielmehr um das Ausloten der

Grenzen seiner Beweglichkeit und vor allem um die Verinnerlichung von aufeinander abge-

stimmten Bewegungsabläufen, um in den Stücken selber effektiver auf die Partner reagieren

zu können.54

Ein wesentliches Prinzip dieser Übungen und Trainingssequenzen war der Begriff des

Otkas55, den man nach biomechanischer Auffassung als Grundlage einer jeden Bewegung

betrachten kann. Der Otkas bedeutet, auf den Punkt gebracht, eine vorbereitende Bewegung in

entgegen gesetzter Richtung zu jener eigentlichen Bewegung, die dann schließlich ausgeführt

werden soll – beispielsweise das Ausholen des Arms, bevor man mit dem Hammer auf einen

Nagel schlägt. Er ist also grundlegendes und daher erstes von drei Segmenten, in die eine jede

Bewegung in der Biomechanik zergliedert wurde: „1. Otkas (vorbereitende Gegenbewegung);

2. Posyl (Absenden/Ausführung); 3. Stoika (Stand/Fixieren).“56 Der Otkas ist also eine wich-

tige Grundlage für die Schauspieler, um die verschiedenen Bewegungen bewusster zu verin-

nerlichen, fließender auszuführen und ihnen somit mehr Ausdruckskraft und Nachhaltigkeit

zu verleihen. Überträgt man den Otkas-Begriff nun von einem Schauspieler, der eine Bewe-

gung ausführt, auf zwei Schauspieler, die zwei aufeinander abgestimmte Bewegungen ausfüh-

ren, so kann man den Otkas als eine Art Zurückweichen gegenüber (bzw. als Fortsetzung) der

Bewegung des einen Schauspielers betrachten, bevor der andere Schauspieler seine eigentli-

che Aktion darauf ausführt. Der zweite Schauspieler setzt also die Bewegung des ersten an

sich selbst fort, bevor er selbst agiert, er interpretiert gewissermaßen die Bewegung des Part-

ners. Das Trainieren bestimmter schematisierter Bewegungsabläufe durch Schauspielergrup-

pen unterliegt zwangsläufig einem gewissen Aktions- und Reaktionsschema, wenn die einzel-

53 Vgl. zu diesem Begriff: Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 124 – 161. 54 Dieses aufeinander Abstimmen verschiedener Bewegungen wurde wesentlich von dem in der damaligen Industrie aufkommenden Taylor-System beeinflusst, mit dem versucht wurde, durch die Segmentierung eines gesamten Arbeitsprozesses in einzelne kleine Arbeitsschritte, die Produktion schneller und effektiver zu machen. Die künstlerische Avantgarde der Sowjetunion übertrug dieses System durch Segmentierung von Bewegungsprozessen auf das Theater, da hier auch die Kunst als eine Produktion im arbeitstechnischen Sinne aufgefasst wurde. Vgl. dazu: Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 63 – 67. 55 Vgl. zu den folgenden Erläuterungen dieses Begriffs: ebd.: S. 98 – 102. 56 ebd.: S. 98 – es sei hier noch auf den Begriff des Tormos (wörtlich als Bremse zu übersetzen) verwiesen, der das kontrollierte Abbremsen einer Bewegung meint, um am Schluss in den Stoika kommen zu können. Aus diesem gesamten Zusammenspiel wird die Bedeutung der Beherrschung und Kontrolle des eigenen Körpers für die Biomechanik einigermaßen ersichtlich. Vgl. dazu: Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 102 – 106.

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nen Personen in irgendeiner Weise aufeinander eingeübt sein sollen. Allerdings darf man hier

nicht die auf die Bewegung eines Schauspielers folgende Bewegung eines anderen Schauspie-

lers als Reaktion missverstehen, denn dies ist selbst wieder eine Aktion. Vielmehr ist der Ot-

kas an sich die eigentliche Re-Aktion, und zwar im Sinne einer groben Wiederholung vor der

Gegenaktion.

An einer anderen Stelle dieser Arbeit wurde das Bewegungsschema von Aktion und

Reaktion bereits erwähnt. Dort galt es im Sinne von Jean-Luc Nancy zu argumentieren, dass

die Berührung, welche an der Grenze, die Körper ist, stattfindet, jene Reibefläche darstellt, an

der Bewegung entsteht. In der Berührung erfahren zwei Körper ihr gegenseitiges Außen-Sein

und sich selbst als Außen. Auch an Aristoteles sei hier erinnert, für den Veränderung als Ein-

wirkung (womit auch Bewegung gemeint ist) erst durch Berührung entstehen konnte. Im Falle

Nancys wird durch die Berührung das eigene Außen nach außen hin um das andere Außen

erweitert. Der Aspekt der Grenzverschiebung taucht hier wieder auf. Eine Grenze steht nie

still, schon gar nicht, wenn mit der Grenze Berührung gemeint ist, denn um sich als Grenze zu

erfahren, muss man etwas berühren, und sei es sich selbst. Mit einer Berührung setzt man eine

Aktion; indem man an ein anderes Außen fällt, gibt dieses im Sinne einer Re-Aktion nach,

stellt sich aber als Außen, als das es sich durch das berührt Werden erfährt, im Sinne einer

eigenen Aktion entgegen. Im Falle Aristoteles’ re-agiert das Veränderbare durch sein Erleiden

auf die Einwirkung des Verändernden. Indem aber das Veränderbare sein Veränderndes erst

zu einem solchen macht, agiert es selbst in gewisser Weise prägend. Das mag nun etwas abs-

trakt klingen, diese Aktionsmodelle lassen sich aber durchaus auf die Biomechanik übertragen.

Wenn auch unter etwas anderen Bedingungen, da sich die Schauspieler in den Übungen zwar

auch, aber nicht nur gegenseitig berühren mussten (im Sinne des Abstützens etwa). Es ergibt

sich in diesem Kontext eine neue Dimension, nämlich jene des Aktionsraumes, wo man sich

zwar nur mehr bedingt zwingend berührt, aber dennoch durch die Bewegung in Bezug zuein-

ander steht. Versucht man, das Schema von Aktion und Reaktion im Sinne Nancys auf diese

Situation zu übertragen, verwandelt sich der Bühnenraum des Theaters zu einem Raum mög-

licher Bewegungen, möglicher Aktionen. Die Grenze als Körper ist hier nicht mehr nur durch

die Haut bestimmt, sondern vor allem durch die Bewegungsmöglichkeiten, die er im Raum

und in Bezug auf andere Körper vorfindet. Eine notwendige Berührung als Prinzip der Ein-

wirkung wird damit obsolet, da nun das aufeinander Einwirken wesentlich über die Bewegung

geschieht. Demnach ist der Körper, als Grenze, ein Außen in der Bewegung, da er sich im

Kontext der biomechanischen Bewegungslehre und im Sinne von Aristoteles in einer ständig

möglichen Wirklichkeit befindet. Man darf nicht vergessen, dass Bewegungsabläufe zwar

21

streng trainiert wurden, dass aber im experimentellen Charakter der Übungen auch die Legi-

timation von Improvisation begründet lag.57 Der Körper findet also verschiedene Möglichkei-

ten seiner Ausdehnung vor, diesen gemäß realisiert er sich permanent in der Bewegung. Als

äußerstes Außen erreicht der Körper sich selbst in den Grenzen seiner Bewegungen. Er ist

nicht an sich als Grenze, sondern an den Raum als Bewegungsgrenze gebunden. Als solche ist

der Raum allerdings gleichermaßen an den (sich) bewegenden Körper gebunden. Durch das

Schema von Aktion und Re-Aktion kann ein Körper durch Bewegung andere Körper im Sinne

von Einwirkung bewegen. In diesem Kontext wird der Bühnenraum zu einem Ort der wirken-

den Bewegung, einem Ort permanent wirklicher Möglichkeit.58 Als solchen macht ihn der

Körper von sich abhängig; der Bühnenraum, als Zwischenraum, hört somit permanent der

Möglichkeit nach zu existieren auf.59

Emotion – Bewegtheit in Bewegung

Es wurde bisher versucht, einige Thesen von Nancy und Aristoteles, den Körper betreffend,

auf die biomechanische Bewegungslehre anzuwenden. Eine alleinige Betrachtung des Otkas-

Begriffes sagt aber noch nicht viel über die biomechanische Auffassung des menschlichen

Körpers aus. Zu diesem Zweck soll nun ein wenig auf die Darstellung von Emotionen einge-

gangen werden.

Die Biomechanik stützt sich in diesem Zusammenhang wesentlich auf die Reflexolo-

gie, der zufolge bestimmte psychische Zustände durch bestimmte physische Reize hervorge-

rufen werden. In diesem Sinne sollten sich die Schauspieler nicht zuvor in die jeweiligen Ge-

fühlszustände hineinsteigern, um sie dann auf der Bühne darzustellen, sondern es sollten zu-

erst die äußerlichen Merkmale emotionaler Erregung dargestellt werden, um dadurch sich in

einer Art Reflex in diesen Zustand begeben zu können. Emotion entsteht hier als psychischer

Reflex auf physische Bewegung; der Weg verläuft also „vom Äußeren zum Inneren“60, um so

„eine nicht-psychologisch motivierte Methode der Entstehung von Emotionen beim Schau-

57 Vgl.: Hoffmeier, Völker (Hg.): Werkraum. S. 68. 58 Die Aufführung des Stückes Der Großmütige Hahnrei (am 25. April 1922) ist eines der wenigen Beispiele, wo die Biomechanik die volle Tragweite ihrer körperlichen Ausdruckskraft zeigen konnte. Bühne und Kostüme waren dabei vom russischen Konstruktivismus beeinflusst. Es gab kein Bühnenbild, sondern bloß eine Bühnen-konstruktion, die mit ihren Rampen, Rutschen, Türen, Rädern und Stufen komplett bespielbar war. In diesem Kontext wurde durch die Bewegung auch auf die Bühne selbst eingewirkt, da Teile von ihr beweglich waren. Die Schauspieler haben also nicht miteinander auf, sondern miteinander mit der Bühne gespielt. Vgl. zu dieser Aufführung: Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 164 – 172. 59 Im Zusammenhang mit dem Zwischenraum, dem Abstand zwischen den Körpern, spricht Jean-Luc Nancy von Arealität, die einerseits das Areal des Körpers meint, also jenen Ort, an dem ein Körper sein maximales Ausdeh-nungsvermögen entfalten kann, andererseits aber auch den Verlust an (eigenständiger) Realität, der dem Zwi-schenraum widerfährt, indem er an den Körper als Existenz-Stätte gebunden ist, bezeichnet. Vgl. dazu: Nancy: Corpus. S. 40f. 60 Bochow: Das Theater Meyerholds. S. 67.

22

spieler herzuleiten.“61 Daher wurde auch auf das physische Training so viel Wert gelegt, da

laut Meyerhold „[j]eder psychische Zustand durch bestimmte physiologische Prozesse her-

vorgerufen [wird].“62 Dabei wurde zwar ausgeklammert, dass man zuvor eine gewisse Vor-

stellung von dem emotionalen Zustand haben muss, um diesen mit dem Körper entsprechend

darstellen zu können. Viel bemerkenswerter ist allerdings der Umstand, dass mit dieser Stra-

tegie ein emotionaler Zustand zunächst ganz auf sein äußeres körperliches Erscheinen redu-

ziert wurde, ob nun auf Grund einer Vorstellung oder als Bedingung für das Entstehen der

Emotion selbst, spielt hier noch keine Rolle.

Diese Tatsache lässt sich nun mit Aristoteles und Nancy in Verbindung bringen, wenn man

bedenkt, dass der Begriff der Emotion hier in jener umgangssprachlichen Bedeutung ge-

braucht wird, welche das Empfinden von Gefühlen gemeinhin mit seelischen Regungen

gleichsetzt, wo also das Zeigen von Emotionen als Manifestation der Seele betrachtet wird.

Diese Verbindung eines metaphysischen Innen mit einem physischen Außen wird von Mey-

erhold aufgehoben, indem er die Emotion im Grunde zu einem nur Äußerlichen macht. Denn

da es ihm nicht nur um die Darstellung, sondern auch um die Entstehung von Emotion geht

(nur eben in Abgrenzung zu anderen Theaterkonzepten), liegt auf der Hand, dass damit ein

schließlich physisch hervorgerufenes emotionaleres Handeln gemeint ist. Der Schauspieler

soll nicht teilnahmslos in seinen Gefühlen versinken oder gedankenverloren nichts tun, son-

dern er soll sich in seinem Handeln von der Emotion derart beeinflussen lassen, dass diese

vom Zuschauer mit größerer Wirkung wahrgenommen wird. Die Gefühle verschließen sich

nicht dem Publikum, sie müssen, da sie dem weiteren Verlauf des Stückes unterliegen, zwin-

gend äußerlich bleiben, da sonst die einzelnen Handlungselemente ihre emotionale Begrün-

dung verlieren. Die Emotion realisiert sich also am Körper, sie kommt von außen nach außen

und wird wahrnehmbar. Sie kommt als Äußerliches somit zu ihrer theatralen Wirklichkeit,

einer Wirklichkeit, die durch ihren Darstellungs- und Präsentationscharakter in der Biome-

chanik vom Körper als Außen begründet ist. Der Weg führt also nicht von außen nach innen,

der Körper selbst ist vielmehr die Wirklichkeit der Emotion, sodass sie an einem Außen bleibt.

Die Emotion bleibt aber nicht im Sinne der Einschränkung auf den Körper begrenzt, vielmehr

wird hier der Körper für das Stattfinden der Emotion an ihm geöffnet. Sie ist also selbst ein

Außen, demnach ist der Körper in dem Moment, in dem die Emotion an ihm stattfindet, diese

selbst. Das vermeintlich Innere wird (auch vom Zuschauer) als körperlich erfahren, und der

Schauspieler erfährt sich dadurch über sein Außen als emotionales Individuum. Die Emotion

als eine Art Seele verwirklicht sich hier ebenso als Körper, wie es auch die Seele bei Aristote- 61 ebd.: S. 71. 62 Meyerhold: Theaterarbeit. S. 75.

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les tut, sie ist ebenso Körper als Außen, wie sie es auch bei Nancy ist. Sie ist zwar nicht die

grundlegende erste Entelechie des Körpers, doch sie bedeutet die Vollendung des schauspie-

lerischen Körpers im Kontext des gespielten Stückes und des Bühnen- und Bewegungsraumes,

den der Schauspieler als solchen an sich bindet und an den er selbst gebunden ist.

Allerdings findet sich hier noch ein anderer Zusammenhang, da die Emotionen durch

Bewegungen hervorgerufen werden sollen; durch Bewegung findet der biomechanische

Schauspieler also zu einer nur scheinbar inneren Bewegtheit. Er spürt sich in diesem Moment

selber als wesentlich körperlich, da er dabei nicht in Bewegung sich befindet, sondern durch

sich bewegt ist. Er ist ein Bewegt-Sein, das Nancy folgendermaßen beschreibt: „Emotion, das

bedeutet: in Bewegung gebracht, in Gang gebracht, erschüttert, betroffen, verwundet.“63 Emo-

tion deutet das bewegt Werden durch etwas Äußeres an, und besagt nichts anderes als das sich

selbst als Außen von außen bewegt Spüren – ein biomechanischer Schauspieler bringt sich

wesentlich durch die Bewegung des Körpers in diese Lage. So etwas setzt allerdings ein

grundlegend anderes Körperverständnis voraus, als es etwa im Theater Stanislawskis vor-

herrschte, wo der Körper der Emotion als einer inneren Regung unterlag. Die Biomechanik

brauchte einen wesentlich ent-emotionalisierten, ent-innerlichten Körper. Und damit war sie

dem aristotelischen Verständnis von Körper und jenem Nancys wohl näher als man zunächst

glauben mag.

Abschließende Worte

Die Auffassung von einem Körper als ent-innerlichtes Außen unterlag bei Meyerhold aber

dennoch der bereits angesprochenen Differenz zwischen dem Schauspieler und seinem Kör-

per als Material: „In der Person des Schauspielers kongruieren der Organisator und das, was

organisiert werden soll (d. h. der Künstler und sein Material).“64 Damit wird nichts anderes als

jener Performance-Charakter angesprochen, der im Kontext des Theaters auf gewisse Weise

immer mitgedacht werden muss; jener Umstand also, dass auf einer Bühne im Bewegen, im

Tun des Körpers gleichzeitig ein Täter steckt, der auf Grund der Aneignung seiner Rolle we-

sentlich unerkennbar bleibt. Doch dadurch ist der Schauspieler erst recht reines Außen. Als

Organisator vollendet er sich in sich als Material, das er bedient. Es bleibt ihm nichts anderes

übrig, als durch sich als Außen außerhalb von sich zu sein, denn nur so kann er als Täter in

63 Nancy: Corpus. S. 125. 64 Meyerhold: Theaterarbeit. S. 73.

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Bezug zu sich als Körper stehen. Im Sinne der Biomechanik vereint der Schauspieler also

seine Differenz zu sich selbst in sich; und diese Differenz setzt er im Sinne von Jean-Luc

Nancy, indem er sich als Körper, als Außen, erfährt. Im Grunde sagt also Meyerhold über den

Schauspieler nichts anderes als Nancy, wenn dieser über die Seele spricht: „Die Seele ist die

Differenz des Körpers zu sich selbst, Außenbeziehung, die ein Körper für sich selbst dar-

stellt.“65 Diese Vereinigung des Organisators und des Organisierten in der Person des Schau-

spielers ließe sich gewiss auch auf die aristotelische Dreiheit von Stoff, Form und (zusam-

mengesetzter) Substanz übertragen, auch wenn man dabei immer den Kontext der inszenier-

ten Wirklichkeit des Theaters berücksichtigen muss.

Damit sollte allerdings nicht der Beweis erbracht werden, dass die Biomechanik auf

dem Körperverständnis von Aristoteles fußt. Ganz abgesehen davon, dass es sich wohl nur

äußerst schwer beweisen ließe, ob Meyerhold die aristotelische Physik tatsächlich gelesen hat,

und ob diese Lektüre prägend für ihn gewesen sein könnte, würde es auch den Rahmen dieser

Arbeit sprengen. Es ging lediglich darum, zu zeigen, dass man sich (im Sinne der einleitenden

Worte dieser Arbeit) auf vielfältige Weise ein Verständnis von etwas erwerben kann, das ü-

berkommene Auffassungen kritisch berücksichtigt und zu überwinden versucht. Im Sinne der

aristotelischen Physik als Verständnisphilosophie, kann man die Biomechanik als eine Art

Verständnisperformance begreifen. Die Beantwortung der Frage, was wir eigentlich damit

meinen, wenn wir über etwas wie Körper sprechen, oder was es bedeutet, sich als körperlich

zu erfahren muss nicht auf nur einen wissenschaftlichen Bereich beschränkt bleiben. Meyer-

hold hat in anderer Art und Weise etwas aufgegriffen, worüber bereits Aristoteles nachge-

dacht hatte, und was erst durch das Denken von Jean-Luc Nancy ersichtlich gemacht werden

konnte. Alle drei haben sicherlich den philosophischen bzw. theaterwissenschaftlichen Dis-

kurs über das Verständnis von Körper maßgeblich beeinflusst. Und in diesem Sinne stehen

sich alle drei Innovatoren in durchaus ebenbürtiger Weise gegenüber.

65 Nancy: Corpus. S. 111.

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Literaturverzeichnis

Primärliteratur

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