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suhrkamp taschenbuch 4108
Die Morawische Nacht
Erzählung
Bearbeitet vonPeter Handke
1. Auflage 2009. Taschenbuch. 560 S. PaperbackISBN 978 3 518 46108 2
Format (B x L): 10,9 x 17,7 cmGewicht: 343 g
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Leseprobe
Handke, Peter
Die morawische Nacht
Erzählung
© Suhrkamp Verlag
suhrkamp taschenbuch 4108
978-3-518-46108-2
Suhrkamp Verlag
suhrkamp taschenbuch
Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluß der Donau, ein Hausboot auf dem Fluß. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum Tages-beginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hausboot, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat.Von einer gerade beendeten Rundreise des Bootsbesitzers durch das westliche Europa erzählt der Autor. War er wirklich auf der Flucht vor einer Frau, die ihm mit dem Tod drohte? Wie hat man sich das Symposium über den Lärm vorzustellen, an dem er angeb-lich in Spanien teilgenommen hat? Was hat es mit dem Treffen aller Maultrommelspieler dieser Erde vor Wien auf sich? Und überhaupt: Wie lange dauerte die Reise?In dieser romanlangen Erzählung Peter Handkes nimmt die Wirk-lichkeit unserer Gegenwart immer bedrückendere Gestalt an. Gleich-zeitig wird das Gewicht der Welt ein anderes – ein leichteres?Kritik und Publikum reagierten begeistert auf Peter Handkes Bilanz eines Dichterlebens: »Einen solchen Peter Handke gab es noch nicht« (Süddeutsche Zeitung), »fulminant« (Focus), ein »Befreiungsbuch« (Frankfurter Allgemeine Zeitung).Peter Handke, geboren in Griffen (Kärnten), lebt heute in der Nähe von Paris.Von Peter Handke erschienen zuletzt Bis daß der Tag euch scheidet. Ein
Monolog ( ), Die Kuckucke von Velika Ho a. Eine Nachschrift ( )sowie Kali. Eine Vorwintergeschichte (st ).
Peter HandkeDie morawische Nacht
Erzählung
Suhrkamp
Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum
suhrkamp taschenbuch Erste Auflage
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowieder Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in GermanyUmschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
ISBN
–
1
Jedes Land hat sein Samarkand und sein Numancia.
In jener Nacht lagen die beiden Stätten hier bei uns,
hier an der Morawa. Numancia, im iberischen Hoch-
land, war einst die letzte Flucht- und Trutzburg ge-
gen das Römerreich gewesen; Samarkand, was auch
immer der Ort in der Historie darstellte, wurde und
ist sagenhaft; wird, jenseits der Geschichte, sagenhaft
sein. Die Stelle der Fluchtburg nahm an der Morawa
ein Boot ein, ein dem Anschein nach eher kleines, das
sich »Hotel« nannte, in erster Linie aber, seit gerau-
mer Zeit schon, dem Autor, dem ehemaligen Autor,
als Wohnung diente. Die Aufschrift HOTEL war blo-
ße Tarnung: Wer für die Nacht nach einem Zimmer,
einer Kabine fragte, der wurde in der Regel mit ei-
nem »Ausgebucht« beschieden. Die Nachfrage blieb
freilich nahe null, und nicht nur, weil das Boot jeweils
an einer Flußstelle ankerte, zu der es keine rechten
Zufahrtswege gab. Wenn einmal sich einer bis dahin
durchschlug, dann höchstens angezogen von dem Na-
men des »Hotels«, der weithin durch die Finsternis der
Flußauen leuchtete: MORAWISCHE NACHT.
Das Boot war nicht verankert, sondern bloß so an
Bäumen oder Strommasten vertäut, und zwar derart,
daß die Taue leicht und schnell zu lösen waren – eben
zur Flucht, oder auch nur zum Mir-nichts-dir-nichts-
Weiterfahren oder Wenden, flußauf oder flußab. (Die
Morawa war zu jener Zeit, nach vielen Jahren nicht al-
lein kriegsbedingter Versandung und Verschlammung,
dank einer selbst die Grenzen unseres zur Kümmer-
ecke Europas verkrachten Landes überschreitenden
und – fast – allesheilenden Wirtschaft, auf große
Strecken, bis hin in die Quellgebiete der Südlichen
und der Westlichen Morawa in Maßen wieder schiff-
bar geworden.)
In der Nacht, da wir auf das Boot gerufen wurden,
hielt dieses zwischen dem Dorf Porodin und der Stadt
Velika Plana. Velika Plana liegt zwar näher am Fluß.
Aber der Ruf kam vom Porodiner Ufer, von einer
Stelle weitab von der die beiden Orte verbindenden
Brücke, und so zickzackten wir, ein jeder für sich,
aus dem Dorf, kreuz und quer, jetzt nach links, jetzt
nach rechts abbiegend, über die von Feld zu Feld rich-
tungwechselnden Ackerwege. Da wir uns alle gerade
in Porodin oder in den Nachbardörfern aufhielten,
verstreut in den Gehöften, fanden wir, des früheren
Autors Freunde, Gefährten, ferne Nachbarn, Mit-
spieler – und jeder einzelne, für jeweils eine Etappe,
sein Reisebegleiter –, uns bald zu einer Art Kolonne
zusammen, in Autos, auf Fahrrädern, auf Traktoren,
und der eine und der andere zu Fuß, womit er quer-
feldein ebenso schnell vorankam wie die Fahrenden
auf den holprigen, immer wieder vom Ziel weg in ein
Nirgendwo führenden und dort endenden Wegen.
Freilich hatten auch die Fußgänger, obwohl es zur
Leuchtschrift MORAWISCHE NACHT ein bloßer
Katzensprung schien, da und dort vor einem unverse-
hens tiefeingeschnittenen Kanal jäh abzubiegen und
in der Folge, vor einer undurchdringlichen Wildhecke,
gleich ein zweites Mal.
Warum hatte unser Bootsmann gerade die Gegend
von Porodin zu seinem Wohnort gemacht? Wir konn-
ten nur rätseln: Die einen meinten, das komme von
der balkanweit verbreiteten Geschichte zwischen den
Kriegen – es war da immer, wenn nicht Krieg, so
»zwischen den Kriegen« gewesen –, wonach in dem
Gemeindegebiet ein Hausierer von einem Einhei-
mischen ermordet wurde, worauf das ganze Dorf da-
für an jedem Jahrestag Sühne leistete. Andere glaub-
ten, er sei umgesiedelt eher der Morawa wegen, um
auf den Fluß zu schauen, vor allem auf dessen schim-
mernde Biegungen, die eine flußauf, die nächste gleich
flußab. Und wieder andere mutmaßten, es seien vor-
dringlich die vielen Scheidewege und Kreuzungen in
dem großen Dorf gewesen, wo er auf der Terrasse
einer der balkanischen Eckbars einfach so dasitzen
wollte, in der Ferne die himmelan weidenden Schafe
und vor sich den erztrüben Wein.
Es war noch lang vor Mitternacht. Wir hatten uns, wie
auf Verabredung, besonders früh zu Bett gelegt und,
als der Ruf kam, schon fest geschlafen. Trotzdem wa-
ren wir dann auf der Stelle hellwach. Kein Moment
einer Schlaftrunkenheit oder Taumeligkeit. Geweckt
worden waren wir auf verschiedene Weisen, vor al-
lem durch das Mobiltelefon. Aber es gab auch ein
oder zwei, bei denen ein Bote an das Hoftor geklopft
oder einen Kieselstein gegen das Fenster geworfen
hatte – ein einziges kleines Klopfen und ein einzel-
nes Steinchen genügten. Und einer, aufschließend zu
der Kolonne, erzählte dann, er sei auf seinem Bett in
Porodin, bei extra weitaufgezogenen Vorhängen, aus
dem Schlaf geschreckt worden von einem wie gebie-
terischen Angeblinktwerden durch die Leuchtschrift
fern in den Morawa-Auen, so wie der nächste der Auf-
schließenden angab, aufgeschreckt zu sein durch ein
Signal, das eher von einem Schiff zu kommen schien
als von einem Hausboot. Aufgeschreckt? Vielleicht.
Aber das war kein gewöhnlicher Schrecken gewesen.
Und so oder so war das Wecken ohne Worte vor sich
gegangen. Und so oder so: Jeder von uns fühlte sich
von dem Rufen hinten am Schopf gepackt, so unsanft
wie sanft. Die Telefone hatten nur kurz angeläutet.
Und bei dem einen von uns, der, geistesgegenwärtig
wie eben allein aus einem gewissen Schlaf heraus, sich
schon einen Sekundenbruchteil vorher meldete, kam
dann nichts als ein Lachen an, ein sehr kurzes, kaum
wahrnehmbares, an der Schwelle zwischen Tiefschlaf
und Hellwach, dafür umso klareres, und das hieß, oh-
ne Worte: »Auf!« Melodisch war das Lachen, und es
war nicht das Lachen unseres Freundes vom Boot,
sondern eindeutig das einer Frau; was den so aus
dem Schlaf Gerufenen freilich keineswegs verwun-
derte. Nichts wunderte ihn in jenem Augenblick und
nichts auch dann noch auf dem Weg über die Felder
und das Brachland – immer mehr griff, trotz der so
fruchtbaren Flußerde und trotz der grenzenlos ein-
gespielten neuen Ökonomie, die Brache um sich –
hin zur MORAWISCHEN NACHT. Rein gar nichts
wunderte uns alle in dem Moment des Aufwachens
lang vor Mitternacht. Und ebenso in der Folgestun-
de, beim Holpern und Stolpern über Stock und Stein:
kein Moment einer Verwunderung. Die Empfindung,
die vorherrschte: die einer großen Frische, welche, wie
von der Nachtluft draußen, so auch von tief innen her
kam; einer umfassenden Frische.
Die Fußgänger waren die ersten beim Boot. Die mit
den Fahrzeugen hatten diese, selbst die Räder, lange
vor dem Morawa-Ufer stehenlassen müssen; in der
zunehmenden Weglosigkeit, bei sich häufenden Was-
sergräben und dicken Dornenbarrieren, war kein Wei-
terkommen. Die an die Dunkelheit gewöhnten Wan-
derer hatten wenig Mühe mit den Durchschlüpfen
und Übergängen, während die Fahrleute noch eine
Zeitlang nach dem Ausschalten der Scheinwerfer und
Erlöschen der Radlampen sich ziemlich nachtblind
vorwärtstasteten. Wenn man es so erzählt, scheint es,
daß wir viele waren, eine recht große Zahl, eben eine
Kolonne. Aber das täuschte: Solchen Anschein gaben
wir bloß so nächtlich im Flußland unterwegs. Wir wa-
ren dabei nicht mehr als sechs oder sieben, sozusagen
entsprechend den bevorstehenden Stunden, Episo-
den, Kapiteln der Nacht bis zum Morgenwerden. Die
Jahreszeit: nicht lang nach Frühlingsanfang. Das Da-
tum: nicht lang vor dem orthodoxen Osterfest, das in
jenem Jahr, zum Unterschied zu früheren Regelungen,
mit den paneuropaüblichen Ostern zusammengelegt
wurde, was in der Folge auch für die weitere Zukunft
gelten sollte. Mondstand: Neumond. Wind: leichter
Nachtwind, verstärkt in Flußnähe. Wolkenfelder lang-
sam von West nach Ost treibend. Erste Sommerstern-
bilder, die gegen Ende der Nacht dann noch für eine
kleine Stunde den Blick auf den Orion und ein paar
andere letzte Wintersternbilder ließen.
Entgegen der einen oder anderen Erwartung emp-
fing uns der ehemalige Autor auf seinem Haus- und
Fluchtboot allein. Ebenso zeigte er sich, entgegen
mancher Erwartung oder Befürchtung, gesund und,
wie man früher einmal gesagt hätte, wohlauf; nicht ge-
rade springlebendig, aber doch fest auf seinen beiden
Beinen (während er in der Zeit seines Autorentums,
eine damals typische Haltung für ihn, ständig von ei-
nem Bein auf das andere getreten war, was freilich
»nichts hieß, alle Leute daheim im Dorf haben das so
gemacht, von den Kindesbeinen an«); und in seinem
stillen Dastehen, besonders nach all dem, was dem und
jenem Herbeigerufenen von seiner Rundreise, Daura,
und etappenweise auch Rundflucht, und etappenweise
auch Irrfahrt, und etappenweise auch seiner Todes-
fahrt, und etappenweise auch seinem Amoklauf durch
seine Heimat Europa zu Ohren gekommen war.
So ziemlich der allgemeinen Erwartung dagegen ent-
sprach es, daß der Gastgeber sich so gar nicht über das
Eintreffen seiner Gäste zu freuen schien. Kein Ster-
benswörtchen einer Begrüßung ließ sich hören von
der Silhouette dort oben an der Reling unterhalb der
dabei so einladend leuchtenden MORAWISCHEN
NACHT. Keine, und wenn auch bloß angedeutete,
Handbewegung, die unser inzwischen vollzählig am
verstruppten Ufer versammeltes Fähnlein auf das
Boot gewinkt hätte. Zwar lag da auf der Kante etwas
wie ein Brett, das Boot und Festland irgendwie mitein-
ander verband. Doch das war so schmal und zudem
derart steilgestellt, daß wir wie auf einer Hühnerleiter,
und auf allen vieren, uns da emporhangeln mußten,
einer nach dem anderen, das Brett hin und her rut-
schend, und wir ständig zurückrutschend; und ver-
steht sich auch, daß er keinem von uns die Hand ent-
gegenstreckte, um ihn etwa an Deck zu hieven oder,
bewahre, ihn willkommen zu heißen. Bemerkenswert
vielleicht auch, daß er uns anfangs sogar auf dem Boot
recht lange alleingelassen hatte und erst später zu uns
trat, wer weiß von wo.
Obwohl er uns doch hatte rufen lassen, war es, als
ob wir ihn jetzt störten. Unser Kommen schien ihn
nicht nur nicht zu freuen. Es war ihm nicht recht. Er
war dagegen. Wir waren unerwünscht; Eindringlinge;
Flußpiraten. Zwar hatten wir das ja erwartet, waren
an anscheinend mangelnde Gastfreundschaft, so rü-
de im Widerspruch zu den altbewährten Balkansit-
ten, gleichsam gewöhnt. Und doch stieß sie uns in
jener Nacht vor den Kopf, zumal er uns – sein erstes
Wort dann, nach langem starrem Nichtsprechen –
anfuhr wegen unsrer »servilen Pünktlichkeit«, unse-
rer »Vorhersehbarkeit«. Und als nächstes schaltete er
die Leuchtschrift aus, so daß wir auf dem Boot eine
Zeitlang völlig im Dunkel standen. Und ebenso ver-
stummte die balkanische Musik, die zumindest einige
von uns, zugegeben, mit an Bord gelockt hatte. Statt
dessen nichts als das schädelsprengende Froschkon-
zert aus den Uferbüschen der Morawa, das nachtlang
andauern sollte, und, als einziges anderes Geräusch,
das Geheul der Lastwagen auf der Autobahn bei Ve-
lika Plana, ebenso unausgesetzt nachtlang: der Güter-
fernverkehr, nicht bloß in die Türkei und in die Ge-
genrichtung, sondern überhaupt zwischen den Kon-
tinenten, toste in der Zwischenzeit ja ohne auch nur
eine einzige Sekunde einer Ruhepause.
Als wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ent-
deckten einige noch etwas Unerwartetes an dem
Hausbootsherrn: Er wiegte zu dem Geknarr der
Froschmyriaden den Kopf, und das, wenn auch ferne,
Tosen und Röhren der Warentransporter begleitete er
mit einem Summen, das geradezu auf eine Melodie
aus schien. Neu war das, weil wir niemand Geräusch-
empfindlicheren kannten als ihn da. Hatte nicht zu-
letzt schon ein jähes Windsausen, ein auch noch so
leichtes, genügt, und er war zusammengefahren wie
bei einer Feindberührung? Und ob es einzig zum
Scherz war, wenn er ständig wiederholte, er habe das
Schreiben sein lassen auch aus zunehmendem Wider-
willen gegen die Geräusche, gleichwelche? Ein jedes
Geräusch habe er mit der Zeit als Krach empfunden,
als Lärm, bösartigen. Selbst die Musik? Auch die, ge-
rade die, die von Claudio Monteverdi genauso wie
die von Franz Schubert. Und nach dem Windsausen
und dem Blätterrauschen, den beiden ihm vorzeiten
nicht nur liebsten, sondern ihn auch immer neu »mit
einer unbestimmten Liebe« erfüllenden Geräuschen,
sei ihm dann ganz zuletzt das dritte, das den zwei
anderen, in seinen Ohren jedenfalls, gleichgestimm-
te Geräusch zuwider geworden, das Rascheln, das so
rhythmische wie melodische, seines Bleistifts in der
Stille. Konnte seine offenbar veränderte Einstellung
zur Geräuschwelt ein Ergebnis seiner Teilnahme an
dem Internationalen Kongreß über »Akustik der Stille
und Akustik des Schalls« sein, dem, wie einer von uns,
sein Begleiter dorthin, wußte, eine der Etappen seiner
Rundreise gegolten hatte?
Nur Männer waren wir, die nachts auf das Boot Ge-
rufenen; die er dann, das wiederum erwartungsgemäß,
hieß, die Schuhe auszuziehen, wie sonst für das Be-
steigen einer Ozeanjacht. Aber auch vor einer Frau,
gleichwelcher: er hätte mit dem Befehl nicht gezögert.
Dabei sprach er mit einer sonderbar leisen Stimme,
anders leise als sonst. Zwar waren wir seit langem sei-
ne Vertrauten. Und doch begriffen nicht alle von uns
sofort, daß er damit auch uns zu einem ebenso ge-
dämpften Reden anstecken wollte. Er mußte es denen
ausdrücklich flüstern: »Leise! Leise!« Klar wurde da ei-
nem jeden, daß das Vermeidensollen des Brusttons in
jener Nacht weder ein Tick des Gastgebers noch Teil
irgendwelcher Etikette war, vielmehr aus einer Gefahr
kam. Mit einem Schlag wußten wir sämtlich um die
Gefahr, wenngleich auch nicht, welche, was für eine
im besonderen. Zu spüren war jäh: die Gefahr »Ge-
fahr«. Und nicht, daß wir nun etwa wie er zu flüstern
anfingen: wir verstummten. Vollkommen stumm wur-
den wir, von einer Sekunde zur andern. Und in solcher
Stille begriffen wir auch, daß vorhin das Abbrechen
der Musik gleich wie das Dunkelfallen der MORA-
WISCHEN NACHT einen Hintersinn gehabt hatte;
beides signalisierte Gefahr. Reglos verharrten wir auf
dem Deckstreifen vor der Tür, die in den sogenannten
»Empfang« führte, von dem es zur einen Hand in den
»Gastraum« oder das »Restaurant« ging, und zur ande-
ren Hand in die Gäste- oder Hotelzimmer, die in Wahr-
heit, wie ja auch das »Restaurant«, dem Bootsinhaber
als Wohn-, Schlaf- und Ausschaustätten dienten.
Was wir dann rochen, war freilich nicht die Gefahr.
Es war der Geruch der Morawa, wie sie in den April-
nächten, bei der Schneeschmelze in den südlichen und
westlichen Bergen ihrer Herkunft, so unsere Einbil-
dung, seit Jahrtausenden schon gerochen hatte; dieser
Geruch, so zumindest wiederum unsere Einbildung,
war immerhin etwas, das all die Zeit gleichgeblieben
war hier − höchstens, daß ihm noch ein Anhauch
von etwas anderem beigemischt schien: von dem
tief unten im Wasser verrottenden Eisen all der fluß-
auf zerstörten Brücken (versteht sich, daß die längst
wiederaufgebaut und noch und noch neue, auch für
die Schnellgeschwindigkeitszüge, dazugekommen wa-
ren)?, von den sich in einem fort blähenden Leibern
der Myriaden der Uferschilffrösche? Eher wohl von
denen: Hatte nicht jeder von uns auf Dauer jenen Ge-
ruch in sich, den auch nur ein einziger Frosch, wenn
ich ihn einfing, aus seiner warzigen Haut auf meine
Hände absonderte?
Unerwartet – oder auch nicht – jetzt unser Umarmt-
werden durch den Bootsherrn. Einer nach dem an-
dern wurden wir umarmt, wortlos, fest, ausdauernd,
mit den gegenseitigen Wangenküssen, jeweils den ob-
ligaten drei, wie denn anders. Und es wurde uns die
Tür zum Gehäuse aufgehalten, wie von einem Por-
tier, und ebenso dann zu dem Salon oder Gastraum,
wie von einem Empfangschef. Der Salon war geheizt,
von einem zünftigen Kaminfeuer, willkommen in der
Aprilflußnacht. Zum Staunen, so ein Feuer auf einem
Boot, aber, wie gesagt, wir wunderten uns, nicht nur
in jener Nacht, sondern schon seit langem über fast
gar nichts mehr, insbesondere nichts, was mit un-
serem fernen Nachbarn zu tun hatte. Dieses Feuer,
einmal lodernd, einmal bloße Glut, stellte für die wei-
teren Stunden die einzige Beleuchtung dar. Und die
genügte, und ließ außerdem, durch die den Salon um-
laufende Verglasung, den Blick ins Freie zu, auf die
Morawa einerseits, und andererseits auf die Auwälder.
Daß vieles in dem Raum so nur zu ahnen blieb, stör-
te wohl niemanden; und auch nicht den Fortgang der
Nacht – vielleicht im Gegenteil.
Höchstens zu ahnen zum Beispiel waren Gesicht und
Gestalt der Frau, die sich später unversehens zu der
Gruppe gesellte. Sie schlüpfte herein von dem unbe-
bauten Deckteil, nachdem die Gäste, von dem Boots-
herrn alleingelassen, unschlüssig und, vor allem, un-
bewirtet im Salon herumgestanden hatten. Die Tische
schienen zwar gedeckt, aber, oder täuschte das?, ein
jeder nur für eine einzige Person. Gruppe oder Nicht-
Gruppe: kein Anzeichen von etwas wie einer Tafel.
Ein jeder Tisch für den je einzelnen war außerdem
sozusagen über Gebühr entfernt von dem nächsten,
und bildete zu diesem und ebenso zu den sämtlichen
anderen einen Winkel, der so etwas wie eine Gruppie-
rung von vornherein nicht bloß erschwerte, sondern
quasi auch untersagte. Natürlich hätten wir die Tische
kurzerhand zu einer Tafel, in gleichwelcher Form, als
Gerade, als Diagonale, als Bogensehne, als Halbkreis,
als L, zusammenschieben können. Doch dazu kann-
ten wir den Gastgeber und seine Manie, bei sich zu-
hause nicht das kleinste Platzverrücken durch jemand
Sonstigen zu dulden, gar zu gut: Hätte einer von uns
eine seiner Sachen, sei es ein Buch, oder sei es nur ein
Ziegelscherben irgendwo, um weniger als »einen hal-
ben Zoll« (in solchen Maßen drückte er sich gern aus)
von seinem Platz verschoben oder dem allem einen
kleinen Dreh gegeben – durch nichts war im übrigen
zu erkennen, daß das »sein Platz« war −, so wäre dem
unausweichlich eine Bestrafung gefolgt, in Worten,
gegen die ein Auf-die-Finger-Klopfen als eine fast lin-
de Berührung gewirkt hätte.
Die Frau, sie führte die Bootsgäste, einen jeden für
sich, an die Einzeltische, wo sie dann, mit dem Rücken
zueinander oder wenigstens halb abgekehrt, in dem
Muster – am Anfang jedenfalls fühlten sie so eine
Befremdung – des Ausgesetzt- und Auseinanderge-
würfteltseins saßen. Dieses Gefühl wurde freilich bald
vergessen in unserem Umsorgtwerden durch die Un-
bekannte und, während sie zwischen den Tischen im
ungewissen Licht ihre Kreise, Spiralen und Ellipsen
zog, auf andere Weise und noch ungleich beglücken-
der, in der Ahnung ihrer Schönheit. Längst waren wir
alle ja entwöhnt jeden Bedientwerdens, und auch nicht
mehr willens, es an uns geschehen zu lassen. Keinen
an uns heranlassen, für sich selber sorgen! Doch von
einer solchen Schönheit, oder überhaupt von der
Schönheit, bedient zu werden, das konnte uns wieder
gefallen. Und schön erschien uns an dieser fremden,
eher schemenhaften Frau vordringlich deren Hüfte:
die immerhin war, zwischen Licht und Halbdunkel,
zeitweise klar zu sehen. Eine Kurve, die im Einklang
war mit den Bewegungsabläufen ihres Betreuens,
nein, ihres Zuvorkommens, ja, ihres Zuvorkommens.
Schön erschien uns diese Hüfte? An ihr erschien uns
die Schönheit. Die ganze Frau, der ganze Mensch
dort konnte nur dem entsprechend schön sein. Und
die Schönheit dieser Hüfte strahlte Güte aus. In der
Hüftkurve fielen Schönheit und Güte zusammen.
Die Hüfte der fremden Frau war, ohne einen Extra-
Schwung, der Sitz der Güte.
Frage dann, unausgesprochene, als der Bootsherr,
nach seinem, im übrigen uns von den anderen Treffen