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suhrkamp taschenbuch 4108 Die Morawische Nacht Erzählung Bearbeitet von Peter Handke 1. Auflage 2009. Taschenbuch. 560 S. Paperback ISBN 978 3 518 46108 2 Format (B x L): 10,9 x 17,7 cm Gewicht: 343 g schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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suhrkamp taschenbuch 4108

Die Morawische Nacht

Erzählung

Bearbeitet vonPeter Handke

1. Auflage 2009. Taschenbuch. 560 S. PaperbackISBN 978 3 518 46108 2

Format (B x L): 10,9 x 17,7 cmGewicht: 343 g

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Handke, Peter

Die morawische Nacht

Erzählung

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4108

978-3-518-46108-2

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch

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Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluß der Donau, ein Hausboot auf dem Fluß. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum Tages-beginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hausboot, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat.Von einer gerade beendeten Rundreise des Bootsbesitzers durch das westliche Europa erzählt der Autor. War er wirklich auf der Flucht vor einer Frau, die ihm mit dem Tod drohte? Wie hat man sich das Symposium über den Lärm vorzustellen, an dem er angeb-lich in Spanien teilgenommen hat? Was hat es mit dem Treffen aller Maultrommelspieler dieser Erde vor Wien auf sich? Und überhaupt: Wie lange dauerte die Reise?In dieser romanlangen Erzählung Peter Handkes nimmt die Wirk-lichkeit unserer Gegenwart immer bedrückendere Gestalt an. Gleich-zeitig wird das Gewicht der Welt ein anderes – ein leichteres?Kritik und Publikum reagierten begeistert auf Peter Handkes Bilanz eines Dichterlebens: »Einen solchen Peter Handke gab es noch nicht« (Süddeutsche Zeitung), »fulminant« (Focus), ein »Befreiungsbuch« (Frankfurter Allgemeine Zeitung).Peter Handke, geboren in Griffen (Kärnten), lebt heute in der Nähe von Paris.Von Peter Handke erschienen zuletzt Bis daß der Tag euch scheidet. Ein

Monolog ( ), Die Kuckucke von Velika Ho a. Eine Nachschrift ( )sowie Kali. Eine Vorwintergeschichte (st ).

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Peter HandkeDie morawische Nacht

Erzählung

Suhrkamp

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Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum

suhrkamp taschenbuch Erste Auflage

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowieder Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyUmschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

ISBN

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Jedes Land hat sein Samarkand und sein Numancia.

In jener Nacht lagen die beiden Stätten hier bei uns,

hier an der Morawa. Numancia, im iberischen Hoch-

land, war einst die letzte Flucht- und Trutzburg ge-

gen das Römerreich gewesen; Samarkand, was auch

immer der Ort in der Historie darstellte, wurde und

ist sagenhaft; wird, jenseits der Geschichte, sagenhaft

sein. Die Stelle der Fluchtburg nahm an der Morawa

ein Boot ein, ein dem Anschein nach eher kleines, das

sich »Hotel« nannte, in erster Linie aber, seit gerau-

mer Zeit schon, dem Autor, dem ehemaligen Autor,

als Wohnung diente. Die Aufschrift HOTEL war blo-

ße Tarnung: Wer für die Nacht nach einem Zimmer,

einer Kabine fragte, der wurde in der Regel mit ei-

nem »Ausgebucht« beschieden. Die Nachfrage blieb

freilich nahe null, und nicht nur, weil das Boot jeweils

an einer Flußstelle ankerte, zu der es keine rechten

Zufahrtswege gab. Wenn einmal sich einer bis dahin

durchschlug, dann höchstens angezogen von dem Na-

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men des »Hotels«, der weithin durch die Finsternis der

Flußauen leuchtete: MORAWISCHE NACHT.

Das Boot war nicht verankert, sondern bloß so an

Bäumen oder Strommasten vertäut, und zwar derart,

daß die Taue leicht und schnell zu lösen waren – eben

zur Flucht, oder auch nur zum Mir-nichts-dir-nichts-

Weiterfahren oder Wenden, flußauf oder flußab. (Die

Morawa war zu jener Zeit, nach vielen Jahren nicht al-

lein kriegsbedingter Versandung und Verschlammung,

dank einer selbst die Grenzen unseres zur Kümmer-

ecke Europas verkrachten Landes überschreitenden

und – fast – allesheilenden Wirtschaft, auf große

Strecken, bis hin in die Quellgebiete der Südlichen

und der Westlichen Morawa in Maßen wieder schiff-

bar geworden.)

In der Nacht, da wir auf das Boot gerufen wurden,

hielt dieses zwischen dem Dorf Porodin und der Stadt

Velika Plana. Velika Plana liegt zwar näher am Fluß.

Aber der Ruf kam vom Porodiner Ufer, von einer

Stelle weitab von der die beiden Orte verbindenden

Brücke, und so zickzackten wir, ein jeder für sich,

aus dem Dorf, kreuz und quer, jetzt nach links, jetzt

nach rechts abbiegend, über die von Feld zu Feld rich-

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tungwechselnden Ackerwege. Da wir uns alle gerade

in Porodin oder in den Nachbardörfern aufhielten,

verstreut in den Gehöften, fanden wir, des früheren

Autors Freunde, Gefährten, ferne Nachbarn, Mit-

spieler – und jeder einzelne, für jeweils eine Etappe,

sein Reisebegleiter –, uns bald zu einer Art Kolonne

zusammen, in Autos, auf Fahrrädern, auf Traktoren,

und der eine und der andere zu Fuß, womit er quer-

feldein ebenso schnell vorankam wie die Fahrenden

auf den holprigen, immer wieder vom Ziel weg in ein

Nirgendwo führenden und dort endenden Wegen.

Freilich hatten auch die Fußgänger, obwohl es zur

Leuchtschrift MORAWISCHE NACHT ein bloßer

Katzensprung schien, da und dort vor einem unverse-

hens tiefeingeschnittenen Kanal jäh abzubiegen und

in der Folge, vor einer undurchdringlichen Wildhecke,

gleich ein zweites Mal.

Warum hatte unser Bootsmann gerade die Gegend

von Porodin zu seinem Wohnort gemacht? Wir konn-

ten nur rätseln: Die einen meinten, das komme von

der balkanweit verbreiteten Geschichte zwischen den

Kriegen – es war da immer, wenn nicht Krieg, so

»zwischen den Kriegen« gewesen –, wonach in dem

Gemeindegebiet ein Hausierer von einem Einhei-

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mischen ermordet wurde, worauf das ganze Dorf da-

für an jedem Jahrestag Sühne leistete. Andere glaub-

ten, er sei umgesiedelt eher der Morawa wegen, um

auf den Fluß zu schauen, vor allem auf dessen schim-

mernde Biegungen, die eine flußauf, die nächste gleich

flußab. Und wieder andere mutmaßten, es seien vor-

dringlich die vielen Scheidewege und Kreuzungen in

dem großen Dorf gewesen, wo er auf der Terrasse

einer der balkanischen Eckbars einfach so dasitzen

wollte, in der Ferne die himmelan weidenden Schafe

und vor sich den erztrüben Wein.

Es war noch lang vor Mitternacht. Wir hatten uns, wie

auf Verabredung, besonders früh zu Bett gelegt und,

als der Ruf kam, schon fest geschlafen. Trotzdem wa-

ren wir dann auf der Stelle hellwach. Kein Moment

einer Schlaftrunkenheit oder Taumeligkeit. Geweckt

worden waren wir auf verschiedene Weisen, vor al-

lem durch das Mobiltelefon. Aber es gab auch ein

oder zwei, bei denen ein Bote an das Hoftor geklopft

oder einen Kieselstein gegen das Fenster geworfen

hatte – ein einziges kleines Klopfen und ein einzel-

nes Steinchen genügten. Und einer, aufschließend zu

der Kolonne, erzählte dann, er sei auf seinem Bett in

Porodin, bei extra weitaufgezogenen Vorhängen, aus

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dem Schlaf geschreckt worden von einem wie gebie-

terischen Angeblinktwerden durch die Leuchtschrift

fern in den Morawa-Auen, so wie der nächste der Auf-

schließenden angab, aufgeschreckt zu sein durch ein

Signal, das eher von einem Schiff zu kommen schien

als von einem Hausboot. Aufgeschreckt? Vielleicht.

Aber das war kein gewöhnlicher Schrecken gewesen.

Und so oder so war das Wecken ohne Worte vor sich

gegangen. Und so oder so: Jeder von uns fühlte sich

von dem Rufen hinten am Schopf gepackt, so unsanft

wie sanft. Die Telefone hatten nur kurz angeläutet.

Und bei dem einen von uns, der, geistesgegenwärtig

wie eben allein aus einem gewissen Schlaf heraus, sich

schon einen Sekundenbruchteil vorher meldete, kam

dann nichts als ein Lachen an, ein sehr kurzes, kaum

wahrnehmbares, an der Schwelle zwischen Tiefschlaf

und Hellwach, dafür umso klareres, und das hieß, oh-

ne Worte: »Auf!« Melodisch war das Lachen, und es

war nicht das Lachen unseres Freundes vom Boot,

sondern eindeutig das einer Frau; was den so aus

dem Schlaf Gerufenen freilich keineswegs verwun-

derte. Nichts wunderte ihn in jenem Augenblick und

nichts auch dann noch auf dem Weg über die Felder

und das Brachland – immer mehr griff, trotz der so

fruchtbaren Flußerde und trotz der grenzenlos ein-

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gespielten neuen Ökonomie, die Brache um sich –

hin zur MORAWISCHEN NACHT. Rein gar nichts

wunderte uns alle in dem Moment des Aufwachens

lang vor Mitternacht. Und ebenso in der Folgestun-

de, beim Holpern und Stolpern über Stock und Stein:

kein Moment einer Verwunderung. Die Empfindung,

die vorherrschte: die einer großen Frische, welche, wie

von der Nachtluft draußen, so auch von tief innen her

kam; einer umfassenden Frische.

Die Fußgänger waren die ersten beim Boot. Die mit

den Fahrzeugen hatten diese, selbst die Räder, lange

vor dem Morawa-Ufer stehenlassen müssen; in der

zunehmenden Weglosigkeit, bei sich häufenden Was-

sergräben und dicken Dornenbarrieren, war kein Wei-

terkommen. Die an die Dunkelheit gewöhnten Wan-

derer hatten wenig Mühe mit den Durchschlüpfen

und Übergängen, während die Fahrleute noch eine

Zeitlang nach dem Ausschalten der Scheinwerfer und

Erlöschen der Radlampen sich ziemlich nachtblind

vorwärtstasteten. Wenn man es so erzählt, scheint es,

daß wir viele waren, eine recht große Zahl, eben eine

Kolonne. Aber das täuschte: Solchen Anschein gaben

wir bloß so nächtlich im Flußland unterwegs. Wir wa-

ren dabei nicht mehr als sechs oder sieben, sozusagen

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entsprechend den bevorstehenden Stunden, Episo-

den, Kapiteln der Nacht bis zum Morgenwerden. Die

Jahreszeit: nicht lang nach Frühlingsanfang. Das Da-

tum: nicht lang vor dem orthodoxen Osterfest, das in

jenem Jahr, zum Unterschied zu früheren Regelungen,

mit den paneuropaüblichen Ostern zusammengelegt

wurde, was in der Folge auch für die weitere Zukunft

gelten sollte. Mondstand: Neumond. Wind: leichter

Nachtwind, verstärkt in Flußnähe. Wolkenfelder lang-

sam von West nach Ost treibend. Erste Sommerstern-

bilder, die gegen Ende der Nacht dann noch für eine

kleine Stunde den Blick auf den Orion und ein paar

andere letzte Wintersternbilder ließen.

Entgegen der einen oder anderen Erwartung emp-

fing uns der ehemalige Autor auf seinem Haus- und

Fluchtboot allein. Ebenso zeigte er sich, entgegen

mancher Erwartung oder Befürchtung, gesund und,

wie man früher einmal gesagt hätte, wohlauf; nicht ge-

rade springlebendig, aber doch fest auf seinen beiden

Beinen (während er in der Zeit seines Autorentums,

eine damals typische Haltung für ihn, ständig von ei-

nem Bein auf das andere getreten war, was freilich

»nichts hieß, alle Leute daheim im Dorf haben das so

gemacht, von den Kindesbeinen an«); und in seinem

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stillen Dastehen, besonders nach all dem, was dem und

jenem Herbeigerufenen von seiner Rundreise, Daura,

und etappenweise auch Rundflucht, und etappenweise

auch Irrfahrt, und etappenweise auch seiner Todes-

fahrt, und etappenweise auch seinem Amoklauf durch

seine Heimat Europa zu Ohren gekommen war.

So ziemlich der allgemeinen Erwartung dagegen ent-

sprach es, daß der Gastgeber sich so gar nicht über das

Eintreffen seiner Gäste zu freuen schien. Kein Ster-

benswörtchen einer Begrüßung ließ sich hören von

der Silhouette dort oben an der Reling unterhalb der

dabei so einladend leuchtenden MORAWISCHEN

NACHT. Keine, und wenn auch bloß angedeutete,

Handbewegung, die unser inzwischen vollzählig am

verstruppten Ufer versammeltes Fähnlein auf das

Boot gewinkt hätte. Zwar lag da auf der Kante etwas

wie ein Brett, das Boot und Festland irgendwie mitein-

ander verband. Doch das war so schmal und zudem

derart steilgestellt, daß wir wie auf einer Hühnerleiter,

und auf allen vieren, uns da emporhangeln mußten,

einer nach dem anderen, das Brett hin und her rut-

schend, und wir ständig zurückrutschend; und ver-

steht sich auch, daß er keinem von uns die Hand ent-

gegenstreckte, um ihn etwa an Deck zu hieven oder,

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bewahre, ihn willkommen zu heißen. Bemerkenswert

vielleicht auch, daß er uns anfangs sogar auf dem Boot

recht lange alleingelassen hatte und erst später zu uns

trat, wer weiß von wo.

Obwohl er uns doch hatte rufen lassen, war es, als

ob wir ihn jetzt störten. Unser Kommen schien ihn

nicht nur nicht zu freuen. Es war ihm nicht recht. Er

war dagegen. Wir waren unerwünscht; Eindringlinge;

Flußpiraten. Zwar hatten wir das ja erwartet, waren

an anscheinend mangelnde Gastfreundschaft, so rü-

de im Widerspruch zu den altbewährten Balkansit-

ten, gleichsam gewöhnt. Und doch stieß sie uns in

jener Nacht vor den Kopf, zumal er uns – sein erstes

Wort dann, nach langem starrem Nichtsprechen –

anfuhr wegen unsrer »servilen Pünktlichkeit«, unse-

rer »Vorhersehbarkeit«. Und als nächstes schaltete er

die Leuchtschrift aus, so daß wir auf dem Boot eine

Zeitlang völlig im Dunkel standen. Und ebenso ver-

stummte die balkanische Musik, die zumindest einige

von uns, zugegeben, mit an Bord gelockt hatte. Statt

dessen nichts als das schädelsprengende Froschkon-

zert aus den Uferbüschen der Morawa, das nachtlang

andauern sollte, und, als einziges anderes Geräusch,

das Geheul der Lastwagen auf der Autobahn bei Ve-

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lika Plana, ebenso unausgesetzt nachtlang: der Güter-

fernverkehr, nicht bloß in die Türkei und in die Ge-

genrichtung, sondern überhaupt zwischen den Kon-

tinenten, toste in der Zwischenzeit ja ohne auch nur

eine einzige Sekunde einer Ruhepause.

Als wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ent-

deckten einige noch etwas Unerwartetes an dem

Hausbootsherrn: Er wiegte zu dem Geknarr der

Froschmyriaden den Kopf, und das, wenn auch ferne,

Tosen und Röhren der Warentransporter begleitete er

mit einem Summen, das geradezu auf eine Melodie

aus schien. Neu war das, weil wir niemand Geräusch-

empfindlicheren kannten als ihn da. Hatte nicht zu-

letzt schon ein jähes Windsausen, ein auch noch so

leichtes, genügt, und er war zusammengefahren wie

bei einer Feindberührung? Und ob es einzig zum

Scherz war, wenn er ständig wiederholte, er habe das

Schreiben sein lassen auch aus zunehmendem Wider-

willen gegen die Geräusche, gleichwelche? Ein jedes

Geräusch habe er mit der Zeit als Krach empfunden,

als Lärm, bösartigen. Selbst die Musik? Auch die, ge-

rade die, die von Claudio Monteverdi genauso wie

die von Franz Schubert. Und nach dem Windsausen

und dem Blätterrauschen, den beiden ihm vorzeiten

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nicht nur liebsten, sondern ihn auch immer neu »mit

einer unbestimmten Liebe« erfüllenden Geräuschen,

sei ihm dann ganz zuletzt das dritte, das den zwei

anderen, in seinen Ohren jedenfalls, gleichgestimm-

te Geräusch zuwider geworden, das Rascheln, das so

rhythmische wie melodische, seines Bleistifts in der

Stille. Konnte seine offenbar veränderte Einstellung

zur Geräuschwelt ein Ergebnis seiner Teilnahme an

dem Internationalen Kongreß über »Akustik der Stille

und Akustik des Schalls« sein, dem, wie einer von uns,

sein Begleiter dorthin, wußte, eine der Etappen seiner

Rundreise gegolten hatte?

Nur Männer waren wir, die nachts auf das Boot Ge-

rufenen; die er dann, das wiederum erwartungsgemäß,

hieß, die Schuhe auszuziehen, wie sonst für das Be-

steigen einer Ozeanjacht. Aber auch vor einer Frau,

gleichwelcher: er hätte mit dem Befehl nicht gezögert.

Dabei sprach er mit einer sonderbar leisen Stimme,

anders leise als sonst. Zwar waren wir seit langem sei-

ne Vertrauten. Und doch begriffen nicht alle von uns

sofort, daß er damit auch uns zu einem ebenso ge-

dämpften Reden anstecken wollte. Er mußte es denen

ausdrücklich flüstern: »Leise! Leise!« Klar wurde da ei-

nem jeden, daß das Vermeidensollen des Brusttons in

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jener Nacht weder ein Tick des Gastgebers noch Teil

irgendwelcher Etikette war, vielmehr aus einer Gefahr

kam. Mit einem Schlag wußten wir sämtlich um die

Gefahr, wenngleich auch nicht, welche, was für eine

im besonderen. Zu spüren war jäh: die Gefahr »Ge-

fahr«. Und nicht, daß wir nun etwa wie er zu flüstern

anfingen: wir verstummten. Vollkommen stumm wur-

den wir, von einer Sekunde zur andern. Und in solcher

Stille begriffen wir auch, daß vorhin das Abbrechen

der Musik gleich wie das Dunkelfallen der MORA-

WISCHEN NACHT einen Hintersinn gehabt hatte;

beides signalisierte Gefahr. Reglos verharrten wir auf

dem Deckstreifen vor der Tür, die in den sogenannten

»Empfang« führte, von dem es zur einen Hand in den

»Gastraum« oder das »Restaurant« ging, und zur ande-

ren Hand in die Gäste- oder Hotelzimmer, die in Wahr-

heit, wie ja auch das »Restaurant«, dem Bootsinhaber

als Wohn-, Schlaf- und Ausschaustätten dienten.

Was wir dann rochen, war freilich nicht die Gefahr.

Es war der Geruch der Morawa, wie sie in den April-

nächten, bei der Schneeschmelze in den südlichen und

westlichen Bergen ihrer Herkunft, so unsere Einbil-

dung, seit Jahrtausenden schon gerochen hatte; dieser

Geruch, so zumindest wiederum unsere Einbildung,

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war immerhin etwas, das all die Zeit gleichgeblieben

war hier − höchstens, daß ihm noch ein Anhauch

von etwas anderem beigemischt schien: von dem

tief unten im Wasser verrottenden Eisen all der fluß-

auf zerstörten Brücken (versteht sich, daß die längst

wiederaufgebaut und noch und noch neue, auch für

die Schnellgeschwindigkeitszüge, dazugekommen wa-

ren)?, von den sich in einem fort blähenden Leibern

der Myriaden der Uferschilffrösche? Eher wohl von

denen: Hatte nicht jeder von uns auf Dauer jenen Ge-

ruch in sich, den auch nur ein einziger Frosch, wenn

ich ihn einfing, aus seiner warzigen Haut auf meine

Hände absonderte?

Unerwartet – oder auch nicht – jetzt unser Umarmt-

werden durch den Bootsherrn. Einer nach dem an-

dern wurden wir umarmt, wortlos, fest, ausdauernd,

mit den gegenseitigen Wangenküssen, jeweils den ob-

ligaten drei, wie denn anders. Und es wurde uns die

Tür zum Gehäuse aufgehalten, wie von einem Por-

tier, und ebenso dann zu dem Salon oder Gastraum,

wie von einem Empfangschef. Der Salon war geheizt,

von einem zünftigen Kaminfeuer, willkommen in der

Aprilflußnacht. Zum Staunen, so ein Feuer auf einem

Boot, aber, wie gesagt, wir wunderten uns, nicht nur

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in jener Nacht, sondern schon seit langem über fast

gar nichts mehr, insbesondere nichts, was mit un-

serem fernen Nachbarn zu tun hatte. Dieses Feuer,

einmal lodernd, einmal bloße Glut, stellte für die wei-

teren Stunden die einzige Beleuchtung dar. Und die

genügte, und ließ außerdem, durch die den Salon um-

laufende Verglasung, den Blick ins Freie zu, auf die

Morawa einerseits, und andererseits auf die Auwälder.

Daß vieles in dem Raum so nur zu ahnen blieb, stör-

te wohl niemanden; und auch nicht den Fortgang der

Nacht – vielleicht im Gegenteil.

Höchstens zu ahnen zum Beispiel waren Gesicht und

Gestalt der Frau, die sich später unversehens zu der

Gruppe gesellte. Sie schlüpfte herein von dem unbe-

bauten Deckteil, nachdem die Gäste, von dem Boots-

herrn alleingelassen, unschlüssig und, vor allem, un-

bewirtet im Salon herumgestanden hatten. Die Tische

schienen zwar gedeckt, aber, oder täuschte das?, ein

jeder nur für eine einzige Person. Gruppe oder Nicht-

Gruppe: kein Anzeichen von etwas wie einer Tafel.

Ein jeder Tisch für den je einzelnen war außerdem

sozusagen über Gebühr entfernt von dem nächsten,

und bildete zu diesem und ebenso zu den sämtlichen

anderen einen Winkel, der so etwas wie eine Gruppie-

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rung von vornherein nicht bloß erschwerte, sondern

quasi auch untersagte. Natürlich hätten wir die Tische

kurzerhand zu einer Tafel, in gleichwelcher Form, als

Gerade, als Diagonale, als Bogensehne, als Halbkreis,

als L, zusammenschieben können. Doch dazu kann-

ten wir den Gastgeber und seine Manie, bei sich zu-

hause nicht das kleinste Platzverrücken durch jemand

Sonstigen zu dulden, gar zu gut: Hätte einer von uns

eine seiner Sachen, sei es ein Buch, oder sei es nur ein

Ziegelscherben irgendwo, um weniger als »einen hal-

ben Zoll« (in solchen Maßen drückte er sich gern aus)

von seinem Platz verschoben oder dem allem einen

kleinen Dreh gegeben – durch nichts war im übrigen

zu erkennen, daß das »sein Platz« war −, so wäre dem

unausweichlich eine Bestrafung gefolgt, in Worten,

gegen die ein Auf-die-Finger-Klopfen als eine fast lin-

de Berührung gewirkt hätte.

Die Frau, sie führte die Bootsgäste, einen jeden für

sich, an die Einzeltische, wo sie dann, mit dem Rücken

zueinander oder wenigstens halb abgekehrt, in dem

Muster – am Anfang jedenfalls fühlten sie so eine

Befremdung – des Ausgesetzt- und Auseinanderge-

würfteltseins saßen. Dieses Gefühl wurde freilich bald

vergessen in unserem Umsorgtwerden durch die Un-

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bekannte und, während sie zwischen den Tischen im

ungewissen Licht ihre Kreise, Spiralen und Ellipsen

zog, auf andere Weise und noch ungleich beglücken-

der, in der Ahnung ihrer Schönheit. Längst waren wir

alle ja entwöhnt jeden Bedientwerdens, und auch nicht

mehr willens, es an uns geschehen zu lassen. Keinen

an uns heranlassen, für sich selber sorgen! Doch von

einer solchen Schönheit, oder überhaupt von der

Schönheit, bedient zu werden, das konnte uns wieder

gefallen. Und schön erschien uns an dieser fremden,

eher schemenhaften Frau vordringlich deren Hüfte:

die immerhin war, zwischen Licht und Halbdunkel,

zeitweise klar zu sehen. Eine Kurve, die im Einklang

war mit den Bewegungsabläufen ihres Betreuens,

nein, ihres Zuvorkommens, ja, ihres Zuvorkommens.

Schön erschien uns diese Hüfte? An ihr erschien uns

die Schönheit. Die ganze Frau, der ganze Mensch

dort konnte nur dem entsprechend schön sein. Und

die Schönheit dieser Hüfte strahlte Güte aus. In der

Hüftkurve fielen Schönheit und Güte zusammen.

Die Hüfte der fremden Frau war, ohne einen Extra-

Schwung, der Sitz der Güte.

Frage dann, unausgesprochene, als der Bootsherr,

nach seinem, im übrigen uns von den anderen Treffen