Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

8
Geisteswissenschaften Rubin 1/0 Wie nahe sind wir dem Klang von 1755? Die großen Meister des Orgelbaus schufen jedes einzelne Instrument als maßgeschneidertes Einzelstück für seinen jeweiligen Standort und seine spezielle Aufgabe. Durch Zerstörung, Wiederaufbau und Restaurierung wurden die Orgeln im Laufe der Jahrhunderte oft verändert, zum Beispiel höher gestimmt. Heute macht man sich auf die Suche nach dem originalen Klangcharakter, etwa der Sil- bermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche. Sie wurde im Zuge einer umfassenden Restaurierung wieder in die ori- ginale, tiefere Stimmung gebracht. Musikwissenschaftler und Ingenieure haben die Auswirkungen dieses Eingriffs untersucht. Prof. Dr. Christian Ahrens, Fach- gruppe Musikwissenschaft der Ruhr- Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Assist. Prof. Dipl.-Phys. Dr. Dr. Jonas Braasch, McGill Universi- ty Montreal, Dipl.-Ing. Sebastian Schmidt, Institut für Kommunikati- onsakustik der Ruhr-Universität Bo- chum, Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik C. Ahrens J. Braasch S. Schmidt Abb. 1: Pfeifen der Silbermann-Orgel in der Dresdner Hofkirche Dresdner Hofkirche Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der Restaurierung:

Transcript of Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

Page 1: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

Geisteswissenschaften

Rubin 1/0�

Wie nahesind wir

dem Klangvon 1755?

Die großen Meister des Orgelbaus schufen jedes einzelne Instrument als maßgeschneidertes Einzelstück für seinen jeweiligen Standort und seine spezielle Aufgabe. Durch Zerstörung, Wiederaufbau und Restaurierung wurden die Orgeln im Laufe der Jahrhunderte oft verändert, zum Beispiel höher gestimmt. Heute macht man sich auf die Suche nach dem originalen Klangcharakter, etwa der Sil-bermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche. Sie wurde im Zuge einer umfassenden Restaurierung wieder in die ori-ginale, tiefere Stimmung gebracht. Musikwissenschaftler und Ingenieure haben die Auswirkungen dieses Eingriffs untersucht.

Prof. Dr. Christian Ahrens, Fach-gruppe Musikwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Assist. Prof. Dipl.-Phys. Dr. Dr. Jonas Braasch, McGill Universi-ty Montreal, Dipl.-Ing. Sebastian Schmidt, Institut für Kommunikati-onsakustik der Ruhr-Universität Bo-chum, Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik

C. Ahrens J. Braasch S. Schmidt

Abb. 1: Pfeifen der Silbermann-Orgel in der Dresdner HofkircheDresdner Hofkirche

Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der Restaurierung:

Page 2: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

Geisteswissenschaften

Rubin 1/0�

----- EinschwingvorgangDer Aufbau des Orgelklanges vom Zeit-punkt des Windeintritts bis zur Stabilisie-rung des Klanges. Der Einschwingvor-gang ist spezifisch für jedes Musikinstru-ment und ermöglicht es dem Hörer, dessen Klang zu identifizieren.----- FormantDas Spektrum von Sprachvokalen (und musikalischen Klängen) besteht aus ein-zelnen Linien, deren Spitzen eine be-stimmte Kurve darstellen (deren Einhül-lende). Die besonders stark ausgeprägten Bereiche der spektralen Einhüllenden kennzeichnen die Lage der Formanten, die für jeden Vokal spezifisch und charakteri-stisch sind. Einzelne Orgelpfeifen können z.B. eher wie ein gesprochenes „a“ klin-gen, oder wie ein „o“. Pfeifen, die wie „e“ oder „i“ klingen, werden als unangenehm

1750: Baubeginn der Hofkirchenorgel2. 2. 1755: Orgelweihe1944: Auslagerung großer Teile der Orgel13. 2. 1945: Gehäuse und Bälge verbrennenPfingsten 1971: Wiederinbetriebnahme nach Wiederauf-bau und Höherstimmung auf aktuellen KammertonEnde 2001: Abbau der Orgel zur Restaurierung2002: Restaurierung und Tieferstimmung auf den Originalstimmton3.11.2002: Wiedereinweihung der Orgel

Abb.:Orgelpfeifen können an ihrer Mündung unterschiedlich abgeschlossen werden, um den Klangcharakter ihres Registers hervorzuheben. Von oben nach unten er-kennt man vollständig verschlossene (ge-dackte) Pfeifen, gedackte Pfeifen mit auf-gesetztem Röhrchen („Rohrflöte“), meh-rere Reihen offener Pfeifen und ganz un-ten ein Register mit einer Aussparung an den Pfeifendeckeln.

flöte, d.h. der Luftstrom wird auf eine scharfe Kante, das Labium, gelenkt, letzte-re nach dem der Klarinette, d.h. einer auf-schlagenden, im Luftstrom schwingenden Zunge. Die Zungenpfeifen der Orgel sind zumeist deutlich lauter als Lippenpfeifen und dienen daher in der Regel der Klang-verstärkung.----- Mensurbei den Labialen das Verhältnis von Län-ge und Weite, das (neben der Art der Öff-nung – des Labiums – und der Becher-form) den Klang entscheidend beeinflusst. Bei Lingualen wird der Klang stärker von der Zunge als von Länge und Form des Bechers bestimmt.----- ObertöneJeder harmonische Klang enthält Ober-töne, die sich in einem festen Verhält-nis (ganzzahlige Vielfache der Grundfre-quenz: z.B. 100 Hz, 200 Hz, 300 Hz, 400 Hz, 500 Hz etc.) über dem Grundton auf-bauen. Je größer der Anteil der Obertöne ist und je höher diese hinaufreichen, des-to strahlender wirkt der Klang.

empfunden (s. auch Abb. 9). Der Formantbe-reich ist unabhängig von der Tonhöhe. For-mantbereiche zum Anhören stehen im Inter-net unter: http://www.ias.et.tu-dresden.de/sprache/lehre/multimedia/formant/----- GedacktOrgelpfeifen sind überwiegend offen, bei Labialen kann das Pfeifenkorpus aber oben geschlossen (gedeckt/gedackt) sein. Dadurch wird der Ton um eine Oktave tiefer, zudem werden bestimmte Obertöne unterdrückt; es bleiben z.B. die Frequenzen 100 Hz, 300 Hz, 500 Hz etc. Dieser besondere Obertonaufbau bewirkt eine deutliche Veränderung, hin zu einem obertonarmen, eher matten, gelegent-lich auch hohlen Klang (s. Abb.)----- Labiale (Lippenpfeifen)----- Linguale (Zungenpfeifen) die beiden Typen von Orgelpfeifen; erstere funktionieren nach dem Prinzip der Block-

In Dresden besaßen einst drei Kir-chen Orgeln von Gottfried Sil-

bermann (1�83–1�53), dem bedeu-tendsten sächsischen Orgelbauer: die Sophienkirche, die Frauenkirche und die Katholische Hofkirche. Aber nur die Hofkirchenorgel hat den Krieg überdauert (Abb. 1). Kurz vor dem verheerenden Bombenangriff im Fe-bruar 1945 wurden die Pfeifen ausge-lagert, lediglich das Gehäuse und die Windanlage verblieben in der Kirche und wurden dort ein Opfer der Flam-men. Nach dem Krieg hat man das prächtige Gehäuse anhand von histo-rischen Fotos rekonstruiert.

1�50 begann Silbermann den Bau

der Hofkirchenorgel; ihre Vollendung freilich hat er nicht mehr erlebt. Un-ter der Leitung seines Neffen Johann Daniel Silbermann, den der Meister als Universalerben eingesetzt hatte, brachten die erfahrenen Mitarbeiter den Bau der größten je von Gottfried Silbermann konzipierten Orgel – 4� Register auf drei Manualen und Pe-dal – zu Ende, die Weihe erfolgte am 2. Februar 1�55.

Nach Abschluss des Wiederaufbaus 19�1 galt die Hofkirchenorgel als In-begriff der handwerklich-klanglichen Meisterschaft Gottfried Silbermanns. Im Laufe der Zeit stellten sich jedoch Zweifel ein, ob der Klang tatsäch-

info1

Fachbegriffe

info2

Page 3: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

8

Geisteswissenschaften Rubin 1/0�

Um den Klang der Orgel in der Hofkirche vor und nach der Restaurierung zu doku-mentieren, wurden verschiedene Stücke vorher und nachher von demselben Or-ganisten gespielt und aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen sind auf CD erhältlich: Die Silbermannorgel in der Kathedrale zu Dresden vor und nach der Restaurierung, gespielt von Hansjürgen Scholze; HOROS Nr. 21102, Dresden 2002.Beschreibungen der Hofkirchen-Orgel vor dem Wiederaufbau finden sich in:Werner Lottermoser, Orgeln, Kirchen und Akustik, Frankfurt/M. 1983, Bd. 2Frank-Harald Greß, Die Klanggestalt der Orgeln Gottfried Silbermanns, Frankfurt/M. etc. 1989

Abb. 3 unten:Bei Metallpfeifen wurde zusätzliches Zinn-blech an die Oberkante der Becher gelötet. Abb. 3 links:Das Anlöten einer Verlängerung an der Oberkante konischer Pfeifen würde gleich-zeitig deren Mündungsdurchmesser ver-größern, was zu einer Klangänderung führt. Bei solch trichterförmigen Registern wurde die Zusatzlänge also am Pfeifenfuß angefügt.

Abb. 2:Hölzerne Pfeifen wurden durch zusätzlich angeleimte Bretter verlängert.

lich als authentisch angesehen wer-den könne, da insbesondere die Erhö-hung des Stimmtones, die sich auch in einer Höherstimmung der Hofkir-chen-Orgel niedergeschlagen hatte, den Klang dieses Instrumentes stark verändert haben musste: Da die Or-gel in der Hofkirche mit dem Hofor-chester zusammenwirken sollte, wur-de sie im Kammerton erbaut – übri-gens einen bis anderthalb Töne hö-her als die Mehrzahl der Orgeln je-ner Zeit. Der Kammerton stieg im Laufe der Zeit um ca. einen Halbton auf heute über 440 Hz an: Der Kam-merton steigt kontinuierlich wei-ter, denn je höher er ist, desto strah-lender wirkt der Klang, so dass Mu-siker ihre Instrumente immer höher stimmen. Um die Orgel den neuen Er-fordernissen anzupassen, kürzte man die Pfeifen beim Wiederaufbau kur-zerhand entsprechend. Dies aber be-wirkte zwangsläufig eine Veränderung des Klanges, der vor allem bestimmt wird durch das Verhältnis von Länge zu Breite einer Pfeife, die sog. Men-

sur (s. Info 1, S.�).Im Zuge einer umfassenden Res-

taurierung durch die Dresdner Orgel-baufirmen Wegscheider und Jehm-lich sollte die Hofkirchenorgel auf die ursprüngliche, tiefere Stimmton-höhe und damit das vermutliche ori-ginale Klangbild zurückgeführt wer-den. Dafür wurden sämtliche ca. 5000 Pfeifen wieder verlängert – bei Holz-pfeifen werden Verlängerungen ange-leimt, bei Metallpfeifen angelötet (s. Abb. 2 und Abb. 3). Außerdem wur-de der Winddruck erhöht. Die klang-lich-akustischen Auswirkungen die-ser Arbeiten wollte man so umfas-send wie möglich dokumentieren: Verschiedene Kompositionen wurden mit identischer Registrierung und Mi-krofonaufstellung vor (Oktober 2001) und nach der Restaurierung (Novem-ber 2002) eingespielt und auf CD ediert (s. Info 3). Um die Beurteilung durch objektivierbare Aussagen ab-zusichern, wurden wir gebeten, akus- tische Untersuchungen durchzufüh-ren. Die ersten dafür erforderlichen

Messungen nahmen wir im Septem-ber 2001, kurz vor dem Abbau der Orgel vor, die Kontrollmessungen im März 2005.

Mit der Rekonstruktion der Hofkir-chenorgel nach der kriegsbedingten Auslagerung hatte sich Werner Lotter-moser in seinem Buch „Orgeln, Kir-chen und Akustik“ von 1983 ausführ-

info3

Literatur und Musik

Page 4: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

Geisteswissenschaften

9

Rubin 1/0�

----- FFT (Fast Fourier Transformation; nach dem Entdecker der mathematischen Grundlage, J.B.J. Fourier) Durch eine mathematische Umformung wird aus dem gegebenen Zeitverlauf des Tonsignals eine Repräsentation im Fre-quenzbereich abgeleitet. Es ergibt sich ein Amplitudenvektor, dessen Komponenten gleichmäßig aufsteigend jeweils genau ei-ner Frequenz zugeordnet sind (s. Abb. 13). So lässt sich das Klangspektrum eines Tons analysieren.----- LPC-Analyse (Linear Predictive Co-ding, s. Abb. 5) Mit diesem Verfahren aus der Sprachver-arbeitung (dort zur Datenreduktion, z.B. in Mobiltelefonen, genutzt) kann man u.a. Formantbereiche eines Signals untersu-chen: Das LPC-Verfahren bildet das Über-tragungsverhalten des Mund- und Rachen-

Abb. 4: Die Messungen wurden inner-halb der Orgel, also direkt an den Pfeifen durchgeführt. Die mit dem Mikrofon auf-

genommenen Schallsignale wurden mit einem Notebook aufgezeichnet.

raums (das ist der Ort, an dem Formanten entstehen) eines Sprechers nach und liefert Informationen, die zur Bildung der spektra-len Einhüllenden genutzt werden können, auf der letztendlich die Formanten ables-bar sind – ob ein Ton also z.B. mehr wie ein gesprochenes a oder o klingt (s. auch Abb. 9).----- WaveletsAnalyse der zeitlichen Struktur der einzel-nen Frequenzkomponenten. Ein Gebilde, das einem kleinen Ausschnitt eines Sinus-signals bestimmter Frequenz gleicht (dies ist ein Wavelet), wird am Zeitsignal „vor-beigeschoben“. Liegt ein Abschnitt im Sig-nal vor, dessen Frequenz der des Wavelets entspricht, liefert die Waveletanalyse ei-nen besonders hohen Ausgangswert (in den Abbildungen rot – Abb. 5 bis 8). Für eine vollständige Untersuchung verwendet man ggf. mehrere Durchgänge mit Wavelets ver-schiedener Frequenz.

lich beschäftigt. Er attestierte der Or-gel einen besonders weichen, sonoren Klang, auch und gerade im Vergleich mit anderen Werken aus der Silber-mann-Werkstatt. Da er das Instrument aus der Zeit vor 1945 kannte, stellte er einen Vergleich des Zustandes vor und nach dem Wiederaufbau an und zog die Schlussfolgerung:

„Sie besitzt Einzelstimmen von besonderem Reiz und läßt in Klangkombinationen zau-berhafte Töne hören, die durch die Eigen-arten der etwas verschwimmenden Akustik einen wahrhaft transzendenten Eindruck ver-mitteln. Die Orgel klingt im jetzigen Zustand – das kann der Verfasser aus eigener Erinne-rung erklären – wesentlich schöner und viel mehr ‚nach Silbermann’, als dies vor 1945 der Fall war. (Lottermoser, S. 196f.“

Klingt die Orgel heute noch mehr „nach Silbermann“ als früher, ja, klingt sie überhaupt nach Silber-mann? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage vermögen die vorge-legten Untersuchungsergebnisse nicht zu geben. Wohl aber können sie zei-gen, was sich durch die Restaurie-rung verändert hat, auf welchen phy-sikalisch-akustischen Gegebenheiten also die allseits bemerkte Klangver-änderung basiert. Und sie vermögen die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welch weitreichende Auswirkungen Stimmtonveränderungen auf den Ge-samtklang einer Orgel haben.

Die Messungen dienten dem Ziel, Daten zu sammeln, anhand derer die verschiedenen Aspekte des Klanges,

vor allem aber die qualitative Verän-derung jener Parameter beurteilt wer-den konnten, die den Höreindruck be-einflussen – etwa Spektralgehalt und Klangfarbe der Pfeifenklänge, Ober-tongewichtung und Einschwingver-halten (s. Info 1).

Fast zehn Sekunden Nachhall

Für jedes Register nahmen wir Ein-zeltöne von ca. fünf Sekunden Dau-er auf – c und fis in allen Oktaven; in der Großen Oktave als tiefsten Ton D (Abb. 4). Wir zeichneten immer drei Töne nacheinander auf, jeweils ge-trennt durch eine Pause, die länger

war als der Nachhall, der in der Hof-kirche fast zehn Sekunden erreicht. Die Töne c und fis wählten wir, weil sie beide auf derselben Seite der Orgel liegen. Die Pfeifen sind üblicherwei-se in Blöcken links – C-Seite – und rechts – Cis-Seite – im Orgelgehäuse in Ganztönen aufsteigend angeordnet. So war es möglich, die Messung auf einer Seite der Orgel durchzuführen und Raumeinflüsse aufgrund der un-terschiedlichen Standorte der einzel-nen Pfeifen zu minimieren.

Bei der Schallaufzeichnung wur-de das Mikrofon bei offenen Pfei-fen ca. fünf Zentimeter von der Mit-telachse entfernt und ca. 20 Zentime-

Technische Methoden

info4

Page 5: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

10

Geisteswissenschaften Rubin 1/0�

Abb. 7 und 8: Das Register

Quintadehn 16‘ profitiert vom

Umbau durch ei-nen definierteren Einsatz der cha-

rakteristischen Quinte, hier bei

etwa 260 Hz. Zusätzlich er-höht sich die

Intensität der Obertöne leicht.

Abb. 5 und 6: Die Wavelet-Ana-lyse zeigt für die

Einschwingphase den Aufbau der Obertöne. Die-se werden hier durch die kräf-tig rot gefärb-

ten Bereiche re-präsentiert. Je

weiter oben sich ein Teilton befin-det, desto höher

klingt er. Die Zeit verläuft von links nach rechts, ganz

links liegt der Moment der Ven-tilöffnung an der Pfeife. Nach der

Restaurierung weisen die Pfei-

fen des Regis-ters Octav-Bass 8‘ einen schnel-leren und reich-

haltigeren Ober-tonaufbau mit ei-

ner prägnanten Anblasphase auf.

ter über der Becheröffnung platziert (zu den Pfeifenarten siehe Info 1). Bei gedackten Pfeifen wurde der Klang etwa 20 Zentimeter vom Labium ent-fernt aufgenommen. Die Messreihen sollten die Pfeife im Gesamtkontext der Orgel wiedergeben und die Än-derung der Klangparameter durch den Orgelumbau dokumentieren. Die Messungen fanden nachts statt, um möglichst wenig Straßenlärm aufzu-zeichnen.

Nächtliche Messungen ohne Verkehrslärm

Wir nahmen eine Analyse der stati-onären Klangspektren mittels der FFT (Fast Fourier Transformation, s. Info 4, S.9) sowie eine Zeitsignalanaly-se vor. Um Aspekte des gemischten Zeit-/Frequenzbereichs erfassen zu können, wurde auch eine Wavelet-transformation (s. Info 3) durchge-führt, die Frequenzverläufe über der Zeit auflösen kann, und Rückschlüsse z.B. auf das Einschwingverhalten er-möglicht. Weiterhin zogen wir andere spektrale Analyseverfahren zur Unter-suchung der Obertonverhältnisse her-an, namentlich das Linear Predictive Coding (LPC, s. Info 3), das es u.a. erlaubt, Formantbereiche (s. Info 1) zu bestimmen. Die Verfahren, bei de-nen Spektren sog. stationärer Signale untersucht werden, erfordern die Ab-grenzung eines Klangabschnitts, in dem keine gröberen Schwankungen im Zeitsignal auftreten. Das heißt, dass der Einschwingvorgang abge-schlossen sein muss – das definiert den stationären Zustand. Dazu wähl-ten wir einen Abschnitt von zwei Se-kunden aus, der eine Sekunde nach dem Klangeinsatz beginnt. Anhand dieses stationären Tonsignals las-sen sich z.B. die Stimmung und die Klangfarbe analysieren.

Unsere Messungen zeigten, dass sich durch die neue Stimmung die Zahl der Obertöne, namentlich der höherliegenden, vergrößert hat, was direkte Auswirkungen auf die Klang-farbe hat (s. Abb. 5 und �): sie ist jetzt prächtiger und voluminöser. Auch ver-besserte sich der Einschwingvorgang:

Page 6: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

Geisteswissenschaften

11

Rubin 1/0�

Abb. 9: Spektrale Einhüllende aus

einer LPC-Analyse. Ausge-prägte Spitzen bestimmen

den Formantbereich, d.h. als welcher gesprochene Vokal

der Klang am ehesten wahr-genommen wird. Der For-

mantbereich lag vor der Re-staurierung im sog. „Näsel-bereich“ (ca. 500–600 und ca. 1.200–1.800 Hz), nach-

her bei a oder å (800–1.000 Hz), was als angenehmer

empfunden wird.

Die Zeit, innerhalb derer die Obertö-ne zu klingen beginnen und der Ge-samtklang sich stabilisiert, verringer-te sich deutlich (s. Abb. � und 8), das gibt dem Orgelklang mehr Präsenz und macht die Musik besser durch-hörbar. Der Formantbereich hat sich aus dem als negativ empfundenen sog. ‚Näselbereich’ (ca. 500–�00 und ca. 1.200–1.800 Hz) in den Be-reich der Vokale a und å (= offenes o wie in „hoffen“) (800–1.000 Hz) ver-schoben, was einen offenen, dunkler timbrierten Klangcharakter zur Folge hat (s. Abb. 9).

Alle diese Veränderungen führten zu einer besseren Durchsichtigkeit und Präsenz des Orgelklanges – Fak-toren also, die zwar wahrnehmbar, messtechnisch aber nicht einfach zu fassen sind. Die Spektralanalyse eines Stückes, das vor und nach der Restau-

Anzeige

Page 7: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

12

Geisteswissenschaften Rubin 1/0�

Abb. 11: Labial- oder Lippenpfeifen besitzen eine Mundöffnung (links im Bild). An ihrer Unterkante tritt der Luftstrom aus. Strö-mungsdynamische Effekte an der Oberkan-te führen zu einer Schwingung des Stroms, deren Frequenz vorwiegend durch die Län-ge der Pfeife bestimmt wird.

Abb. 10: Die spektra-le Darstellung (Terzfilter-Zer-legung) (Georg Böhm, Freu dich sehr, o meine Seele; Partita 5; braun: hohe En-ergie bis blau: niedrige Ener-gie) zeigt die Zunahme der In-tensität im Fre-quzenzbereich über 1500 und unter 350 Hz.

rierung eingespielt wurde, lässt zwei Phänomene deutlich erkennen: zum einen eine Intensitäts-Anhebung im Obertonbereich (über ca. 1.500 Hz), was eine Steigerung der Brillanz be-wirkt, zum anderen eine Zunahme der Gravität (Schwere), die sich in einer Intensivierung des Frequenzbereichs unterhalb ca. 350 Hz äußert (s. Abb. 10): Der Klang ist voller und tiefer; er wirkt, als hätte man eine Unterok-tavkoppel zugeschaltet, d.h. von der Möglichkeit der Orgel Gebrauch ge-macht, zu jedem gespielten Ton den gleichen Ton eine Oktave tiefer mit-spielen zu lassen.

Überraschend ist, dass einige Un-tersuchungsergebnisse gängigen The-sen von der Wirkung bestimmter Ein-griffe in die Pfeifensubstanz gerade-zu widersprechen. So stellte W. Lot-

termoser in Bezug auf die Orgel der Hofkirche fest:

„Die Korpusquerschnitte waren bis zu einem Halbton erweitert worden, was zur Folge hatte, daß die Klänge aller Pfeifen etwas grundtöniger wurden. Bei den Zungenstim-men wog die Verkürzung der Zungen bei der Höherstimmung bei gleichzeitiger Höher-stimmung der Becher durch Stimmschlitze nicht so schwer, [...]. Die Obertonzusam-mensetzung dieser Register [i.e. Zungenstim-men] dürfte demnach dem Originalzustand besser entsprechen als die der Labialpfei-fen. In der Tat zeichnen sich die Zungenpfei-fen durch besonders sonore sowie brillante Klänge aus.“ (Lottermoser, S. 192f.)

Die Untersuchungen zeigen dem-gegenüber, dass die Veränderungen, die die Restaurierung an einigen Zun-genstimmen (s. Abb. 11, diese funk-tionieren, im Gegensatz zu blockflö-tenartigen Labialpfeifen (Abb. 12),

ähnlich wie die Klarinette, d.h. Ton-erreger ist ein auf eine Hohlkehle aufschlagendes metallenes Blatt) be-wirkte – etwa Chalumeau 8’, Clairon-bass 4’ oder Posaunenbass 1�’ –, min-destens so schwer wiegen wie die an Labialstimmen. Es scheint sogar, als hätten die Eingriffe bei den Zungen-stimmen stärkere Auswirkungen auf den Gesamtklang als die an den La-bialstimmen (s. Abb. 13).

Ergebnisse widersprechen gängigen Thesen

Messungen und Analysen erbrach-ten neben den physikalisch-akus- tischen Erkenntnissen ein weiteres überraschendes Ergebnis: Gottfried Silbermann bzw. seinen Mitarbeitern war offenkundig eine perfekte klang-lich-akustische Einheit von Orgel und Kirchenraum gelungen. Die Men-surerweiterung im Zuge der Stimm-tonerhöhung nach dem Wiederauf-bau der Orgel führte jedoch zu einer Formant- und Intensitätsverschiebung in einen Bereich, in dem der Orgel-klang weniger gut mit den akusti-schen Gegebenheiten des Kirchen-raumes harmonierte und sich nicht mehr optimal entfalten konnte. Und in der Tat zeigt sich bei der Analy-se der Klangspektren, dass durch die Restaurierung der Formantbereich deutlich nach unten verschoben wur-de, und zwar in den Tonraum zwi-schen �00 und 1.000 Hz (Vokale o, å und a). Dadurch hat der Klang der Hofkirchenorgel erheblich an Gravität und Fülle, zugleich aber auch an Fein-heit und Präsenz gewonnen (s. Abb. 14 und 15)

Optimale Harmonie zwischen Instrument und Raum

.Dass die Versetzung einer Orgel

innerhalb einer Kirche oder in einen anderen Raum gravierende Auswir-kungen auf den Klang des Instrumen-tes hat, war in der Literatur vielfach beschrieben worden (z.B. Greß, S. 9�f.). Unsere Untersuchungen lassen jedoch den Schluss zu, dass Eingriffe in den Klangkörper und die Klang-

Abb. 12: Bei Lingual- oder Zungenpfeifen schwingt eine Metallzunge im Luftstrom. Sie befin-det sich wie beim hier gezeigten Trompe-tenregister im hölzernen Fuß der Pfeife. Die trichterförmigen Metallbecher dienen der Klangformung.

Page 8: Die Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche nach der ...

Geisteswissenschaften

13

substanz einer Orgel Veränderungen bewirken können, die einer Verset-zung gleichkommen, selbst wenn die Orgel nicht aus ihrer Umgebung herausgelöst wird. Demnach grenzt eine Veränderung der ursprünglichen Stimmtonhöhe in historischen Orgeln von dieser Größe und Qualität an ein Sakrileg, denn sie hat weitreichende Konsequenzen für den Gesamtklang. Dieser wird aus der vom Erbauer be-absichtigten und realisierten Symbio-se mit den akustischen Gegebenheiten des Raumes herausgerissen, die Ein-heit wird zerstört, die Orgel verliert ihre ursprüngliche klangliche Indivi-dualität.

Ob Veränderungen der Stimmton-höhe in anderen Räumen zu ähnlich schwer wiegenden Auswirkungen wie in der Hofkirche geführt haben, muss zwar vorderhand offen bleiben, doch lässt es sich nicht grundsätzlich aus-schließen – auch das spricht für einen sehr viel sorgfältigeren und vorsich-tigeren Umgang mit derartigen Maß-nahmen. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es dringend geboten, weitere historische Orgeln auf ihre ursprüng-liche Stimmtonhöhe zurückzuführen und dadurch ihr altes, optimal auf den Raum abgestimmtes Klangbild zu re-konstruieren, zumindest wieder an dieses heranzuführen.

Rubin 1/0�

Abb. 13: (FFT-Analyse)Deutliche Zunahme von Zahl und Intensi-tät der Obertöne nach der Restaurierung.

Abb. 14 und 15:Der Ausklang der Orgel ist im heutigen Zu-

stand deutlich gleichmäßiger als vor der Restaurierung und passt sich viel besser an das (hier nicht gezeigte) Nachhallverhalten

des Kirchenraumes an.

Klangbeispiele („Freu dich sehr, o mei-ne Seele“, Georg Böhm, 1��1 - 1�31) vor und nach der Restaurierung unter: http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rbin1_0�/toene/