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ZaöRV 69 (2009), 365-396 Die Verfassung der Republik Aserbaidschan – Entwicklungslinien und Perspektiven Gerd Morgenthaler*/Christian Heuser** I. Einleitung 365 II. Die neuere Verfassungsgeschichte Aserbaidschans 368 1. Von den Anfängen bis zur Aserbaidschanisch Demokratischen Republik 368 2. Die Eingliederung in die Sowjetunion und erneute Unabhängigkeit 370 3. Die Entwicklung seit der Machtübernahme Heydar A l i j e w s 374 III. Die Aserbaidschanische Verfassung von 1995: Inhalt und politische Praxis 375 1. Formaler Aufbau der Verfassung und Rechtsnormenhierarchie 375 2. Leitprinzipien, Grundrechte und Staatsorganisation 377 3. Das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan 381 4. Die Verfassungsänderung von 2002 383 5. Die Verfassungsänderung von 2009 387 6. Die Verfassungswirklichkeit 389 IV. Ausblick 391 Summary 395 I. Einleitung Aserbaidschan gerät aufgrund seiner geopolitischen Schlüsselposition im südli- chen Kaukasus zunehmend in das Blickfeld der internationalen Politik, insbeson- dere wegen des schwelenden Konflikts mit Armenien um Berg-Karabach 1 und als wichtiger Produktions- und Transitstaat von Öl und Gas. Wie viele andere ehema- lige Sowjetrepubliken gilt auch dieses junge Land als Transformationsstaat, der auf dem langen Weg zu Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit er- heblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Das am 18. März 2009 abgehaltene Re- ferendum über eine neuerliche Änderung der Verfassung 2 soll hier zum Anlass ge- nommen werden, aus juristischer Sicht zur Analyse der Lage beizutragen. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 musste das Land zunächst einen wirtschaftlichen Niedergang hinnehmen, der nicht nur durch den Krieg mit Armenien verursacht war, sondern auch durch das Fortwirken der sowjetischen * Prof. Dr. iur., Universität Siegen. ** Rechtsanwalt, wiss. Mitarbeiter, Universität Siegen. 1 Zur Entwicklung seit Ende des georgisch-russischen Krieges: B a b a j e w , Weiterungen des Ge- orgienkrieges – Bewegung im Konflikt um Bergkarabach, in: Osteuropa 58 (2008), Heft 11, 55 ff. 2 Azərbaycan Respublikasının Konstitusiyası; Englisch ohne Präambel: Council of Europe, Venice Commission, CDL (2003) 048, Straßburg, 10.7.2003; Deutsch mit Präambel (unautorisierte Überset- zung): GTZ (Hrsg.), Verfassungen Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Tbilissi 2007, 53 ff. Beide Fas- sungen sind noch auf dem Stand 2002. Eine Übersicht über die Änderungen aus dem Jahr 2009 findet sich in englischer Sprache bei: Council of Europe, Venice Commission, Draft Amendments to the Constitution of the Republic of Azerbaijan, CDL (2009) 025, Straßburg, 26.2.2009. http://www.zaoerv.de/ © 2009, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

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ZaöRV 69 (2009), 365-396

Die Verfassung der Republik Aserbaidschan – Entwicklungslinien und Perspektiven

Gerd Morgenthaler*/Christian Heuser**

I. Einleitung 365 II. Die neuere Verfassungsgeschichte Aserbaidschans 368 1. Von den Anfängen bis zur Aserbaidschanisch Demokratischen Republik 368 2. Die Eingliederung in die Sowjetunion und erneute Unabhängigkeit 370 3. Die Entwicklung seit der Machtübernahme Heydar A l i j e w s 374 III. Die Aserbaidschanische Verfassung von 1995: Inhalt und politische Praxis 375 1. Formaler Aufbau der Verfassung und Rechtsnormenhierarchie 375 2. Leitprinzipien, Grundrechte und Staatsorganisation 377 3. Das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan 381 4. Die Verfassungsänderung von 2002 383 5. Die Verfassungsänderung von 2009 387 6. Die Verfassungswirklichkeit 389 IV. Ausblick 391 Summary 395

I. Einleitung

Aserbaidschan gerät aufgrund seiner geopolitischen Schlüsselposition im südli-chen Kaukasus zunehmend in das Blickfeld der internationalen Politik, insbeson-dere wegen des schwelenden Konflikts mit Armenien um Berg-Karabach1 und als wichtiger Produktions- und Transitstaat von Öl und Gas. Wie viele andere ehema-lige Sowjetrepubliken gilt auch dieses junge Land als Transformationsstaat, der auf dem langen Weg zu Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit er-heblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Das am 18. März 2009 abgehaltene Re-ferendum über eine neuerliche Änderung der Verfassung2 soll hier zum Anlass ge-nommen werden, aus juristischer Sicht zur Analyse der Lage beizutragen.

Unmittelbar nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 musste das Land zunächst einen wirtschaftlichen Niedergang hinnehmen, der nicht nur durch den Krieg mit Armenien verursacht war, sondern auch durch das Fortwirken der sowjetischen

* Prof. Dr. iur., Universität Siegen.

** Rechtsanwalt, wiss. Mitarbeiter, Universität Siegen.

1 Zur Entwicklung seit Ende des georgisch-russischen Krieges: B a b a j e w , Weiterungen des Ge-

orgienkrieges – Bewegung im Konflikt um Bergkarabach, in: Osteuropa 58 (2008), Heft 11, 55 ff. 2 Azərbaycan Respublikasının Konstitusiyası; Englisch ohne Präambel: Council of Europe, Venice

Commission, CDL (2003) 048, Straßburg, 10.7.2003; Deutsch mit Präambel (unautorisierte Überset-zung): GTZ (Hrsg.), Verfassungen Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Tbilissi 2007, 53 ff. Beide Fas-sungen sind noch auf dem Stand 2002. Eine Übersicht über die Änderungen aus dem Jahr 2009 findet sich in englischer Sprache bei: Council of Europe, Venice Commission, Draft Amendments to the Constitution of the Republic of Azerbaijan, CDL (2009) 025, Straßburg, 26.2.2009.

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Wirtschaftsstrukturen, die so ausgerichtet waren, dass die Aserbaidschanische So-zialistische Sowjetrepublik (ASSR) bei vergleichsweise schwacher Industrialisie-rung viele Fertigwaren aus anderen Republiken importieren musste, während der ASSR selbst die Aufgabe zukam, die wirtschaftlichen Zentren der Union – vor al-lem das europäische Russland und die Ukraine – mit Erdöl, Agrarprodukten und Industrierohstoffen zu versorgen.3 In der Phase der frühen Unabhängigkeit war Aserbaidschan außerdem von innenpolitischen Krisen geprägt. Eine allmähliche Stabilisierung der Verhältnisse setzte erst ab 1993 ein, als Heydar A l i j e w , der be-reits zu Sowjetzeiten in der ASSR eine führende Position eingenommen hatte, das Präsidentenamt übernahm und einen aufgrund seiner autokratischen Tendenz nicht unumstrittenen Konsolidierungskurs begann. In wirtschaftlicher Hinsicht konnte ab 1994 mit dem in diesem Jahr geschlossenen sogenannten “Jahrhundert-vertrag”, der zum Zweck der Ausbeutung der reichen Ölvorkommen mit ausländi-schen Konzernen geschlossen wurde, eine langsame Erholung erreicht werden, die schließlich in ein bemerkenswertes und anhaltendes Wirtschaftswachstum münde-te.4 Dessen ungeachtet ist der Übergang zur Marktwirtschaft bis heute nicht voll-ständig gelungen: Aserbaidschan sieht sich gerade wegen seines Ressourcenreich-tums der Gefahr des sogenannten Fluchs der Ressourcen ausgesetzt, dessen be-kanntestes Symptom die viel zitierte “Holländische Krankheit” ist. Gemeint ist hiermit eine stark einseitige Wirtschaftsentwicklung, bei der durch massive Investi-tionen in den Rohstoffsektor und die damit einhergehende Flut an Devisen die ei-gene Währung unter Druck gerät und zudem die Wettbewerbsfähigkeit der verar-beitenden Industrie und der Landwirtschaft zurückgehen.5 Um diesen Auswirkun-gen des Rohstoffreichtums zu entgehen, wurde 1999 der staatliche Ölfonds SO-FAZ (State Oil Fund of the Azerbaijan Republic) eingerichtet, der nach norwegi-schem Vorbild die Öleinnahmen für die künftigen Generationen erhalten soll, je-doch aufgrund unzureichender Transparenz in der Kritik steht.6

3 Dieser Sachverhalt ist als “interner Kolonialismus” bezeichnet worden, vgl. B a r i s i t z , GUS-

Reformnachzügler Armenien, Aserbaidschan, Georgien: Wirtschaftliche Erholung durch politisch-militärische Dauerkrise gehemmt, in: Osteuropa-Wirtschaft 40 (1995), 341, 342; B a r d t , Zwischen Sowjetlasten und Ölboom: Aserbaidschan im Transformationsprozess, in: Osteuropa-Wirtschaft 49 (2004), 162, 164.

4 Zur Ölpolitik Aserbaidschans: G u r b a n o v , Die Energiewirtschaft in Aserbaidschan – Eine all-

gemeine Analyse, in: Wenzel (Hrsg.), Der Kaspische Raum: Ausgewählte Themen zu Politik und Wirtschaft, Bamberg 2007, 93 ff.; B e u t e l , Ölpolitik in Aserbaidschan – Politische und wirtschaftli-che Geschichte nach dem Zusammenbruch der UdSSR, Berlin 2004, zugl. Diss. FU Berlin 2004; N a -b i y e v , Erdöl- und Erdgaspolitik in der kaspischen Region, Berlin 2003, zugl. Diss. FU Berlin 2003.

5 Eine Einführung in die zahlreichen Facetten der Probleme von Rohstoffökonomien geben

S c h u l d t / A c o s t a , Ölrenten und Unterentwicklung: ein unauflösbarer Zusammenhang?, in: Inter-nationale Politik und Gesellschaft 4/2006, 63, 64 ff; siehe auch S e i f e r t / W e r n e r , Schwarzbuch Öl, Lizenzausgabe für die bpb, Bonn 2006, 187 ff., die die Begriffe “Ressourcen-Fluch” und “Holländi-sche Krankheit” synonym verwenden.

6 K a l y u z h n o v a , Overcoming the Curse of Hydrocarbon: Goals and Governance in the Oil

Funds of Kazakhstan and Azerbaijan, in: Comparative Economic Studies 48 (2006), 583 ff.; K a -l y o n c u , State-Building vs. Resource Management (The Case of Azerbaijan and Its Oil Fund Man-agement), in: Central Asia and the Caucasus Nr. 1 (37), 2006, 125, 130 ff.; R a s i z a d e , Azerbaijan af-

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Aserbaidschan ist zusammen mit der gesamten kaspischen Region in den ver-gangenen Jahren durch seine Ölvorkommen sowie durch die 2005 fertig gestellte BTC-Pipeline,7 die von Baku über Tiflis in das türkische Ceyhan am Mittelmeer führt, noch stärker in das Bewusstsein der USA und Europas gerückt. Europa strebt nach einer Strategie zur Diversifikation seiner Energieversorgung, in welcher Aserbaidschan eine große Rolle spielt. Sichtbarer Ausdruck des gestiegenen euro-päischen Interesses ist die Einsetzung eines Sonderbeauftragten für den Südkauka-sus im Jahr 2003 sowie die Beteiligung Aserbaidschans an der Europäischen Nach-barschaftspolitik (ENP).8 Der Wunsch der EU nach einer noch weitergehenden Annäherung an Aserbaidschan und weitere Nichtmitgliedsstaaten im Kaukasus und Osteuropa lässt sich mit den aktuellen Erörterungen über die Östliche Part-nerschaft (Eastern Partnership, EaP) belegen, deren Planungen seit Juni 2008 lau-fen und durch den Kaukasuskonflikt im August 2008 eine neue Bedeutung be-kommen haben.9

Aserbaidschan, das seit 2001 trotz bestehender Bedenken an seiner Beitrittsreife Mitglied des Europarates10 ist, hat nach seiner Unabhängigkeit wie alle Nachfolge-staaten der UdSSR nicht nur für die Einführung der Marktwirtschaft optiert, son-dern auch ein Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abgelegt. Es hat sein Rechtssystem – teilweise mit Hilfe ausländischer Berater – tiefgreifend verän-dert, um sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Allerdings verzeichnen Be-obachter im Allgemeinen ein starkes Missverhältnis zwischen den Reformen auf

ter Heydar Aliev, in: Nationalities Papers, Bd. 32 (2004), Nr. 1, 137, 148, der von einem Betrag von einer Milliarde US-Dollar spricht, den der Präsidenten-Clan jährlich in die eigenen Taschen umleite. Verbesserungen der Situation könnten sich aus der Teilnahme Aserbaidschans an der EITI (Extractive Industries Transparency Initiative) ergeben. Bei der EITI mit Sitz in Oslo handelt es sich um eine Ini-tiative, die sich das Ziel gesetzt hat, die Einnahmen aus dem Rohstoffsektor nachvollziehbar zu ma-chen, damit sie nicht in dunklen Kanälen versickern; <http://www.eitransparency.org/>.

7 S t a r r / C o r n e l l (Hrsg.), The Baku-Tbilisi-Ceyhan Pipeline: Oil Window to the West, Wa-

shington D.C. 2005, online verfügbar: <http://www.silkroadstudies.org/BTC.htm>, letzter Aufruf am 4.5.2009.

8 K l e i n , Die Beziehungen der EU zum Kaukasus: neue Dynamik ohne klare Strategie, in:

Bos/Dieringer (Hrsg.), Die Genese einer Union der 27, Wiesbaden 2008, 331 ff. – Die Beziehungen zwischen Europa und dem Südkaukasus und Aserbaidschan sind in der Vergangenheit zudem stärker in den akademischen Fokus gerückt, vgl. S o g h o m o n y a n , Europäische Integration und Hegemonie im Südkaukasus, Baden-Baden 2007, zugl. Diss. Marburg 2006; A h m a d o v a , Die Rolle Aserbai-dschans in der Kaukasus- und Zentralasienpolitik der Europäischen Union, Diss. Siegen 2006; M a y -e r , Die Europäische Union im Südkaukasus, Baden-Baden 2006, zugl. Diss. Frankfurt/Oder 2004.

9 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung an das Europäische Parlament und

den Rat, Östliche Partnerschaft, KOM(2008) 823 endgültig, Brüssel 3.12.2008, SEK (2008) 2974; der Gründungsgipfel fand am 7.5.2009 in Prag statt.

10 Hierzu S t i c h t , Der Beitrag des Europarats zur demokratischen Transformation in Mittel- und

Osteuropa seit 1989 am Beispiel von Ungarn, Rumänien und Aserbaidschan, Berlin 2006, zugl. Diss. Bonn 2006; B a b a j a n y a n , Integration des Südkaukasus in den Europarat, Münster 2007. Umfassend zu den Bemühungen internationaler Organisationen um Stabilisierung des Südlichen Kaukasus: G r e w l i c h , Transformation zum Rechtsstaat und völkerrechtliche Stabilisierung im Schatten geopo-litischer Interessen, in: Söllner u.a. (Hrsg), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, München 2005, 273, 276 ff.

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dem Papier und der Umsetzung in der Praxis. Häufig wird Aserbaidschan als Land mit grassierender Korruption11 dargestellt, das in Wirklichkeit von Clans be-herrscht werde. Diese stünden mit ihren Netzwerken über den staatlichen Struktu-ren, so dass die Gesetze und insbesondere auch die Verfassung nicht mehr als eine Fassade bildeten. Der mächtigste Clan sei derjenige der A l i j e w s , der es geschafft habe, das Präsidentenamt im Jahr 2003 reibungslos von Heydar A l i j e w an dessen Sohn I l h a m zu übergeben; seitdem wird die aserbaidschanische Variante des Machterhalts in der Literatur als “dynastischer Herrschaftswechsel”12 und “präsi-dentielle Monarchie”13 bezeichnet.

Nachdem das Referendum zur Verfassungsänderung von 2002 gemäß verbreite-ter Ansicht vor allem die Erleichterung der innerfamiliären Amtsübergabe – bei gleichzeitiger Schwächung der Opposition – bezweckt hatte, wurde jetzt, nach der erstmaligen Wiederwahl Ilham A l i j e w s zum Präsidenten im Oktober 2008, in einem weiteren Verfassungsreferendum im März 2009 das bisher bestehende ver-fassungsrechtliche Verbot der mehrmaligen Wiederwahl des Präsidenten aufgeho-ben. Dieser Schritt wird im Folgenden zum Anlass genommen, die wesentlichen Stationen der neueren aserbaidschanischen Verfassungsgeschichte nachzuzeichnen (unten II.), um auf dieser Grundlage den gegenwärtigen Stand der Verfassungs-entwicklung kritisch zu bewerten (III.) und abschließend einen Ausblick auf die Zukunft zu wagen (IV.).

II. Die neuere Verfassungsgeschichte Aserbaidschans

1. Von den Anfängen bis zur Aserbaidschanisch Demokratischen Republik

Das Gebiet der heutigen Republik Aserbaidschan14 war im Laufe der Jahrhun-derte häufig wechselnden Herrschaftsverhältnissen ausgesetzt. Als fremde Macht-haber lösten sich u.a. Perser, Griechen, Römer, Araber, Türken, Mongolen und –

11

W e i ß e n b e r g , Transformation und Korruption – Eine institutionenökonomische Analyse am Beispiel der Republik Aserbaidschan, Berlin 2003, zugl. Diss. Bochum 2003.

12 H e l m e r i c h , Vom Familienclan zur Erbdynastie – Der Sonderweg Aserbaidschans, in:

Bos/Helmerich (Hrsg.), Zwischen Diktatur und Demokratie, Berlin 2006, 135 ff.; H a l b a c h , Herbst der Patriarchen, SWP-Aktuell 49, November 2003, 1.

13 So bereits K a m r a v a , State Building in Azerbaijan: The Search for Consolidation, in: Middle

East Journal, Bd. 55 (2001), Nr. 2, 216, 218 und 233. 14

Die Republik Aserbaidschan, in der vermutlich weniger als ein Drittel der ethnischen Aserbai-dschaner (ca. 8 Mio.) lebt, bildet den Nordteil der historischen Region Aserbaidschan, deren Südteil völkerrechtlich zum Iran gehört. Ethnische Aserbaidschaner stellen im Iran nach amtlichen Angaben etwa ein Viertel (nach Schätzung unabhängiger Autoren: mit ca. 20 von 64 Mio. knapp ein Drittel) der Bevölkerung des Iran; s. dazu S h a f f e r , Borders and Brethren. Iran and the Challenge of Azerbaijani Identity, Cambridge (Ma.)/London 2002, 1 ff.

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immer wieder – Perser ab.15 So prägte zunächst die Lehre des Zarathustra, dann für kurze Zeit das gregorianische Christentum und nach 643 vor allem der Islam die Kultur der Region. Die Mehrheit der Aserbaidschaner bekannte sich ab dem 16. Jahrhundert zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam, seit diese sich in Persien unter der Safawiden-Dynastie16 durchsetzte.

Die Eingliederung des Territoriums der heutigen Republik Aserbaidschan in das russische Reich im Jahre 182817 brachte dem Land wie der gesamten Kaukasusregi-on nicht nur neue Verwaltungsstrukturen, sondern auch eine von den Zaren be-triebene systematische Kolonisierungs- und Alphabetisierungskampagne. Diese traf in den Bergen, vor allem im nördlichen Kaukasus, auf teils erbitterten Wider-stand, ließ aber in den Ebenen und insbesondere in den Städten südlich des Kauka-sus mit dem nun einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung eine neue Bürger-schicht entstehen, die allmählich zur russischen Sprache überwechselte und allge-mein einem starken russischen Kultureinfluss unterlag. Im Zuge des ersten Öl-booms18 Ende des 19. Jahrhunderts wurde Baku zur multiethnischen Metropole mit einem industriellen Umfeld, in dessen Arbeiterschaft bolschewistische Zellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder Generalstreiks organisierten.19

Aus heutiger Sicht ist diese letzte Phase der russisch-zaristischen Herrschaft in Aserbaidschan vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil sie nach den russi-schen Revolutionen von 1917 und Monaten des Übergangs am 28. Mai 1918 mit der Gründung der Aserbaidschanisch Demokratischen Republik20 (ADR) ihren Abschluss fand.21 Dieser Republik war indes nur eine kurze Existenz beschieden und schon am 28. April 1920 endete der erste Versuch aserbaidschanischer Eigen-staatlichkeit mit der Eroberung Bakus durch die Rote Armee.

Gleichwohl besitzt die ADR hohen Symbolwert. Mit Stolz wird sie in der aktu-ellen politischen Diskussion des Landes als erste parlamentarische Demokratie auf muslimischem Boden bezeichnet, die unter Garantie von Grundrechten und gro-ßer Freiheit einen in der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens bis dahin

15

Grundzüge der Geschichte Aserbaidschans bis zum Jahr 1746 bietet: A u c h , Muslim – Untertan – Bürger, Wiesbaden 2004, zugl. Habil. Bonn, 26 ff.

16 Die Safawiden-Dynastie selbst war aserisch-turkmenischer Herkunft, vgl. F ü r t i g , Iran –

Großmacht mit Ambitionen?, in: v. Gumppenberg/Steinbach (Hrsg)., Der Kaukasus, München 2008, 80.

17 Die Teilung Aserbaidschans in einen zu Russland gehörenden Nordteil und einen bei Persien

verbleibenden Südteil erfolgte durch die Friedensverträge von Gulistan (1813) und Turkmentschai (1828). Die damals vereinbarte Grenzlinie bildet bis heute die Grenze zwischen der Republik Aserbai-dschan und dem Iran.

18 Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Ölförderung in Aserbaidschan findet sich bei

B e u t e l (Anm. 4), 87 ff. 19

Im Jahr 1905 zerstörten Arbeiter unter der Führung von Josef S t a l i n gar Förderanlagen; S e i -f e r t / W e r n e r (Anm. 5), 121; B e u t e l (Anm. 4), 92.

20 Azərbaycan Xalq Cümhuriyyəti.

21 Einführend: F e n z , Transformation in Aserbaidschan – Nationalismus als Brücke zur Demo-

kratie?, Diss. Hamburg 2003, 48-60; vertiefend: A l t s t a d t , The Azerbaijani Turks, Stanford 1992, 89-107.

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unvergleichlichen Rechtsstaat errichtet habe.22 Die geistige Verbundenheit mit der ADR wird auch offiziell betont: So entsprechen z.B. die in Art. 23 AV festgelegten heutigen Staatssymbole (Flagge, Wappen und Hymne) weitgehend den in der ADR verwendeten Symbolen bzw. gehen auf Entwürfe aus der damaligen Zeit zu-rück23 und der Nationalfeiertag am 28. Mai erinnert an die Erklärung der Unab-hängigkeit der ADR im Jahr 1918. In offiziellen Dokumenten wie der Unabhän-gigkeitserklärung von 1991 betrachtet sich die Republik Aserbaidschan als Rechts-nachfolgerin der historischen aserbaidschanischen Demokratie.24

Dieser großen Bedeutung für die nationale Identitätsbildung entspricht aller-dings nur eine vergleichsweise schwache rechtshistorische Nachwirkung der ADR, weil es in der kurzen Zeit der Eigenstaatlichkeit nicht gelang, eine Verfassung zu verabschieden, obwohl es entsprechende Bestrebungen gegeben hatte.25 Nachdem zunächst einige staatsbildende Gesetze, etwa über die Regierung, das Parlament oder die Staatsbürgerschaft, erlassen worden waren, wurde zwar ein Verfassungs-entwurf erarbeitet, doch kam dieser wegen des Einmarschs der Roten Armee im Jahr 1920 nicht mehr zur Abstimmung.26

2. Die Eingliederung in die Sowjetunion und erneute Unabhängigkeit

Eine andere “erste” aserbaidschanische Verfassung trat kurz darauf im Zuge der Sowjetisierung Aserbaidschans in Kraft, als die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) gebildet wurde, die indessen schon im Jahr 1922 zusammen mit der Armenischen SSR und der Georgischen SSR in der Transkaukasischen So-zialistischen Föderalen Sowjetrepublik (TSFSR)27 zusammengeführt wurde. Im Jahr 1936 wurde die TSFSR unter S t a l i n wieder aufgespalten und die wiederer-richtete ASSR, die von da ab bis zum Ende der Sowjetunion fortbestand, erhielt

22

So H u s s e i n o w a , Aserbaidschan und seine Geschichte, in: Aserbaidschan Wostok Spezial, Berlin 2003, 7, 11, und N ä s i b z a d a , Der Weg des 28. Mai, in: Azadliq, Nr. 20, 24.5.1991, 1, 4-5, ab-gedruckt in: Osteuropa-Archiv 1992, A31, A33. Ähnlich B a d a l o w , Die Demokratie in Aserbai-dschan zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Diaspora, Öl und Rosen, Berlin 2004, 179, 181.

23 Das heutige Wappen und die heutige Nationalhymne waren im Jahr 1920 Beiträge eines Künst-

lerwettbewerbs, der zur Auswahl geeigneter Staatssymbole führen sollte. Wegen des Einmarsches der Roten Armee im April 1920 kam es nicht mehr zu einer endgültigen Auswahl. Nach der Unabhängig-keit entschied man sich für alte Symbole, die diesem Wettbewerb entstammten, vgl. hierzu die Darstel-lung auf einem Informationsportal über Aserbaidschan: <http://www.azerbaijan.az/_GeneralInfo/ _StateSymbols/_stateSymbols_e.html>.

24 Azərbaycan Respublikasının dövlet müstəqilliyi haqqında Konstitusiya Aktı, Nr. 222-XII, Ba-

ku, 18.10.1991, (Constitutional Act on the State Independence of the Republic of Azerbaijan 18.10.1991).

25 Vgl. hierzu die Literaturbesprechung von S c h l o e r in: Osteuropa-Recht 48 (2002), 391 ff.

26 A m r a h g i z i , The Making of A Democracy – Azerbaijan to Adopt Its First Constitution, in:

Azerbaijan International, Bd. 3, Nr. 3 (Herbst 1995), 68, 83; online: <http://www.azer.com/aiweb/ categories/magazine/33_folder/33_articles/33_democracy.html>.

27 Die TSFSR war Gründungsmitglied der UdSSR am 22.12.1922.

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kurz darauf im Jahr 1937 ihre zweite, an der sogenannten “S t a l i n -Verfassung” der UdSSR von 1936 orientierte Verfassung. Im Rahmen der Bestrebungen erneu-ter Verfassungsreformen auf der Unionsebene, die im Jahr 1977 zum Erlass der so-genannten “B r e s c h n e w -Verfassung”28 führten, erhielt schließlich auch die ASSR im Jahr 1978 eine entsprechende dritte Verfassung.29 Diese ist rechtsgeschichtlich insoweit bedeutsam, als sie nach dem Ende der Sowjetunion zunächst in Kraft blieb und somit eine wichtige staatsrechtliche Grundlage der ersten Transformati-onsjahre bildete.30 Soweit erforderlich wurden die Bestimmungen der alten Verfas-sung durch Verfassungsgesetze den neuen Entwicklungen angepasst.

Aserbaidschan erklärte sich am 23. September 1989 nach den baltischen Repu-bliken als vierte Sowjetrepublik für souverän. Die ASSR erließ zu diesem Zweck ein Verfassungsgesetz über die Souveränität der ASSR, in dessen Präambel Bezug genommen wurde auf das “unveräußerliche Recht des Volkes der ASSR auf freie und selbständige Bestimmung seines Schicksals” sowie auf die sowohl im Grün-dungsvertrag der UdSSR als auch in der geltenden Verfassung verankerte Souverä-nität der Unionsrepubliken.31 Im Jahr 1990 folgten alle weiteren Sowjetrepubliken nach. Mit der Souveränitätserklärung war allerdings noch kein Austritt aus der UdSSR verbunden. Vielmehr sollte der Staatenverbund auf eine neue Rechtsgrund-lage gestellt werden, wobei jedoch innerhalb der Republiken keine Einigkeit über die konkrete Ausgestaltung herrschte: Die meisten Republiken forderten eine neue Unionsverfassung, während Litauen und ähnlich auch Aserbaidschan für “zwi-schenstaatliche Verträge” plädierten.32 Rechtlich bewirkten die Souveränitätserklä-rungen einen Vorrang der Republikverfassungen und Republikgesetze vor dem Unionsrecht, was allerdings dem in der Verfassung der UdSSR in Art. 74 niederge-legten Vorrang des Unionsrechts vor dem Republikrecht klar widersprach.33

Auch hinsichtlich der sich anschließenden Unabhängigkeitserklärungen der Unionsrepubliken bildeten die baltischen Staaten im ersten Halbjahr 1990 die Avantgarde, der sich nach dem Augustputsch von 1991 weitere Republiken an-schlossen,34 so auch Aserbaidschan im August 1991. Die Existenz der UdSSR als Völkerrechtssubjekt endete schließlich am 26. Dezember 1991.

28 Hierzu umfangreich die Themenausgaben der Zeitschrift Osteuropa (1978), Heft 1 sowie der

Zeitschrift Osteuropa-Recht (1978), Heft 1/2. 29

Zu den Verfassungen der Teilrepubliken: U i b o p u u , Die Verfassungen der Unionsrepubliken der UdSSR, in: Osteuropa 29 (1979), Heft 10, 798, 810.

30 Dies war das in den sozialistischen Ländern nach dem Ende des Kommunismus übliche Vorge-

hen; s. z.B. für Kasachstan T h i e l e , Die Transformation Kasachstans von der Diktatur zur Demokra-tie, in: Osteuropa-Recht 52 (2006), 164, 166. Eine umfassendere Darstellung mit Diskussion der Vor- und Nachteile dieses Vorgehens findet sich bei S c h w e i s f u r t h / A l l e w e l d t , Die neuen Verfas-sungsstrukturen in Osteuropa, in: Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa, 2. Aufl., Berlin 1997, 45, 47 ff.

31 S c h w e i s f u r t h , Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS), in: ZaöRV 52 (1992),

541, 587. 32

Ibid., 541, 589. 33

Dazu ibid., 541, 590 ff. 34

Ibid., 541, 626 ff.

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In Aserbaidschan selbst war die Zeit zwischen der Proklamation der Souveräni-tät vom September 1989 und der Unabhängigkeitserklärung vom August 1991 überschattet von dem Konflikt mit der Nachbarrepublik Armenien um die Region Berg-Karabach und von innenpolitischen Machtkämpfen zwischen der alten kommunistischen Führung und oppositionellen Gruppen, allen voran der Volks-front Aserbaidschans.35 Auch innerhalb der Kommunistischen Partei war es seit der Souveränitätserklärung zu Auseinandersetzungen gekommen, in deren Folge Ajas M u t a l i b o v im Jahr 1990 neuer ZK-Chef wurde und zugleich das per Ver-fassungsgesetz eingeführte Präsidentenamt übernahm.36 Nach dem Moskauer Au-gustputsch von 1991 löste sich die Aserbaidschanische Kommunistische Partei auf einem Sonderparteitag auf.37 Zur gleichen Zeit, am 30. August 1991, beschloss der Oberste Sowjet der Republik Aserbaidschan eine Erklärung über die Wiederher-stellung der Unabhängigkeit der Republik, bevor Ajas M u t a l i b o v am 7. Sep-tember 1991 in einem Referendum ohne Gegenkandidat als Präsident bestätigt wurde.38

Wiederum nur kurze Zeit später kam es dann zu einem weiteren verfassungs-rechtlich bedeutsamen Ereignis, als die im August 1991 erklärte Unabhängigkeit auch rechtlich vollzogen wurde. Am 18. Oktober 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet unter Berufung auf die Unabhängigkeitserklärung vom 28. Mai 1918 sowie auf die Erklärung vom 30. August 1991 den wichtigen “Verfassungsakt über die Unabhängigkeit der Republik Aserbaidschan” vom 18. Oktober 199139, welcher die Verfassung von 1978 wesentlich modifizierte.40 Diesem Gesetz kommt eine be-sondere Bedeutung zu, weil es bereits die Grundentscheidungen für den zu bilden-den aserbaidschanischen Staat und dessen spätere Verfassung postulierte und somit materiell-rechtlich als Vorverfassung bezeichnet werden kann. Inhaltlich ordnete es zwar die Weitergeltung der Verfassung der ASSR und der sowjetischen Gesetze an (sofern sie nicht dem Verfassungsgesetz widersprachen), zugleich wurden aber schon die Weichen für eine Republik mit säkular-demokratischer Ausrichtung, Gewaltenteilung, Grundrechten und unabhängiger Justiz gestellt. Nach Art. 32 des Verfassungsaktes sollte die künftige Verfassung der Republik Aserbaidschan auf

35

Ausführlicher: A u c h , Aserbaidschan: Regierungsinstitutionen – politisches System. Zur Ent-wicklung der politischen Verhältnisse in den neunziger Jahren, in: Mangott (Hrsg.), Brennpunkt Süd-kaukasus, Wien 1999, 61 ff.

36 A u c h (Anm. 35), 61, 76, Fn. 35, berichtet von einer zweistufigen Errichtung des Präsidenten-

amtes: Im Januar 1990 war M u t a l i b o v Generalsekretär der KP Aserbaidschans und Vorsitzender des Obersten Sowjets geworden. Im Mai 1990 wurde er vom Parlament mit den Vollmachten eines Staatsoberhauptes ausgestattet.

37 A u c h , Die politische Entwicklung in Aserbaidschan, in: Meissner/Eisfeld (Hrsg.), Die GUS-

Staaten in Europa und Asien, Baden-Baden 1995, 153, 167. 38

B i e r m a n n / E i n i g / H e s s e , Systemtransformation am Beispiel der muslimisch beeinflussten GUS-Republiken, München etc., 28.

39 Azərbaycan Respublikasının dövlet müstəqilliyi haqqında Konstitusiya Aktı, Nr. 222-XII, Ba-

ku, 18.10.1991, (Constitutional Act on the State Independence of the Republic of Azerbaijan 18.10.1991).

40 K a m r a v a (Anm. 13), 216, 228.

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dieser Basis entwickelt werden, was dann 1995 auch geschah; die heutige Verfas-sung bezieht sich in ihrer Präambel ausdrücklich auf den Verfassungsakt.

Die Legislativaufgaben wurden daraufhin zwar zunächst von einem als Nationa-ler Rat bezeichneten Ausschuss aus 50 Abgeordneten wahrgenommen, die dem Obersten Sowjet der ASSR (450 Sitze) entstammten und allesamt KP-Mitglieder waren.41 Schon bald aber erkämpfte sich die immer stärker werdende Volksfront42 unter Führung von Abulfas E l t s c h i b e j Mitspracherechte: Der Nationale Rat wurde im Mai 1992 in Nationalversammlung (Milli Məclis; das Parlament trägt die-sen Namen noch heute, im Folgenden: Milli Medschlis) umbenannt und paritätisch mit je 25 Kommunisten und 25 Oppositionellen besetzt.43 Um den geordneten Übergang in demokratisch-rechtsstaatliche Strukturen handelte es sich dabei aller-dings noch nicht, da dem Präsidenten nach wie vor umfangreiche Kompetenzen und Machtmittel zustanden, die dieser in Ermangelung eines gewählten Parlaments und verlässlicher Rechtsgrundlagen weitgehend nach Willkür ausüben konnte.44

Am 7. Juni 1992 wurde dann der Volksfrontkandidat Abulfas E l t s c h i b e j mit 59 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Diese neuerliche Wahl nach weniger als einem Jahr war notwendig geworden, weil der alte Präsident M u t a l i b o v mit seiner Wirtschafts- und Innenpolitik glücklos blieb und sich auch im Berg-Karabach-Konflikt keine Erfolge einstellten, so dass er schon im März 1992 seinen Rücktritt erklären musste.45 Diese Wahl des Jahres 1992 gilt als die einzige in der jungen Geschichte der Republik Aserbaidschan, die halbwegs frei und unbeein-flusst war.46 Mit dem Sieg E l t s c h i b e j s und seiner Regierungsübernahme waren immense Hoffnungen verbunden: Erwartet wurde von ihm sowohl die Ausarbei-tung einer neuen Verfassung und Durchsetzung des Reformprozesses unter Betei-ligung aller politischen Kräfte als auch die schnelle Beendigung des Karabach-Konfliktes ohne Gebietsverluste, die vollständige Emanzipation von Moskau und die Öffnung gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten.47 E l t s c h i b e j

41 H a n k e , Aserbaidschans Weg zur Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. etc., 1998, 56.

42 Die Volksfront war ein Oppositionsbündnis, das sich aus Akademikerkreisen entwickelte, die

zunächst für die Durchsetzung der Perestroika eingetreten waren. Nach ihrer Gründung am 16.7.1989 erlangte die Volksfront rasch an Popularität. Sie war in der jungen Republik Aserbaidschan die wich-tigste oppositionelle Sammelbewegung, die bedeutende Beiträge für die Entwicklung Aserbaidschans leistete. Die Volksfront verlor nach E l t s c h i b e j s Rücktritt an Einfluss und wurde am 24.3.1995 im Zusammenhang mit einem Putschversuch verboten, aber am 25.7.1995 als Volksfrontpartei Aserbai-dschans wiedergegründet; vgl. G a e b e l / J ü r g e n s e n , Die politischen Parteien in Aserbaidschan, in: Auch (Hrsg.), Lebens- und Konfliktraum Kaukasien, Großbarkau 1996, 130, 143. A u c h , Ewiges Feuer in Aserbaidschan, Bericht des BIOst 8/1992, Köln 1992, 42 ff.

43 H a n k e (Anm. 41), 56; G a e b e l / J ü r g e n s e n (Anm. 42), 130, 131.

44 A u c h (Anm. 35), 61, 77.

45 Nach dem Rücktritt kam es in Aserbaidschan zu Selbstjustiz und Anarchie: A u c h (Anm. 37),

153, 167. 46

A l t s t a d t , Azerbaijan’s Struggle Toward Democracy, in: Dawisha/Parrott, Conflict, Cleavage, and Change in Central Asia and the Caucasus, Cambridge 1999, 110, 124; F e n z , Grenzen der Demo-kratisierung in postautoritären Staaten am Beispiel Aserbaidschan, in: IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2003, Baden-Baden 2005, 179.

47 A u c h , Aserbaidschan: Demokratie als Utopie?, Bericht des BIOst 33/1994, Köln 1994, 19.

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hatte seine Präsidentschaft unter die Leitmotive “Demokratie, Turkismus, Islam” gestellt, was in Teilen der westlichen Welt zunächst Befürchtungen weckte, Aser-baidschan könne sich nach dem iranischen Nachbarn zur zweiten Islamischen Re-publik entwickeln,48 doch sollte nach den Vorstellungen E l t s c h i b e j s den Men-schenrechten der Vorrang vor Panturkismus und Islam eingeräumt werden; erklär-tes Ziel war der Aufbau eines Rechtsstaates und einer entwickelten Zivilgesell-schaft.49 Zur Verabschiedung einer entsprechenden Verfassung kam es unter E l t -s c h i b e j aber nicht,50 weil auch seine Regierungszeit aufgrund des sich verschär-fenden Karabach-Konfliktes, großer Flüchtlingsströme und einer kollabierenden Wirtschaft bereits im Sommer 1993 vorzeitig endete.51

3. Die Entwicklung seit der Machtübernahme Heydar A l i j e w s

Im gleichen Maß wie die Popularität von Abulfas E l t s c h i b e j im Sommer 1993 sank, wuchs das Ansehen des ehemaligen Vorsitzenden der KP Aserbaidschans und ehemaligen Mitglieds des Moskauer Politbüros Heydar A l i j e w , der wieder auf der politischen Bühne Fuß gefasst und schon im Jahr 1992 eine eigene Partei “Neues Aserbaidschan” gegründet hatte.

A l i j e w ist ein Vertreter der Präsidentengeneration in den Neuen Unabhängi-gen Staaten, die bereits zu Zeiten der Sowjetunion Karriere gemacht, sich aber nach dem Ende der UdSSR schnell den neuen Verhältnissen angepasst hatte.52 Er wurde 1923 in Nachitschewan geboren und trat 1945 in die Kommunistische Partei ein, nachdem er im Jahr zuvor begonnen hatte, für den Geheimdienst NKGB zu arbei-ten. Bereits 1964 war er Stellvertretender Vorsitzender und ab 1967 Vorsitzender des KGB beim Ministerrat der ASSR im Rang eines Generalmajors. 1969 folgte die Ernennung zum Ersten Sekretär und Mitglied des Büros des ZK der KP Aserbai-dschans und danach der Aufstieg in die Führungsriege der Sowjetunion: 1976 wur-de er Kandidat und 1982 ordentliches Mitglied des Moskauer Politbüros,53 wäh-rend er gleichzeitig von 1982 bis 1987 das Staatsamt eines Stellvertretenden Minis-terpräsidenten der UdSSR bekleidete.54 Als G o r b a t s c h o w ihn im Jahr 1987 aus allen Ämtern entließ, enthielt er sich zunächst aller politischen Aktivitäten, kehrte dann aber in der turbulentesten Phase der jungen aserbaidschanischen Republik auf die politische Bühne zurück, um im Sommer 1993 unter Umständen, die hier

48

F e n z (Anm. 46), 179, 182. 49

A u c h (Anm. 47), 19. 50

Dazu näher A u c h (Anm. 47), 21. 51

Ausführlich zur Regierung E l t s c h i b e j : A l t s t a d t (Anm. 46), 110, 132 ff. 52

Von “Konvertiten” sprechen P r a d e t t o / W e c k m ü l l e r , Präsidenten in postkommunisti-schen Ländern, Frankfurt/Main 2004, 113 ff.

53 L e w y t z k y j , Die neuen Gesichter in der sowjetischen Parteiführung, in: Osteuropa 26 (1976),

651, 653 f. 54

A l i j e w ist damit der Aserbaidschaner, der im Laufe der Existenz der UdSSR in die höchsten Machtpositionen vorstoßen konnte.

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nur angedeutet werden können, das höchste Amt im Staat zu übernehmen: Am 15. Juni 1993 ließ sich A l i j e w zum Parlamentspräsidenten Aserbaidschans wählen. Als der noch amtierende Präsident E l t s c h i b e j drei Tage später aus Angst um sein Leben aus der Hauptstadt Baku floh, übernahm A l i j e w dessen Amtsgeschäf-te.55 E l t s c h i b e j wurde im August 1993 offiziell abgesetzt und A l i j e w im No-vember mit 98,8 % der Wählerstimmen zum Präsidenten gewählt.

Am 6. Dezember 1993 ernannte A l i j e w anstelle der von E l t s c h i b e j einge-setzten eine neue, zweite Verfassungskommission, die jedoch am 2. Mai 1995 wie-der entlassen wurde; die sodann beauftragte dritte Verfassungskommission, die aus 35 Wissenschaftlern, Abgeordneten und praktisch tätigen Juristen bestand und in der die Opposition mit nur einer Stimme repräsentiert war,56 einigte sich schließ-lich auf einen Verfassungsentwurf, der zuvor von Juristen des Präsidialamtes erar-beitet worden war.57 Dieser Entwurf wurde am 15. Oktober 1995 für 15 Tage zur nationalen Diskussion gestellt. Die Schlussfassung sollte der Öffentlichkeit zehn Tage vor dem Referendum bekannt gemacht werden, also am 2. November 1995, wurde tatsächlich aber erst am 8. November 1995 publiziert, bevor sie am 12. No-vember 1995 durch Volksabstimmung angenommen wurde.58 Die so beschlossene Verfassung der Republik Aserbaidschan trat am 27. November 1995 in Kraft und ersetzte die bis dahin geltende Verfassung der ASSR aus dem Jahr 1978. Neue Prä-sidentschaftswahlen wurden nicht abgehalten, weil die zweite Übergangsbestim-mung der Verfassung den amtierenden Präsidenten mit den verfassungsmäßigen Präsidialaufgaben betraute.

III. Die Aserbaidschanische Verfassung von 1995: Inhalt und politische Praxis

1. Formaler Aufbau der Verfassung und Rechtsnormenhierarchie

Die Verfassung der Republik Aserbaidschan besteht aus 158 Artikeln, aufgeteilt auf zwölf Kapitel und zusammengefasst in fünf Abschnitten. Den ersten Abschnitt bilden allgemeine Bestimmungen über die “Die Herrschaft des Volkes” (Kapitel 1) und “Die Grundlagen des Staates” (Kapitel 2). Der zweite Abschnitt enthält die “Grundrechte und Grundfreiheiten des Menschen und Bürgers” (Kapitel 3: Art. 24-71 AV) und auch ausdrückliche “Grundpflichten des Bürgers” (Kapitel 4: Art. 72-80 AV). Im dritten Abschnitt folgt das Staatsorganisationsrecht, aufgeteilt in “Die gesetzgebende Gewalt” (Kapitel 5: Art. 81-98 AV), “Die vollziehende Ge-walt” (Kapitel 6: Art. 99-124 AV), “Die rechtsprechende Gewalt” (Kapitel 7: Art. 125-133 AV) und Sondervorschriften über “Die Autonome Republik Nachitsche-

55 Details finden sich bei: F e n z (Anm. 46), 179, 184, sowie bei A u c h (Anm. 47), 23 ff.

56 A m r a h g i z i (Anm. 26).

57 A u c h (Anm. 35), 61, 78, Fn. 42; K a m r a v a (Anm. 13), 216, 228.

58 K a m r a v a (Anm. 13), 216, 228.

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wan” (Kapitel 8: Art. 134-141).59 Der örtlichen Selbstverwaltung ist der vierte Ab-schnitt “Die Gemeinden” (Kapitel 9: Art. 142-146 AV) gewidmet. Den Abschluss bilden im fünften Abschnitt Regelungen über “Das System der Gesetzgebung” (Kapitel 10: Art. 147-151 AV) sowie über “Die Änderung” bzw. “Ergänzung der Verfassung der Aserbaidschanischen Republik” (Kapitel 11: Art. 152-155 AV; Ka-pitel 12: Art. 156-158).

Höchste Rechtsquelle in der Republik Aserbaidschan ist gemäß Art. 147 Abs. 1 AV die Verfassung selbst, die gemäß Abs. 2 derselben Norm unmittelbare rechtli-che Geltung beansprucht. Art. 148 Abs. 1 AV enthält eine Rechtsnormenhierar-chie, die mit der Verfassung beginnt (Nr. 1) und darunter – in absteigender Rang-folge – die durch Referendum verabschiedeten Akte (Nr. 2 i.V.m. Art. 149 Abs. 2 AV), die (Parlaments-)Gesetze (Nr. 3 i.V.m. Art. 149 Abs. 3 AV), die Dekrete des Präsidenten (Nr. 4 i.V.m. Art. 149 Abs. 4 AV), die Verordnungen des Ministerka-binetts (Nr. 5 i.V.m. Art. 149 Abs. 5 AV) und schließlich die Normativakte der Zentralorgane der vollziehenden Gewalt (Nr. 6 i.V.m. Art. 149 Abs. 6 AV) um-fasst.

Völkerrechtliche Verträge stellen einen “untrennbaren Bestandteil des Gesetz-gebungssystems” dar (Art. 148 Abs. 2 AV) und genießen Vorrang vor dem staatli-chen Recht, nicht jedoch vor der Verfassung und den durch Referendum verab-schiedeten Akten (Art. 151 AV).60 Aufmerksamkeit erregt in diesem Zusammen-hang Art. 12 AV, der die Sicherung der “Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers” (vgl. Art. 24-71 AV), sowie seit der Änderung 2009 einen angemessenen Lebensstandard der Bürger, zum “obersten Staatsziel” erhebt und gleichzeitig an-ordnet, dass die einschlägigen Verfassungsbestimmungen in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verträgen anzuwenden sind, deren Partei Aserbaidschan ist. Aus dieser Vorschrift ist gefolgert worden, dass die Aserbaidschanische Verfassung – wie die Spanische Verfassung von 1978 – den Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte einen weitergehenden, quasi-verfassungsrechtlichen Status ge-währt, während das sonstige Völkerrecht der Verfassung im Rang untergeordnet ist.61 Aserbaidschan hatte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie die Bestimmungen der Schlussakte von Helsinki bereits mit Art. 19 der Unabhängig-

59

Nachitschewan hatte zu Zeiten der Sowjetunion als Bestandteil der ASSR den Status einer Au-tonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (Art. 82 ff. Verfassung der UdSSR vom 7.10.1977 bzw. Art. 24 Verfassung der UdSSR vom 5.12.1936). Das zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittene Gebiet Berg-Karabach hatte hingegen als Autonomes Gebiet einen rechtlich noch abhängigeren Status von der ASSR (Art. 86 f. Verfassung der UdSSR vom 7.10.1977 bzw. Art. 24 Verfassung der UdSSR vom 5.12.1936). Sonderregelungen zu Berg-Karabach sucht man in der Verfassung der Republik Aser-baidschan vergeblich, weil nach aserbaidschanischem Selbstverständnis Berg-Karabach integraler Be-standteil des aserbaidschanischen Staatsgebiets ist, das von Armenien völkerrechtswidrig besetzt gehal-ten wird; Sonderregelungen über das Gebiet könnten die eigene Völkerrechtsauffassung unterminie-ren. Die in Berg-Karabach 1991 ausgerufene Republik wird von Aserbaidschan nicht anerkannt.

60 Näher dazu: A b d u l l a h z a d e , The Status of International Treaties in the Legal System of

Azerbaijan, in: Review of Central and East European Law 32 (2007), 233, 235. 61

M a r t i n , Comparative Human Rights Jurisprudence in Azerbaijan: Theory, Practice and Pros-pects, in: Journal of Transnational Law & Policy 14 (2005), Nr. 2, 215, 220 f.

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keitserklärung vom 18. Oktober 1991 anerkannt. Aufgrund der Zusagen anlässlich des Beitritts zum Europarat im Jahr 2001 ratifizierte Aserbaidschan dann am 15. April 2002 auch die EMRK, was – wie noch darzustellen ist – erhebliche Auswir-kungen auf die Verfassung und die nationale Gesetzgebung hatte.62

2. Leitprinzipien, Grundrechte und Staatsorganisation

Der aserbaidschanische Staat wird in Art. 7 Abs. 1 AV als “demokratische, rechtsstaatliche, weltliche und unitarische Republik” charakterisiert.63 Dies bein-haltet mit der Berufung auf die Prinzipien der europäischen Aufklärung auch eine Absage an die “islamische Republik”. Einzige Quelle der Staatsgewalt ist laut Art. 1 Abs. 1 AV das Volk Aserbaidschans, welches sein souveränes Recht gemäß Art. 2 Abs. 2 AV “unmittelbar durch Referendum oder durch seine Vertreter ausübt, die aufgrund des allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlrechts in freier, gehei-mer und persönlicher Abstimmung gewählt werden”. Diese Festlegungen werden ergänzt durch das bereits erwähnte “oberste Staatsziel” des Art. 12 AV, die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers zu sichern. Ferner enthält die Verfas-sung programmsatzartig ausgestaltete Aufträge zur Etablierung einer auf Marktbe-ziehungen mit freiem Wettbewerb und Unternehmertum beruhenden Wirtschafts-ordnung (Art. 15 AV) und zur Wohlstandsförderung, um für jeden Bürger sozia-len Schutz und einen würdigen Lebensstandard zu erreichen (Art. 16 AV).

Im Grundrechtsteil der Verfassung (Kapitel 3: Art. 24-71 AV) werden jeder-mann “vom Zeitpunkt der Geburt an unantastbare, unverletzliche und unveräu-ßerliche Rechte und Freiheiten” garantiert (Art. 24 Abs. 1 AV), die von allen Or-ganen der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt “zu achten und zu schützen” (Art. 71 Abs. 1 AV) und seit der Verfassungsänderung von 2002 (dazu unten III. 4.) sogar der Individualverfassungsbeschwerde zugänglich sind. Der umfangreiche Katalog von Freiheits- und Gleichheitsrechten enthält – ähnlich der Weimarer Reichsverfassung – neben klassischen Abwehrrechten auch soziale Rechte mit programmatischem Charakter (wie das Recht auf soziale Sicherung, Art. 38 AV, und das Recht auf ein Leben in einer gesunden Umwelt, Art. 39 AV) und wird durch einen Katalog von Artikeln über “Grundpflichten” ergänzt, die nicht nur an die allgemeine Pflicht zum Befolgen der Gesetze (Art. 72 Abs. 2 AV) und einige besondere Bürgerpflichten (wie die Steuerzahlung, Art. 73 AV, die Wehrpflicht, Art. 76 AV, und den Denkmal- und Umweltschutz, Art. 77 f. AV) er-innern, sondern auch die Achtung der Staatssymbole (Art. 75 AV) und “Treue zur Heimat” (Art. 74 Abs. 1 AV) einfordern.

62

K e n g e r l i n s k y , Relationship between the European Convention on Human Rights and the Legal System of Azerbaijan, in: Humanitäres Völkerrecht 2004, 256 ff.

63 Derartige Formulierungen finden sich in vielen postsowjetischen Verfassungen Osteuropas, vgl.

S c h w e i s f u r t h / A l l e w e l d t (Anm. 30), 45, 60 ff.

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Obwohl die Aserbaidschanische Verfassung mit diesem normativen Fundament – bei aller Interpretationsoffenheit – auf den ersten Blick wie die rechtliche Grundordnung eines modernen Staates westlicher Prägung wirkt, 64 kommen zahl-reiche Stimmen in der Literatur bei der detaillierten Analyse und abschließenden Bewertung zu der Einschätzung, die staatsorganisationsrechtlichen Regelungen zeigten bei näherem Hinsehen doch ein bedenkliches Übergewicht der Exekutive.65 In der Tat verfügt der auf fünf Jahre direkt vom Volk gewählte (Art. 101 Abs. 1 AV) – und damit in seiner demokratischen Legitimation dem Parlament ebenbürti-ge – Präsident, der über das Ministerkabinett (Art. 114 ff. AV) die vollziehende Gewalt dominiert, bereits aufgrund des Verfassungstextes – und ungeachtet der re-alen Praxis, auf die ebenfalls noch einzugehen ist – über eine erhebliche Machtfülle. Angedeutet wird dies schon im grundlegenden Art. 7 Abs. 3 AV, der zwar das Prinzip der Gewaltenteilung ausdrücklich festschreibt, die Stellung des Präsidenten aber sprachlich auffallend anders umschreibt als die Stellung der Nationalver-sammlung und der Gerichtsbarkeit: Nach dem Wortlaut wird die gesetzgebende Gewalt durch die Nationalversammlung (Milli Medschlis) und die rechtsprechende Gewalt durch die Gerichte “ausgeübt” (həyata keçirir), während die vollziehende Gewalt dem Präsidenten “gehört” (mənsubdur).66

Die Hervorhebung der Exekutive und insbesondere des Präsidenten, sprachlich wie systematisch, durchzieht die gesamte Verfassung: Wenn der Präsident in seiner Stellung als Staatsoberhaupt (Art. 8 AV) noch vor dem “obersten Staatsziel” des Grundrechtsschutzes (Art. 12 AV) angesprochen wird,67 so mag dies dem Bestre-ben geschuldet sein, die eben erst errungene Unabhängigkeit und Souveränität durch eine eindeutige Bestimmung des höchsten Repräsentanten des Staates formal abzusichern. Die Gleichsetzung von Präsident und Volk, die im Zusammenspiel der Art. 5 Abs. 1 (“Das Volk von Aserbaidschan ist einig.”), Art. 8 Abs. 2 AV (“Der Präsident verkörpert die Einheit des Volkes von Aserbaidschan …”) und Art. 5 Abs. 2 S. 1 AV (“Die Einheit des Volkes von Aserbaidschan bildet die Grundlage des Aserbaidschanischen Staates.”) zum Ausdruck kommt, lässt sich bei wohlwollender Interpretation als bloße Umschreibung dieser Repräsentationsauf-gabe deuten, könnte aber – worauf in der Literatur hingewiesen worden ist – ange-sichts eines möglicherweise nachwirkenden Verfassungsverständnisses sowjeti-

64 Im Unterschied zu Georgien und Armenien, wo deutsche Berater bei der Ausarbeitung der Ver-

fassungen tätig waren, gab es von aserbaidschanischer Seite lediglich Konsultationsgespräche mit balti-schen und russischen sowie türkischen Parlamentariern. Ohne konkret ein Beispiel zu nennen, berich-tete der Vorsitzende der Verfassungskommission, M i r z a e v , in einem Gespräch, man habe sich “an europäische Vorbilder angelehnt”; vgl. A u c h (Anm. 35), 61, 76, Fn. 36.

65 Statt vieler L u c h t e r h a n d t , Präsidentialismus in den GUS-Staaten, in: ders. (Hrsg.), Neue

Regierungssysteme in Osteuropa, 2. Aufl., Berlin 2002, 255, 351 f.; diese Darstellung enthält, soweit ersichtlich, die umfangreichste Analyse der AV i.d.F. von 1995 in deutscher Sprache. Ebenso: S t a b e r o c k , Quo Vadis Caucasus? The Rule of Law or Rule of Power?, in: Humanitäres Völker-recht 2004, 262, 264; A u c h (Anm. 35), 61, 78.

66 Diese sprachliche Differenzierung findet im aserbaidschanischen Original eine Wiederholung in

den Art. 81 (Legislative), 99 (Exekutive) und 125 Abs. 1 AV (Judikative). 67

So schon L u c h t e r h a n d t (Anm. 65), 255, 352.

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scher Provenienz auch dahingehend verstanden werden, dass der Präsident als Verkörperung des pouvoir constituant gewissermaßen “über” der Verfassung steht, wie dies einst bei der Kommunistischen Partei der Fall war,68 oder dass er zumin-dest in einer Verfassungskrise als “Hüter der Verfassung” das entscheidende Wort hat. Bei einer derartigen Auslegung bekäme Art. 6 Abs. 2 AV, der es zum “schwersten Verbrechen gegen das Volk” erklärt, “die Staatsgewalt an sich zu zie-hen”, eine besondere Bedeutung, weil dann in der Verfassungskrise jede Form von Opposition gegen den Präsidenten als Hochverrat betrachtet werden könnte.

Das Übergewicht des Präsidenten gegenüber dem Parlament ist schon rein äu-ßerlich in der Zahl der jeweiligen Kompetenzen angedeutet: Während der Natio-nalversammlung von der Verfassung nur 19 Kompetenztitel zugedacht sind (Art. 95 AV), werden dem Präsidenten 32 Vollmachten einräumt (Art. 109 AV).69 Die qualitative Betrachtung bestätigt diesen Eindruck: So hat der Präsident z.B. die Be-fugnis, den Ausnahmezustand zu erklären oder das Kriegsrecht zu verhängen (Art. 109 Nr. 29 i.V.m. Art. 111 f. AV)70 und die Mobilmachung anzuordnen (Art. 109 Nr. 25 AV), vor allem aber die Kompetenz, per Dekret selbst rechtsetzend tätig zu werden (Art. 113 Abs. 1 AV).

Das auf der Grundlage des Mehrheitswahlsystems (Art. 83 AV) auf fünf Jahre gewählte (Art. 84 Abs. 1 AV) Parlament verfügt angesichts dieser außergewöhnli-chen Kompetenzfülle des Präsidenten kaum über effektive Einfluss- und Kontroll-instrumente. Zur Ernennung des Premierministers benötigt der Präsident zwar grundsätzlich die Zustimmung der Nationalversammlung (Art. 109 Nr. 4, 1. Halbs. i.V.m. Art. 118 Abs. 1 AV). Sollte aber der Kandidat des Präsidenten drei-mal die Zustimmung des Milli Medschlis nicht erhalten, dann ist er nicht etwa end-gültig durchgefallen, sondern der Präsident wird berechtigt, seinen Premierminis-ter auch ohne Zustimmung zu ernennen (Art. 118 Abs. 3 S. 2 AV). Im Übrigen kann er ohnehin die Zusammensetzung und Tätigkeit der Exekutive weitestgehend nach seinen Vorstellungen und frei von Einmischungen des Parlaments gestalten, indem er etwa den Premierminister entlässt (Art. 109 Nr. 4, 2. Halbs. AV) oder die Mitglieder des Ministerkabinetts ernennt oder entlässt und bei Bedarf selbst den Vorsitz in eben diesem Gremium übernimmt (Art. 109 Nr. 5 AV). Widerstand aus der Exekutive muss der Präsident auch deshalb nicht fürchten, weil er ohne weite-res die Beschlüsse des Ministerkabinetts sowie die Akte aller weiteren Vollzugsor-gane aufheben kann (Art. 109 Nr. 8 AV).

Ähnlich stark ist die Stellung des Präsidenten im Gesetzgebungsverfahren,71 wo er über sein Gesetzesinitiativrecht (Art. 96 Abs. 1 AV) weitreichende Steuerungs-

68

Vgl. ibid. 255, 352. 69

So B a b a j e w , Autoritäre Transformation des postkommunistischen Übergangssystems in Aserbaidschan, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen (Hrsg.), Regimewechsel und Gesellschafts-wandel in Osteuropa, Nr. 85, Oktober 2007, 19; ähnlich A u c h (Anm. 35), 60, 78 und 81.

70 Beide Maßnahmen bedürfen allerdings innerhalb von 24 Stunden der Bestätigung durch die Na-

tionalversammlung, Art. 111 f. AV. 71

Sehr kritisch dazu L u c h t e r h a n d t (Anm. 65), 255, 355 f.

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möglichkeiten hat und im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Unterzeich-nung aller vom Parlament verabschiedeten Gesetze durch den Präsidenten (Art. 97 Abs. 1 AV) ein Widerspruchsrecht besitzt, das nur durch eine qualifizierte Mehr-heit in der Nationalversammlung überwunden werden kann (Art. 110 Abs. 2 AV).

Letztlich ist der Präsident notfalls in der Lage, auch gegen das Parlament das Land zu regieren, da er, wie ausgeführt, dessen konstruktive Mitwirkung bei der Regierungsbildung nicht benötigt, die parlamentarische Gesetzgebung torpedieren und dank seines Dekretrechts selbst rechtsetzend tätig werden kann, ohne die wirksame Einmischung der Nationalversammlung in den Bereich der von ihm do-minierten Exekutive fürchten zu müssen.

Die Verfassung kennt zwar ein Amtsenthebungsverfahren (Art. 107 AV), dieses ist aber so ausgestaltet, dass während des Prozesses viele Fehler unterlaufen kön-nen, weil Judikative und Legislative zeitlich sehr diszipliniert und mit hohen Quo-ren zusammenarbeiten müssen. Bei Fristversäumnissen gilt die Amtsenthebung als gescheitert. Das Verfahren muss innerhalb eines Monats nach einer Verfehlung des Präsidenten durch ein Gutachten des Verfassungsgerichtes eingeleitet werden; von einem diesbezüglichen Initiativrecht des Parlaments weiß die Verfassung nichts. Über die Amtsenthebung des Präsidenten ist dann in der Milli Medschlis auf der Grundlage des erstatteten Gutachtens binnen zwei Monaten mit einer Mehrheit von 95 (von insgesamt 125 – Art. 82 AV) Abgeordneten zu beschließen, was in et-wa einer Dreiviertel-Mehrheit entspricht. Der gefasste Beschluss bedarf dann zu seiner Wirksamkeit erneut der Mitwirkung durch die Judikative: Es ist nicht etwa der Parlamentspräsident, der dem Beschluss Wirksamkeit verleihen kann, sondern unterschriftsberechtigt ist ausschließlich der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, der für die Ausfertigung auch nur eine Woche Zeit hat. Es liegt auf der Hand, dass bei einer solch restriktiven Verfahrensgestaltung ein erfolgreiches Amtsenthe-bungsverfahren nur dann realistisch erscheint, wenn innerhalb der Judikative und der Legislative eine große Einigkeit über die Absetzung des Präsidenten herrscht und in beiden Gewalten der unbedingte Wille zu einem entschlossenen Handeln vorhanden ist. Auch angesichts der bestehenden Mehrheitsverhältnisse im aser-baidschanischen Parlament bleibt das Verfahren daher nur eine sehr theoretische Möglichkeit.

Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass bereits im Wortlaut der Aserbaid-schanischen Verfassung – auch ohne Berücksichtigung der realen Mehrheitsver-hältnisse und gesellschaftlichen Situation in Aserbaidschan (dazu unten III. 6.) – ein ausgesprochenes Übergewicht zu Gunsten der Exekutive angelegt ist. Zudem sind in der Verfassung an vielen Stellen Formulierungen gewählt worden, die auf eine Tendenz zur Fortführung von sowjetischen Traditionen hindeuten oder zu-mindest im Konfliktfall im Sinne dieser Traditionen gedeutet werden könnten. Ist aber der Verfassungstext an vielen Stellen deutungsoffen, dann wächst ersichtlich dem Verfassungsgericht des Landes, das zur verbindlichen Interpretation der Grundordnung berufen ist, eine besondere Verantwortung zu.

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3. Das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan

Das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan, das schon in Art. 13 des “Verfassungsaktes über die Unabhängigkeit der Republik Aserbaidschan” vom 18. Oktober 199172 als Teil der aufzubauenden Judikative erwähnt wurde, findet seit 1995 seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 130 AV sowie in zahlreichen weiteren, über die Verfassung verteilten Bestimmungen. Konkretisiert werden sei-ne Aufgaben und Befugnisse im Gesetz über das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan (VerfGG), das 1997 erlassen und 2003 ergänzt wurde.73 Da das Ge-richt seine Tätigkeit am 14. Juli 1998 aufnahm, kann Aserbaidschan mittlerweile auf eine mehr als zehnjährige Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit zurückbli-cken.74

Das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan besteht aus neun Richtern, die auf Vorschlag des Präsidenten von der Milli Medschlis für eine Amtsdauer von 15 Jahren75 ernannt werden (Art. 130 Abs. 1 und 2 AV). Es ist nicht in den dreistu-figen Gerichtsaufbau aus Erstinstanzlichen, Appellations- und Kassationsgerichten eingegliedert, der – den Vorgaben der Art. 131 und 132 AV folgend – durch das Gesetz über Gerichte und Richter76 installiert wurde, sondern nimmt in der Judi-

72

S.o. (Anm. 39). 73

Konstitusiya Məhkəməsi haqqında Azərbaycan Respublikasının Qanunu, Nr. 561-IIQ, 23.12.2003 (Law on the Constitutional Court of the Republic of Azerbaijan). Englische Übersetzun-gen: Council of Europe, Venice Commission, CDL (2004) 005, Straßburg, 9.2.2004; GTZ (Hrsg.), Verfassungsgerichtsgesetze Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Tbilissi 2007, 54 ff.

74 Am Aufbau des Verfassungsgerichts und an der Einführung einer Individualverfassungsbe-

schwerde hat der Europarat in Form der Venedig-Kommission von Anfang an durch Stellungnahmen, Expertentreffen und weitere Beratungsleistungen mitgewirkt, um die Umsetzung der zahlreichen Ver-pflichtungen sicherzustellen, die Aserbaidschan mit dem Beitritt zum Europarat übernommen hatte, dazu S t i c h t , Der Einfluss des Europarats auf die demokratische Transformation in Aserbaidschan, in: Aghayev/Suleymanova (Hrsg.), Jahrbuch Aserbaidschanforschung Bd. 2, Berlin 2008, 51, 75 ff. – Die deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) hat das Verfassungsgericht im Rah-men des Projekts “Unterstützung der Rechts- und Gerichtsreform” u.a. beim Erlass einer Geschäfts-ordnung und der Verbesserung der Pressearbeit beraten sowie die Veröffentlichung einer dreisprachig aserbaidschanisch-englisch-russischen Entscheidungssammlung mitfinanziert (The Compilation of Judgements on Individual Complaints of the Constitutional Court of the Azerbaijan Republic, Baku 2005). Der ehemalige Präsident des aserbaidschanischen Verfassungsgerichts und jetzige Richter am EGMR Khanlar H a j i e v etwa hat den Beitrag der GTZ zum Aufbau des Verfassungsgerichts lobend erwähnt (H a j i e v , Diskussionsbeitrag, in: GTZ [Hrsg.], Auf dem Weg nach Europa, Materialien-sammlung der V. Kaukasischen Richterkonferenz 2007, Istanbul 2007, 316.). Auch die deutsche Ge-richtsbarkeit einschließlich des BVerfG steht in fachlichem Austausch mit den aserbaidschanischen Verfassungsrichtern (s. z.B. BVerfG, Besuch des Verfassungsgerichts von Georgien und des Verfas-sungsgerichts der Republik Aserbaidschan, Pressemitteilung Nr. 33/2003, 5.5.2003; VGH Mannheim, Delegation aus Aserbaidschan besucht Verwaltungsgerichtshof, Pressemitteilung vom 21.2.2005; GTZ Südkaukasus: Partner auf dem Weg nach Europa, Factsheet 1: Rechts- und Justizreformen im Südkau-kasus, Tbilissi 2008, 3; online: <http://www2.gtz.de/dokumente/bib/gtz2009-0056de-suedkaukasus-factsheets.pdf>).

75 Eine Wiederernennung nach Ablauf der Amtszeit ist unzulässig, Art. 14 VerfGG.

76 Azerbaijan Republic, Courts and Judges Act, Nr. 310 IQ, 10.06.1997, online: <http://www.

justice.gov.az/eng175.html>.

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kative einen selbständigen, verfassungsunmittelbaren Platz ein.77 Seine Aufgabe, den Vorrang der aserbaidschanischen Verfassung zu wahren und die Rechte des Einzelnen zu schützen (so ausdrücklich Art. 1 Abs. 2 VerfGG), soll es in richterli-cher Unabhängigkeit und unter ausschließlicher Bindung an die Verfassung und die Gesetze der Aserbaidschanischen Republik erfüllen (Art. 127 Abs. 1 AV). Die Richter genießen Immunität (Art. 128 AV) und sind so zu besolden und abzusi-chern, wie es dem hohen Amt eines Verfassungsrichters entspricht (Art. 15 f. VerfGG).

Aufgrund der Besetzung des Gerichts mit neun Richtern kann es, anders als beim deutschen Bundesverfassungsgericht, nicht zu einem Stimmengleichstand kommen, so dass eine (Plenums-)Entscheidung des Verfassungsgerichts der Mehr-heit von fünf Richterstimmen bedarf. Den unterlegenen Richtern ist es aber gemäß Art. 64 VerfGG ausdrücklich gestattet, ihr abweichendes Votum (dissenting opini-on) zu veröffentlichen, was zugleich mit der Veröffentlichung der Hauptentschei-dung zu geschehen hat.

Unter den Kompetenzen des Verfassungsgerichts78 finden sich einerseits Befug-nisse zur Mitwirkung an Verfahren im Bereich der gewaltenteilenden Staatsorgani-sation und andererseits klassisch verfassungsgerichtliche Kontrollbefugnisse zur Sicherung des Vorrangs der Verfassung. Zu den Mitwirkungsbefugnissen gehören unter anderem die Zuständigkeiten, das Ergebnis der Parlamentswahl von Amts wegen zu prüfen und zu bestätigen (Art. 86 AV),79 das Ergebnis der Wahl zum Staatspräsidenten offiziell zu veröffentlichen (Art. 102 AV),80 die Rücktrittserklä-rung des Präsidenten amtlich auf ihre Authentizität hin zu prüfen (Art. 104 Abs. 2 AV), bei vermeintlicher krankheitsbedingter Amtsunfähigkeit des Präsidenten auf Antrag des Parlaments den Sachverhalt aufzuklären (Art. 104 Abs. 3 AV) sowie das bereits erwähnte Verfahren zur Amtsentlassung des Präsidenten einzuleiten und daran mitzuwirken (Art. 107 AV). Die im engeren Sinne gerichtlichen Kontroll-kompetenzen (vgl. Art. 130 Abs. 3 bis 7 AV) umfassen neben mehreren abstrakten Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Vereinbarkeit von Rechtsakten mit höherrangigem Recht (Art. 130 Abs. 3 Nr. 1 bis 7 AV) auch ein Organstreit-verfahren zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten über die Zuständigkeits-abgrenzung zwischen den drei Staatsgewalten (Art. 130 Abs. 3 Nr. 8 AV) und ein besonderes Verfahren zur verbindlichen Auslegung der Verfassung und der Geset-

77

H u s e i n o v , Endgültigkeit richterlicher Entscheidungen und Durchbrechung der Rechtskraft nach aserbaidschanischem Recht, in: GTZ (Hrsg.), Endgültigkeit der richterlichen Entscheidungen und Durchbrechung der Rechtskraft, Tagungsband der I. Kaukasischen Richterkonferenz 2002, Tbi-lissi 2003, 56, 57 f.

78 Art. 3 VerfGG zählt die Verfassungsartikel auf, aus denen sich die Zuständigkeiten und Befug-

nisse des Gerichts ergeben. 79

Beispielhaft kann hier auf die Entscheidung des Gerichts vom 1.12.2005 verwiesen werden, in der die Ergebnisse der Parlamentswahl 2005 in sechs Wahlbezirken für rechtswidrig erklärt wurden. Die Entscheidung ist abrufbar unter: <http://www.constcourt.gov.az/>.

80 Anzumerken ist, dass hier und im Gegensatz zu Art. 86 AV kein Prüfungsrecht des Verfas-

sungsgerichts besteht.

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ze der Republik Aserbaidschan auf Antrag bestimmter Staatsorgane (Art. 130 Abs. 4 AV); außerdem besitzt das Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan die Kompetenzen zur Entscheidung in Verfahren über Individualverfassungsbe-schwerden (Art. 130 Abs. 5 AV)81 sowie in konkreten Normenkontrollverfahren auf Vorlage eines Gerichts im Zusammenhang mit Grundrechten (Art. 130 Abs. 6 AV).

In den ersten Jahren nach seiner Gründung wurde das Verfassungsgericht mit relativ wenigen Fällen befasst, scheint sich aber durchaus Vertrauen erworben zu haben.82 Seit der Einführung der Individualverfassungsbeschwerde im Jahr 2002 nimmt die Arbeitsauslastung und politische Bedeutung kontinuierlich zu,83 wobei die meisten Entscheidungen offenbar Fragen des Eigentumsschutzes betrafen.84 Häufig beruft sich das Gericht auf Völkerrecht, insbesondere auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR.85 Interessanterweise wird in Aserbaidschan mitt-lerweile kritisiert, das Verfassungsgericht neige dazu, sich zu einer “Superrevisi-onsinstanz” zu entwickeln, indem es die Grenzen der Individualverfassungsbe-schwerde sehr weit ziehe.86

4. Die Verfassungsänderung von 2002

Der Republik Aserbaidschan wurde mit ihrer Aufnahme in den Europarat am 25. Januar 2001 ein “Gütesiegel für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie” verliehen, obwohl das Land die Aufnahmekriterien offenkundig nicht erfüllte; die kontrovers diskutierte Aufnahmeentscheidung war insofern nicht als Belohnung für Erreich-tes, sondern als Ansporn zu verstehen, weitere Reformanstrengungen zu unter-

81

Der Menschenrechtsbeauftragte der Aserbaidschanischen Republik hat das Recht, das Verfas-sungsgericht in Fällen anzurufen, die auch einer Verfassungsbeschwerde zugänglich sind (Art. 130 Abs. 7 AV).

82 K n i e p e r , Der Schutz der Menschenrechte als Beitrag zur Konsolidierung des Rechtsstaats –

Fünf Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Aserbaidschan, in: Osteuropa-Recht 50 (2004), 24, 25. Zwi-schen August 1998 und Mai 2004 ergingen 71 Entscheidungen des Verfassungsgerichts: M a r t i n (Anm. 61), 231.

83 H e r r m a n n , Rechtsberatung der GTZ in Aserbaidschan – Ergebnisse und Erfahrungen (un-

veröffentlichtes Manuskript eines am 5.6.2008 an der Universität Siegen gehaltenen Vortrages). Da-nach sind zwischen 2004 und September 2007 insgesamt 3955 Verfassungsbeschwerden eingegangen, von denen 56 (1,4 %) erfolgreich waren.

84 U s u b , Sicherung des Eigentumsrechts in der Republik Aserbaidschan, in: Knieper/Chanturia/

Schramm (Hrsg.), Grundlagen der Zivilrechtsordnung in den Staaten des Kaukasus und Zentralasiens in Theorie und Praxis, Berlin 2008, 227, 231.

85 A b d u l l a h z a d e (Anm. 60), 233, 251 ff.; M a r t i n (Anm. 61), 215, 231.

86 H a s a n o v , Empfehlungen der internationalen Richterkonferenzen seit 2002: Umsetzung und

Aussichten, in: GTZ (Hrsg.), Auf dem Weg nach Europa, Materialiensammlung der V. Kaukasischen Richterkonferenz 2007, Istanbul 2007, 254, 261 f. Ähnliche Warnungen hatte es zuvor schon gegeben, s. etwa K n i e p e r (Anm. 82), 29: das Verfassungsgericht sei gut beraten, wenn es im Verhältnis zum Obersten Gericht Zurückhaltung übe und sich nicht zur “Super-Kassations-Instanz” entwickele.

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nehmen.87 Zu den von Aserbaidschan in diesem Zusammenhang übernommenen Pflichten gehörte die Ratifizierung der EMRK einschließlich der materiell-rechtlichen Zusatzprotokolle Nr. 1, 4, 6 und 7,88 was Präsident Heydar A l i j e w zum Anlass nahm, diese völkerrechtlichen Standards durch eine Verfassungsände-rung in Form von 39 Ergänzungen und 23 Änderungen an bestehenden Artikeln89 in innerstaatliches Recht umzusetzen zu lassen.90 Von der Opposition wurde das entsprechende Referendum am 24. August 2002 boykottiert, da die aserbaidschani-sche Regierung die Anpassung an die Vorgaben des Europarates mit weiteren ver-fassungsrechtlichen Neuerungen verknüpft hatte, die nach Auffassung der Opposi-tion allein der Schwächung ihrer verfassungsrechtlichen Stellung und der Vorberei-tung der “aserbaidschanischen Erbfolge” dienten. Auch in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates wurde kritisiert, dass die aserbaidschanischen Staatsorgane keine offizielle Beratung mit der Venedig-Kommission angestrebt und deren Vorschläge etwa hinsichtlich der effektiveren Kontrolle der Exekutive durch die Legislative nicht aufgegriffen hätten.91 Außerdem sei das Referendum per Präsidentendekret erst am 22. Juni 2002 und damit so spät angekündigt worden, dass die Zeit für eine angemessene politische Diskussion ebenso zu kurz gewesen sei wie für die Organisation einer Beobachtung des Abstimmungsvorgangs durch den Europarat.92

87

G r e w l i c h (Anm. 10), 273, 278. – Begleitmotiv war die Hoffnung auf neue Impulse bei der Lösung des Berg-Karabach-Konfliktes; Armenien wurde zeitgleich mit Aserbaidschan Mitglied des Europarates.

88 Council of Europe, Parliamentary Assembly, Opinion Nr. 222 (2000), Azerbaijan’s Application

for Membership of the Council of Europe; s. auch S t i c h t (Anm. 74), 51, 71. 89

Die Änderungen sind im Wortlaut in der Entscheidung des aserbaidschanischen Verfassungsge-richts vom 21.6.2002 abgedruckt, in der das Gericht die Vereinbarkeit der Änderungen mit der Verfas-sung bejahte (Verfassungsgericht der Republik Aserbaidschan, Decision on Introduction of Modifica-tions into the Constitution of Azerbaijan Republic, Baku, 21.6.2002); diese Entscheidung erging in ei-nem Vorverfahren, das die Verfassung in Art. 153 AV vorsieht.

90 K e r i m o v , Azerbaijani Referendum: Soviet Legacy Continues, in: Central Asia-Caucasus Ana-

lyst, 28.8.2002, online: <http://www.cacianalyst.org/?q=node/392>. 91

Council of Europe, Parliamentary Assembly, Doc. 9545 revised, Honouring of Obligations and Commitments by Azerbaijan, 18.9.2002, Explanatory Memorandum, II. Legal Reforms, A., 1., Nr. 23. – Anders die Darstellung von S t i c h t , die behauptet, der Europarat in Form der Venedig-Kommission habe zwischen September 2001 und März 2002 intensiv an Beratungen im Rahmen der Verfassungsreform teilgenommen; vgl. S t i c h t (Anm. 10), 189 ff.; S t i c h t (Anm. 74), 51, 73 ff.; wie hier: B a b a j a n y a n (Anm. 10), 141.

92 Council of Europe, Parliamentary Assembly (Anm. 91), Nr. 24 und 26. – Auch die erwähnte

Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 21.6.2006 lässt den Schluss auf ein überaus schnell betrie-benes Verfahren zur Verfassungsänderung zu. Laut Urteil wurde das Gericht erst am 14.6.2006 durch Ersuchen des Präsidenten um eine Entscheidung i.S.d. Art. 153 AV gebeten. Obwohl das Gericht in öffentlicher Verhandlung beriet, erging die Entscheidung bereits eine Woche später am 21.6., so dass das Referendum am 22.6. angekündigt werden konnte. – Angesichts des Ergebnisses von 96 % Zu-stimmung im Referendum bei 88 % Beteiligung und der bis zu diesem Zeitpunkt gemachten Erfah-rungen mit Wahlen und Abstimmungen in Aserbaidschan wurde angezweifelt, ob das Referendum ordnungsgemäß abgehalten wurde. Ein Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europara-tes, Andreas G r o s s , war während der Abstimmung in Aserbaidschan anwesend und berichtete später aus eigener Anschauung über Unregelmäßigkeiten, die von Druck auf Staatsbedienstete über manipu-

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Die inhaltliche Bewertung der einzelnen Verfassungsänderungen und -ergän-zungen vom 24. August 2002 fällt, wie bereits gesagt, ambivalent aus. Als Beispiel für den förderlichen Einfluss des Europarates93 und als Vorbild für die südkaukasi-schen Nachbarn94 wurde vor allem die Einführung der Individualverfassungsbe-schwerde besonders begrüßt. Gemäß Art. 130 Abs. 5 AV n.F. und nach Maßgabe näherer Ausgestaltung in Art. 34 des Verfassungsgerichtsgesetzes95 kann nun je-dermann das Verfassungsgericht mit der Behauptung anrufen, durch die Legislati-ve, Exekutive oder Judikative in seinen Rechten oder Freiheiten verletzt zu sein. Außerdem wurde durch Art. 130 Abs. 6 AV n.F. den (Fach-)Gerichten die Mög-lichkeit geschaffen, sich im Wege einer Art konkreter Normenkontrolle bzw. Vor-abentscheidung an das Verfassungsgericht zu wenden, um eine Auskunft über die Auslegung der Verfassung oder der Gesetze der Republik in Ansehung der Grund-rechte eines Bürgers zu erhalten. Schließlich ist der Menschenrechtsbeauftragte der Republik Aserbaidschan (Ombudsmann) gemäß Art. 130 Abs. 7 AV n.F. befugt, das Verfassungsgericht mit der Überprüfung zu beauftragen, ob normative Akte der Legislative, Exekutive oder Judikative mit Grundrechten in Einklang stehen.96

Zu den kritisch kommentierten Verfassungsänderungen im Jahr 2002 zählt die Abschaffung des Verhältniswahlrechts zu Gunsten des Mehrheitswahlrechts in Art. 83 AV n.F., was als Schlag gegen die pluralistische Parteienlandschaft in Aser-baidschan aufgefasst wurde.97 Gleichfalls als Schwächung der Opposition wurde der ersatzlose Wegfall des Art. 130 Abs. 3 Nr. 7 AV a.F. gewertet, der bisher aus-schließlich das Verfassungsgericht zum Verbot einer Partei oder öffentlichen Ver-einigung autorisierte. Durch die Streichung dieser Norm bestehen nunmehr keine verfassungsrechtlichen Hürden mehr, Parteien auch durch Fachgerichte verbieten zu lassen.

Die am meisten diskutierte Änderung betraf jedoch mit Art. 105 Abs. 1 S. 2 AV die Frage der “aserbaidschanischen Erbfolge” durch “Übergabe” des Präsidenten-amtes von Heydar A l i j e w auf seinen Sohn I l h a m , den der gesundheitlich ange-schlagene Heydar A l i j e w seit langem systematisch als Nachfolger aufgebaut hat-

lationsverdächtige Urnen und Abstimmungszettel bis zu Bestechungsversuchen an oppositionellen Wahlbeobachtern reichten; vgl. G r o s s , Demokratie auf dem Holzweg – das Beispiel Aserbaidschan, in: Basler Zeitung, 1.9.2002.

93 G u l i y e v a , Democratization and the Rule of Law in Azerbaijan: Europe’s Relevance, in: Wa-

ters (Hrsg.), The State of Law in the South Caucasus, Basingstoke 2005, 41, 44. 94

K n i e p e r (Anm. 82), 25. 95

Englische Übersetzung: GTZ (Hrsg.), Verfassungsgerichtsgesetze Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Tbilissi 2007, 54 ff.

96 Eine vergleichbare Überprüfungsmöglichkeit hatte die AV bereits i.d.F. von 1995 vorgesehen,

jedoch beschränkt auf einen eng abgegrenzten Kreis von Antragsberechtigten (wie Präsident, Parla-ment u.a.), vgl. Art. 130 Abs. 3 AV. Durch das Antragsrecht des Ombudsmanns wurde insoweit eine Verbesserung erreicht. Erste Bewertungen der Arbeit des Ombudsmanns waren allerdings eher zu-rückhaltend, s. S t a b e r o c k (Anm. 65), 262, 271.

97 A b b a s o v / G a k r a m a n l y , Azerbaijan: Elections and Power, in: Central Asia and the Cauca-

sus 18 (2002), Nr. 6.

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te.98 Ilham A l i j e w war seit 1994 Vizepräsident der wichtigen staatlichen Ölgesell-schaft SOCAR (State Oil Company of the Azerbaijan Republic), bevor er 1999 die Vizepräsidentschaft der A l i j e w -Partei “Neues Aserbaidschan” übernahm und bei den Parlamentswahlen im November 2000 die Liste dieser Partei anführte. Damals gab es Spekulationen, Heydar A l i j e w werde seinen Sohn zum Parlamentspräsi-denten wählen lassen, weil der Parlamentspräsident bis zur Verfassungsänderung 2002 laut Art. 105 Abs. 1 S. 2 AV a.F. im Fall der Verhinderung des Präsidenten als dessen Stellvertreter vorgesehen war, was es Heydar A l i j e w wesentlich erleich-tert hätte, sein Staatsamt zu einem günstigen Zeitpunkt weitgehend reibungslos in-nerhalb der Familie “weiterzugeben”.99 Die Neufassung des Art. 105 Abs. 1 S. 2 AV ermöglichte nun eine etwas andere Variante, aber mit demselben Endergebnis: Ilham A l i j e w wurde tatsächlich über die Stellvertretung Amtsnachfolger seines Vaters, aber nicht als Parlamentspräsident, sondern als Premierminister, denn mit der Verfassungsänderung von 2002 wechselte das in Art. 105 Abs. 1 S. 2 AV nie-dergelegte Stellvertreteramt vom Parlamentspräsidenten auf den Premierminister über.100 Diese Variante hätte theoretisch den Vorteil geboten, dass Ilham A l i j e w sich als Premierminister schon vor dem Vertretungsfall in die Regierungsaufgaben eingearbeitet und entsprechend profiliert hätte. Tatsächlich entwickelten sich die Dinge dann vermutlich schneller als gedacht: Heydar A l i j e w musste sich ab Juli 2003 wegen schwerer gesundheitlicher Probleme zur Behandlung außer Landes begeben und ernannte seinen Sohn am 4. August 2003 per Dekret zum Premiermi-nister, der zugleich gemäß Art. 105 Abs. 1 S. 2 AV n.F. die Amtsgeschäfte des Prä-sidenten der Republik Aserbaidschan übernahm.101 In der sich anschließenden tur-nusmäßigen Präsidentschaftswahl wurde Ilham A l i j e w am 15. Oktober 2003 zum Präsidenten gewählt. Seine erste Amtszeit endete im Oktober 2008. Im selben Mo-nat wurde er in einer von der Opposition boykottierten Wahl mit großer Mehrheit (89 % Zustimmung) wiedergewählt.102

98

S i d i k o v , Aserbaidschan – Machtpoker um die Petrodollars, in: v. Gumppenberg/Steinbach (Hrsg)., Der Kaukasus, München 2008, 49, 60; H a l b a c h (Anm. 12), 1.

99 L u c h t e r h a n d t (Anm. 65), 255, 363 m.w.N.

100 Flankiert wurde die Neufassung des Art. 105 Abs. 1 S. 2 AV von einer Änderung des Art. 101

Abs. 2 AV, der nunmehr für die Wahl zum Präsidenten nur noch eine einfache Mehrheit und nicht mehr wie zuvor eine Zwei-Drittel-Mehrheit fordert. Damit war sichergestellt, das I l h a m auch dann wirksam zum Präsidenten gewählt werden konnte, wenn er nicht so große Zustimmung wie sein Vater erhielt.

101 Insgesamt war der Umstand, dass die Art und Weise der Amtsübergabe von vornherein geplant

war, derart offensichtlich, dass selbst der Europarat von der “Vorbereitung eines Machtübergangs” sprach und in offiziellen Dokumenten das Wort “family ‘monarchy’” Verwendung fand; vgl. Council of Europe, Parliamentary Assembly, Doc. 10030, Functioning of Democratic Institutions in Azerbai-jan, 12.1.2004, Explanatory Memorandum (von den Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Andreas G r o s s und Guillermo Martinez C a s a ñ ), I., A., Nr. 9-13.

102 Gemäß einer gemeinsamen Verlautbarung von OSCE (ODIHR), Europarat (Parlamentarische

Versammlung) und Europäischem Parlament machte die Präsidentschaftswahl 2008 im Gegensatz zu den bisherigen Wahlen in Aserbaidschan einen deutlichen Schritt hin in Richtung der Wahlstandards, die von diesen Organisationen als Minimum einer demokratischen Wahl erwartet werden; s. OSCE/

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5. Die Verfassungsänderung von 2009

Mit Referendum vom 18. März 2009 ist die Verfassung jetzt ein weiteres Mal ge-ändert worden, wobei die Bewertung wie bereits 2002 ambivalent ausfällt:103 Ne-ben rein sprachlichen Modifikationen – zum Beispiel der Umbenennung der Nati-onalbank in “Zentralbank” – gibt es zwar eine Reihe neuer Verfassungsbestim-mungen, die von unabhängigen Beobachtern durchaus positiv aufgenommen wor-den sind. Zu diesen gehören Artikel, mit denen dem Volk bei einem Quorum von 40.000 Bürgern ein eigenes Gesetzesinitiativrecht zugestanden (Art. 96 AV n.F.), der Grundrechtsschutz verbessert104 und der soziale Charakter der Republik Aser-baidschan stärker betont wird.105 Im Vordergrund des Interesses stehen aber Neue-rungen, die allgemein sehr kritisch betrachtet werden, allen voran die Entfernung des verfassungsmäßigen Verbots der mehrmaligen Wiederwahl des Staatspräsiden-ten. Aufmerksamkeit verdienen außerdem eine Ergänzung der Grundrechte auf Persönlichkeitsrechtschutz (Art. 32 und Art. 50 AV n.F.) und eine neu geschaffene, jedoch rechtlich unbestimmte Aufsicht über die Gemeinden (Art. 146 AV n.F.).

Bereits geraume Zeit vor dem Referendum hatten sich Beobachter der aserbaid-schanischen Politik die Frage gestellt, was nach der zweiten Amtszeit Ilham A l i -j e w s im Jahr 2013 geschehen werde, weil Art. 101 Abs. 5 AV bis zur jetzigen Än-derung unmissverständlich angeordnet hatte, niemand dürfe mehr als zweimal zum Präsidenten gewählt werden.106 Indes hatten sich schon im Juli 2008, also noch vor der letzten Präsidentenwahl, in der Regierungspartei “Neues Aserbaidschan” erste Stimmen zu Wort gemeldet, die für eine dritte Amtszeit von Präsident Ilham A l i -j e w plädierten, weil die Begrenzung der Amtszeit eine Einschränkung der Demo-kratie bedeute.107 Das daraufhin in Gang gesetzte Verfassungsänderungsverfahren

CoE/EP, International Election Observation Mission, Statement of Preliminary Findings and Conclu-sions, Baku, 16.10.2008.

103 Council of Europe, Venice Commission, Opinion on the Draft Amendments to the Constitu-

tion of the Republic of Azerbaijan, CDL-AD (2009) 010, Straßburg, 16.3.2009, Nr. 43. 104

Es handelt sich um eher marginale Änderungen an den Art. 17, 25, 39, 48, 67 und 71 AV. 105

S a f a r o w a , Referendum über einen Präsidenten auf Lebenszeit, in: Wostok 1/2009, 46, 47 f. 106

Diese Regelung (“nicht mehr als zweimal”), die im Sinne des republikanischen Staatsprinzips und im Gegensatz zur Monarchie die Amtszeit des Staatsoberhauptes kategorisch befristete, machte bei strenger Auslegung in Aserbaidschan die “russische Lösung” (Wortlaut dort: “nicht mehr als zweimal hintereinander”) über einen vorübergehenden “Zwischenpräsidenten” verfassungsrechtlich unmöglich. – Trotz Art. 101 Abs. 5 AV a.F. kandidierte bereits Heydar A l i j e w 2003 zunächst für eine dritte Amtszeit, bis er schließlich kurz vor der Wahl die eigene Kandidatur zugunsten seines Soh-nes zurückzog; vgl. A g a j e w a , Wie der Vater dem Sohn das Land vermacht, in: Wostok 4/2003, 83, 86; S m i r n o v , Azerbaijan: The Transfer of Power, in: Central Asia and the Caucasus 25 (2004), Nr. 1, 25, 30.

107 So der stellvertretende Vorsitzende und Geschäftsführer dieser Partei Ali A h m e d o v am

18.7.2008, vgl. W a l k e r , Azerbaijan’s Growing Contradictions between Economic and Democratic Development, Washington D.C., 29.7.2008, online: <http://www.freedomhouse.org/uploads/ CSCETestimony072908.pdf>. Nach der Wiederwahl A l i j e w s wurden weitere Argumente für die Notwendigkeit der Verfassungsänderung ins Feld geführt; insbesondere erfordere der Kriegszustand mit Armenien zeitlich größere Handlungsspielräume des Präsidenten. Bemerkenswert erscheint auch

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wurde wie 2002 sehr zügig durchgeführt: Nachdem der Entwurf am 16. Dezember 2008 dem Parlament zur Abstimmung zugeleitet worden war, nahm dieses die Än-derungen am 18. Dezember 2008 an. Kaum eine Woche später, am 24. Dezember 2008, urteilte das Verfassungsgericht, die geplante Abschaffung des Wiederwahl-verbotes stehe im Einklang mit der Verfassung. Im Referendum am 18. März 2009 wurden die insgesamt 41 Änderungen an 29 Artikeln der Verfassung nach offiziel-len Angaben der Zentralen Wahlkommission bei einer Wahlbeteiligung von 71 % mit großer Mehrheit (rund 89 % Zustimmung) angenommen.108 Der Europarat hatte zuvor die geplante Streichung des Wiederwahlverbots nicht nur wegen des überhasteten Verfahrens kritisiert, das keine fundierte öffentliche Auseinanderset-zung zuließ, sondern auch wegen der gesetzestechnischen Art und Weise der Än-derung,109 vor allem aber inhaltlich, zumal Aserbaidschan mit ihr einen Weg wählt, den kurz zuvor unter anderem auch Weißrussland (2004) und Venezuela (2009) beschritten.110 Durchsetzen konnte der Europarat sich gegenüber der offenbar fest entschlossenen aserbaidschanischen Regierung allerdings nicht.111

Skeptisch betrachtet der Europarat auch die Ergänzung des Grundrechts auf Schutz der Privatsphäre (Art 32 Abs. 3 AV) durch einen neu angefügten Satz 2, demzufolge Personen künftig ohne ihre Zustimmung grundsätzlich nicht verfolgt, abgelichtet oder aufgenommen werden dürfen und Ausnahmen hiervon nur auf-grund einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung zulässig sind. Diese vor-dergründig nicht zu beanstandende Norm wird kritisiert, weil sie zur weiteren Einschränkung der Presse- und Informationsfreiheit, insbesondere zur Unterdrü-

eine Meldung der aserbaidschanischen Nachrichtenagentur Trend News, innerhalb der Regierungspar-tei betrachte man das Verbot der mehrmaligen Wiederwahl als eine “Menschenrechtsverletzung des Präsidenten” (“Azerbaijani Ruling Party Offers to Hold Referendum to Inject Changes into Constitu-tion”, 7.11.2008, 10:30 Uhr, online: <http://news.trend.az/index.shtml?show=news&newsid=1339354 &lang=en>).

108 Oppositionsvertreter beklagten massive Wahlmanipulationen. Behauptet wurde, es hätten sich

statt der angegebenen 71 % nur 14 bis 15 % der Wahlberechtigten an die Wahlurnen begeben, so dass die notwendige Mindestbeteiligung für die Gültigkeit der Abstimmung nicht erreicht worden sei; un-abhängige Beobachter sprachen von höchstens 40 % Beteiligung und stellten Unregelmäßigkeiten fest. B a b a j e w , Verfassungsänderung in Aserbaidschan, Fokus Südkaukasus 2/09 (Friedrich-Ebert-Stiftung), Tbilisi 2009, 2.

109 Der Absatz, der in der alten Fassung das Wiederwahlverbot enthielt, wurde nicht einfach ge-

strichen, sondern durch eine andere Regelung ersetzt, die sich mit den Präsidentschaftswahlen wäh-rend eines Kriegszustandes beschäftigt. Dadurch wurde nach Ansicht des Europarates die Tragweite der Änderung verschleiert; s. Council of Europe, Venice Commission (Anm. 103), Nr. 9.

110 Siehe auch Algerien (2008), Hinzuzufügen ist die “Lösung” in Kasachstan, wo eine Verfas-

sungsänderung im Jahr 2007 das Verbot der mehrmaligen Wiederwahl (Art. 42 Abs. 4 Kasachische Verfassung) zwar aufrecht erhielt, aber auf den “Ersten Präsidenten” (d.h. Nursultan N a s a r b a j e w ) für nicht anwendbar erklärte.

111 In einer heftigen verfassungspolitischen Debatte zwischen dem Europarat und der aserbaid-

schanischen Regierung im Vorfeld der Verfassungsänderung 2009 wurden Argumente über die Üb-lichkeit einer Beschränkung der Amtszeit von Präsidenten unter Bezugnahme auf die USA (1951), Frankreich (2008) und andere westliche Länder ausgetauscht; s. Council of Europe, Venice Commissi-on (Anm. 103), Nr. 8-16, für die Sicht des Europarates sowie die Erwiderung der aserbaidschanischen Regierung ab S. 11 ff. in demselben Dokument.

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ckung des investigativen Journalismus, missbraucht werden könnte.112 Nach dem Wortlaut der Neufassung ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass Medien fortan das Recht abgesprochen werden könnte, Bestechungsfälle und andere Unregelmä-ßigkeiten in der Staatsführung zu recherchieren und darüber in Bild und Ton zu berichten. Der Europarat sieht hier einen Konflikt mit Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) und der Erklärung des Ministerkomitees des Europarats über die Freiheit der politischen Debatte in den Medien vom 12. Februar 2004.113

Ähnliches gilt für die Neufassung der Rechtsstellung der Gemeinden in Art. 146 AV. Dessen bisheriger Wortlaut, der den Kommunen gerichtlichen Schutz garan-tierte und Kostenerstattung für Maßnahmen zusicherte, die durch Beschlüsse der Staatsorgane veranlasst sind, war nach allgemeiner Auffassung zu unbestimmt formuliert. Die Neuregelung soll hier eine Präzisierung bringen, verleiht aber dem Staat auch eine neue Kontrollkompetenz über die Gemeinden (Abs. 3) und ver-pflichtet diese, in bestimmten Fällen gegenüber der Milli Medschlis Rechenschaft abzulegen (Abs. 4), was als demokratiepolitisch bedenklich bewertet worden ist.114 Der Europarat verweist in diesem Zusammenhang auf bestehende Regularien des Europarates und bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, das ausfüllende Gesetz werde die entsprechenden Vorgaben des Europarates berücksichtigen.115

Insgesamt muss konstatiert werden, dass sich die Aserbaidschanische Verfassung von 1995 durch die beiden Änderungen in den Jahren 2002 und 2009 in einigen wenigen Bereichen auf die europäischen, durch den Europarat vermittelten Stan-dards hinbewegt hat, jedoch in einer Gesamtbetrachtung die negativen Entwick-lungen deutlich überwiegen. Das bereits in der Verfassung von 1995 festgeschrie-bene Defizit an Gewaltenteilung mit eindeutiger Bevorzugung der Exekutive ist durch die Änderungen von 2002 und 2009 weiter verfestigt und gewissermaßen verfassungsrechtlich zementiert worden.

6. Die Verfassungswirklichkeit

Die rechtlich vorgezeichnete Konzentration der Macht beim Präsidenten wird in der Verfassungswirklichkeit116 dadurch verstärkt, dass die Regierungspartei “Neues

112

B a b a j e w (Anm. 108), 2. Eine solche Deutung würde durch den neu gefassten Art. 50 Abs. 3 AV erleichtert. Dieser garantiert Jedermanns Recht, in den Medien veröffentlichte Informationen zu-rückzuweisen, die seine Rechte verletzen oder sein Ansehen schädigen.

113 Council of Europe, Venice Commission (Anm. 103), Nr. 25 und 28.

114 B a b a j e w (Anm. 108), 3.

115 Council of Europe, Venice Commission (Anm. 103), Nr. 30 ff. – In der Tat wäre es sinnvoll

gewesen, die Art der Aufsicht des Staates über die Gemeinden näher zu spezifizieren. Aus der Verfas-sung ergibt sich jedenfalls nicht, ob eine Fach- oder nur eine Rechtsaufsicht gemeint ist.

116 Die regelmäßig aktualisierten Berichte des Europarates und verschiedener Nichtregierungsor-

ganisationen (z.B. Bertelsmann Transformationsindex, Freedom House u.v.a.) ergeben in der Gesamt-schau ein recht klares Bild der Verfassungswirklichkeit in Aserbaidschan. Insgesamt scheinen die rechtsstaatlichen Defizite seit dem Amtsantritt von Ilham A l i j e w eher größer geworden zu sein. Hierauf deutet zumindest die Rückstufung Aserbaidschans in der Bewertung von Freedom House hin,

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Aserbaidschan” bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2005117 56 der insgesamt 125 Sitze erringen konnte und von 40 weiteren, parteilosen Abgeordneten ange-nommen wird, dass sie dieser nahe stehen.118 Eine parlamentarische Opposition, welche in der Lage wäre, die effektive Kontrolle der Regierung durchzusetzen, kann unter diesen Umständen nicht entstehen. Langfristig erschwert wird die Bil-dung eines politischen Gegengewichts durch die bei Wahlen und Referenden seit Erlangung der Unabhängigkeit stets zu beobachtenden Unregelmäßigkeiten und die anhaltende Behinderung der Ausübung gerade solcher Grundrechte, die wie insbesondere die Medien-119 und Versammlungsfreiheit120 für die freie Willensbil-dung des Volkes von zentraler Bedeutung sind.

Die Gerichtsbarkeit bietet hiergegen keinen Schutz, da sie keine echte Unabhän-gigkeit genießt.121 Ein Großteil der Richter ist außerdem so korrupt, dass viele Rechtsanwälte sich eher als Makler zur Aushandlung der notwendigen Beste-chungssumme denn als Verteidiger des Rechts sehen.122 Empirische Untersuchun-gen weisen jedenfalls auf erhebliche strukturelle Defizite in der aserbaidschani-schen Rechtspflege hin.123 Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass die Justiz mit einem der schwerwiegendsten Probleme des Landes, der tief verwurzelten all-gemeinen Korruption und ihren Folgen, dem willkürlichen Agieren der Bürokratie und der Schattenwirtschaft, nicht fertig wird.

Insgesamt, so wird man den Befund zusammenfassen dürfen, hat der aserbaid-schanische Präsident inzwischen im politischen Alltag wieder eine Machtposition erreicht, die der einstigen Stellung der Kommunistischen Partei nicht unähnlich

die das Land im Jahr 2004 von “teilweise frei” auf “unfrei” zurückstufte; vgl. Freedom House, Free-dom in the World – Country Report Azerbaijan 2004.

117 Umfangreiche Analysen dieser Wahl finden sich bei T o r j e s e n / Ø v e r l a n d , International

Election Observers in Post-Soviet Azerbaijan, Stuttgart 2007. 118

B a b a j e w , Parlamentswahlen in Aserbaidschan 2005, in: KAS-Auslandsinformationen 4/2006, 79, 90 f.

119 Abgesehen von dem schon fast zur Gewohnheit gewordenen Druck auf lokale Medien wurden

zu Beginn des Jahres 2009 in Aserbaidschan die FM-Lizenzen von BBC, Radio Liberty und Voice of America nicht verlängert, was von der OSZE als großer Rückschritt bezeichnet wurde: OSCE, Pres-semitteilung, “Azerbaijan’s Ban on Foreign FM Radio Broadcasting Is Serious Step Backwards, Says OSCE Media Freedom Representative”, Wien, 30.12.2008, <http://www.osce.org/item/35848.html>.

120 Vgl. K o e h l e r / Z ü r c h e r , Der Staat und sein Schatten, in: Krämer (Hrsg.), Autoritäre Sys-

teme im Vergleich, Potsdam 2005, 182, 185 f.: Der Präsident könne jederzeit nicht nur Polizei und Si-cherheitskräfte, sondern auch eine organisierte Anhängerschaft aktivieren, um Demonstrationen stö-ren oder Büros oppositioneller Gruppen verwüsten zu lassen.

121 Nach S a s s e , Aserbaidschan – Wohin geht die Reise?, in: Liberal 48 (2006), 53, 54, wird in

Aserbaidschan nach wie vor das zu Zeiten der UdSSR verbreitete “telephone law” gepflegt, bei dem Urteile nicht das Ergebnis richterlicher Beratung waren, sondern vielmehr Entscheidungen umsetzten, die per Anruf von hochrangigen KP-Mitglieder durchgegeben wurden.

122 S a f a r a l i e v a , Azerbaijan’s Yawning Gap between Reforms on Paper and in Practice, in:

Transparency Intl. (Hrsg.), Global Corruption Report 2007, 175. 123

Vgl. nur OSCE, Report from the Trial Monitoring Project 2003-2004, Baku 2005; d i e s ., Trial Monitoring in Azerbaijan 2006-2007, Baku 2008.

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ist124. Diese Position ist zwar nicht ideologisch fundiert, sondern beruht weitge-hend auf dem Beziehungsgeflecht der starken Clans125 und einem damit verbunde-nen System des Gebens und Nehmens, doch sind die Auswirkungen auf die Rechtskultur im Wesentlichen die gleichen: Das Recht wird nicht als wertvoller ei-genständiger Faktor des politischen und gesellschaftlichen Lebens betrachtet, der einerseits selbst dann Verbindlichkeit beansprucht, wenn Gesetz und Gerechtig-keit im subjektiven Empfinden auseinanderfallen, und der andererseits – auch an-gesichts dieses steten Spannungsverhältnisses – zur permanenten Weiterentwick-lung und Geltungssicherung einen Kranz von anspruchsvollen institutionellen Vorkehrungen der Demokratie und des Rechtsschutzes benötigt.126 Stattdessen er-scheint die Gesetzgebung der breiten Bevölkerung in Aserbaidschan heute – wie in Zeiten der Sowjetunion und wohl auch davor, im Russischen und Persischen Reich – als ein Herrschaftsinstrument unter vielen, dem man nach Möglichkeit aus-weicht, das im allgemeinen Bewusstsein aber nur schwach verankert ist und von dem man sich für die Regelung der Alltagsprobleme nicht viel erhofft.127 Die in den letzten 150 Jahren wenigstens dreimal aufgetretenen abrupten und tiefgreifenden Veränderungen des politischen und ideologischen Systems haben in weiten Teilen der Bevölkerung zu einem Bewusstsein geführt, welches die Welt außerhalb der Familienbeziehungen als einen gefahrvollen “fremden Raum”‘ wahrnimmt, auf den man keinen Einfluss hat und in dem man am besten durch Passivität und Anpas-sung besteht.128 Nach Erlangung der Unabhängigkeit war zwar in weiten Teilen des Volkes durchaus die Hoffnung aufgeflammt, man werde in Aserbaidschan eine Demokratie westlichen Musters errichten können. Inzwischen herrscht aber wie-der politische Apathie, die von einer Mischung aus Fatalismus und Angst genährt wird.129

IV. Ausblick

Wie kann es weitergehen? Angesichts der Dominanz des aserbaidschanischen Präsidenten im politischen Gefüge des Landes liegt es nahe, eine umfassende De-mokratisierung zu fordern und vor allem auf freie Wahlen zu drängen, wie dies in der “westlichen” Öffentlichkeit immer wieder geschieht. Ohne tiefgreifende Ver-

124

L u c h t e r h a n d t (Anm. 65), 255, 367 f. 125

B a b a j e w , Demokratie-Test nicht bestanden – Parlamentswahlen in Azerbajdžan 2005, in: Osteuropa 56 (2006), Heft 3, 33, B a d a l o w (Anm. 22), 179, 203. Allgemeiner zur Frage der Clanherr-schaft: G r e w l i c h (Anm. 10), 273, 281; L e i p o l d , Kulturvergleichende Institutionenökonomik, Stuttgart 2006, 219 f. und 95 ff.

126 Sehr anschaulich zum Kern rechtsstaatlicher Rechtskultur B r u n n e r , Rechtskultur in Osteu-

ropa: Das Problem der Kulturgrenzen, in: ders. (Anm. 31), 103, 104 ff. 127

Zur sozialistischen “Rechtskultur” s. K ü p p e r , Rechtskultur und Modernisierung in Osteuro-pa, in: Osteuropa 49 (1999), Heft 4, 337, 343.

128 B a d a l o w (Anm. 22), 179, 181.

129 B a b a j e w (Anm. 108), 3.

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änderung des gesellschaftlichen Fundaments werden Verfassungsreformen aber wenig bringen – und angesichts der gegebenen Verhältnisse auch kaum durchsetz-bar sein. Da die Herausbildung stabiler, funktionsfähiger Demokratien nach den historischen Erfahrungen offenbar nur dort gelingt, wo ein beträchtliches Maß an ökonomischer und sozialer Entwicklung vorausgegangen ist,130 und da hierbei – neben anderen Faktoren131 – die Etablierung eines selbstbewussten Besitz- und Bildungsbürgertums eine entscheidende Rolle spielt132, erscheint es sinnvoller, das Augenmerk zunächst auf drei Reformfelder zu richten, die für die Stärkung der bürgerlichen Basis besonders wichtig sind, aber ohne großangelegte förmliche Ver-fassungsreform und ohne unmittelbaren Angriff auf die etablierten Mächte des Landes vonstatten gehen können. Diese Reformfelder sind: die Marktwirtschaft, die Behörden- und Justizpraxis sowie – als Teil des insgesamt wesentlichen Bil-dungssektors – speziell die Ausbildung des Juristennachwuchses.

Eine umfassende Gesetzesnovellierung zur Schaffung eines verlässlichen markt-wirtschaftskonformen Rahmens für die Ausübung der ökonomischen Freiheits-grundrechte würde auch in anderen Bereichen als der Öl- und Gasindustrie zur Aufnahme gewerblicher Tätigkeiten und Unternehmensgründung anspornen und könnte so das bisher nur mangelhaft genutzte Potenzial in Landwirtschaft, Ge-werbe und Tourismus aktivieren und die Volkswirtschaft des Landes auf eine brei-tere Basis stellen. Zumindest auf dem Papier scheint eine derartige Reform sehr weit fortgeschritten zu sein. Sie wird sowohl von internationalen Organisationen (wie Weltbank, OSZE, Europarat und EU) als auch von Institutionen der bilatera-len Entwicklungszusammenarbeit (wie der US-amerikanischen USAID und Ame-rican Bar Association sowie der deutschen GTZ) unterstützt und hat inzwischen zur Verabschiedung einer Vielzahl einschlägiger Gesetze geführt.133 Die bedeu-tendste materiell- und verfahrensrechtliche Lücke besteht offenbar im Bereich des Verwaltungsrechts.134

130

Vgl. S t e r n , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984, § 18, I, 5, 595; C a r o t h e r s , Promoting the Rule of Law Abroad: The Problem of Knowledge, Carne-gie Working Papers 34 (2003), 6.

131 Zur Diskussion um die Faktoren, die in Westeuropa zur Herausbildung des modernen Staates

geführt haben, s. B r u n n e r (Anm. 126), 103, 108 ff.; P a n t h e r , Historisches Erbe und Transforma-tion: ‘Lateinische’ Gewinner – ‘Orthodoxe’ Verlierer?, in: Wegner/Wieland (Hrsg.), Formelle und in-formelle Institutionen, Marburg 1998, 211 ff.; K ü p p e r (Anm. 127), 337 ff.

132 B r u n n e r (Anm. 126), 103, 110 f.

133 Thematisch betrafen diese Gesetze und flankierenden Maßnahmen u.a. die Gerichtsinfrastruk-

tur (Weltbank), das Zivilrecht (GTZ) und den Zivilprozess (Europarat), das Strafrecht und den Straf-prozess (OSZE) sowie die Rechtsanwaltschaft und die Juristenausbildung an den Universitäten (Ame-rican Bar Association).

134 K n ü p f e r , Neugestaltung von Rechtsordnungen im Transformationsprozess, in: Fischer

(Hrsg.), Neugestaltung des Rechts in Ost und West, FS Roggemann, Berlin 2006, 53, 60. Nachholbe-darf besteht insbesondere im besonderen Verwaltungsrecht seit Aserbaidschan mit Unterstützung der GTZ ein Verwaltungsverfahrens- und ein Verwaltungsprozessgesetz auf den Weg gebracht hat; es soll voraussichtlich am 1.1.2010 in Kraft treten; hierzu: H e r r m a n n / H y e - K n u d s e n , Einführung in das neue aserbaidschanische Verwaltungsrecht, Baku 2006.

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Die damit angesprochene Aufgabe der Verwaltungs- und Justizreform dürfte sich angesichts des geistigen Erbes der Sowjetunion und der – auch mental – tief verwurzelten Korruption als die schwierigste Herausforderung im rechtsstaatli-chen Transformationsprozess erweisen. Allein der Erlass von Gesetzen, mögen sie noch so durchdacht sein und einem in westlichen Staaten bewährten Muster fol-gen, wird nicht ausreichen, um den erstrebten Erfolg zu erzielen. Vielmehr geht es darum, das Rechtsverständnis eines ganzen Volkes grundlegend zu verändern. Wie dies erreicht werden kann, ist schwer zu sagen. Möglicherweise würde eine Kom-munalreform nach dem Vorbild der S t e i n - H a r d e n b e r g s c h e n Reformen in Preußen, mit der die Bürger zunächst auf örtlicher Ebene mit der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten betraut werden, auf Dauer dazu beitragen, dass in der breiteren Bevölkerung allmählich das politische Engagement und persönliche Verantwortungsgefühl entsteht, welches für die Übernahme staatlicher Ämter durch Repräsentanten des Volkes und die gesellschaftliche Kontrolle der Amtsträ-ger in einer rechtsstaatlichen Demokratie erforderlich ist.

Unterstützt und gefördert werden müsste dieser langwierige Prozess jedenfalls durch eine sachgemäße Neuordnung der Juristenausbildung. Nach einer unveröf-fentlichten Umfrage der American Bar Association aus dem Jahr 2004 haben aser-baidschanische Rechtsstudenten durchaus idealistische Motive. Die meisten begin-nen ein Jurastudium, um anderen zu ihrem Recht zu verhelfen oder um die Kor-ruption im Land zu bekämpfen.135 Dies spricht dafür, dass die junge Generation sich der herrschenden Defizite bewusst ist und Veränderungen wünscht. Die offi-zielle Politik sieht jedoch anders aus: Nachdem ein rechtswissenschaftliches Studi-um seit der Unabhängigkeit des Landes zunächst an verschiedenen – auch privaten – Universitäten möglich war,136 ist die Ausbildung der jungen Juristen mittlerweile an staatlichen Einrichtungen wie insbesondere der Staatlichen Universität in Baku monopolisiert worden,137 was sicher nicht als Maßnahme zur freieren Entwicklung der Rechtswissenschaft gedeutet werden kann,138 zumal gerade die Juraprofessoren

135

S. zu dieser Umfrage D a v i d s o n / S h a r p N t i A s a r e , Legal Education in Azerbaijan: Past, Present and Future Challenges, in: Waters (Hrsg.), The State of Law in the South Caucasus, Basing-stoke 2005, 96, 102.

136 Noch 2005 gab es in Aserbaidschan fünf Privatuniversitäten, die Abschlüsse in Jura anboten,

wobei allerdings nur die Abschlüsse von vier Universitäten staatlich anerkannt wurden; vgl. D a v i d -s o n / S h a r p N t i A s a r e , (Anm. 135), 96, 103, Fn. 39.

137 Neben der staatlichen Universität findet Juristenausbildung noch an weiteren Stellen statt, die

allerdings sämtlich staatlichen Ministerien und Einrichtungen zugeordnet sind: U s u b , Юридическое образование и подготовка судьей в Азербайджанской Республике, online: <http://www.cac-civillaw.org/beitraege/juristenausbildung-ase.ru.rtf>.

138 Auch wenn in Deutschland der Staat ebenfalls das Prüfungsmonopol für die klassischen juristi-

schen Berufe besitzt, ist die Situation mit der in Aserbaidschan nicht vergleichbar, weil die rechtswis-senschaftliche Forschung und Lehre in Deutschland in der Hand einer großen Zahl wissenschaftlich freier, miteinander konkurrierender Universitäten liegt.

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der Staatlichen Universität lange im Ruf standen, besonders hartnäckig am sowjeti-schen Rechtsverständnis und an sowjetischen Lehrmethoden festzuhalten.139

Nach anfänglichen Ansätzen auch von deutscher Seite, Aserbaidschan bei der Reform der Juristenausbildung beratend und unterstützend zur Seite zu stehen,140 wird diese Aufgabe heute fast ausschließlich von der American Bar Association wahrgenommen. Unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel organisiert die ABA seit Jahren die Entsendung von Gastdozenten nach Aserbaidschan, die dort aus-schließlich US-amerikanisches Recht lehren.141 Die Vereinigten Staaten ermögli-chen außerdem vielen talentierten jungen Jurastudenten mit Stipendienprogram-men verschiedener Stiftungen ein Studium an einer Universität in den USA. Diese Maßnahmen helfen zwar, den sowjetischen Traditionen in der rechtswissenschaft-lichen Ausbildung ein “westliches” Muster entgegenzusetzen; sie sind aber offen-bar nicht ganz uneigennützig ausgestaltet142 und tragen nicht unmittelbar zur wis-senschaftlichen Vermittlung und zur breiten Verankerung des aserbaidschanischen Rechts bei, das im Reformprozess eindeutig dem kontinentaleuropäischen Modell folgt. Angesichts der überragenden Bedeutung einer an rechtsstaatlichen Maßstä-ben orientierten Juristenausbildung dürfte es daher sinnvoll sein, in Zukunft auch auf einen deutlich verstärkten Studenten- und Dozentenaustausch mit Europa zu

139

Insgesamt ist nicht zu übersehen, dass in Aserbaidschan – anders als im sich stärker an Deutsch-land orientierenden Georgien – nach wie vor eine starke Ausrichtung am russischen Vorbild vor-herrscht, was sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für die Rechtsprechung gilt; vgl. C h a n t u -r i a , Juristen- und Richterausbildung in den GUS-Staaten: Erfahrungen und Perspektiven der Ent-wicklung, 9 f., <http://www.cac-civillaw.org/publikationen/chanturia.juristenausbildung.richterausbil dung.gus.de.rtf>. – Zum Vorwurf, an der Staatlichen Universität würden Studienabschlüsse häufig “verkauft”, s. D u m a s / J o n e s et.al, Legal Assessment: Azerbaijan – for USAID/Caucasus/ Azerbaijan, 13, <http://pdf.usaid.gov/pdf_docs/PNADF974.pdf>.

140 Vgl. insoweit den von der GTZ im Jahr 2003 initiierten Runden Tisch zur Juristenausbildung,

dessen Beiträge in einem dreisprachigen Tagungsband dokumentiert sind; dort insbesondere zur da-maligen Juristenausbildung in Aserbaidschan: H e r r m a n n , Juristenausbildung in Aserbaidschan, in: GTZ (Hrsg.), Reform der Juristenausbildung im Südkaukasus, 112 ff.

141 So jedenfalls die Erfahrung eines der Verf. (G.M.) bei Aufenthalten an Universitäten in Aser-

baidschan. Die an den Programmen der ABA teilnehmenden aserbaidschanischen Jurastudenten kann-ten die wichtigsten aserbaidschanischen Gesetze offenbar nicht und dachten methodisch in Kategorien des Common Law. Konkrete Rechtsfragen (z.B. nach den in Aserbaidschan für eine Unternehmens-gründung zur Verfügung stehenden Gesellschaftsformen) versuchten sie zu beantworten, indem sie ih-re US-amerikanischen Lehrbücher zu Rate zogen. Von ihren aserbaidschanischen Dozenten hörten sie überwiegend (mit einigen löblichen Ausnahmen) nur sehr abstrakte Vorlesungen ohne jeden Bezug zur praktischen Rechtsanwendung.

142 D u m a s / J o n e s et.al. (Anm. 139), 12 f., erachten z.B. die Stipendien der Muskie-Stiftung als

langfristig gut angelegte Investition. Auch der georgische Präsident S a a k a s c h w i l i war Muskie-Stipendiat, was sich für die USA nicht nur mit guten Beziehungen zu Georgien ausbezahlt hat, son-dern zugleich einen Vorteil im zuletzt schärfer gewordenen “Wettlauf der Geber” eingebracht zu ha-ben scheint, denn die US-amerikanischen Rechtsberater gewinnen in Georgien zunehmend Einfluss auf die Reformen; dazu M i n d e r j a h n , Georgien auf Amerikakurs, in: Das Parlament, Nr. 28/29, 11.7.2005; M u t h , Den Menschen fehlt es an Vertrauen, in: Das Parlament, Nr. 41, 10.10.2005. Zum viel zitierten “Wettlauf der Geber”: S c h m i e g e l o w , Why Legal Transformation Assistance from Germany and Japan to Former East-Bloc Countries?, in: ZJapanR, 22 (2006), 5, 6 ff.

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setzen.143 Letzten Endes erfordert dies jedoch die Bereitschaft der aserbaidschani-schen Regierung, den eigenen akademischen Nachwuchs in westlichen Ländern ausbilden zu lassen und sich der “Gefahr” auszusetzen, dass nicht nur handwerk-lich gut ausgebildete Juristen zurückkehren, sondern dass diese Spezialisten zugleich ganz andere Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit-bringen, als sie derzeit herrschen. Durch eine freie, wissenschaftliche und im steti-gen internationalen Austausch stehende Juristenausbildung könnte Aserbaidschan ein glaubwürdiges Bekenntnis zu den durch den Beitritt zum Europarat über-nommenen Verpflichtungen ablegen. Dies wäre ein erster wichtiger Schritt, die Schere zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zu schließen.

Summary144

The Constitution of the Azerbaijan Republic – Development and Perspectives

Azerbaijan plays an increasingly important role in international politics due to its strate-gic position in the Caucasus region, the conflict about Nagorno-Karabakh with neighbour-ing Armenia and the country’s role as a production and transit state for oil and gas. Like many other former Soviet Republics, Azerbaijan has faced severe problems on its way to market economy, rule of law, and democracy. Based on the newer constitutional history of Azerbaijan, this article provides an overview over the present Constitution of 1995 and at-tempts an evaluation of the same in the context of the reality of the constitutional and legal practice in today’s Azerbaijan.

The political crisis which Azerbaijan underwent after having gained independence from the Soviet Union in 1991 was ended by Heydar A l i j e w , who became the third President of the new Republic in 1993 and who, although having been the leading communist politi-cian in Soviet Azerbaijan for many years, opened up the country for economic and political cooperation with the West. A l i j e w was successful by consolidating the government, but was also criticised heavily for his autocratic tendencies. The Constitution of 1995 was amended twice in 2002 and 2009. In particular the amendment of 2009, adopted under President Ilham A l i j e w , who had succeeded his father Heydar A l i j e w , has been criti-cized widely, as it abolished inter alia the limitation on the number of terms of the Presi-dent.

143

In diesem Sinne auch v . C a r l o w i t z , Migranten als Garanten? Über die Schwierigkeiten beim Rechtsstaatsexport in Nachkriegsgesellschaften, HSFK-Standpunkte, Nr. 6/ 2004. Einen ersten Schritt in diese Richtung macht das von der Universität Würzburg initiierte Projekt UniWikiTet. Es handelt sich um ein internetgestütztes e-learning-Projekt mit einem Lehrportal, auf dem aserbaidscha-nischen Studierenden verschiedene Kurse v.a. aus dem Bereich des europäischen Rechts angeboten werden; <http://www.kaukasus.jura.uni-wuerzburg.de>. Besonders an Studierende aus den Ländern des Kaukasus und Zentralasiens wendet sich zudem der Master-Studiengang Deutsches Recht an der Universität Bremen, der in Kooperation mit dem dort angesiedelten GTZ-Projektbüro “Rechtsreform in den Transformationsstaaten” eingerichtet wurde; <http://www.jura.uni-bremen.de/typo3/cms405/ index.php?id=263>.

144 Summary by the authors.

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According to the Constitution, Azerbaijan is a democratic, secular and unitary Republic based on the principles of division of powers and rule of law (art. 7). The highest priority objective of the state is to protect the individual basic rights and liberties (art. 12) as in-cluded in art. 24 to 71. With these provisions the Constitution of the Azerbaijan Republic looks like a Western style constitution. Nevertheless, several observers have criticized that the provisions concerning state organization show a predominance of the executive branch of government, which is headed by the President and whose strong position is best demon-strated by considering the number and weight of his competences, and the lack of effective control instruments provided to Parliament.

Azerbaijan has a Constitutional Court (art. 130) which took up work in 1998. Among its competences are: decisions regarding the correspondence of laws and other legal acts to the Constitution, decisions regarding the settlement of disputes concerned with the division of authority between legislative, executive and judicial powers (art. 130 para. 3), and the ap-proval and announcement of the results of Parliamentary and Presidential elections (art. 86, 102). Since 2002, everyone claiming to be a victim of a violation of his or her basic rights and freedoms through legislative, executive or judiciary acts may also appeal to the Consti-tutional Court (art. 130 para. 5).

Although the Constitutional Court has earned some respect with decisions concerning basic rights, most observers doubt whether it will be able to strengthen Parliamentary con-trol and basic rights such as the freedom of speech and the freedom of assembly. So far, the judiciary failed in this respect. Additionally, corruption and traditional clan structures still seem to counteract with the rule of law. The future will have to show whether a new gen-eration of lawyers and politicians will be able to use the Constitution for a long-term re-form.

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