Die Vollständigkeit der Urteilstafel...Kant behauptet, daß seine entworfene Urteilstafel...

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Die Vollständigkeit der Urteilstafel Ausgewählte Arbeiten aus der Forschungs- geschichte Dr. Jörg Wurzer, [email protected] Die Vollständigkeit der Urteilstafel Seite 1

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Die Vollständigkeit der Urteilstafel Ausgewählte Arbeiten aus der Forschungs-

geschichte

Dr. Jörg Wurzer, [email protected]

Die Vollständigkeit der Urteilstafel Seite 1

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Inhalt

1. Einleitung 4

2. Überlegungen der Kantinterpreten in chronologischer Reihenfolge 6

2.1. P. Hauck (1906) 6

2.2. Hermann Cohen (1907) 6

2.3. Karl Joël (1922) 7

2.4. Hans Cornelius (1926) 9

2.5. Martin Heidegger (1929) 10

2.6. Klaus Reich (1932) 11

2.7. Johann Erich Fries (1963) 12

2.8. Giorgio Tonelli (1966) 14

2.9. Lorenz Krüger (1968) 15

2.10.Hans Lenk (1968) 16

2.11.Walter Bröcker (1970) 17

2.12.Günther Patzig (1976) 20

2.13.Peter Schulthess (1981) 20

2.14.Gisela Helene Lorenz (1986) 21

2.15.Hans Wagner (1987) 22

2.16.Josef Simon (1989/1990) 22

2.17.Reinhard Brand (1991) 24

2.18.Wilhelm Metz (1991) 26

2.19.Thomas Sören Hoffmann (1991) 26

3. Die großen Linien der Interpretation 28

3.1. Skeptischer Ansatz 28

3.2. Historischer Ansatz 28

3.3. Systemtheoretischer Ansatz 28

3.4. Transzendentalphilosophischer Ansatz 29

3.5. Analytischer Ansatz 29

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3.6. Erkenntnistheoretischer Ansatz 29

3.7. Triadischer Ansatz 29

3.8. Logischer Ansatz 29

3.9. Dogmatischer Ansatz 30

3.10.Definitionsimmanenter Ansatz 30

3.11.Zum guten Schluß 30

4. Literatur 31

4.1. Quellentext: 31

4.2. Sekundärliteratur: 31

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1. Einleitung

"Was ist Wahrheit?", fragt Kant gleich in der Einleitung zur transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft (B 82). "so ist eben so klar", schreibt er weiter,"daß eine Logik, sofern sie die allgemeinen und nothwendigen Regeln des Verstandes vorträgt, eben in diesen Regeln Kriterien der Wahrheit darlegen müsse" (B 83/84). Wenn auch kein ausreichendes Kriterium, so bietet die allgemeine und reine Logik eine conditio sine qua non. Als Bestandteil der transzendentalen Elementarlehre gliedert sie sich in zwei Bereiche, in die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik:

Die transzendentale Logik bezieht sich auf Gegenstände a priori und bildet also die Gesetze des Verstandes und der Vernunft. Wenn aber der Verstand als das Vermögen, zu urteilen, definiert wird (B 94), ist schon die Wichtigkeit und der Anspruch der Urteilstafel erkennbar. Das Urteilen, welches Grundlage für die Erkenntnis ist, geschieht wiederum nur durch Begriffe. Der Weg zu denen stellt sich Kant etwa folgendermaßen vor:

Um nun die oben genannte Forderung einer conditio sine qua non zu erfüllen und eine stimmige Grundlage für die weiteren Überlegungen der Kritik zu haben stellt Kant im §9 die Urteilstafel auf:

I Quantität der Urteile

a) allgemeine

b) besondere

c) einzelne

III Relation der Urteile

a) kategorische (Behauptung)

b) hypothetische (Implikation)

c) disjunktive (Ausschließendes Oder)

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II Qualität der Urteile

a) bejahende

b) verneinende

c) unendliche

IV Modalität der Urteile

a) problematische (Möglichkeit)

b) assertorische (Wirklichkeit)

c) apodiktische (Notwendigkeit)

Kant behauptet, daß seine entworfene Urteilstafel vollständig ist: "Die Functionen des Verstandes können also insgesammt gefunden werden, wenn man die Functionen der Einheit in den Urtheilen vollständig darstellen kann. Daß dies aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen" (B 94). Es folgt darauf § 9.

Kants Argumentation für die behauptete Vollständigkeit ist aber nicht so klar, wie die zitierte Stelle erwarten läßt. Eine Auswahl philosophischer Arbeiten werde ich im folgenden Abschnitt der Arbeit vorstellen. Im dritten Abschnitt werde ich schließlich versuchen die großen Linien der Vollständigkeitsargumentation aufzuzeigen.

Selbstverständlich können die philosophischen Ansätze nur eine Auswahl aus der Fülle der Sekundärliteratur über Kant sein, da ein vollständiger Forschungsbericht mit entsprechender Kritik der Ansätze den Rahmen einer Seminararbeit sprengen würde. So habe ich dann auch zu den einzelnen herangezogenen Philosophen ein Werk herausgegriffen. Die Aufführung der Ansätze erfolgt nach der Chronologie der ausgewählten Veröffentlichung, da ich eine Systematisierung später vornehme.

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2. Überlegungen der Kantinterpreten in chronologischer Reihenfolge

2.1. P. Hauck (1906)

In einer kurzen Abhandlung über "Die Enstehung der Kantischen Urteilstafel" deckt P. Hauck die Vorgeschichte zu Kants Überlegungen auf. Hierbei zieht er vor allem Wolff, Baumgarten, Meier und Lambert heran. Im Vergleich stellt sich heraus, daß Kant auf sie zurückgegriffen, aber nicht abgeschrieben hatte.

Für die einzelnen Titel kann folgendes gesagt werden:

a) Schon Georg Friedrich Meier nahm eine Dreiteilung der Quantität der Urteile vor: Iudicia singularis, particularis und universalis. Lambert hingegen hielt eine Zweiteilung für angemessen. Der entscheidende Punkt für Kant war der Gegensatz der Einheit zu den rein mathematischen Begriffen der Unendlichkeit und der Allheit.

b) Meier faßt die damals gängige Konkretisierung der Qualität eines Urteils zusammen als iudicium affirmans und iudicium negans. Kant ordnete diesen Aspekten bzw. Momenten das iudicium infinitum bei.

c) In Punkto Relation gab es zur Zeit Kants keinen gemeinsamen Nenner. Wolff ergänzte zu dem kategorischen und hypothetischen Urteil beispielsweise noch das kopulative unddisjunktive Urteil. Kant war der erste, der den Begriff der Relation auf diese Überlegungen anwendete und sie auf drei Momente beschränkte.

d) Die Modalitätslehre geht auf die Philosophie von Aristoteles zurück. Die Anzahl der Modi waren bis Kant jedoch nicht eindeutig festgelegt. Dieser faßte sie auf problematische und apodiktische Urteile zusammen, während er das assertorische einführte.

Daß die gewonnene Aufzählung der Urteilsmomente nun vollständig sei, sieht Hauck nicht. Das ist aber nötig, wenn sie der Leitfaden für die Kategorien sein soll. De facto gelangt Kant aber von den Kategorien zu der Urteilstafel. Das wiederum hat Konsequenzen für die Vollständigkeitsbehauptung der Urteilstafel: "Durch diesen Fehler gibt Kant das System seiner Kategorien preis, auch er hat kein Principium mehr, keine Garantie für ihre Vollzähligkeit" (S. 207).

2.2. Hermann Cohen (1907)

In seinem Kantkommentar geht Cohen auch auf die Urteilstafel der transzendentalen Logik ein. Er sieht einem systematischen Zusammenhalt der Tafel, der in der Geschlossenheit der Grundsätze begründet ist. Er schreibt, "daß die Zuversicht bezüglich der Vollständigkeit der reinen Begriffe ihren wissenschaftlichen, methodischen Grund hat in der Überzeugung von der systematischen Einheit der Grundsätze" (S. 45). Die Analogie der Grundsätze mit der Tafel ist auf einem Blick zu erkennen:

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a) Axiomen der Anschauung: Alle Anschauungen sind extensive Größen (vgl. Quantität).

b) Antizipationen der Anschauung: In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad (vgl. Quantität).

c) Analogien der Erfahrung: Erfahrung ist nur durch Vorstellung einer notwendigen Verküpfung (vgl. Relation) der Wahrnehmungen möglich.

d) Postulate des empirischen Denkens überhaupt:

- Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinstimmt, ist möglich (vgl. problematisches Urteil).

- Was mit den materiellen Bedingungen der Erfahrung übereinstimmt, ist wirklich (vgl. assertorisches Urteil).

- Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist notwendig (vgl. apodiktisches Urteil).

Aus diesen aufgeführten Grundsätzen lassen sich also alle Titel der Urteilstafel vollständig ableiten. Daß es sich bei der Modalität im Punkt d um einen Sonderfall handelt ist ebenfalls bereits hier zu erkennen. Hier handele es sich lediglich um "eine genauere Modifikation des Inhaltes" (S. 48).

Aus der Tafel der Urteile gewinnt man schließlich die Kategorientafel, die reinen Verstandesbegriffe.

Den Zusammenhang der Urteilstafel stellt Cohen als ein Prinzip vor, das "Prinzip der systematischen Einheit" (S. 46). Alle Urteile sind nämlich einheitsstiftend, sie sind jeweils eine Funktion der Einheit.

Das synthetische Urteil charakterisiert das Urteil als Erkenntnis. Die Synthesis als Verbindung des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen auf einen Begriff nach der Form der Urteilstafel erfolgt durch die ursprüngliche Einheit der Apperzeption (§16, K.d.r.V.). In §19 bringt Kant die Einheit der Apperzeption mit der Urteilsdefinition zusammen: "So finde ich, daß ein Urteil nichts anders sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperception zu bringen" (B 141).

2.3. Karl Joël (1922)

In einem Aufsatz in den Kantstudien von 1922 erläutert Karl Joël die Kantische Urteilstafel in vier Schritten, die den einzelnen Titeln entsprechen. Ein Urteil heißt für ihn das Setzen von Verhältnissen.

Die Momente der Quantität werden an Hand ihres Funktionscharakters bestimmt, nicht durch die Zahl des Subjekts. In der Kategorientafel zeigt sich bei den Momenten Einheit, Vielheit und Allheit ein Fortgang, wobei die Einheit die Allheit schon voraussetzt und durch jene negiert wird. Die Urteilsmomente allgemeine, besondere und einzelne bringt er mit Kants Stadien der Synthesis in Verbindung: Die Apprehension der Anschauung, Die Reproduktion in der Einbildung und die Rekognition im Begriff.

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Große Probleme bereitete in der Philosophie das singuläre bzw. einzelne Urteil. Um zu zeigen, daß dieses Moment nicht überflüssig ist, führt Karl Joël vier Argumente an: Ein singuläres Urteil hat induktive, illustrative, isolierende und individualisierende Bedeutung. Es ist nicht nur als logische Funktion berechtigt, sondern dient als Grundlage logischer Funktionen durch die Erfassung der reinen identischen Einheit, die weder particular noch universal gegeben ist.

Der Philosoph kommt zu dem Schluß, daß die Qualitätsurteile sich gegenseitig bedingen. Sie sind nicht voneinander zu trennen, da sie Entfaltungsstufen des Denkens darstellen. Das Trivium von Einheit, Vielheit und Allheit bildet einen Kreislauf, der wieder in die Einheit zurückführt und das Denken auf eine höhere Ebene stellt: "Das Denekn wie das Leben hebt von der Einheit an, entfaltet sich zur Vielheit und schließt sich am Ende der Entfaltung doch wieder zu einer Einheit zusammen, die nun auf höherer Stufe wieder Vielheit und schließlich Allheit und so eine neue Einheit hervorbringt und diesen Kreislauf immer höher ausschwingt" (S. 811).

Im Abschnitt über die Qualität nimmt Karl Joël eine Unterscheidung zwischen Urteil und Begriff vor: Die Argumentation kann sich hier nicht am Inhalt, sondern nur an der Funktion des Urteils orientieren. Der Unterschied liegt beim Urteil in der geistigen Handlung, die einen Begriff entfaltet oder bildet und Gültigkeit beanspruchen kann.

Zu dem Wesen eines gedachten Objekts gehört das, was es ist, aber auch das, was es nicht ist. Im Urteil entsprechen dieser Tatsache das Moment der Verneinung und der Bejahung, die sich disjunktiv zueinander verhalten. In Beispielen wird deutlich, daß die beiden Momente noch nicht ausreichen: Es fehlt das unendliche Urteil. Im Sprachgebrauch kommt diese Überlegung bei Begriffen wie anorganische körper, wirbellose Tiere oder ungerade Zahlen zum tragen. Das Denken läßt sich nicht in ein Schema von Ja und Nein zwängen. Mit dem Urteilsmoment ermöglichte Kant die Überwindung und den Ausgleich von Gegensätzen.

Im Falle der Relationen legt Karl Joël keinen Wert auf die "erste äußerliche" Unterscheidung, in der sich kategorische Urteile auf zwei Begriffe, das hypothetische Urteil auf auf zwei Urteile und das disjunktive Urteil auf mehrere Urteile bezieht. Entscheidend ist die Gültigkeit eines Urteils, die jeweils von einem der drei Momente unterschiedlich beansprucht wird: Im ersten Moment weist der Anspruch auf das Urteil selbst zurück, im zweiten auf ein anderes Urteil und im dritten auf die wecheslseitige Beziehung der Urteile.

Auch die Modalität der Urteile entscheidet über die Gültigkeit eines vollzogenen Urteils. Will man eine Freiheit des Denkens verteidigen, muß es eine freie Setzung von Möglichkeit geben. Ihre Verneinung ist die Notwendigkeit im apodiktischen Urteil, deren Verneinung wiederum die Möglichkeit ergibt. Beide Momente orientieren sich am assertorischen Moment als Wirklichkeitsbehauptung.

So zieht Karl Joël den Schlußsstrich, indem er behauptet, daß alle Urteilsformen der Kantischen Philosophie Gültigkeitsentscheidungen sind. Sie betreffen die Frage nach

• der Wirklichkeit (Realitätsurteile für Quantitätsurteile),

• dem Umfang (Extensitätsurteil für Qualitätsurteil,

• dem Grade (Intensitätsurteil für die Modalität) und

• der Beziehung (Relationsurteile).

Der Vollständigkeit bzw. Endgültigkeit steht Joël trotz systematischer Geschlossenheit dennoch skeptisch gegenüber. Hier erwähnt er das fiktive Urteil, das von Kant mit dem problematischen Urteil verwechselt worden sei.

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2.4. Hans Cornelius (1926)

Zu der Kritik der reinen Vernunft schrieb Cornelius einen kurzen Kommentar. Dort äußert er sich auch zum Thema "Urteils-tafel".

Ein Urteil versteht der Philosph folgendermaßen: Das Subjekt eines Urteils erhält durch den Prädikatsbegriff eine nähere Bestimmung, durch die es mit Gegenständen verknüpft wird, die schon bekannt sind. Diese Verknüpfung hat zugleich eine Einheitsfunktion, denn die bisherige Erkenntnismenge wird erweitert und zu einer größeren Einheit gebracht. Im Urteil geht es also auch um einen Erkenntnisgewinn.

Die "verschiedenen Arten" (S. 54), mit denen der Vertand operiert, faßt Kant in der Urteilstafel zusammen. Dabei greift er hauptsächlich auf die damalig herkömmliche Logik zurück. Cornelius kritisiert, daß Kant durch die einseitige Betonung der Logik die Möglichkeit einer zweifachen Einheitsfunktion übersieht. Zum einen kann eine Verknüpfung des Subjekts mit dem Prädikat nach der ähnlichkeit der Vorstellungen erfolgen und zum anderen nach ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang. Zwei Beispiele machen das deutlich:

a) Das Urteil "Dies ist Schwarz" bei dem Wahrnehmen eines Fleckes, spiegelt den ersten Fall wieder. Hier wird nämlich auf Grund der Ähnlichkeit mit einer früheren Wahrnehmung ein Urteil gefällt.

b) Anders verhält es sich bei dem Urteil "Dies ist Kohle". Über die Ähnlichkeit mit früheren Wahrnehmungen kommt das denkende Subjekt nicht weiter, weil dann schnell Irrtümer geschehen. Beispielsweise könnte die Kohle mit Kupferoxyd verwechselt werden.

Das Urteil kann nur dann vollzogen werden, wenn auf die mit der Kohle verbundenen chemischen Eigenschaften zurückgegriffen wird: Eine Verknüpfung nach dem gesetzmäßigen Zusammmenhang früherer Wahrnehmungen.

Cornelius ist der Meinung, daß die Zahl der Titel in der Urteilstafel und deren Vollständigkeit dogmatisch ist und sich nicht aus einem Prinzip ableitet. "Weiter aber ist die herkömmliche Einteilung durch eine Reihe von Zusätzen bereichert, deren Herkunft und Berechtigung aus keinem Prinzip einzusehen ist und für deren Vollständigkeit oder Unvollständigkeit keine Möglichkeit der Entscheidung dargeboten wird, sodaß auch diese Bereicherungen einfach auf Treu und Glauben hingenommen werden wollen" (S. 55).

Soll die Kategorienlehre einleuchten, muß nach Cornelius der sogenannte "apriorische Stoff" der Kategorien beiseite gelassen werden. Kant führt an, da? die reine Synthesis die reinen Verstandesbegriffe ergeben. Wie ist das zu verstehen? Es gibt mehrere Arten bzw. Urteilstypen, die das Manigfaltige des sinnlich Gegebenen auf eine begriffliche Einheit bringen, und das immer Mittels Begriffen. "Nur vermöge dieses gegenseitigen Entsprechens zwischen der Art der Vereinheitlichung des Manigfaltigen im Begriff [...] auf der einen und im Urteil auf der anderen Seite erhält die Herleitung der Kategorien einen konsequenten Sinn" (S. 58).

Im zweiten Hauptstück der transzendentalen Logik wird nach Cornelius eine völlig neue Methode zur Auffindung der Kategorien und deren Tafel vorgestellt.

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Der Kern der Argumentation ist folgender: Um einen Gegenstand überhaupt denken zu können, müssen Begriffe a priori vorliegen. Weil diese also das Denken und ebenso die Erfahrung erst ermöglichen, sind sie objektiv gültig.

Die Einheit des Denkens bzw. der Erfahrung, die sich im Begriff zeigt, wurzelt in der Einheit des Bewußtseins. Erfahrung wird hierbei als "Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstel-lungen" (S. 61) verstanden. In diesem Zusammenhang führt der Philosoph den Begriff des "Bewußtseinsverlauf[s]" (S. 62) ein. Damit meint er, daß verschiedene Vorstellungen bzw. Wahrnehmungen nicht zu einer zusammenschrumpfen, sondern ihre Relation durch eine "Einheit des Erlebens" (a. a. O.) hergestellt wird, indem im Erkenntnisprozeß das bisher gewußte und beobachtete immer präsent ist. Von diesen Überlegungen her hält Cornelius einen Vollständigkeitsaufweis für denkbar: "Wäre er von dieser Tatsache [der transzendentalen Apperzeption] ausgegangen und hätte überall im Bewußtseinsverlauf nach den Folgen gesucht, die aus dieser Einheit des Bewußtseins herfließen, so würde die ganze Darstellung an Einfachheit und Folgerichtigkeit - und vermutlich auch an Vollständigkeit - wesentlich gewonnen haben" (S. 66).

2.5. Martin Heidegger (1929)

Die Urteilstafel macht Heidegger in seinem Buch "Kant und das Problem der Metaphysik" zum Thema.

Erkenntnis ist ein Erkennen durch Begriffe. Reine Erkenntnis hingegen ist reine Anschauung durch reine Begriffe. Begriffliches Vorstellen wiederum ist das Subsumieren des in einer Anschauung gegebenen Vielen unter einen Begriff: Das Viele wird im Begriff zu einer Einheit gebracht. Nach Heidegger gehört das Vorstellen von Einheit zum Wesen des Verstandes. Diese vorgestellten Einheiten ist der Inhalt der reinen Begriffe.

Den reinen Begriffen weist Heidegger den Charakter von ontologischen Prädikaten zu, die dann Kategorien genannt werden. Voraussetzung dafür ist die Wesenseinheit der reinen Erkenntnis (S. 56f).

Die vielfältigen Funktionen im Urteil entwickelt Kant jedoch nicht aus dem Wesen des Verstandes, sondern er legt gleich zu Anfang die fertige Tafel mit den vier Aspekten Quantität, Qualität, Relation und Modalität vor. Eine Suche nach der formallogischen Rechtfertigung der Tafel hält der Philosoph für aussichtslos: "Ob und gerade diese vier Momente im Wesen des Verstandes gründen, wird gleichfalls nicht gezeigt. Ob sie überhaupt rein formal-logisch begründbar sind, kann bezweifelt werden" (S. 53).

Die Urteilstafel dient nicht als Vorlage bzw. Ursprung für die Kategorien, sondern lediglich als Leitfaden der Entdeckung aller Verstandesbegriffe, so die Überschrift des ersten Hauptstückes der Analytik der Begriffe in der Kritik. In der Tafel soll die innere Geschlossenheit der reinen Verstandesbegriffe deutlich werden. Die Elemente der reinen Erkenntnisse sind nicht voneinander zu isolieren. Im Gegenteil: Versucht man es, wird der Zusammenhang um so deutlicher.

Reine Anschauung und reine Erkenntnis bilden eine Wesenseinheit: "Jedes dieser Elemente [fordert] das andere strukturmäßig" (S. 58). Als Kitt dient die Synthesis. Auf diesem Boden entstehen die Kategorien.

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Ziel der Deduktion ist es nun, die Grundstruktur der reinen Synthesis zu erschließen, "eine zergliedernde Enthüllung des Strukturganzen der reinen Synthesis vorzunehmen" (S. 73). Hierbei beschreitet Kant zwei Wege:

Beide Aspekte stellen zwei Pole dar (Sinnlichkeit und Verstand), die untrenn-bar zusammenhängen. Sowohl im Fall a als auch im Fall b tritt die Synthesis als Mittlerin auf.

Das Vorstellen von Einheit wird im "ich denke" Wirklichkeit. Der reine Begriff dieses Bewußtsein ist das reine Selbstbewußtsein, die transzendentale Apperzeption.

2.6. Klaus Reich (1932)

Was die Interpretation der Urteilstafel angeht, ist wohl Reich einer der wichtigsten Autoren. Sein Ansatz in dem Buch "Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel" geht dahin, die Vollständigkeit durch den Zusammenhang der Titel in einem System zu erklären. Dieses beruht auf einer Idee des Ganzen: Die Vollständigkeit "ist nur vermittelst einer Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis überhaupt und in der daraus bestimmten Abteilung der 'Begriffe', welche sie ausmachen, möglich" (S. 12). Die Idee des Ganzen zeigt sich als eine Idee der Einheit, die im Urteil vollzogen wird.

Der Gebrauch von Begriffen zur Erkenntnis findet allein im Urteil statt. Ohne Begriffe ist kein Urteil möglich. Wenn nun die Funktionen der Einheit in Urteilen vollständig dargestellt werden kann, können auch die Funktionen des Verstandes vollständig gefunden werden. Der Verstand ist nämlich als das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe definiert.

Von der Idee der Einheit kommt Reich zum "höchsten Punkt", an dem die ganze Lehre der menschlichen Verstandeserkenntnis abhängen soll.

Der Gebrauch des Begriffs "Urteil" orienitert sich an der Definition Kants in §19. Dort versteht er unter Urteil "die Art, Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperception zu bringen" (B 141). Die Definition ordnete Kant der Logik zu.

Bei der Konstruktion der Urteilstafel geht Reich folgenden Weg: Modalität -> Wirk-lichkeit (gegeben) -> Möglichkeit -> Relation -> kategorisches Urteil -> hypothetisches Urteil -> problematisches Urteil -> disjunktives Urteil -> apodiktisches Urteil -> Qualität -> Quantität. Der Wag stellt eine Argumentationsfolge aber keine Kausalkette dar.

Nach der Definition schließt das Urteil die objektive Gültigkeit, die objektive Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe, ein. Damit ist die Modalität als logische Wirklichkeit gegeben. Daß aus der Wirklichkeit die Möglichkeit folgt, braucht nicht erörtert zu werden.

Das Urteil verbindet Begriffe. Es handelt sich also um eine wie auch immer aussehende Relation. Die einfachste Möglichkeit ist die Verknüpfung von zwei Begriffen: Das kategorische Urteil.

Wenn es kategorische Urteile gibt, gibt es auch hypothetische Urteile. Das liegt am Wahrheitsbegriff. Würde man nur kategorische Urteile annehmen, gäbe es viele Wahrheiten (= objektiv gültige kategorische Urteile), weil die kategorischen Urteile dann nicht in Verhältnis zu einander gesetzt werden können. Dann aber wäre die Beziehung der Urteile auf eine durchgängige Einheit der Apperzeption nicht schlüssig: "Wahrheit selbst der Form

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nach ist unter jener Annahme offenbar etwas unmögliches, wenn diese ihre Form nichts anderes ist, als die Beziehung der gegebenen Vorstellungen auf die durchgängige Einheit der reinen Apperzeption".

Mit dem hypothetischen Urteil ist auch das problematische Urteil gewonnen. Es ergibt sich aus der "Form des Unausgemachtlassens, ob ein Verhältnis von Begriffen [...] objektiv gültig sei" (S. 19). Das disjunktive Urteil ist es dann, das das problematische möglich macht.

Jetzt kann auch das apodiktische Urteil behauptet werden. Im disjunktiven Urteil (A vel B) muß ein Glied wahr sein: Das kann A oder B sein.

Nun ein Blick auf das Material des Urteils. Im disjunktiven Urteil vollzieht sich eine Entgegensetzung: Wird das eine logische Prädikat bejaht, wird das andere verneint. Der Titel der Qualität ist somit veranschaulicht.

Analalog ist es für die Quantität: In dem Urteil "A vel B" bilden A und B ein Ganzes, die Menge C = {A, B}. Für sich genommen sind A und B jeweil Teilmengen von C. Definiert man C als C = {A, B, D} so hat man alle Momente der Quantität: Allgemeine (C), besondere ({A, B}, {A, D}, {B, D} _ C) und einzelne Urteile ({A}, {B}, {C} _ C).

Nun ist die Tafel an Hand der Voraussetzung der Modalität und der damit verbindenen Assertion analytisch aufgezeigt worden: "Wir haben die Momente [...] als notwendig zur 'objetiven Einheit des Bewußtseins in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit', gehörig erkannt" (S. 87).

Wie steht es nun mit der Kardinalfrage, der Vollständigkeit der Tafel? Um sie zu beweisen, muß der "Schlüssel zu dem systhematischen Zusammenhange der Urteilsmomente" (S. 87) gefunden werden.

Der Schlüssel liegt in der Definition des Urteils. Mit den Titeln Modalität, Relation und der daraus folgenden Qualität und Quantität ist die Definition vollständig ausgelegt: "Urteil ist ein objektiv gültiges (Modalität) Verhältnis (Relation) von Vorstellungen, die Teilvorstellungen (Folge: Qualität) als analytische Erkenntnisgründe (Folge: Quantität) sind" (S. 88). Mehr als vier Aspekte sind aus der einmal festgelegten Definition des Urteil nicht möglich.

Es fehlt nun noch, die Vollständigkeit der jeweils drei Momente zu klären. Sie gilt deshalb weil sich mehr Arten der Einheit des Bewußtseins nicht denken lassen. Immer handelt es sich bei den ersten beiden Momenten um eine Entgegensetzung, die durch das dritte Moment wieder verbunden wird.

Im Falle der Modalität beispielsweise bezieht sich die Gültigkeit des problema-tischen Urteils auf die Materie (Begriffe) des Urteils, während sich hingegen die Gültigkeit des assertorischen Urteils auf die logische Form des Urteils bezieht. In der apodiktischen Gültigkeit findet eine Verknüpfung der beiden Momente statt: "Sie ist die assertorische Gültigkeit, die durch bloß problematische unter gegebenen Bedingungen bestimmt ist" (S. 89). Für die anderen drei Titeln ist die Beziehung ihrer Momente analog.

2.7. Johann Erich Fries (1963)

Fries leitet in seiner Dissertation die einzelnen Titel und deren Momente aus der Definition des Urteils ab. Mit einer solchen Prämisse ist die Vollständigkeit von vornherein gegeben. In vier Punkten faßt er die Bestimmungen des Urteils zusammen:

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a) Ein Urteil ist eine einheitsstiftende Handlung: Verschiedene Vorstellungen werden zusammengefaßt und unter einer sich daraus ergebenden Vorstellung geordnet.

b) Das Ergebnis ist eine "höhere" Vorstellung, die mehrere Vorstellungen unter sich begreift. Das Urteil führt also zu einem allgemeinen Begriff.

c) Dieser Begriff ist Voraussetzung für die Erkenntnis eines Gegenstandes.

d) So kann man sagen: Im Urteil werden viele mögliche Erkenntnisse zu einer zusammengefaßt.

Drei Merkmale stellt Fries für die Einheitshandlung im Urteil zusammen:

i In jedem Urteil sind verschiedene Vorstellungen enthalten.

ii In jedem Urteil werden verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinsamen zusammengefaßt.

iii In jedem Urteil wird eine "höhere" Vorstellung, die andere unter sich begreift, hervorgebracht. Sie ist für die Gegenstanderkenntnis grundlegend.

An Hand dieser drei Festsetzungen folgt die Formulierung der Tafel in ebenfalls drei Schritten:

Zu i

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Beziehung von Vorstellungen zu denken: Die eine Möglichkeit ist der Widerspruch: Werden Vorstellungen im Urteil verbunden, die sich widersprechen, ist das Urteil verneinend, wenn nicht, bejahend. Ein Urtei ist unendlich, wenn eine Vorstellung mit dem kontradiktorischen Gegenteil der anderen Vorstellung nicht im Widerspruch steht. Aus den drei Fällen ergibt sich die Qualität der Urteile

Die andere Möglichkeit ist die Einschränkung: Bezieht man eine Vorstellung ohne Einschränkung auf eine andere, so handelt es sich um ein allgemeines Urteil. Wird die Beziehung eingeschränkt, handelt es sich hingegen um ein besonderes Urteil. Wird nun eine Vorstellung auf eine andere bezogen, die nicht mehr eingeschränkt werden kann (z. B. einen Namen), spricht man von einem einzelnen Urteil. Jetzt ist auch die Qualität der Urteile gewonnen.

Zu ii

Genau drei verschiedene Unterodnungsverhältnisse sind denkbar: Wird eine Vorstellung unter einer anderen untergeordnet, handelt es sich um das kategorische Urteil. Im hypothetischen Urteil wird eine Vorstellung einer anderen untergeordnet, wobei die Unterordnung einer dritten folgt. Schließt die Unterordnung eine dritte Vorstellung aus, so spricht man von einem disjunktiven Urteil. So ist nun die Relation aufgezeigt worden.

Zu iii

Wieder gibt es drei Möglichkeiten der Beziehung der "höheren" Vorstellung zu den Vorstellungen, die sie unter sich begreift: Zum einen gibt es Vorstellungen, die einer "höheren" untergeordnet werden können (problematisches Urteil). Zum anderen gibt es Vorstellungen, die durch die "höhere" bestimmt werden (assertorisches Urteil). Schließlich

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kann eine Vorstellung in der "höheren" enthalten sein, durch die sie notwendig bestimmt wird (apodiktisches Urteil). Aus den genannten drei Punkten setzt sich die Modalität der Urteile zusammen.

Fries faßt seinen Vollständigkeitsaufweis nocheinmal folgendermaßen zusammen: "Die Tafel ist also in dem Sinne vollständig, daß sie das Ergebnis einer vollständigen Analyse der vorangestellten Definition eines Urteils überhaupt darstellt" (S. 46).

2.8. Giorgio Tonelli (1966)

Georgio Tonelli setzt sich mit dem Thema in seinem Aufsatz "Die Voraussetzungen zur Kantischen Urteilstafel in der Logik des 18. Jahrhunderts" auseinander. Als Quelle dienten ihm sämtliche Deutsche Lehrbücher der Logik zwischen 1725 und 1777, und ausländische, die zwischen 1700 und 1777 erschienen sind. Mit Akribie verglich er die Aussagen zu den Urteilsformen von insgesamt 58 Autoren. Dabei stellt er fest, daß auch Kant seine Tafel nicht aus dem Ärmel geschüttelt hat, sondern auf zahlreiche Vorbilder zurückgreifen konnte. Hierbei nahm er eine selektive Verschmelzung aus der Fülle der in der Philosophie-geschichte aufgestellten Urteilsfunktionen.

Als illustrierendes Beispiel sei die formale Einteilung der Sätze nach der Logik Lamberts aufgeführt.

I. Die einfachen Sätze gliedern sich folgendermaßen:

A) In Hinsicht auf die Kopula in bejahende und verneinende.

B) In Hinsicht auf das Subjekt in allgemeine und besondere.

Hieraus entstehen weitere Arten: allgemein bejahend, allgemein verneinend, besonders bejahend und besonders verneinend.

II. Die zusammengesetzten Sätze gliedern sich folgendermaßen:

A) Die bedingten (hypothetischen) Sätze, denen gegenüber die einfachen kategorischen stehen.

B) Die kopulativen und die disjunktiven Sätze.

III. Mögliche, wirkliche und notwendige Sätze bilden weitere Entscheidungskriterien.

In den Enzyklopädievorlesungen (1777 - 1780) fehlten bei Kant noch die unendlichen Urteile. Aus den Beobachtungen von Kants philosophischer Tätigkeit erkennt man, daß die Kategorientafel vor der Urteilstafel entwickelt wurde, was dem Sinn eines Leitfadens widerspricht. Die Urteilstafel könnte im Sinne eines Parallelismus entstanden sein. Kant ließ neben den in der Kritik bekannten Urteilsformen noch weitere gelten: Die exponiblen, die reinen und modalen, die erweislichen und unerweislichen, die analytischen und synthetischen, die intuitiven und diskursiven und die theoretischen und praktischen Urteile.

Ein wichtiger Punkt ist die Einführung der problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteile in den frühen 70er Jahren. Sie ergaben sich nach Tonelli aus Kants Stellungnahme zum Gegensatz von Dogmatismus und Skeptizismus.

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Page 15: Die Vollständigkeit der Urteilstafel...Kant behauptet, daß seine entworfene Urteilstafel vollständig ist: "Die Functionen des Verstandes können also insgesammt gefunden werden,

Die Relation hat Kant ohne Vorbild auf die Momente ketegorisch, hypothetisch und disjunktiv eingeführt. Möglicherweise lagen hierfür Einteilungen von den Enzyklopädievorlesungen zu Grunde:

• Der Begriff der Substanz und der Akzidenz,

• des Grundes zu Folge und

• des Ganzen und des Teils.

Der Mehrheit der Autoren folgend, hat Kant selbstverständlich die Modaliät übernommen. Hierbei orientiert er sich im Großen und Ganzen an Lambert.

Tonelli fast zusammen: "Kant hat seine Urteilstafel also relativ frei aufgestellt. [...] Kant hat also teilweise die Tradition berücksichtigt, teilweise sie in Anlehnung an Meier und Lambert und durch eigene Lehren verändert. Seine Urteilstafel darf deshalb als einigermaßen originell gelten" (S. 157).

Für die Vollständigkeit könnte das bedeuten, daß die Tafel vielmehr aus der Philosophiegeschichte gewachsen ist, als aus einem abstrakten Prinzip konstruiert.

2.9. Lorenz Krüger (1968)

Eine Abhandlung von Lorenz Krüger fragt danach, ob Kant überhaupt die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen wollte. Zwar behauptet Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Vollständigkeit der herausgearbeiteten Titel, aber es ist fraglich, daß die Kantische Philosophie als eine kritische einen metalogischen Beweis anführt. Um das Paradox von Vollständigkeitsbehauptung und Unbeweisbarkeit aufzulösen, stellt Krüger zwei Arbeitsthesen auf:

a) Kant wollte die Urteilstafel nicht von einem Prinzip ausgehend schrittweise beweisen, wie es Reich oder Hegel versucht haben. Dieses Vorgehen hielt er für unmöglich.

b) Kant glaubte aber einen anderen, eingeschränkten Beweis geliefert zu haben.

Stichworte für den Kantischen Aufweis sind die Idee des Ganzen und der Zusammenhang in einem System. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Scheidung von transzendentaler Deduktion und metaphysischer Deduktion, wo mit a priori Gegebenem

gearbeitet wird. Ein Beispiel für ein a priori Gegebenes ist der Raum in der transzendentalen Ästhetik (B 39). So stellt sich Krüger auch irreduzible Formen der Verstandestätigkeit als gegeben vor.

Das Prinzip des Ganzen, das in der Aristotelischen Philosophie noch fehlte, glaubt Kant gefunden zu haben: Es ist der höchste Punkt, die Einheit der transzendentalen

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Apperzeption. Zwar ist er nicht als Axiom für eine ausreichende Beweisführung einzusetzen, aber doch als Entscheidungskriterium, um die reinen, irreduziblen Verstandesformen herauszuarbeiten. Dadurch kann beispielsweise festgestellt werden, daß das kopulative Urteil keine Funktion im Sinne der Urteilstafel wahrnimmt. Es ist also ein Abgrenzungskriterium gefunden worden, Überflüssiges der Urteils- und Kategorientafel zu eleminieren: "Die Tafel selbst muß uns also über ihre Vollständigkeit belehren; und sie kann es in dem Sinne, daß wir sie unter der Idee der Verstandeseinheit als eines Abgrenzungskriteriums betrachten" (S. 343). Krüger scheint eine Art negativen Beweis aufgestellt zu haben.

2.10. Hans Lenk (1968)

In der "Kritik der logischen Konstanten" faßt Hans Lenk die Forschungsgeschichte zu den Kantischen Kategorien und Urteilsformen zusammen. Darin nimmt die Frage nach der Vollständigkeit der beiden Tafeln einen großen Platz ein.

Die Urteilsformen habe Kant aus der Kategorientafel gewonnen. Wenn diese vollständig sein soll muß sie auf ein gemeinschaftliches Prinzip zurückzuführen sein. Lenk merkt aber an, daß die Kritik der reinen Vernunft noch nicht als vollständiges System gedacht ist, sondern als Entwurf einer Transzendentalphilo-sophie. Nur die sogenannten Stammbegiffe dieser Philosophie sind explizites Thema, deren Vollständigkeitserweis Kant für möglich hält (B 94). Drei Stichworte deuten die Richtung der Argumentation an:

Die Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis a priori,

der Zusammenhang in einem System (B 89) und

das oberste Prinzip als Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption (B 136).

Warum aber ausgerechnet die Urteilsarten in der Zahl und Form der aufgestellten Tafel existieren und nicht noch weitere, kann Kant nicht begründen (B 146).

Das Problem liegt nach Lenk darin, daß Kant lediglich den Ausgangspunkt für den Nachweis der Verstandesfunktionen angibt, nämlich die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption (B 136). die Durchführung der Herleitung fehlt. Das "Ich denke" ermöglicht einen einheitlichen Bezug der Anschauungen auf das erkennende Subjekt. Es ermlöglicht die ungeordnete Menge des Anschauungsmaterials zu ordnen und deren Elemente zu verknüpfen, eine Art archimedischer Punkt also.

Die synthetische Einheit der Apperzeption ist objektiv, denn sie ermöglicht erst die Objekterkenntnis des Verstandes. Die Tätigkeit des Verstandes ist demnach, das Manigfaltige im Denken zu einer objektiven Einheit zusammenzufassen. Daraus entsteht das Urteil.

Ob nun die Vollständigkeit zu beweisen ist, bezweifelt Lenk, obwohl Kant anderer Meinung war. In der Auseinandersetzung mit dem Beweis von Reich, stellt er folgende Unebenheiten der Urteilstafel fest:

a) Die Momente der Modalität fallen aus der Systematik der Tafel heraus. Sie sind keine logischen Urteilsformen oder -funktionen.

b) Die unendlichen Urteile stellen keine logischen Formen dar.

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c) Die Sonderstellung der disjunktiven und hypothetischen Urteile gegenüber anderen junktorenlogischen Aussageverbindungen ist nicht einsichtig. Zwar können die Relationsmomente als Minimalsystem betrachtet werden, doch dafür gibt es beliebig viele Möglichkeiten. Statt dem hypothetischen Urteil (A -> B) ist auch der Unverträglichkeitsjunktor (_A et B), statt dem disjunktiven Urteil (A vel B) die Negationsjunktion (_A et _B) möglich.

Lenk schließt folgendermaßen: "Aus all den hier genannten Gründen kann die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel in dergegebenen Fassung nicht bewiesen werden. Denn sie enthält Momente, die gar keine logischen Urteilsformen oder -funktionen sind. Und sie läßt eine sehr große Menge an logischen Formen zusammengesetzter Urteile aus" (S. 36). Das hat zur Folge, daß die Kategorientafel durch die Urteilstafel nicht begründet oder vollständig aufgestellt werden kann. Eine philosophisch haltbare transzendentale Begründung ist nicht zu finden.

2.11. Walter Bröcker (1970)

In dem Buch "Kant über Metaphysik und Erfahrung" versucht Bröcker, die Kantische Urteilstafel logisch zu erschließen. Zuerst setzt er zwei Sätze A und B voraus, von denen er alle möglichen Fälle des Nebeneinanders dieser Sätze bildet:

(A, B); (A, ¬B); (¬A, B); (¬A, ¬B)

Verknüpft man beide Sätze ergeben sich 16 Abbildungen. Die Zahl der Abbildungen entspricht der mathematischen Formel:

xy = z

x # Die Base entspricht der Anzahl der Elemente. Im vorliegenden Fall die zweiwertige Logik.

y # Der Exponent entspricht der Anzahl der Stellen. Im Vorliegenden Fall die oben ermittelten vier Möglichkeiten.

z # Das Ergebnis entspricht der Anzahl der Verknüpfungen der einzelnen Glieder: Im vorliegenden Fall 16.

Das Ergebnis wird deutlich, wenn man sich die zweiwertige Logik wie in der Informatik als Binärsystem darstellt: Die Zahl 1111 im Binärsystem bedeutet im Zehnersystem 16.

Nur einige der Verknüpfungen sind echte Verknüpfungen, die nach der Erweiterung der Prämisse etwas neues bringen. Die Prämisse ist eine Viererkombination, in der sich eine Logische Verknüpfung ausdrückt:

A ° B

Eine Verknüpfung ist dann echt, wenn sich beim Hinzufügen eines Untersatzes etwas ergibt, was nicht in der Prämisse gegeben ist. Ein Beispiel für eine echte Verknüpfung ist die Implikation:

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A - B (Obersatz)

¬ (Untersatz)

---------------------------------

¬A (Konklusion)

Im Text lautet die Definition unechter Verknüpfungen folgendermaßen: "Die unechten Verknüpfungen sind dadurch gekennzeichnet, daß hier aus der Konjunktion des ganzen Urteils mit einem der beiden Teilurteile oder seiner Verneinung niemals mehr folgt als aus einem ganzen Urteil allein" (S. 44). Dieser Satz könnte auch graphisch in einer Matrix dargestellt werden. In der Horizontalen die möglichen vier Fälle der Kombination von A und B, in der Vertikalen die möglichen Teilurteile A, _A, B und _B:

° A, B A, ¬B ¬A, B ¬A, ¬B

A

¬A

B

¬B

Die Kontrolle, ob eine Verknüpfung echt ist, läuft folgendermaßen ab: In der Horizontalen wird eine der 16 Verknüpfungen eingetragen, in der Vertikalen die Werte der Teilurteile. Hierbei gilt:

1 # wahr

0 # falsch

In den freien Feldern der Matrix wird eine Eins eingetragen, wenn das entsprechende andere Teilurteil gefolgert werden kann, und eine Null, wo eine Verbindung (von Obersatz und Untersatz) nicht möglich ist. Als Beispiel sei die Implikation gegeben. Dann sähe die Matrix folgendermaßen aus:

° 1 0 1 11 1 0 00 0 0 11 0 01 0 0

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Immer wenn zwei mal die Eins im Matrix-Feld vorkommt ist eine Verknüpfung echt, wobei die Einsen nicht zusammen in den ersten beiden oder letzten beiden Zeilen eingetragen sein dürfen. In dem gewählten Beispiel handelt es sich um eine solche, nämlich die Implikation bzw. das hypothetische Urteil. Zur weiteren Verdeutlichung noch ein Beispiel für eine unechte Verknüpfung:

° 1 0 1 01 1 0 01 0 0 11 0 01 0 0

Wenn man alle Verknüpfungen durchspielt ergeben sich sechs echte:

1, 1, 1, 0 (Adjunktion)

1, 1, 0, 1 (notwendige Bedingung)

1, 0, 1, 1 (Subjunktion)

0, 1, 1, 1 (Verneintes Und)

1, 0, 0, 1 (Bisubjunktion)

0, 1, 1, 0 (Disjunktion)

Bröcker versucht nun, diese sechs Verknüpfungen auf drei elementare logische Ausdrücke zu reduzieren, um sie mit den Momenten der Relation gleichzusetzen. Dies erfolgt in zwei Schritten:

a) Die Bisubjunktion ist nichts anderes als die Konjunktion des verneinenden Unds und der Subjunktion:

[(A -> B) et (A <- B)] → (A <-> B)

Die Konjunktion wurde aber nach der oben genannten Methode aus der Menge der echten Verknüpfungen ausgeschlossen. Bröcker streicht auch die Äquivalenz, ohne sich bewußt zu machen, daß dieser Ausschluß auf die Disjunktion genauso anwendbar ist.

b) Da A und B nur formale "Hülsen" von eigentlichen Aussagen sind, sind sie auch als Negationen darstellbar. Das verneinte Und ist nichts anders als die Adjunktion mit negierten Teilsätzen.

(A et B) → ¬(¬A vel ¬B)

Die Adjunktion sei lediglich ein Spezialfall der Disjunktion.

(A vel B) aut A aut B aut (A et B)

Dieser Ausschluß ist aber auch auf weitere Verknüpfungen anwendbar.

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Mach der Methode Bröckers ergeben sich letztendlich zwei logische Grundgebilde:

• Die Disjunktion, die mit der Äquivalenz identifiziert werden kann, und

• die Inplikation, die mit der notwendigen Bedingung und dem verneinten Und in Verbindung gebracht werden kann.

Das Ziel Bröckers, zu den Kantischen Momenten der Relation zu gelangen, erreicht er mit seiner Argumentation nicht. Trotzdem stellt seine Arbeit eine interessante Überlegung dar.

2.12. Günther Patzig (1976)

Obwohl Günther Patzig in seinem Aufsatz über Kant dessen Philosophie für revolutionär erklärt, lehnt er die Vollständigkeitsbehauptung von der Urteilstafel ab. Das hat mehrere Gründe:

a) Beziehungsurteile lassen sich im Schema nicht unterbringen. Beispiel: Zu jeder Zahl gibt es eine größere Zahl.

b) Die Und-Verknüpfung fehlt bei der Relation.

c) Obwohl Kant die Tafel nach den Regeln der reinen allgemeinen Logik aufstellen will, führt er das einzelne und unendliche Urteil mit Hilfe der transzendentalen Logik ein.

d) Das unendliche Urteil ist neben dem verneinenden Urteil vom Standpunkt der modernen formalen Logik überflüssig.

e) Disjunktive Urteile erfassen nur dann die gesamte mogliche Sphäre der Erkenntnis bei Sätzen der Form: p vel _p. Falls es doch für andere Urteile gelten sollte, dann handelt es sich bei der Bestimmung des disjunktiven Urteils um ein inhaltliches und nicht um ein formales Kriterium.

f) Die Momente der Madalität sind nicht eindeutig. So gilt es beispielsweise objektive und subjektive Möglichkeit zu unterscheiden.

2.13. Peter Schulthess (1981)

Der Titel des Buches Relation und Funktion von Peter Schulthess weist schon auf die Schwerpunkte seiner Argumentation hin: Die Vernunft zeichnet er als ein Vermögen der Beziehung aus. Er unterscheidet bei zwei Ausformungen:

Die logische Form der Vernunft (allgemeine und besondere Verhältnisse) und

die reale Form der Vernunft (Grund-Folge-Beziehung).

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Anders ausgedrückt handelt es sich im ersten Fall um die Relation von Begriffen, im zweiten Fall um die Relation von Sachen (Realverhältnisse). Diese werden in ihren verschiedenen Arten von den Kategorien bestimmt. Kant gliedert die Realverhältnisse in drei Gruppen:

Inhärenz,

Grund-Folge und

Teil-Ganzes. (S 210)

Es taucht auch die Dreigliederung in Thesis, Synthesis und Analysis auf.

Was die Vollständigkeit der Urteilsfunktionen angeht, die das Setzen von Realverhältnissen ermöglichen, unterscheidet Peter Schulthess zwei Betrachtungseisen: Zum einen die Vollständigkeit der Urteilsarten (Vollständigkeit1), zum anderen die Vollständigkeit der logischen Funktionen in Urteilen (Vollständigkeit2). Kant war davon überzeugt, daß die Logik geschlossen und vollständig ist, was sich mit Hilfe einer kombinatorischen Analyse zeigen läßt (Architektonik, § 198). Die Analyse beginnt bei einem Begriff, führt dann zu zweien und deren Kombinationsmöglichkeiten, schließlich zu dreien und mehreren. Die Vollständigkeit2 baut auf diese Argumentation auf und fügt das "operationale Einheitskriterium" (S. 279) hinzu. Peter Schulthess schlägt für die Erklärung vor, das Einheitskriterium mit der möglichen Funktionalisierbarkeit einer Urteilsform zu erläutern bzw. zu umschreiben.

Als Ergebnis macht Peter Schulthess zwei Aspekte der Vollständigkeit der Kantischen Urteilsformen aus: Den formalen und transzendentalen Aspekt. "Der formale Aspekt liefert also gleichsam den Rahmen der Auffindung der Einheiten der Urteile. Das Kriterium der Vollständigkeit2 ist der transzendentale Aspekt, d. i. die Hinsicht, daß die Funktionswerte Erkenntnisse sind. Hier wird der Standpunkt der formalen Logik verlassen und transzen-dental argumentiert" (S. 280).

2.14. Gisela Helene Lorenz (1986)

Um die Erklärung der Kategorien geht es in einem Buch von Gisela Helene Lorenz. Sie stellt heraus, daß die Urteils- und Kategorientafel den Aufbau der gesamten Kantischen Philosophie wiederspiegelt. Daraüber hinaus ist für Kant sogar eine Parallele zur Aufteilung der Naturphilosophie in Phoronomie, Dynamik, Mechanik und Phänomenologie gegeben. Die Kategorien sind sozusagen Grundregeln seiner Philosophie.

Diese Grundregeln stellt Kant als Funktionen der Einheit vor. Im Denken kommt die Erkenntnis nämlich nur mit Hilfe von Begriffen zustande, die zu Urteilen zusammengefaßt werden. Gegenstand der reinen Verstandesbegriffe, die so ermittelt werden, sind die Elemente der transzendentalen Ästhetik.

Auf der Suche nach einem Vollständigkeitserweis hebt Gisela Helene Lorenz die drei Urteilsmomente der Modalität hervor. Kant stellt sie in der Kritik der reinen Vernunft (B 100, A 75 Anmerkung) dem menschlichen Denkvermögen in der Folge Verstand, Urteilskraft und Vernunft gegenüber.

Will jemand die Bedeutung der Urteils- und Kategorientafel erfassen, muß er sie als "Schema des Systems der reinen Vernunft" (S. 196) erkennen. Das methodische Verfahren der Kritik werde auf zweierlei Art und Weise entwickelt:

a) Die Elemente der Philosophie werden herausgearbeitet und bewiesen.

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b) Ein Systemmodell der Philosophie wird entworfen und deren Tragfähigkeit an Hand der Problemfelder der Kritik der reinen Vernunft untersucht.

Zu Grunde liegt die Annahme, daß die reine Vernunft eine vollkommene Einheit ist.

Die Ergebnisse der Kantischen Philosophie lassen sich mit dem Argument der Tragfähigkeit überprüfen: "Beweisen läßt sich die Gültigkeit einer systematischen Idee, deren Schema und der Gültigkeit des Systems selbst erst im Nachhinein über den Nachweis seiner Tragfähigkeit für Wissenschaft oder über seine Ableitbarkeit aus letzten Bedingungen. Das gilt auch für das System der reinen Vernunft und sein Schema, die Kategorientafel" (S. 199).

2.15. Hans Wagner (1987)

Für Hans Wagner stellt die formale Urteilsfunktion eine spezifische Begriffseinheit her. Dabei besteht das Urteil im wesentlichen aus dem Subjektbegriff, dem Prädikatsbegriff und der Bestimmungsrelation. Die Relation nimmt eine zentrale Stellung bei der Erläuterung und Herleitung der Kantischen Urteilstafel dar. Sie ist sozusagen das Binde- bzw. Schlüsselglied im Urteil: "Die ganze Tafel ist unter den Leitgedanken zu stellen, daß die Natur eines jeden Urteils in der Relation zwischen den beiden Urteilsbegriffen besteht, die sie zur Einheit eben des Urteils verbindet, und wenn die Tafel (zwölf) verschiedene Urteilstypen aufführt, dann müssen diese (zwölf) Titel für (zwölf) grundlegende formale Variationen jener Relation stehen, durch welche die beiden Urteilsbegriffe in jeglichem Urteil miteinander verbunden sind" (S. 87). Die Tafel der reinen Verstandesbegriffe soll also analytisch aus der Relation gewonnen bzw. aus-differenziert werden.

Viel mehr als andere Autoren legt Hans Wagner Wert darauf, die Tafel als formallogisch zu kennzeichnen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Titeln sind formallogischer Art. Die Relation von Urteilssubjekt und -prädikat nimmt immer einer der vier Formen der Titel Qualität, Quantität, Relation (nicht zu verwechseln mit der übergeordneten Relation) oder Modalität an.

Die Momente der Titel sind ebenso nur unter dem Vorzeichen der Relation auszumachen: "Es ist die Urteilsrelation, welcher der Quantität zukommt: die Urteilsrelation ist es, was entweder allgemein oder partikuläroder singulär ist" (S. 88).

2.16. Josef Simon (1989/1990)

In der Abhandlung "'Anschauung überhaupt' und 'unsere Anschauung'" beschäftigt sich Simon mit dem Gedankengang der Kategoriendedukion der Kritik der reinen Vernunft. Die transzendentale Deduktion der Kategorien vollziehe sich in zwei Schritten:

a) Die objektive Vereinigung der "Anschauung überhaupt" kann nur an Hand der Kategorien erfolgen. Dabei werden die Kategorien als unabhängig von der Sinnlichkeit betrachtet.

b) Die Kategorien können auf "unsere Anschauung" angewendet werden. Sie erhalten dadurch objektive Gültigkeit. Als Beispiel für einen Bezug der Kategorien auf "unsere Anschauung wählt" Simon die Linie. Will ein denkendes Subjekt den Begriff "Linie" anwenden, so muß es die Linie in Gedanken ziehen (reine Anschauung).

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Unsere ganze Wahrnehmung ist immer von den Kategorien abhängig. Warum es ausgerechnet vier Kategorien gibt, wie sie in der Tafel festgehalten sind, kann nicht begründet werden. Unser Verstand ist nämlich endlich.

Bei der Zusammenstellung der Tafel, bestimmt sich die Zahl der Titel "mit der Art der Funktionen, die sich dadurch ergeben, daß von allem Möglichen Bestimmtes für wirklich gehalten wird, so wie von allen möglichen Punktverbindungen nur bestimmte Linien wirklich in der figürlichen Einbildungskraft subjektiv gezogen werden und daraufhin erst von notwendigen objektiven Verhältnissen gesprochen werden kann" (S. 146).

Beide Tafeln, die Urteils- und die Kategorientafel werden in einem Dreierschritt entworfen: Sowohl die Titel als auch deren Momente. Der Ausgangspunkt bildet die Modalität. Sie steht hier für die Frage, warum wir überhaupt zwischen objektiver und subjektiver Gewißheit unserer Erkenntnis unterscheiden bzw. warum wir die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt zum Problem machen.

Kant behauptet, daß beide Tafeln vollständig sind. Simon erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß sie sich nur dadurch unterscheiden, daß sich

• die Urteilstafel auf "Anschauung überhaupt" und

• die Kategorientafel auf "unsere Anschauung" bezieht.

Weil Kant versuchte, sich nur die nötigsten Erkenntnisvoraussetzungen aufzuzählen, die nicht weiter begründet werden können, kann er die Vollständigkeit der Tafeln behaupten. Streicht man irgend einen Aspekt, ist keine Erkenntnis denkbar: "Das Ziel war keine Anmaßung apriorischen Wissens, sondern dessen Einschränkung auf das Notwendige, das wir brauchen, weil wir eben nun einmal faktisch endlich sind, ohne dies noch einmal begründen zu können. Aus dieser Einsicht ergeben sich die Kategorien, wie sie im Zusammenspiel mit unserer produktiven Einbildungskraft nun einmal sein müssen" (S. 148).

In der Abhandlung "Kategorien der Freiheit und der Natur" geht Simon konkret auf die Zahl der Titel der Kantischen Urteilstafel ein. Dort stellt er voran, daß der Kategorienbegriff grundlegend für die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Gültigkeit ist. Weiterhin wird zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungs-urteil differenziert: Im ersteren wird beispielsweise festgestellt, daß B auf A in der Wahrnehmung folgt, im zweiten wird bestimmt, daß A und B objektiv zusammenhängen.

Kategorien werden eingeführt als "Rahmen der formalen Möglichkeit" (S. 110), in dem Begriffe zu Urteilen verbunden werden können.

Drei Modi des Fürwahrhalten gibt es nun, die die Zahl der Titel der Urteils- und Kategorientafel bestimmen: Meinen, Glauben, Wissen.

Meinung ist eine unverbindliche Vorstellung, die vom denkenden Subjekt für möglich gehalten wird. Wenn das Urteil das Handeln des Subjekts bestimmt, setzt der Glaube ein. Wissen hingegen liegt nur bei einer objektiven Begründung des Urteils vor. Diese Begründung sieht Simon nur in der Relation mit einem weiteren, für ojektiv gehaltenen Urteil begründet werden. In der Urteilstafel tauchen die Modi des Fürwahrhaltens als Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit auf (Momente der Modalität). Nocheinmal die Stufen des Fürwahrhaltens:

a) Weder subjektiv noch hinreichend begründet: Problematisches Fürwahrhalten oder das Fürmöglichhalten.

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b) Nur subjektiv, aber nicht objektiv hinreichend begründet: Assertorisches Fürwahrhalten oder das Fürwirklichhalten.

c) Sowohl subjektiv als auch objektiv hinreichend begründet: Apodiktisches Fürwahrhalten oder das Fürnotwendighalten.

Die nichtmodalen, objektbestimmten Kate-gorien leitet der Autor von den drei dargestellten Punkten ab: Die Quantität, die Qualität und die Relation. Analog geht er bei der Bestimmung der Momente dieser Titel vor.

Die Quantität entspricht bei dieser Argumentation der Meinung. Quantifizierungen beziehen sich auf die raumzeitliche Form eines Anschauungsgegenstandes, in der etwas gegeben ist. Erst bei der Qualifizierung erfolgt eine Bestimmung und Festlegung. Der Qualität entspricht also der Glaube. So bleibt nur noch die Relation übrig, die der Modalität zugeordnet wird. Die Rolle der Relation für die Notwendikgeit als Moment der Modalitätskategorien wurde bereits oben angedeutet.

Simon faßt zusammen: "Damit sind alle Kombinationsmöglichkeiten zwischen Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit erschöpft [...]. Außer den drei Modalitäten als solchen kann es nur diese weiteren neun "Stammbegriffe" des reinen Verstandes geben" (S.120).

2.17. Reinhard Brand (1991)

In seinem Buch "Die Urteilstafel der reinen Vernunft" versucht Reinhard Brand die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel ohne Rückgriff auf die transzendantale Apperzeption plausibel zu machen. In ihr ist die Form aller Verstandeshandlungen enthalten, die ihrerseits Thema der allgemeinen Logik sind. Für ihn ist das Thema deshalb so wichtig, weil die transzendentale Logik, die die Urteilstafel beinhaltet, für die weitere Gedankenentwicklung in der Kritik der reinen Vernunft formgebend bzw. richtungsweisend ist.

Die Vollständigkeit der Tafel ist in ihrer Anschaulichkeit evident und der Zusammenhang der einzelnen Titel nach einem Begriff oder einer Idee gegeben (A 67). Brand dividiert jedoch die Urteilstafel in zwei Teile: Die drei Titel Qualität, Quantität und Relation auf der einen Seite und die Modalität auf der anderen Seite. Die Vollständigkeit bezieht er nach A 74 dabei nur auf die ersten drei Titel: "Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt, (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmacht,) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denekn überhaupt angeht".

Brand vollzieht seine Argumentation für die Vollständigkeit der Urteilstafel in vier Schritten, wobei er in erster Linie die Texte A 67 - 76 bzw. B 92 - 101 zu Grunde legt:

a) Das Urteil ist als eine Erkenntnis an Hand von Begriffen definiert. Diese Begriffe beziehen sich immmer auf vieles, nämlich all das, was sie beinhalten, was sie begreifen. Wenn nun in einem Erkenntnisurteil das unbestimmt Viele begrifflich bestimmt werden soll, muß entschieden werden, ob sich das logische Prädikat von allem (allgemeines Urteil), von einigem (besondere Urteile) oder von einem aus dem Bereich des zu bestimmenden Vielen (einzelne Urteile) gilt.

Daraus ergibt sich der Aspekt der Quantität. Am Anfang der Urteilstafel steht sie deshalb, weil der Begriff "das zuerst gegebene" (S. 5) ist.

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Schon hier ist die Funktion des Urteils erkennbar, Vorstellungen unter eine Einheit zu bringen. Es zeigte sich ja, daß sich die Begriffe im Urteil auf vieles beziehen.

b) Wesentlich für ein Urteil ist die Entscheidung, ob die Verbindung von logischem Prädikat und logischem Subjekt bejahend (Bejahendes Urteil) oder verneinend (verneinendes Urteil) vollzogen wird. So macht die Qualität einen entscheidenden Aspekt des Urteils deutlich. Sie steht darum an der zweiten Stelle.

Das unendliche Urteil nimmt eine Sonderstellung ein. Wie auch das dritte Moment der Quantität ist es auf ein Ganzes, auf den gesamten möglichen Erkenntnisbereich bezogen: "Das unendliche Urteil setzt das einzelne Subjekt (z.B. die Seele) in die Sphäre des Möglichen, die übrig bleibt, auch wenn das bejahende Prädikat subtrahiert wird" (S. 74).

c) Das Verneinende Urteil nimmt aber das Urteil als solches nicht zurück. Das Beispiel "Alle Menschen sind nicht sterblich" bleibt ein Urteil, auch wenn es verneint ist. Deshalb muß es neben dem bejahenden und verneinenden Aspekt noch eine weitere Bestimmung der Verbindung von dem logischen Prädikat mit dem logischen Subjekt geben. Diese Funktion nimmt die Relation ein. Die Relation macht deutlich, daß das Urteil entweder zwei Begriffe (kategorisches Urteil), zwei Urteile (hypothetisches Urteil) oder mehrere Urteile (disjunktives Urteil) miteinander verbindet (B 98). Mehr Möglichkeiten kann es nicht geben.

d) Nach A 67 - 69 bilden die beschriebenen drei Titel eine funktionale Einheit. Es bleibt nur noch das Urteil als Erkenntnisurteil auszuweisen. Diese Aufgabe nimmt der vierte Titel der Tafel, die Modalität, wahr. Sie legt fest, ob ein Urteil möglich (problematisches Urteil), wirklich (assertorisches Urteil) oder notwendig (apodiktisches Urteil) ist. Hier ist erkennbar, daß die Modalität dem Urteil nichts neues hinzufügt, sondern nur den Erkenntnisgehalt sichert. Daher kann Brand die oden erwähnte Teilung der Urteilstafel vornehmen.

In diesem Viererschritt ist zu beachten, daß die Folge der Titel der Urteilstafel kein genetisches Prinzip enthält. Es kann also nicht aus der Quantität die Qualität und aus der Qualität die Relation etc. abgeleitet werden. Vielmehr sie alle gleichzeitig und gleichberechtigt. Das Urteil erweist sich als "artikulierte Einheit" (S. 85).

Brand behauptet, daß die drei Momente der Relation unmittelbar mit den drei Elementen des Vernunftschlusses (maior, minor, conclusio) korrespondieren. Kant schreibt (A 304): "Sie sind also gerade dreifach, so wie alle Urtheile überhaupt, sofern sie sich in der Art unterscheiden, wie sie das Verhältniß des Erkenntnisses im Verstande ausdrücken, nämlich kategorische oder hypothetische oder disjunktive Vernunftschlüsse".

Die ersten drei Titel der Urteilstafel, Quantität, Qualität und Relation, lassen sich nach den geschilderten Überlegungen mit Begriff, Urteil und Schluß in Verbindung bringen. Das heißt aber, das die Urteilstafel die gesamte Elementarlehre der allgemeinen Logik enthällt (S. 71). Die Modalität schließlich vereinigt das Denken in Urteilen, wie es entfaltet wurde. So schlägt Brand vor, das problematische Urteil auf die Quantität, das assertorische Urteil auf die Qualität und das apodiktische Urteil auf die Relation zurückzubeziehen. Um die systematische Geschlossenheit zu veran-schaulichen, führt er das Bild eines Urteilsdreiecks ein (S. 84). Graphisch könnte es vielleicht so aussehen:

Brand geht noch weiter: Die Verbindung der ersten drei Titel mit Begriff, Urteil und Schluß stellt der dem Aufbau der gesamten Kritik gegenüber: Die Begriffe haben ihr Analogon bei den Kategorien, die Urteile bei den Grundsätzen, die Vernunftschlüsse bei der Dialektik und die Modalität bei der Methodenlehre. "Ohne diese Struktur der Urteilstafel würde die Logik der Kritik der reinen Vernunft in sich zerfallen" (S. 72). Das Urteilsdreieck könnte auf entsprechende Weise erweitert werden.

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2.18. Wilhelm Metz (1991)

In dem erst kürzlich erschienenen Buch "Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes" äußert sich Wilhelm Metz zu der Deduktion der Kategorien in Kants Kritik der reinen Vernunft (§§ 15 - 27). Dabei wirft er einen Seitenblick auf das Urteilsverständnis bei Kant. Die Argumentation orientiert sich an die ursprünglichsynthetische Apperzeption.

Aus der Wesensbestimmung des reinen Selbstbewußtseins folgt nach Metz die Deduktion der Kategorien in zwei Schritten:

a) Leitmotiv ist die synthetische Produktivität bzw. Spontanität des Selbstbewußtseins: Der Verstand ist nicht nur erkennend, sondern auch produktiv. Das synthetisierende Selbstbewußtsein bringt nämlich das Objekt aus einem gegebenen Manigfaltigen hervor.

Hierbei muß zwischen einer äußeren zufälligen Objekterkenntnis und einer transzendentalen Objektproduktion unterschieden werden. Das Erste bezieht sich auf empirische Verstandesbegriffe, das Zweite auf reine Verstandesbegriffe, für die Urteilstafel gilt, d. h.. prinzipielle synthetische Urteile a priori schreiben der Natur Grundstrukturen vor.

Erkenntnis macht erst die transzendentale Synthesis möglich. Diese Synthesis wird durch das synthetische Selbstbewußtsein ermöglicht, dessen Manifestation das Urteilen in Kategorien ist. Jenes Selbstbewußtsein stellt für Metz das höchste Prinzip (A 67) dar, das in der Urteil- und Kategorientafel lediglich aufgefächert wird: "Die transzendentale Deduktion der Kategorien ist somit nichts anderes als die Analysis ihres höchsten, durch transzendantale Reflexion aufgestellten Prinzips" (S. 87).

b) Die ursprünglich-synthetische Apperzeption kann nicht isoliert, sondern nur an Hand der Tafel dargestellt werden.

Den Urteilsbegriff verwendet Metz auf zweierlei Weise:

- Als transzendentale Synthesis selbst und

- als Urteilsvollzug, der auf Grund jener möglich ist.

Das synthetische Urteil wird also durch eine ursprünglich-transzendentale Synthesis ermöglicht: "Die Deduktion der objektiven Geltung der in solchen Urteilen gebrauchten reinen Verstandesbegriffe muß demnach diese synthetische Handlung notwendig reflektieren. Die terminologische Härte des Ausdrucks 'immer schon gefällte Urteile' ist deswegen gerechtfertigt, weil Kant mit 'Urteil' die ursprünglich-konstituierende Synthesis bisweilen selbst bezeichnet" (S. 79).

2.19. Thomas Sören Hoffmann (1991)

In seiner Dissertation über "Die Absolute Form" erwähnt Sören Hoffmann unter anderem auch das Problem der Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Hierbei legt er das Gewicht

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auf den systematischen Entwurf der Kritik der reinen Vernunft in der Methodenlehre. Dort spricht Kant die Idee von der Form eines Ganzen an (B 673/645): Die Urteilsformen hängen durch ein System zusammen.

Die Idee der Einheit entspringt aus dem Verstand, der die konkreten Verstandesbegriffe aus sich heraus hervorbringt: "Der Verstand selbst ist seine unmittelbare Idee, und was in ihm fällt, muß der Form nach systematische Entwicklung dieser Idee, d. h. genetisch definierbar sein" (S. 44). Hoffmann fordert von den gewonnenen Verstandesbegriffen, daß sie in ihrem funktionalen Zusammenhang im Urteil in sich geschlossen sind. Dieses "(syntaktische) Konsistenzkriterium" (S. 167), wie er es nennt, kann als eine conditio sine qua non betrachtet werden.

In Bezug auf die Modalität von Urteilen stellt Hoffmann fest, daß die Notwen-digkeit eine Abschließende Bestimmung des Denkens darstellt. Sie ist sozusagen der Punkt hinter der Auszählung der Verstandesbegriffe: "Wenn [...] das Merkmal der Notwendigkeit die Ableitung von einem aus allem und so die Darstellung des Ganzen ist, dann entspricht das Transzendentale der 'qualitativen Vollständigkeit' (Totalität) oder der 'Vollkommenheit', die darin besteht, das [...] die Vielheit zusammen auf die Einheit des Begriffs zurückgeführt, und zu diesem und keinem anderen völlig zusammenstimmt" (S. 237).

Das Kantische System zeigt sich immer in einem Trivium der Momente des Denkens:

- Begriff (Verstand), Urteil (Urteilskraft) und Schluß (Vernunft),

- Einheit (Indifferenz), Vielheit (Differenz) und Allheit (Totalität als differente Einheit)

sind zwei Beispiele, die ein Indiz für die Vollständigkeit sind. Weitere Beispiele können ohne weiteres gefunden werden. Als gemeinsames Merkmal haben sie das Schema von Bedingung, Bedingtes und Inbegriff (Ableitung). Das Dreierschema läßt sich nicht mehr erweitern. Graphisch könnte man diese Überlegung vielleicht so verdeutlichen:

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3. Die großen Linien der Interpretation

Im Folgenden werde ich versuchen, die wichtigsten Punkte der angeführten Argu-mentationen zusammenzufassen und als grobe Linien der Auseinandersetzung mit der Kantischen Urteilstafel darzustellen. Dabei tauchen manche Autoren mehrmals auf, da ihre Argumente in mehrere Richtungen gehen. Da die Ansätze im einzelnen schon beschrieben wurden, beschränke ich mich auf drei Punkte:

• Kennzeichnendes Stichwort,

• Kurze Erläuterung und

• Vertreter der Argumentationsrichtung.

3.1. Skeptischer Ansatz

Die Vollständigkeit wird in einem skeptischen Ansatz abgelehnt. Hierbei wird vor allem logisch bzw. formallogisch argumentiert. Eine ablehnende Haltung wird von P. Hauk und Hans Lenk vertreten.

3.2. Historischer Ansatz

Im historischen Ansatz wird die Kantische Philosophie in den Zusammenhang der Philosophiegeschichte eingeordnet und relativiert. Die Urteilstafel ist als eine geschichtlich gewachsene anzusehen. Die Entwicklung und Aufstellung der Tafel von Kant wird bei dem historischen Ansatz an Hand von dem philosophischen Umfeld zur Zeit Kants und seinem schriftlichen Werk rekonstruiert. Diese Meinung vertreten vor allem P. Hauk und Giorgio Tonelli.

3.3. Systemtheoretischer Ansatz

Der systemtheoretische Ansatz arbeitet mit der Herstellung von Analogien zur übrigen oder gesamten Philosophie Kants. Hierbei werden von der Urteilstafel aus Brücken zu den Grundsätzen und der Methodenlehre geschlagen. Dieses Denken findet sich bei Hermann Cohen, Gisela Helene Lorenz, Reinhard Brand und Thomas Sören Hoffmann.

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3.4. Transzendentalphilosophischer Ansatz

Der transzendentalphilosphische Ansatz hebt die Bedeutung der transzendentalen Einheit der Apperzeption hervor. Die Einheit des Denkens und dessen einheitsstiftender Charakter hält die vier Titel der Urteilstafel eng miteinander verbunden. Eine große Rolle spielt die "Idee des Ganzen" und der "höchste Punkt der Philosophie". Auf dieser Schiene fahren Hermann Cohen, Hans Cornelius, Klaus Reich, Lorenz Krüger, Peter Schulthess, Wilhelm Metz und Thomas Sören Hoffmann.

3.5. Analytischer Ansatz

Viele Autoren versuchen die Aufstellung der Urteilstafel mit ihren vier Titel und je drei Momenten nachzuvollziehen. An Hand von etwas gegebenem, wie z. B. das assertorische Urteil, die Wirklichkeit, die ich zum Philosophieren annehmen muß, werden die eizelnen Momente Schritt für Schritt erarbeitet. Die Urteilstafel soll hiermit plausibel gemacht werden. Unter den Vetretern dieses Ansatzes befinden sich Karl Joël, Hans Wagner, Reinhard Brand und Wilhelm Metz.

3.6. Erkenntnistheoretischer Ansatz

Joseph Simon beispielsweise entwickelt die Tafel an Hand der drei aufsteigenden Erkenntnisstufen, die in den Momenten der Modalität ihren Niederschlag gefunden haben: Meinen, Glauben und Wissen.

3.7. Triadischer Ansatz

Mit einer Untrennbarkeit und Abgeschlossenheit einer Trias von Momenten oder Systemkomponenten der Kantischen Philosophie versuchen eine Reihe von Autoren die Vollständigkeit der Urteistafel zu begründen. Daneben stellen sie ebenfalls Analogien zu anderen Teilen der Kantischen Philosophie her. Paradigmatisch ist die Kette von Bedingung, Bedingtes und Inbegriff (Ableitung) bei Thomas Sören Hoffmann. Als Vetreter sind vor allem Karl Joël, Klaus Reich, Gisela Helene Lorenz, Josef Simon, Reinhard Brand und Thomas Sören Hoffmann zu nennen.

3.8. Logischer Ansatz

Im logischen Ansatz versuchen einige Autoren die formallogische Abgeschlossenheit der Urteiulstafel bzw. Kategorientafel nachzuweisen. Oft ist dieser Weg nur ein Teil der Argumentation, wie z. B. bei Karl Joël, der in dem unendlichen Urteil die Überwindung einer zweiwertigen Logik sieht. Ein konsequent logischer Ansatz findet sich bei Walter Bröcker. Als Autoren können Karl Joël, Walter Bröcker und Peter Schulthess aufgeführt werden.

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3.9. Dogmatischer Ansatz

Hier wird zugegeben, daß die Zahl der Titel und Momente in der Urteilstafel letztlich nicht zwingend begründet werden kann. Kant setzt sie vielmehr als a priori gegeben voraus. Dieser Meinung sind Hans Cornelius, Martin Heidegger und Lorenz Krüger.

3.10. Definitionsimmanenter Ansatz

Einen unmittelbar einsichtigen Weg stellt der definitionsimmanente Ansatz dar. Er entwickelt die Urteilstafel an Hand ihrer Definition von Kant. Die Tafel entwickelt und entfaltet also nur das, was in ihr im Ansatz bzw. der Definition hineingelegt wurde. Den definitionsimmanenten Weg beschreitet Klaus Reich und Johann Erich Fries.

3.11. Zum guten Schluß

Alle positiven Ansätze haben gemeinsam, daß sie von einer inneren Geschlossenheit der Urteilstafel bzw. der Kategorientafel ausgehen. Wie sind sie nun zu bewerten?

Eine Bewertung und Kritik der einzelnen philosophischen Arbeiten würde den Platz einer eigenen Arbeit beanspruchen. Dennoch möchte ich einige grundätzliche Anmerkungen machen:

- Jede Philosophie, auch eine geniale, wie sie Kant entwickelt hat, muß in den Kontext des geschichtlichen Umfeldes gestellt werden und an Hand des Materials relativiert werden (historischer Ansatz).

- Philosophie kann ohne metaphysischer Prämisse nicht bewiesen werden, denn Beweise müssen in formallogischer Strenge durchgeführt werden (Annahmebeseitigung, reductio ad absurdum, modus ponens, etc.).

- Ein dogmatischer Ansatz ist sinnvoll, wenn die Operationalisierbarkeit und Praxistauglichkeit in Kontext philosophischer Proglemstellungen gewährleistet ist (Bewahrheiten statt Wahrheit).

- Eine definitionsimmanente Begründung ist zwar einleuchtend, hat aber denNachteil, daß die objektive Gültigkeitdann noch begründet werden muß.

Letztlich ist es zu begrüßen, wenn heutige Denker mit der vorliegenden Aufgabenstellung das System Kants erhellen, indem sie seinen zeitbedingten undeutlichen und umständlichen Ausdruck übersetzen.

Die Philosophie Kants, als ein Angelpunkt der europäischen Philosophiegeschichte, wird in Zukunft eine Herausforderung bleiben, gerade in ihrer Mittlerposition zwischen Skeptizismus und Idealismus.

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4. Literatur

4.1. Quellentext:

Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. III und IV

4.2. Sekundärliteratur:

In alphabetischer Ordnung der Autoren

Walter Bröcker, Kant über Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt 1970

Reinhard Brand, Die Urteilstafel der reinen Vernunft, Hamburg 1991

Hermann Cohen, Werke Bd. 4, Hildesheim 1978

Hans Cornelius, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Erlangen 1926

Johann Erich Fries, Über Kants vollständige Kategorientafel und das offene Kategoriensystem in Paul Natorps "Philosophische Systematik". Untersuchun-gen zur Entwicklung der transzendentalen Methode, Göttingen 1963

P. Hauck, Die Entstehung der kantischen Urteilstafel, in: Kant-Studien 1906

Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 19734 (1929)

Thomas Sören Hoffmann, Die absolute Form. Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel, Berlin 1991

Karl Joël, Das logische Recht der kantischen Tafel der Urteile, in: Kant- Studien 1922

Albert Landau Hrsg., Rezensionen zur kantischen Philosophie 1781 - 87, Bebra 1991

Lorenz Krüger, Wollte Kant die Vollstän-digkeit seiner Urteilstafel beweisen? in: Kant-Studien 1968

Hans Lenk, Kritik der logischen Konstanten. Philosophische Begründungen der Urteilsformen vom Idealismus bis zur Gegenwart, Berlin 1968

Gisela Helene Lorenz, Das Problem der Erklärung der Kategorien, Berlin 1986

Wilhelm Metz, Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstadt 1991

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Günther Patzig, Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? im: Josef Speck Hrsg., Grundprobleme der großen Philoso-phen. Philosophie der Neuzeit II, Göttingen 1976

Klaus Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, Hamburg 1986 (1932)

Peter Schulthess, Relation und Funktion. Eine systhematische und entwicklungsge-schichtliche Untersuchung zur theoreti-schen Philosophie Kants, Berlin 1981

Josef Simon, "Anschauung überhaupt" und "unsere Anschauung". Zum Beweisgang in Kants Deduktion der Naturkategorien, in: Gisela Müller und Thomas M. Seebohm Hrsg., Perspektiven transzendentaler Reflexion, Bonn 1989

Josef Simon, Kategorien der Freiheit und der Natur. Zum Primat des Praktischen bei Kant, in: D. Koch und k. Bart Hrsg., Kategorien und Kategorialität. Festschrift für Klaus Hartmann, Würzburg 1990

Giorgio Tonelli, Die Voraussetzung der Kantischen Urteilstafel in der Logik des 18. Jahrhunderts, in: Friedrich Kaulbach und Joachim Ritter Hrsg, Kritik- und Metaphysik-Studien, Berlin 1966

Hans Wagner, Kants Urteilstafel und Urteilsbegriff (Kr. d. r. V., Ak.-Ausg. III, 86 ff.), in: Hans-Dieter Klein Hrsg., Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XIX, 1987, Wien 1988

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