Die Zeit der Strategen - Coachshop.de · Guardiola und José Mourinho haben mehr Titel gewonnen als...

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Leseprobe aus: ISBN: 978-3-499-63307-2 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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Page 1: Die Zeit der Strategen - Coachshop.de · Guardiola und José Mourinho haben mehr Titel gewonnen als jeder andere Trainer. Sie sind zwei Taktikfüchse, jeder auf seine Art. Auch Jürgen

Leseprobe aus:

ISBN: 978-3-499-63307-2Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

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«Der Wandel des Fußballs hängt eng zusammen mitdem Wandel des Trainerjobs. Früher waren sie ebendas: Fußballtrainer. Heute müssen sie zig Funktionen ineinem erfüllen. Sie müssen Mannschaftsführer sein, Lehrer,Taktikfuchs, Psychologe, Physiotherapeut, Experte fürdie sich ständig weiterentwickelnde Trainingswissenschaftund abgebrühte Medienprofis. Trainer genießen fast so vielPopularität wie ihre Spieler. Sieg oder Niederlage, Triumphoder Debakel, schöner oder hässlicher Fußball: All das wirdheute am Trainer festgemacht. Und nicht ohne Grund, wiedie vergangenen Jahre zeigen. Ein guter Trainer kann denUnterschied machen zwischen einer durchschnittlichenund einer sehr guten Mannschaft.»

Tobias Escher beschäftigt sich rund um die Uhr mit Fußball.Er ist Mitbegründer des Taktikblogs Spielverlagerung.de,das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In derInternetsendung Bohndesliga, einer Produktion von RocketBeans TV, analysiert er die Spiele der Bundesliga. Alsfreier Journalist schreibt Escher ebenfalls für Zeit Online,11 Freunde und erarbeitet Taktikanalysen für das ZDF. DasMedium-Magazin wählte ihn 2013 unter die besten zehnSportjournalisten Deutschlands.

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Tobias Escher

Die Zeit der StrategenWie Guardiola, Löw, Mourinho

und Co. den Fußball neu denken

Rowohlt Taschenbuch Verlag

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OriginalausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,

Reinbek bei Hamburg, April 2018Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Umschlaggestaltung ZERO Media GmbH, MünchenUmschlagabbildungen Claudio Villa; Laurence Griffiths / Staff;

Chris Brunskill – AMA / Kontributor / Getty Images; FinePic®, München

Satz aus der FF Scala bei Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung CPI books GmbH, Leck, Germany

ISBN 978 3 499 63307 2

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Inhalt

MottoPrologKapitel 1 José MourinhoKapitel 2 Pep GuardiolaKapitel 3 Marcelo BielsaKapitel 4 Jürgen KloppKapitel 5 Antonio ConteKapitel 6 Maurizio SarriKapitel 7 Peter BoszKapitel 8 Jogi LöwKapitel 9 Thomas TuchelKapitel 10 Julian NagelsmannKapitel 11 Zinédine ZidaneEpilogDanksagungLiteraturverzeichnisRegister

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«Schnelligkeit im Fußball ist nicht das Resultat schnellerBeine, sondern klugen Vorausdenkens!»Sepp Herberger

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PrologFußball ist ein einfaches Spiel. Oder etwa nicht? Wer denFußball der jüngeren Vergangenheit verfolgt, dürfte nichtimmer das Gefühl haben, einen einfachen Sport vor sichzu haben. Früher hieß es: «Geht’s raus und spielt’s Fuß-ball.» Heute ist von falschen Neunern die Rede und vonabkippenden Sechsern, von Fünferketten und Matchplä-nen, von individueller Belastungssteuerung und von digita-len Scouting-Lösungen. Ist das, wie der kicker vorwurfsvollformulierte, «der Versuch einer Elite, durch eine Verwis-senschaftlichung der Begriffspalette jene von der Diskus-sion um den Volkssport Nummer eins auszuschließen, de-nen man ohnehin nicht zutraut, etwas von der Materie zuverstehen»? Anders gefragt: Was hat sich schon verändert?Ein Ball, 22 Spieler, ein Platz mit 7140 Quadratmetern – sowar der Fußball, so wird er immer sein. Warum sollte derSport plötzlich komplexer geworden sein, wie man alleror-ten hört?

Die Antwort liegt, wie Otto Rehhagel einst so schön sag-te, auf dem Platz. Wer ein heutiges Fußballspiel mit einerPartie aus den Sechzigern, den Neunzigern oder auch nurvon vor zehn Jahren vergleicht, kann sich fragen: Ist dasdieselbe Sportart? Früher benötigten die Teams eine hal-be Minute, um den Ball von einem Tor vor das andere zutreiben. Heute liegen zwischen Balleroberung und Torab-schluss oft keine zehn Sekunden. Früher zogen sich dieTeams nach einem Ballverlust an den eigenen Strafraumzurück und warteten ab, was der Gegner tut. Heute er-greift eine Mannschaft nach dem Ballverlust sofort wiederdie Initiative, das gesamte Team schiebt nach vorne. Vorzwanzig Jahren liefen die Spieler sieben bis acht Kilometerpro Spiel, heute legen Mittelfeldspieler in neunzig MinutenStrecken von vierzehn Kilometern oder mehr zurück. Der

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Fußball ist athletischer geworden, schneller, durchdachter.Die Spieler bewegen sich, überspitzt formuliert, wie orches-trierte Roboter über den Platz. Ja, der Fußball hat sich ver-ändert. Man muss beide Augen fest zukneifen, um das nichtzu erkennen.

Der Wandel ereignete sich nicht von heute auf morgen.Ein Grund dafür ist das viele Geld, das mit dem Profifußballverdient wird. Die Umsätze der Spitzenklubs haben sichseit den neunziger Jahren verzehnfacht. Das Interesse amFußball macht es möglich. Der Fan bezahlt, sei es für dasStadionticket, Merchandising oder Pay-TV-Abos. Viel vondiesem Geld stecken die Klubs in irrwitzige Transfersum-men und immer höhere Gehälter. Doch es fällt auch etwasfür andere Bereiche ab: für die Nachwuchsarbeit, mit derbereits sehr junge Talente gesucht und gefördert werden,für immer modernere Trainingsplätze, auf denen Fußballereffektiver trainieren können, oder für technische Innovatio-nen, die Spielern helfen, schneller zu regenerieren und bes-ser Muskeln aufzubauen. Im Spitzenfußball sind vollkom-men andere Leistungen möglich, als noch vor zwanzig Jah-ren. Technisch, weil die Spieler besser ausgebildet sind.Athletisch, weil die Spieler effektiver trainieren. Taktisch,weil Spieler bereits in der Jugend verschiedene Systemekennenlernen und ein wesentlich höheres Verständnis fürtaktische Fragen haben als früher.

Der Fußball hat sich in sämtlichen Bereichen professio-nalisiert. Vorbei sind die Zeiten, als Manager aus Lust undLaunen heraus Spieler verpflichteten. Horst Hrubesch, ei-ner der treffsichersten Stürmer seiner Zeit, wurde erst ent-deckt, als er schon 24 war, per Zufall, bei einem Spiel füreinen Amateurklub. Heute beschäftigen die großen VereineKaderplaner, die genaue Vorstellungen entwickeln, welcheSpieler zum Klub passen und welche nicht. Scouts leuch-ten mögliche Neuverpflichtungen aus bis ins kleinste De-tail. Ärzte und Physiotherapeuten überwachen die Blutwer-

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te der Spieler, stets besorgt, dass die Spieler konditionelloder athletisch abfallen. Möglichst wenig soll dem Zufallüberlassen werden – in der Vergangenheit ein häufig be-mühter Faktor im Fußball.

Den größten Einfluss auf die Entwicklung des Fuß-balls hatten aber nicht die hypermodernen Trainingszen-tren oder die Sponsoren mit dem vielen Geld. Es sind Men-schen, die mit ihren Ideen die Welt verändern. Im Fußballfindet man diese Menschen oft auf den Trainerbänken. Esliegt in der Natur des Berufs: Die Forschung mag großeDurchbrüche in der Trainingswissenschaft erzielt haben,die Mannschaften mögen intelligenter zusammengestelltsein, die Spieler besser ausgebildet. Am Ende entscheidetder Trainer, wie eine Mannschaft spielt, wie sie trainiert,welche Taktik sie umsetzt. In der Geschichte des Fußballsgab es immer wieder Trainer, die auf diese Fragen neue,innovative Antworten gefunden haben. Sei es, indem sieneue Trainingsmethoden anwandten, neue Strategien er-probten oder ihre Mannschaft völlig unerwartet aufstellten.Die Trainer sind das kleine Rädchen im ZahnradgetriebeFußball, um das sich alle anderen Rädchen drehen.

Der Wandel des Fußballs hängt eng zusammen mit demWandel des Trainerberufs. Kein Posten im Fußball hat sichin den vergangenen zwanzig Jahren so sehr verändert wieder Beruf des Trainers. Früher waren sie eben das: Fuß-balltrainer. Heute müssen sie zig Funktionen auf einmalerfüllen. Sie müssen Mannschaftsführer sein, Lehrer, Tak-tikfuchs, Psychologe, Physiotherapeut, Experte für die sichständig weiterentwickelnde Trainingswissenschaft und  –last, but not least – abgebrühte Medienprofis. Nie war dasScheinwerferlicht, das auf die Trainer fällt, greller als heu-te. Trainer genießen fast so viel Popularität wie ihre Spie-ler. Sieg oder Niederlage, Triumph oder Debakel, schöneroder hässlicher Fußball: All das wird häufig am Trainerfestgemacht. Die Erwartungen steigen ins Unermessliche,

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wenn Pep Guardiola zu Bayern München oder José Mour-inho zu Manchester United wechselt. Und das nicht ohneGrund, wie die vergangenen Jahre zeigen: Ein guter Trai-ner kann den Unterschied machen zwischen einer durch-schnittlichen und einer sehr guten Mannschaft.

In diesem Buch möchte ich Ihnen Trainer vorstellen, dieden Fußball in den vergangenen Jahren maßgeblich ge-prägt haben. Die Einfluss darauf hatten, wie heute Fußballgespielt wird. Ich möchte ihre Ideen vorstellen, ergründen,wie sie auf diese Ideen gekommen sind, und beschreiben,was sie einzigartig macht und wieso sie mit ihren Mann-schaften Erfolge feiern. Erfolg muss nicht gleichbedeutendsein mit dem Gewinn von Titeln. Es kann auch ein Erfolgsein, wenn ein Trainer besonders schönen Fußball spielenlässt oder wenn seine Ideen so revolutionär sind, dass sieseine Kollegen inspirieren. Kurz: Ich möchte analysieren,wie elf Trainer den Fußball verändert haben.

Ein Fußballteam ist ein komplexer Organismus, Fußballein komplexer Sport. Kondition, Technik, Psychologie, Tak-tik, Form, persönliche Animositäten und Kritik von außen –all diese Dinge entscheiden über Erfolg und Misserfolg. EinTrainer muss die richtigen Entscheidungen treffen, um alleThemen unter einen Hut zu bekommen. Jeder Trainer hatBereiche, in denen er sich besonders auskennt. Der einemag ein Meister der Trainingslehre sein, der andere ein ab-gebrühter Medienprofi, der Dritte ein einfühlsamer Psycho-loge. Viele Wege führen nach Rom. Ich möchte zeigen, wel-che neuen Wege die Trainer in den jeweiligen Teilbereichendes Fußballs beschritten haben.

Ein Aspekt, der in den vergangenen Jahren immer wich-tiger wurde, ist die Taktik. Es ist der Bereich des Fußballs,in dem ich mich besonders gut auskenne. Seit Jahren beob-achte, analysiere, beschreibe ich Strategien und Taktiken,mit denen Spitzenteams Erfolge feiern. Als Blogger habe

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ich auf der Seite Spielverlagerung.de angefangen, über dasPhänomen Taktik zu berichten. Mittlerweile habe ich dasHobby zum Beruf gemacht. Taktik nimmt auch in diesemBuch einen großen Stellenwert ein, ist sie doch der Bereich,der sich in den vergangenen Jahren maßgeblich gewandelthat. Trainer definieren sich mehr denn je über ihre Spiel-philosophie, über die taktischen Ideen, die sie ihren Spie-lern mitgeben. Die Professionalisierung hat dazu geführt,dass die Klubs mittlerweile Analysten und Scouts einstel-len, die ihren Chefs zuarbeiten. Sie analysieren den kom-menden Gegner, suchen Stärken und Schwächen. Sie hel-fen den Trainern, für jeden Gegner maßgeschneiderte Tak-tiken zu entwerfen.

Strategie und Taktik

Strategie und Taktik werden oft synonym verwendet,bezeichnen aber zwei unterschiedliche Konzepte. DieStrategie bezieht sich auf übergeordnete Fragen, dieein Trainer über längere Zeit prägt: Ist es ihm wichti-ger, dass seine Mannschaft Tore schießt, oder soll siein erster Linie Tore verhindern? Will ein Team den Ballhaben, oder spielt es stärker auf Konter?Die Taktik bezeichnet die einzelnen Elemente, die ge-nutzt werden, um eine Strategie umzusetzen. Das Kon-terspiel ist beispielsweise ein strategisches Element.Der lange Ball, um schnell das Mittelfeld zu überbrü-cken, wäre ein dazu passendes taktisches Element.

Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichsten Trainer dervergangenen Jahre auch die taktisch klügsten waren. PepGuardiola und José Mourinho haben mehr Titel gewonnenals jeder andere Trainer. Sie sind zwei Taktikfüchse, jederauf seine Art. Auch Jürgen Klopp, Joachim «Jogi» Löw oderAntonio Conte haben ihre Teams mit den richtigen Strategi-en an die Spitze geführt. Man könnte dies als Ex-post-Ana-

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lyse abtun nach dem Motto: «Der Sieger schreibt die Ge-schichte.» Ich argumentiere andersherum: Zunächst standbei all diesen Trainern die Spielidee, die Philosophie, nachder sie spielen ließen. Die Erfolge stellten sich erst ein, alsihre Spielideen fruchteten. Darum möchte ich mich auchgar nicht zu sehr auf ihre Titel, auf ihre Erfolge fokussieren.Ich lasse die Arbeit der Trainer für sie sprechen.

Thomas Tuchel verglich ein Fußballspiel im Interviewmit dem ZeitMagazin Mann mit einem Theaterstück: «DieMannschaften gehen raus, dann ist Aufführung, und wir gu-cken alle das Spiel.» Ein bisschen gleicht der Trainerberuftatsächlich dem eines Regisseurs: Er behält den Überblick,plant alles, versucht, den Spielern seine Vision zu vermit-teln. Am Ende sind zwar die Spieler die Schauspieler, diedas Stück aufführen. Es waren aber die Trainer, die ihnendas Wie an die Hand gaben. Insofern spiegelt ein Fußball-spiel auch immer die Philosophie und ein Stück weit auchdie Persönlichkeit eines Trainers, genau wie Theaterstückehäufig Spiegelbilder ihrer Regisseure sind. In meinen Por-träts wiegen daher die Taten der Protagonisten mehr als ih-re Worte; der Fokus liegt auf der Analyse ihrer Arbeit, ihrerAufführungen, die sie der Welt präsentieren. Was sind dieMethoden dieser Trainer? Wie sieht ihre bevorzugte Taktikaus? Wie sieht ihre tägliche Arbeit aus? Was machen sie an-ders als ihre Kollegen? Welche Menschen haben sie beein-flusst, und welchen Mitarbeitern vertrauen sie? Wie siehtihre Trainingsmethodik aus, welche Strategie steckt hinterihrer Aufstellung? Kurz: Wie denken sie den Fußball neu?

Die Biographien und die Persönlichkeiten der Trainersind dabei wichtige Bausteine, um ihren Erfolg zu erklären.Unsere Umgebung formt uns zu dem, was wir sind. Ich wer-de in jedem Kapitel den Werdegang und die wichtigsten Ei-genheiten eines Trainers vorstellen. Was ich nicht machenwerde: Ihnen vorbeten, wie fleißig und fußballverrückt siesind. Jedes Porträt ließe sich mit denselben Phrasen aus-

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schmücken: Sie alle lieben den Fußball. Abgöttisch. Mankönnte sie nachts wecken, und sie würden Vorträge haltenüber die Stärken und die Schwächen ihres Linksverteidi-gers oder über die Taktik des kommenden Gegners. AlleTrainer erscheinen morgens als Erster auf dem Trainings-gelände und verlassen es abends als Letzter. Sie alle ha-ben schon Nächte durchgearbeitet oder sind mitten in derNacht aufgestanden, weil sie eine geniale Idee hatten, diesie unbedingt sofort notieren mussten. Im Spitzenfußballist dieser Fleiß keine herausragende Eigenschaft, er ist dieGrundvoraussetzung. Qualität kommt in dieser Welt immerauch von Qual – und von ständiger Selbstoptimierung. AlleTrainer sind immer auf der Suche nach neuen Ideen, nachInspirationen, nach neuen Mitteln und Wegen, ihre Mann-schaft besser zu machen. Sie alle sind Laptoptrainer, dennmal ehrlich: Wer arbeitet heutzutage schon ohne Laptop?

Für dieses Buch habe ich mir Tausende Fußballspiele an-gesehen, bin zu Trainings von Bundesliga-Vereinen gefah-ren, habe Zeitungen und Bücher nach Interviews und An-ekdoten durchgewälzt. Ich habe Spieler getroffen, die un-ter diesen Trainern gearbeitet haben, und mit Journalistenund Experten gesprochen, die deren Karrieren bereits lan-ge verfolgen. Ich habe mich bemüht, möglichst viele Infor-mationen über die elf Trainer zusammenzutragen. Nur ei-nes ist mir leider nicht gelungen: persönlich mit ihnen zusprechen. Einerseits ist das nur zu verständlich: In Zeitendes totalen medialen Interesses am Fußball erhalten dieTrainer Dutzende, teils Hunderte Interviewanfragen. An-dererseits hat sich bei vielen Klubs mittlerweile eine Wa-genburgmentalität entwickelt. Pressesprecher halten Jour-nalisten auf Abstand, beantworten selbst einfache Fragennicht mehr – Presseabwimmler wäre in den meisten Fällendie passendere Jobbeschreibung.

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Ich wage dennoch zu behaupten: Auch ohne persönlicheInterviews dürfte dieses Buch Ihnen Erkenntnisse bieten.Es gab auch für mich viele «Aha!»-Momente, als ich die Le-bensgeschichten der Trainer und ihre Methoden studierte.Oft ergab sich aus dem einen das andere. Wussten Sie, dassJosé Mourinho bereits in den Neunzigern am Laptop gear-beitet hat? Dass Jogi Löw seine Trainerausbildung eigent-lich in der Schweiz absolvierte? Oder dass Zinédine ZidaneCristiano Ronaldos Vertrauen gewann, indem er gegen ihnin einem Freistoß-Wettbewerb antrat?

Sie werden wahrscheinlich nicht jedem Schluss zustim-men, den ich aus meinen Analysen ziehe. Vielleicht werdenSie auch nicht mit meiner Auswahl an Trainern einverstan-den sein. Aber ich hoffe, dass Sie zumindest etwas lernenüber die Trainer und ihre Methoden – und nebenbei auchdarüber, wie der Fußball im Jahr 2018 funktioniert.

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Kapitel 1José Mourinho

«Für mich ist Schönheit, dem Gegner nicht zu geben, waser will. Es gibt viele Dichter im Fußball, aber die gewin-nen keine Titel.»

Tief versteckt in Mourinhos Computer, im Unterordner ei-nes Unterordners, findet sich eine Datei. Als Benfica Lis-sabon ihn im Jahr 2000 nach nur wenigen Monaten ent-ließ, legte Mourinho diese Datei an. Er nutzte die erzwun-gene Auszeit, um seine Karriere Revue passieren zu las-sen. Seit über einem Jahrzehnt arbeitete er nun im Fuß-ball – zunächst als Scout, später als Assistenztrainer, jetztals Cheftrainer. Er wollte das Wissen, das er in dieser Zeiterlangt hat, katalogisieren. Trainingsmethoden. TaktischeIdeen. Spielvorbereitung. Analysen des Gegners. Berichteüber neue Talente, die er entdeckt hat. Seine Medienstrate-gie. All das sammelte er in dieser einen Datei. Und das warerst der Anfang: Seit knapp zwanzig Jahren pflegt Mourin-ho die Datei. Er verbringt Stunden an seinem Laptop, umDokumente auf dem neuesten Stand zu halten. Nur wenigeEingeweihte dürfen einen Blick darauf werfen. Mourinhotaufte sie «Die Bibel».

Obwohl ich mich seit Jahren mit der Arbeit von Mour-inho beschäftige, war die Tatsache, dass Mourinho derartmethodisch vorgeht, neu für mich. Mourinho – ein Pedant,der seine komplette Arbeit im Detail protokolliert? Es willso gar nicht recht passen zu dem Bild, das ich von Mour-inho hatte. Mourinho, das Großmaul. Mourinho, der Defen-sivstratege. Mourinho, der «Special One», dem jedes Mit-tel für den Erfolg recht ist. Es schien mir irgendwie falschzu sein, dass dieser Mann, der gerne gegnerische Trainer

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verspottet und über sich selbst in der dritten Person re-det, dass dieser Mann stundenlang vor seinem Laptop sitztund jeden einzelnen Schritt seiner Arbeit akribisch proto-kolliert.

Mourinho hat das Spiel mit den Medien perfektioniert.Jedes Mikrophon nutzt er als Bühne, um sich selbst dar-zustellen. Nicht nur der Mensch Mourinho verschwindethinter dieser Fassade, sondern auch der Fußballtrainer.Was macht Mourinho eigentlich den ganzen Tag lang? Waszeichnet ihn als Trainer aus? Und wie konnte er zu einemder größten Trainer unserer Zeit werden? Diese Fragensind gar nicht so leicht zu beantworten bei einem Men-schen, der sein Image genau steuert. Der sein privatesIch vor der Öffentlichkeit abschottet und über jedes Detailwacht, das nach außen dringt. Doch wenn man sich nähermit Mourinho als Trainer beschäftigt, stellt man fest: Essteckt mehr hinter ihm, als man vermuten würde. Mourin-ho ist einen steinigen Weg gegangen, um zu einem der er-folgreichsten Trainer unserer Zeit zu werden. Und er stehtbeispielhaft für eine wichtige Einsicht: Ein großer Trainermuss kein großer Spieler gewesen sein.

Mourinhos «Bibel» liefert einen ersten Anhaltspunkt, wieder allseits bekannte und doch irgendwie völlig unbekannteTrainer Mourinho tickt. Als José Mourinho in den Neunzi-gern seine Trainerkarriere begann, besaßen Fußballtrainerkeine Laptops, viele nicht einmal einen Computer. Mourin-ho war ein Außenseiter, nicht nur aufgrund seiner Vorlie-be für Hochleistungsrechner. Für Fußballenthusiasten, dienicht selbst auf höchstem Niveau gespielt haben, war es zujener Zeit nahezu unmöglich, als Trainer im bezahlten Pro-fifußball zu arbeiten. Der Job des Trainers war Ex-Spielernvorbehalten, speziell in Mourinhos Heimat Portugal. Denmeisten portugiesischen Klubs standen Ex-Profis als Präsi-

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denten vor. Sie reservierten die Plätze auf den Trainerbän-ken für ihre früheren Teamkollegen.

Mourinhos Traum, mit Fußball sein Geld zu verdienen,war nahezu aussichtslos. Er versuchte es trotzdem. Mourin-ho hatte eine tiefe Verbindung zum Fußball, er wurde prak-tisch in den Fußball hineingeboren. Sein Vater Félix Mour-inho war von Beruf Torhüter. Höhepunkt von dessen Kar-riere war ein Länderspieleinsatz für Portugal. Nach seinemKarriereende arbeitete er als Trainer. José schaute seinemVater stets über die Schulter. Als kleiner Junge alberte ermit den Mitspielern seines Vaters herum, später war er Mit-arbeiter des Trainerstabs. José arbeitete als sogenannterScout: Er beobachtete für seinen Vater den nächsten Geg-ner. So lernte er früh das Trainergeschäft kennen – auchdessen Schattenseiten. Hilflos musste er mit ansehen, wiesein Vater wieder und wieder den Job verlor und wie dieFamilie darunter litt. Die wohl prägendste Erfahrung ereig-nete sich Weihnachten 1984: Familie Mourinho hatte sichgerade zum Weihnachtsessen eingefunden, als das Telefonklingelte. Der Vereinspräsident war am Apparat. «Tut mirleid, Félix.» Der Vater wurde entlassen. An Heiligabend.

Scouts

Früher waren sie eine Ausnahmeerscheinung, heutestellt jeder Verein gleich mehrere an: Scouts. Der Be-griff stammt aus dem Englischen und bedeutet über-setzt «Kundschafter» bzw. «Späher». Scouts reisen füreinen Verein zu Spielen anderer Klubs. Dort kund-schaften sie die kommenden Gegner des Teams und de-ren Spieler aus. Sie beobachten auch mögliche Neuzu-gänge und prüfen, ob diese den Verein verstärken wür-den. Mittlerweile hat sich das Berufsbild aufgespalten:Die Klubs beschäftigen Spieler-Scouts, die sich ganzauf die Beobachtung von Transferkandidaten konzen-trieren, Videoanalysten, die Videomaterial des kom-

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menden Gegners sichten und für den Trainer aufberei-ten, und Statistiker, die sich durch Zahlen und Datenwühlen.

Mourinho träumte dennoch davon, eines Tages ein Großerdes Fußballs zu werden. Zunächst versuchte er sich alsSpieler. Ihm fehlten jedoch die Statur und das Talent, umauf dem höchstem Niveau mithalten zu können. Nach eini-gen Einsätzen in der zweiten portugiesischen Liga beende-te er seine Karriere. Dem Wunsch seiner Mutter, eine Bank-lehre zu machen, kam er genau einen Tag lang nach. Dannkündigte er. Stattdessen bewarb er sich für ein Studium derSportwissenschaften in Lissabon. Sein Vater stand hinterihm und half ihm, für die Aufnahmeprüfung zu büffeln.

Das Studium der Sportwissenschaften war der erstewichtige Wendepunkt in Mourinhos Leben. Er traf an derUniversität Akademiker, die sein Bild vom Fußball prägensollten. Bereits am ersten Tag lernte er Professor Manu-el Sérgio kennen, einen Philosophen, der sich auf Fußballspezialisiert hat. Auf Sérgios Frage, was er denn werdenwolle, antwortete Mourinho selbstbewusst: «Fußballtrai-ner!» Sérgio entgegnete kühl: «Wer sich nur für Fußballinteressiert, wird den Fußball niemals verstehen.» Sérgiolehrte Mourinho, den Fußball mit anderen Fachgebietenzu verknüpfen: Psychologie, Literatur, Neurowissenschaf-ten. «Fußball ist mehr als nur ein Spiel», so Sérgios Motto.Besonders aufmerksam lauschte Mourinho auch den Vor-lesungen von Vítor Frade. Der Professor für Sportwissen-schaften gilt als Erfinder der «taktischen Periodisierung»,einer zu jener Zeit neu entwickelten Trainingsmethodik.

Nach seinem Studium verschaffte Jesualdo Ferreira, einweiterer Dozent der Hochschule, Mourinho einen Postenals Assistenztrainer beim Klub Estrela da Amadora. AlsMourinho die Hochschule verließ, hatte er nicht nur seine

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erste Festanstellung im Fußballgeschäft, sondern auch ei-ne neue Sichtweise auf den Sport gewonnen.

Periodisierung

Im Sport stammt das Konzept der Periodisierung ausder Leichtathletik. Die Trainingszeit wird in unter-schiedliche Perioden eingeteilt, meist Zyklen genannt.Innerhalb der einzelnen Zyklen werden unterschiedli-che Bereiche mit wechselnder Intensität trainiert. DieZyklen dienen dazu, zu einem bestimmten Zeitpunkt inBestform zu sein. Es ist ein Modell, das zur langfristi-gen Trainingsplanung dient. Dieses Modell wird heut-zutage auf den Fußball übertragen.

Der zweite Wendepunkt in Mourinhos Leben folgte 1993.Als Sporting Lissabon den Briten Sir Bobby Robson als neu-en Trainer anstellte, suchte der Verein händeringend ei-nen Übersetzer – Robson verstand kein Wort Portugiesisch.Mourinho, der sich in Großbritannien fortgebildet hatte,sprach fließend Englisch. Eigentlich sollte Mourinho fürseinen neuen Boss nur übersetzen, doch er gab sich damitnicht zufrieden. Er half Robson beim Training und fertigtevor jedem Spiel Dossiers über den Gegner an. Robson warbeeindruckt. «Da stand dieser Typ vor mir, in seinen frü-hen Dreißigern, der nie ein großer Spieler war und prak-tisch keine Erfahrungen als Trainer vorzuweisen hatte. Unddoch waren seine Dossiers besser als alles, was ich von denTop-Profis bekommen habe, die für mich bei Weltmeister-schaften gearbeitet haben.» Mit der Zeit übertrug Robsonseinem Übersetzer mehr und mehr Aufgaben. Robson küm-merte sich hauptsächlich um das Training der Offensive,Mourinho durfte das Training der Defensivkräfte leiten – ei-ne Aufgabenteilung, die im Fußball zu jener Zeit eher unüb-lich war und die Mourinho für seine weitere Karriere präg-te.

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Mourinho wechselte gemeinsam mit Robson zum FC Por-to und später zum FC Barcelona. Dort arbeitete er zunächstweiter für den Briten. Als Barça Robson entließ, übernahmLouis van Gaal dessen Amt. Mourinho sollte eigentlich mitRobson den Verein verlassen, drängte sich jedoch dem neu-en Trainer auf. Van Gaal imponierte Mourinhos Selbstbe-wusstsein. «Ein arroganter junger Mann» sei Mourinho ge-wesen, doch genau das faszinierte van Gaal an ihm. Mour-inho habe seine Meinung nie versteckt. «Am Ende habe ichöfter auf Mourinho gehört als auf meine übrigen Assistenz-trainer.»

«Barcelonas Philosophie hat mich mehr beeinflusst als je-der Trainer», sagte Mourinho später. «Diese vier Jahre wa-ren für mich absolut entscheidend.» Barcelona war ausfußballerischer Sicht in den neunziger Jahren ein außer-gewöhnlicher Verein. Ballkünstler wie Luís Figo, ChristoStoitschkow oder Rivaldo zelebrierten das Spiel mit ihrenTricks und Finten. Vor allem aber war Barcelona ein Ort,an dem der Fußball neu gedacht wurde. Johan Cruyff, derfrühere holländische Weltklassefußballer, hatte den VereinAnfang der Neunziger als Trainer umgekrempelt. Barcelo-na bekam zu jener Zeit eines der modernsten Jugendzen-tren. Die Barcelona-Philosophie – viele Pässe, viel Strukturim Spiel – wurde den Spielern schon im Jugendbereich ein-geimpft. Als Assistenztrainer, der für die Beobachtung derkommenden Gegner zuständig war, tauschte sich Mourinhoregelmäßig mit den Spielern aus. Stars wie Luis Enrique,der junge Xavi oder Pep Guardiola suchten das Gesprächmit ihm, um mehr über die Schwachstellen des Gegners zuerfahren. Er traf in Barcelona auch auf Francisco Seirul-lo, einen Fitnesscoach, der neue Methoden lehrte. Seirulloschaffte in Barcelona das klassische Konditionstraining ab:Die Spieler mussten keine Runden um den Platz drehen,keine Waldläufe absolvieren. Jede einzelne Einheit sollte

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mit dem Ball absolviert werden. Mourinho lernte SeirullosKonditionstraining mit Ball kennen und schätzen. Barcelo-na wurde so etwas wie ein magischer Ort für Mourinho.

Im neuen Jahrtausend verließ Mourinho Barcelona. Erwollte nicht länger Assistenztrainer sein, sondern als Chef-trainer selbst Verantwortung tragen. Nach einem kurzenStelldichein bei Benfica Lissabon – Mourinho überwarf sichmit dem Präsidenten – führte er den Provinzklub União Lei-ria 2002 zu einem sensationellen fünften Platz, die bestePlatzierung in der Vereinsgeschichte. In der darauffolgen-den Saison wechselte Mourinho zum FC Porto. Nun ver-lief der Aufstieg Mourinhos kometenhaft: 2003 holte er mitPorto die nationale Meisterschaft sowie den UEFA Cup,den Vorläufer der heutigen Europa League. 2004 gewannder vom Status und von der Finanzkraft eher zweitrangigeVerein FC Porto völlig unerwartet die Champions League.Plötzlich war Mourinho, wenige Jahre zuvor noch Assistenz-trainer, ein Coach von Weltrang.

Mourinho selbst scherzte zu jener Zeit: «Nach 15 Jahrenals Trainer gelte ich jetzt als Erfolg über Nacht.» Tatsäch-lich hatte er sich über ein Jahrzehnt auf den Trainerberufvorbereitet. An der Universität von Lissabon und als Assis-tenztrainer in Barcelona entwickelte er seine Philosophie.Dass er in Porto derart große Erfolge feierte, hatte einensimplen Grund: Er war der Konkurrenz um mehrere Jahrevoraus, und das in allen relevanten Bereichen des Fußballs:im Training, in der Taktik und in der Mannschaftsführung.

Im Training orientiert sich Mourinho bis heute an der Me-thodik von Seirullo, die er in Barcelona kennengelernt hat.Jede Trainingseinheit findet mit Ball statt. Ein isoliertesKonditionstraining, beispielsweise durch Waldläufe, ver-höhnt Mourinho: «Ein begnadeter Pianist rennt nicht umsein Klavier oder macht Liegestütze auf seinen Fingern.Er spielt Klavier, sein ganzes Leben lang.» Wichtig ist für

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ihn ein ganzheitliches Training, das alle Aspekte des Fuß-balls vereint. Statt einzelner Übungen, bei denen nur einDetail trainiert wird, sollten die Trainingseinheiten immermehrere Elemente umfassen. Wenn Mourinho möchte, dasssein Team das Passen trainiert, stellt er keine Hütchen aufund lässt seine Spieler vorgegebene Passfolgen abspulen.Stattdessen wird das Passen in eine Spielform integriert –ein Drei-gegen-Drei, ein Sechs-gegen-Sechs, ein Fünf-ge-gen-Zehn. Jedes Training sollte sich so anfühlen wie eineSituation aus einem echten Spiel, inklusive Handlungs- undGegnerdruck. Dazu gehört auch, dass eine Trainingseinheitunter Mourinho 90 Minuten dauert, in Ausnahmefällen kür-zer, aber niemals länger. Schon Sepp Herberger wusste:Ein Spiel dauert 90 Minuten. Warum sollte ein Training län-ger dauern?

Anders als die meisten Trainer plant Mourinho sein Trai-ning nicht «aus dem Bauch heraus», sondern gibt ihm einenwissenschaftlichen Anstrich. Mourinho trainiert dabei nachdem Konzept der «taktischen Periodisierung», das sein Uni-versitätsprofessor Frade entwarf. Im Vordergrund steht dieVermittlung des Spielkonzepts, das Mourinho sehen möch-te. Dieses Spielkonzept ist die Maxime. Die Maxime wirdwiederum in einzelne Sub-Prinzipien unterteilt. Diese Or-ganisation geht hinunter bis zu den Sub-Sub-Prinzipien.Entscheidend ist, dass alle zurückführen zur Maxime, demKern der Mannschaft. Die einzelnen Sub-Prinzipien müssenimmer und immer wieder trainiert werden, damit die Spie-ler sie irgendwann unbewusst abrufen können. Somit ent-fernt sich Mourinho auch von der klassischen Trainingsme-thodik, nach der die Spieler auf einzelne Höhepunkte «inForm gebracht» werden sollen. Mourinhos Methodik zieltdarauf ab, sein Spielkonzept, die Maxime, so weit zu perfek-tionieren, dass die zahlreichen Sub-Prinzipien jederzeit ab-gerufen werden können, egal, ob in einem Spitzenspiel derChampions League oder einem Duell gegen einen Abstiegs-

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kandidaten. Er plant seine Trainingswochen lange im Vor-aus, um die einzelnen Sub-Prinzipien über lange Zeit per-fektionieren zu können. Jede Trainingswoche enthält dabeiPhasen der Regeneration vor und nach den Spielen. Daswar Anfang der nuller Jahre nicht selbstverständlich. Nochheute hält sich bei manchen Trainern (und vielen Fans) derIrrglaube, nach einem schwachen Spiel sollten die Spielermit einem extra harten Training bestraft werden. Mourinhowürde das nie tun, schadet es doch der Regeneration unddamit der geistigen und körperlichen Frische der Spieler.

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Taktische Periodisierung

Mourinhos Training beim FC Porto war immer ganz dar-auf ausgerichtet, seinem Team Vorteile im taktischen Be-reich zu verschaffen. Die Maxime seines Spielkonzepts, dasstrategische Ziel, war der Umschaltmoment nach Ballge-winnen. Heutzutage ist der Umschaltmoment in der Fuß-ballsprache etabliert, jener Moment, in dem ein Team denBall gewinnt und damit von Defensive auf Offensive um-schalten kann. Anfang des Jahrtausends war das Wort «Um-schaltmoment» ein Neologismus, eine Wortneuschöpfung,die kaum jemand benutzte. Mourinho, Organisationsfanati-ker, wie er war, ließ genau trainieren, wie die Mannschaftden Ball zu erobern und wie sie nach Ballgewinnen umzu-schalten hat. Mourinho erklärte den Umschaltmoment zurMaxime, dem sich alles im Spiel unterzuordnen hat. Wennseine Mannschaft den Ball gewann, sollte sie nicht nach hin-ten oder zur Seite passen, sondern direkt nach vorne. «Jelänger der Ball im Mittelfeld zirkuliert, umso wahrscheinli-cher ist es, dass der Gegner uns den Ball abnehmen wird»,so Mourinho. Schnelligkeit geht über Genauigkeit.

Das erste Sub-Prinzip, das für ein schnelles Umschalt-spiel nötig ist: die Balleroberung. Mourinho wollte nicht,dass sein Team am eigenen Strafraum verharrt und auf denGegner wartet. Nur wer den Ball am richtigen Ort erobere,könne schnell vor das gegnerische Tor gelangen. Die Ab-wehr sollte nach vorne rücken, das Mittelfeld ebenso. DieMannschaft sollte die

Umschaltspiel

Der Umschaltmoment bezeichnet den Moment, in demder Ballbesitz wechselt: Ein Team erobert den Ball, dasandere Team verliert den Ball. Die Mannschaften müs-sen nun von Offensive auf Defensive bzw. von Defensi-ve auf Offensive umschalten. Umschaltspiel meint al-

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so, wie eine Mannschaft nach einem Ballgewinn oderBallverlust reagiert. Oft wird dieser Begriff auch syn-onym mit dem Begriff «Konterspiel» verwendet. Hierbezeichnet das Umschaltspiel einzig das schnelle Spielnach vorne, sobald ein Team den Ball erobert hat.

Räume eng machen, sodass sie Druck auf den Gegner aus-üben kann. Alle Spieler mussten dafür defensiv mithelfen.«Es gibt Leute, die sagen, kreative Spieler seien von Ab-wehraufgaben zu entlasten», sagt Mourinho. «Wer dies be-hauptet, kennt den Fußball nicht. Alle elf Spieler müssenzu jeder Zeit genau wissen, was sie zu tun haben.»

Als Sub-Sub-Prinzip ließ Mourinho verschiedene For-men des Balleroberns trainieren: eine Variante, bei der derGegner bereits in dessen Hälfte gestört wird – ein Angriffs-pressing. Eine Variante, bei der Abwehr und Mittelfeld enganeinanderstehen und den Ball am Mittelkreis erobern – einMittelfeldpressing. Und eine Variante, bei der sein Teamtief verteidigt und den Gegner in die eigene Hälfte lockt, umdort zuzuschlagen – ein Abwehrpressing. Mourinho forcier-te dabei vor allem das Mittelfeldpressing: Wer den Ball imMittelfeldzentrum gewinnt, könne am besten kontern. Diegegnerische Mannschaft ist dann aufgerückt, der Weg zumTor nicht zu weit. Das möchte Mourinho ausnutzen. Mour-inhos Trainingsorganisation geht dabei ins kleinste Detail,bis hin zu der Frage, wie sich einzelne Spieler in einzelnenSituationen bewegen sollen.

Pressing

Im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet man denBegriff Pressing, wenn das verteidigende Team denGegner schon weit in dessen Hälfte attackiert. In derFußball-Fachsprache bezeichnet das Pressing aller-dings jeden Versuch, dem Gegner den Ball abzuneh-men – egal, wo auf dem Feld das geschieht. Im moder-

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nen Fußball wird das meist im Kollektiv versucht, umdem Gegner keine Lücken zu bieten und die Chance aufeinen Ballgewinn zu erhöhen. Das Gegenteil vom Pres-sing ist das Stellen des Gegners. Hierbei schließt mannur passiv die Passwege für den ballführenden Spieler,versucht aber nicht aktiv, den Ball zu erobern. Der Ver-teidiger bleibt hierzu vor dem Gegenspieler stehen undgeht nicht aktiv in den Zweikampf.

Mourinhos Geniestreich in Porto war es, die einzelnen Vari-anten so weit zu perfektionieren, dass sein Team sie jeder-zeit abrufen konnte. Der FC Porto konnte seiner Maxime,dem Umschaltspiel, stets treu bleiben, sich dabei aber in-dividuell an den Gegner und das Spiel anpassen. Dass seinTeam die Stärken und Schwächen des Gegners bedenkt, istMourinho äußerst wichtig. Die Gegnerbeobachtung hat fürden früheren Scout höchste Priorität. Als er bei Benfica alsCheftrainer anfing, war er mit der Qualität der Gegnerana-lysen derart unzufrieden, dass er einen neuen Scout ein-stellte – auf eigene Kosten. In Porto installierte er sein eige-nes Team, das ausschließlich Analysen des Gegners anfer-tigte. Wie der Gegner das Spiel aufbaut. Wo die Schwächenliegen. Welche Eckballvarianten der Gegner im Gepäck hat.«Wenn du einen Ferrari hast und ich ein kleines Auto, mussich dein Rad kaputt machen oder dir Zucker in den Tankstreuen», sagte Mourinho einst. Genau das hatte er mit dem«kleinen» FC Porto vor.

Die letzten zwei Trainingstage vor einem Spiel warenimmer der Einstellung auf den kommenden Gegner vorbe-halten. Mourinho ließ nicht nur eine Marschroute trainie-ren. Sein Torhüter Vítor Baía sagte später gegenüber demBlizzard: «Ich erinnere mich an ein Spiel gegen Benfica. Inder Woche vor dem Spiel hat er uns auf den Fall vorberei-tet, dass wir ein Tor schießen. Er erklärte uns, welche Aus-wechslung José Antonio [Benficas Coach] vornehmen und

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wie er seine Taktik umstellen wird. Genau so ist es einge-troffen. Wir waren komplett darauf vorbereitet.» Mourinhoüberlässt nichts dem Zufall. Er studierte mit seiner Mann-schaft sogar ein, wie sie sich bei einem Rückstand in denSchlussminuten zu verhalten hat. Anstatt den Ball einfachlang in den Strafraum zu schlagen, sollten sie Passmusterbefolgen, die abgestimmt waren auf den Gegner. Oft ließMourinho auch Zettel auf das Spielfeld reichen. Dort no-tierte er detaillierte taktische Änderungen, die seine Spie-ler dann umsetzten.

Manchmal stand auf den Zetteln nur ein einziges Wort:«Gewinnt!» Das führt zu Mourinhos drittem großen Ste-ckenpferd: der Psychologie. Mourinho hatte sich bereits alsStudent ausführlich mit der Psychologie des Menschen be-schäftigt. Schon als kleines Kind hatte er Fußballspielerkennengelernt. Er weiß, wie sie ticken, und es gelingt ihm,Theorie und Praxis zu verbinden. In seinen frühen Jahrenhat er Mimik und Gestik perfektioniert, um seine Aussagenjederzeit kontrollieren zu können. Auch in der Mannschafts-führung hat alles, was Mourinho tut oder sagt, Methode.

Bei jedem Verein, mit dem Mourinho gearbeitet hat, gibter seinen Spielern in der ersten Sitzung ein simples Ver-sprechen: Er werde sich voll reinhängen und sie zu besse-ren Spielern machen. Egal, was die Leute da draußen sagenwerden, er werde sie immer verteidigen. Wenn, ja, wenn siedas tun, was er von ihnen verlangt. Das ist sein Programm.Mourinho ist es wichtig, dass seine Mannschaft jederzeitkonzentriert bleibt, egal, wie der Gegner heißt. «Ich moti-viere andere mit meiner Motivation.» Er kann vor einemSpiel mit seinen Spielern Spaß haben und im nächsten Mo-ment komplett ausrasten, wenn er merkt, dass sie ihre Kon-zentration nicht hochhalten. Dann fliegen schon mal Kistenoder Eimer durch die Kabine. Mourinho möchte alle Spielerständig unter Strom halten.

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Dazu nutzt er auch die Medien. «Wenn ich den Pres-seraum vor einer Pressekonferenz betrete, hat in meinemKopf das nächste Spiel bereits begonnen.» Mourinho kri-tisiert seine Gegner, den Verband, seine Vorgesetzten, jamanchmal sogar seine Spieler – aber nie ohne Ziel. Mour-inho hat als einer der ersten Trainer erkannt, welchen Stel-lenwert das Internet für die moderne Medienlandschaft be-sitzt. Er weiß, dass jede kleine Äußerung eines Trainersonline ihren Widerhall findet. In diesen rastlosen Zeiten,in denen Online-Medien Klicks jagen, werden reißerischeÜberschriften gesucht. Und Mourinho liefert sie. Bei seinerAußendarstellung nimmt er keinerlei Rücksicht auf Verlus-te. Er beleidigt Offizielle, gegnerische Trainer, Schiedsrich-ter. Nach einer Niederlage in der Champions League kriti-sierte Mourinho Schiedsrichter Andreas Frisk derart heftig,dass die Fans Frisk mit Morddrohungen und Beleidigungenüberschütteten. Er hat seine Karriere beendet.

Mourinhos Ausraster sind fast immer kalkuliert. Einer-seits möchte Mourinho dadurch das Scheinwerferlicht nachschlechten Leistungen von seinem Team weglenken. An-dererseits möchte er ein «Wir-gegen-sie»-Gefühl schaffen.Sein Team soll glauben, dass sich alle auf der Welt gegen sieverschworen haben, um dann mit einer Extraportion Wut imBauch den Gegner zu jagen. Die Medienstrategie ist ein es-senzieller Bestandteil von Mourinhos Teamführung. «Trai-ner müssen die Stärken und Schwächen des Gegners er-kennen», so Mourinho. «Vor allem aber geht es darum, dieStärken meines Teams zu erkennen – und die Schwächen.Eines der Geheimnisse des Trainerseins lautet: ‹Kannst dudeine Schwächen vor dem Gegner, vor allem aber vor denJournalisten verstecken?›»

Mourinho kann mit seiner Philosophie durchaus als erster«Laptoptrainer» bezeichnet werden. Jede Trainingseinheitwurde vorher geplant, durchgeführt und im Anschluss aus-

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gewertet. In seiner «Bibel» dokumentiert er Fort- und Rück-schritte, Erfolge und Misserfolge, taktische Stärken undSchwächen. Mourinhos Arbeitsweise war wissenschaftli-cher als die seiner Kollegen, ohne dass er dabei zum Theo-retiker verkam. Als er Jahre später die Ehrendoktorwürdeseiner alten Universität verliehen bekam, sagte er zwar:«Die Universität hilft nicht wirklich, uns auf die spätere Ar-beit vorzubereiten.» Ein Trainer müsse seine eigenen, prak-tischen Erfahrungen machen. Er gab jedoch auch zu: «Ichbin stolz auf diese Anerkennung, da ich immer ein Vorbildsein wollte für die Vorbereitung und die sportwissenschaft-liche Ausbildung, die ich an dieser Universität genossen ha-be.»

In Porto gelang ihm das. Mourinhos Team vereinteKampfstärke, Schnelligkeit und taktische Disziplin. Vor al-lem war es ein Team, das einen klaren strategischen Fo-kus hatte: das Umschaltspiel. In den europäischen Wettbe-werben verschob die Mannschaft perfekt über den Platz,ließ keine Lücken zwischen den Spielern. Nach Ballgewin-nen schaltete sich Zehner Deco ein, der die Stürmer mitBällen fütterte. Mourinhos Mannschaft spielte makellosen,anspruchsvollen Fußball: verschieben, pressen, Ball gewin-nen, drei Pässe, Tor. Es war Außenseiterfußball, aber aufderart hohem Niveau, dass kein anderes Team mithaltenkonnte. Auf dem Weg zum Champions-League-Titel besieg-te Porto Manchester United, Olympique Lyon, Deportivo LaCoruña und im Finale den AS Monaco. In fast allen Spielenwaren sie Außenseiter. In fast allen Spielen konterten sieihren Gegner aus.

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FC Porto unter José Mourinho, Saison 2003/04

Mourinhos Karriere führte ihn nach nur zwei Jahren beimFC Porto zu den Spitzenklubs Europas: Chelsea, Inter Mai-land, Real Madrid, wieder Chelsea und zuletzt Manches-ter United. Mourinho hat bei vielen Topadressen gearbei-tet, und überall hat er Titel gewonnen. Mit den Jahren hatsich zwar die Formation verändert: Bei Chelsea setzte erauf ein 4 – 3 – 3, in Madrid wechselte er über zum 4 – 2 – 3 – 1, bei Manchester United kommt häufig ein 4 – 1 – 4 – 1 zumEinsatz. Bei allen Stationen blieb er jedoch seiner Grund-

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philosophie treu: dem Fokus auf das Umschaltspiel. In dengroßen Spielen ließ er selbst Real Madrid, die Königlichen,einen Außenseiterfußball spielen, wie man ihn sonst ehervon kleinen Klubs kennt.

Formation

Formation bezeichnet die Aufteilung eines Teams aufdem Feld. Oft wird die Formation über eine Zahlen-reihe dargestellt: 4 – 4 – 2, 4 – 3 – 3, 3 – 4 – 3. Die einzelnenZahlen stehen für die Anzahl der Spieler, die in ei-nem Mannschaftsteil spielen. Ein 4 – 4 – 2 besteht dem-entsprechend aus vier Verteidigern, vier Mittelfeld-spielern und zwei Angreifern. In der Praxis nutzenTeams häufig offensiv eine andere Formation als defen-siv. Die Grenzen zwischen verschiedenen Formationensind dabei fließend.

Mourinhos Fußball ist im Kern Konterfußball. Das ist sei-ne Stärke, aber auch sein Fluch. Seine Art der Menschen-führung und seine Spielphilosophie sind ganz auf Außensei-ter ausgerichtet. Mittlerweile trainiert Mourinho aber diegroßen Klubs der Welt. Enthüllungsjournalist Diego Torresschrieb ein Buch über Mourinhos Zeit bei Real Madrid. Sei-ne exzellenten, wenn auch einseitig Mourinho-kritischenQuellen innerhalb der Mannschaft zeichnen das Bild ei-nes Trainers, dem Außenseiterfußball wichtiger war als derkonstruktive Spielaufbau. Immer wieder musste das TeamVerschieben und Kontern trainieren. Fünf Verteidiger soll-ten stets in der eigenen Defensive verharren und nicht aneigenen Angriffen teilnehmen, damit die Mannschaft ja kei-nen gegnerischen Konter zulässt. Dabei sind die meistenGegner von Real Madrid gar nicht darauf bedacht, ein Torzu schießen. Fünfzehn von neunzehn spanischen Erstligis-ten wollen sich einfach nur ein 0 : 0 ermauern. Sie sind dieAußenseiter, Madrid der Favorit. Mourinhos Trainingspla-

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nung, aber auch seine Außendarstellung seien darauf aus-gerichtet gewesen, aus Madrid einen Außenseiter zu ma-chen gegenüber dem FC Barcelona, dem großen Erzrivalenvon Real Madrid, so Torres. Damit habe er den Respekt sei-ner Vorgesetzten und seiner Spieler verloren.

Torres trifft einen wunden Punkt: Mourinhos Methodenhaben sich im Laufe seiner Karriere etwas abgenutzt. Ergewinnt zwar noch immer Titel, aber weniger als zu sei-nen erfolgreichen Anfangszeiten. Zwischen 2003 und 2010gewann Mourinho siebzehn Titel, zwischen 2010 und 2017nur noch acht – und das, obwohl er bei Real Madrid undManchester United bessere Spieler trainiert hat als früherin Porto oder Mailand. Vielleicht ist aber genau das auch dieKrux, warum sein Fußball nicht mehr so gut funktioniert.

Ein weiterer Faktor: Mourinhos Vorsprung gegenüberder Konkurrenz in Fragen der Taktik und Trainingsgestal-tung ist geschmolzen. Sein methodischer Ansatz hat sichmittlerweile etabliert. Im taktischen Bereich passen sichimmer mehr Mannschaften an den Gegner an. Immer mehrTrainer haben eine klare Spielphilosophie, die sie ihrenSpielern mit modernsten Methodiken vermitteln. Mourin-hos Ansatz, das Training ausschließlich mit Ball durchzu-führen, gab es zunächst nur in Barcelona. Mittlerweile wur-de diese Methode von der Mehrzahl der Trainer übernom-men, die in diesem Buch vorkommen. Mourinho ist denmeisten Gegnern nicht mehr zwei Schritte voraus. Es istdas Schicksal eines Vorreiters: Irgendwann kopieren ande-re ihn und holen damit auf.

Der stärkste Kritikpunkt an Mourinhos Fußball ist einanderer: Selbst der größte Mourinho-Freund muss geste-hen, dass seine Taktik nicht immer Freude am Fußballspielversprüht. Mourinho geht es um das Gewinnen, das Wieist für ihn zweitrangig. Für Trainer, die ihr Team ganz aufdie Offensive ausrichten, hat er nur Hohn und Spott übrig.Als sein liebster Feind, Arsenal-Trainer Arsène Wenger, ein

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Spiel mit 5 : 4 gewann, lästerte Mourinho: «5 : 4 ist ein Eis-hockey-, kein Fußballergebnis. Wenn es bei einem Drei-ge-gen-Drei-Trainingsmatch 5 : 4 steht, schicke ich die Spielerzurück in die Kabine, da sie offensichtlich nicht gut ver-teidigen. Ein Ergebnis wie dieses im Elf-gegen-Elf ist eineSchande.» Mourinho hat wenig Respekt für Fans, für die esum mehr geht als das reine Ergebnis. Wer Kabinettstück-chen oder schöne Spielzüge mehr schätzt als Ergebnisfuß-ball, ist bei Mourinho an der falschen Adresse.

Mourinhos bislang letzter europäischer Titelgewinn,der Europa-League-Sieg 2017, belegt eindrucksvoll, wofürMourinho steht – und wofür eben nicht. Sein Klub Manches-ter United traf im Finale auf Ajax Amsterdam. United hat-te in dieser Saison alleine für Rekordtransfer Paul Pogbamehr Ablöse bezahlt als Ajax Amsterdam für die gesamteMannschaft. Und doch überließ Mourinhos Team dem Geg-ner die Initiative. Er kannte die Stärken und Schwächen desGegners. United versuchte, das Spiel zu Davinson Sánchezzu lenken, den aus Mourinhos Sicht schwächsten gegneri-schen Verteidiger. Im Mittelfeld praktizierten sie eine engeManndeckung. Ajax hatte zwar den Ball, kam aber kaumaus der eigenen Hälfte raus, da United klug die für Ajax’Spiel so wichtigen Übergangswege durch das zentrale Mit-telfeld abschnitt. Er habe acht Spiele von Ajax Amsterdamgeschaut, um diese Schwächen zu finden, sagte Mourinhostolz nach der Partie. Der gegnerische Trainer, Peter Bosz,lief in Mourinhos Falle.

Ein gelungener Konter und eine Standardsituation be-scherten United einen ungefährdeten 2 : 0-Sieg. Erfolg-reich? Ja. Aber die 90 Minuten langweilten den neutralenZuschauer halb zu Tode. United versuchte gar nicht erst,das Spiel kreativ zu gestalten. Wenn man nicht gewusst hät-te, welche Mannschaft für teures Geld zusammengekauftwurde und welche der Außenseiter war, man hätte es nichterkannt. Mourinho ist das egal. «Alle sagen, Ajax spiele

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schönen Fußball und die Schönheit des Spiels zähle und bla,bla, bla», sagte Mourinho nach der Partie. «Ich habe mei-nen Spielern gesagt: Für mich ist Schönheit, dem Gegnernicht zu geben, was er will.» Und er fügte hinzu: «Es gibtviele Dichter im Fußball, aber die gewinnen keine Titel.»Mourinho bleibt sich treu, auch in Manchester. Es zählt nurder Sieg.

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