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www.stuttgarter-zeitung.de 22. Januar 2019 DIENSTAG 25 KULTUR KULTUR KULTUR Kontakt Kulturredaktion Telefon: 07 11/72 05-12 41 E-Mail: [email protected] Mit Godot gegen die Dschihadisten A nders als in „Tausendundeiner Nacht“, wo Scheherazade und ihr König in luftigen Sommergewän- dern stecken, gibt es auch im Orient unge- mütliche Winter. Erbil, die Stadt im Nord- irak, zeigt seinen 1,5 Millionen Einwoh- nern sein kaltes, feuchtes Gesicht. In di- cken Jacken eilen die Menschen durch die Altstadt rund um die Zitadelle, die einen ganzen Hügel einnimmt und als ältester durchgängig bewohnter Ort der Welt gilt. Wie eine Glucke hockt die mit dicken Mauern umgebene Festung auf der Stadt, ein Wahrzeichen und Unesco- Welterbe, zu dem unentwegt einheimische Besucher hoch- steigen. Besucher, ausländi- sche gar, gibt es auch anders- wo in Erbil. Ebenfalls frierend warten sie in der Universität der Künste auf Einlass, um Samuel Becketts „Warten auf Godot“ des Konstanzer Stadttheaters zu sehen. Geht’s noch? Beckett im Bürgerkriegs- land Irak? Dazu in einer Stadt, der sich die Terrormiliz des Islamischen Staats 2014 bis auf zehn Kilometer genähert hatte? Godot gegen Gotteskrieger? Bei einem fünftägi- gen Festival, zu dem auch Ensembles aus Tunesien, Ägypten, Kuwait, Jordanien und dem Gastgeberland geladen sind? In der Tat: Mit einem solchen Fronttheater würde man im noch immer zerrütteten Irak nicht rechnen. Zwar ist die Lage nicht so ange- spannt wie im benachbarten Syrien, wo zu den Schrecken von Assad und IS noch Stra- tegiespiele der Amerikaner, Russen und Türken kommen, aber trotzdem: Dass es in Erbil ein Theaterfestival gibt, das fünfte seit 2011, ist alles andere als normal. Das sieht man auch beim Konstanzer Gastspiel, wo inmitten der Besucherschar bewaffnete Soldaten in Uniform auffallen: Kämpfer der Peschmerga, der kurdischen Armee, die mit Springerstiefeln und Maschinenge- wehr für die Sicherheit der Kunst sorgen. Gewöhnungsbedürftig, aber auch gut so, zumal das Festival anderswo im Irak kaum stattfinden könnte, auch nicht in der unru- higen Hauptstadt Bagdad. Das ruhige Erbil ist eine andere Kapita- le. Hier sitzt die Regierung der Autonomen Republik Kurdistan, die politisch zum Irak gehört, sich aber seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 eine weitreichende Unab- hängigkeit erkämpft hat und zwischenzeit- lich sogar zu dem wurde, was sich Europa wünscht: ein prosperierendes Land, in das Flüchtlinge freiwillig wieder zurückge- kehrt sind. Zwei Familienstämme haben das Land autokratisch unter sich aufgeteilt, die Barzanis und die Talabanis, wobei sie neben der Macht auch das Geld aus den rei- chen Erdölvorkommen in Händen halten. Und die Clans wissen: je stabiler die politi- sche Lage, desto besser die Geschäfte in der boomenden Großstadt mit ihrer Skyline aus Hochhäusern und Bau- kränen. Es herrscht Friede in Erbil, auch die Straßenkriminalität geht gegen null. „Andernfalls“, sagt Christoph Nix, der Konstanzer Intendant, „hätten wir die Festivaleinladung nicht angenommen.“ Jetzt aber steht im kalten Uni-Saal die Bühne für „Godot“. Eine Schräge, über der Bleistift und Sichelmond schweben, ein abstrakter Raum für die existenziellen Clownerien von Wladimir und Estragon, Pozzo und Lucky sowie die beiden ins Spiel eingreifenden Souffleusen, die der regie- führende Nix dem Klassiker hinzugefügt hat. Seine von abgründigem Witz durch- drungene Inszenierung strahlt eine Frische aus, die jedem deutschen Stadttheater zur Ehre gereicht. Und die Verblüffung ist groß: Auch in Erbil feiert man die Aufführung. Das kurdisch übertitelte Drama der un- erfüllten Sehnsucht nach Erlösung, sei es durch Gott, Religion, Wissenschaft, Liebe oder Freitod, trifft den Nerv der Zuschauer. Becketts bitterhumorige Verzweiflung ist auch die Verzweiflung der von einer jahr- hundertealten Verfolgung gezeichneten Kurden – und sie klatschen begeistert, als sich der Regisseur in seiner grellorangen Windjacke dem Theatergespräch stellt. Nix wird mit Lob überhäuft, bedankt sich und weist auf die „Solidarität mit den kurdischen Kulturschaffenden“ hin – das freundliche Ritual ersetzt die Theaterkri- tik, die es in der uns bekannten, diskursiven Form hier nicht gibt. Auch das Drumherum des Theaters ist anders, nicht nur wegen der Präsenz der Peschmergas. Der Eintritt ist frei, es gilt das Windhundprinzip. Wer als Erster da ist, gewinnt einen von zweihundert Hartscha- lensitzen. Wer nicht, verfolgt die Show von der offenen, vor Gedränge fast platzenden Saaltür aus. Reservierte Plätze gibt es nur für Kulturfunktionäre und Kamerateams, deren Job es zu sein scheint, unter weitge- hender Auslassung der Kunst sich wechsel- seitig ihrer Bedeutung zu versichern. Und überhaupt: Es sind Männer, die das Ge- schehen dominieren. Frauen kommen nur am Rande vor, sind im Theater aber immer- hin stärker vertreten als im Stadtbild, das zu neunzig Prozent von dunkel gewande- ten Bartträgern geprägt wird. In Kurdistan herrscht das Patriarchat. Dass auch der stellvertretende Kultur- minister der Republik ein Mann ist, ver- wundert nicht. Nach dem obligatorischen Sicherheitscheck wird man zu Farhang Ghafur vorgelassen, einem leise sprechen- den, höflichen Funktionär, der auch als Künstler bekannt ist. Er spielt in Konzert- sälen die Oud, die orientalische Kurzhals- laute, was ihm sicher näher liegt, als auf einer Theaterbühne zu stehen. „Theater“, sagt er mit gewinnender Offenheit, „hat in Kurdistan keine Tradition. In unserer Kul- tur sind Geschichten immer von Erzählern weitergetragen worden, mündlich in Tee- und Kaffeehäusern.“ Warum dann seit sie- ben Jahren ein Theaterfestival? „Kurdistan wäre gerne eine liberale Gesellschaft“, sagt Farhang Ghafur, „aber unsere geopoliti- sche Lage lässt das nicht zu. Trotzdem suchen wir die Nä- he zu Europa und den Kontakt zu internationalen Theatern.“ So einleuchtend diese Kultur- politik auch sein mag, so schwer ist sie vor Ort umzu- setzen. Das Budget wird sei- nem Ministerium, auch um der Korruption zu begegnen, mittlerweile nicht mehr jähr- lich, sondern nur noch monatlich zugewie- sen. Planungssicherheit: keine. Das mag ein Grund für das Drunter und Drüber beim Konstanzer Gastspiel sein. Schon einmal war Nix in Erbil, 2011 mit Brechts „Mutter Courage“, die ebenfalls ge- feiert wurde. „Aber heute ist alles chaoti- scher als vor den IS-Jahren“, sagt der ob der Wirren zunehmend ungeduldigere Wu- schelkopf, dessen Truppe sich ohne beglei- tenden Dolmetscher durchs Festival-Tohu- wabohu schlagen muss. Lange steht nicht fest, wo und wann Beckett stattfinden und ob die Bühne eingerichtet sein wird. Am Ende aber, nach nervenraubenden Telefo- naten, läuft „Godot“ zur Hochform auf – ein Trost für den Intendanten, den man als kulturpolitischen Wirbelwind überall mehr zu schätzen scheint als in der Stadt, in der er seinen Arbeitsplatz hat. Noch. Im Sommer 2020 muss Nix nach einer verweigerten Vertragsverlängerung Kons- tanz verlassen. In Erbil aber heimst seine Inszenierung den Regiepreis und der Schauspieler Peter Cieslinski für seinen Lucky den Darstellerpreis ein. In Konstanz wird das niemanden kümmern. Krisenregion Geht’s noch? Das Konstanzer Theater ist mit Beckett ins kurdische Erbil gereist, ins Bürgerkriegsland Irak. Von Roland Müller Erbil im Nordirak , vor dessen Toren die Gotteskrieger des Islamischen Staats standen, blickt in der Altstadt auf ein reiches Erbe zurück. Die Zitadelle (links) zählt zum Weltkulturerbe der Unesco, der darunter liegende Platz grenzt an den Basar (Bild rechts unten) – und das Konstanzer Theater bringt einen Beckett mit Sichelmond in den Orient. Fotos: Mauritius, Müller (2), Theater Auf der Beckett-Bühne in der Uni von Erbil: der Intendant Christoph Nix AUTONOME REPUBLIK KURDISTAN Bagdad Mossul Euphrat Tigris Al-Hasaka SYRIEN IRAN IRAK TÜRKEI Kirkuk Dohuk Suleimaniya 100 km StZ-Grafik: loc Die Region Kurdistan mit ihren vier Provinzen Erbil Halabdscha „Heute ist es hier chaotischer als vor den IS-Jahren.“ Christoph Nix, Intendant in Konstanz, über Erbil „Wir wären gerne so liberal wie Europa.“ Farhang Ghafur, Stellvertreter des Kulturministers in Erbil Alles fällt, nur die Liebe trägt C hronistin ihrer Zeit wollte sie sein. Doch wie schreiben, wenn die Zeit aus den Fugen geraten ist? Frei nach den Tagebüchern der Esther Hille- sum (1914–1943) erlebte das Publikum am Sonntagabend bei einer Uraufführung im Forum-Theater die Adaption ausgewählter Texte Hillesums in einem fordernden, an- spruchsvollen Musiktheaterstück von be- eindruckender künstlerischer Qualität. Lena Sutor-Wernich ist Esther, genannt Etty, eine sich zwischen Höchstanspruch und Selbstzweifeln bewegende junge Auto- rin, emanzipatorisch und verspielt. Ihr emotionaler Bezugspunkt ist S.: ein verhei- rateter Mann, den sie herbeisehnt und der als stummer Maskenträger ihre klaustro- phobische Einsamkeit für Momente durch- bricht. Werke der Weltliteratur türmen sich auf einem Podest in fragiler Anord- nung. Sie rutschen durcheinander, als die Nazis in Holland einmarschieren. Marco Bindelli kommentiert die Katas- trophe mit Kaskaden auf dem Konzertflü- gel. Seine Kompositionen für Piano, Gong und kleine Harfe haben ebenso starke Il- lustrationskraft wie Sutor-Wernichs Ge- sangspartien, die mit Sprechsequenzen ab- wechseln. Nichts verspricht an diesem Abend in der Regie von Ingeborg Waldherr wohlig oder stabil zu sein. Inspiriert von Daniel Libeskinds Ent- wurf „Between the Lines“ zum Jüdischen Museum Berlin, hat Silvio Motta die kleine Bühne mit simulierten fallenden Wänden ausgestattet. Gelbe Fußbodenstreifen füh- ren von der Bühne durch den ansteigenden Zuschauerraum bis zum Piano. Lena Sutor- Wernich, meist barfuß und in ein zartes, fe- minines Gewand gekleidet, singt mit sanf- tem Mezzosopran von der Macht der Liebe. Hinter der Bühne grollt der Krieg, stum- me Diener in stilisierten Uniformen brin- gen Botschaften. Humor blitzt auf, wenn Ettys Vater in einem Schreiben das aktuelle Radfahrverbot der Nazis für holländische Juden mit einem Rückgriff auf die jüdische Geschichte kommentiert: „In der Wüste mussten wir auch 40 Jahre ohne Fahrrad auskommen.“ Später flattert der Deportationsbefehl in Esthers Leben. Die junge Intellektuelle teilt das Schicksal ihres Volkes; 1943 wird sie in Auschwitz-Birkenau ermordet. Der Luxemburger Olivier Garofalo hat die um- fangreichen Tagebuchaufzeichnungen, die 1981 unter dem Titel „Das zerstörte Leben“ in niederländischer und 1983 in Deutsch- land als „Das denkende Herz der Baracke“ in deutscher Sprache veröffentlicht wur- den, sehr knapp gefasst. Erinnert wird an eine fast übermenschlich standhafte Frau. Termine „Das denkende Herz“ ist im Forum- Theater nochmals vom 25. bis 27. Januar zu sehen. Infos: www.forum-theater.de Uraufführung Mit „Das denkende Herz“ erinnert das Forum-Theater an die Autorin Esther Hillesum. Von Brigitte Jähnigen Goldene Himbeere Donald Trump ist nominiert Nicht nur die besten Filme werden mit Gol- den Globes und Oscars ausgezeichnet, auch die schlechtesten Filme bekommen einen Preis: die Goldene Himbeere. In diesem Jahr sind John Travoltas Rohrkrepierer „Gotti“ nominiert, die Muppet-Farce „The Happytime Murders“ und die Hauptdar- stellerin Melissa McCarthy, die Detektiv- Persiflage „Holmes & Watson“ und der Hauptdarsteller Will Ferrell, der übermo- dernisierte „Robin Hood“ und der Neben- darsteller Jamie Foxx, das Drama „Win- chester – Das Haus der Verdammten“ und die Hauptdarstellerin Helen Mirren. Auch Michael Moores brillante Doku- mentation „Fahrenheit 11/9“ ist dreimal im Rennen – allerdings nicht der Film selbst, sondern nur einige Darsteller: US-Präsi- dent Donald Trump ist als schlechtester Schauspieler nominiert, seine Ehefrau Melania als schlechteste Nebendarstellerin genau wie Trumps Beraterin Kellyanne Conway. Trump hat die Goldene Himbeere, die in den USA Razzie (Golden Raspberry) genannt wird, schon einmal gewonnen: Er bekam die Spott-Trophäe 1991 für seinen Auftritt in dem Film „Ghosts can’t do it“, einem skurrilen Mix aus Romanze, Krimi, Fantasy und Komödie, der total floppte. Trump spielte sich selbst, einen Immobi- lienunternehmer. Die Spott-Trophäen werden am 23. Feb- ruar verliehen, einen Tag vor den Oscars. ha Literaturfest Potsdam Menasse wird Writer in Residence Das Literaturfestival LIT:potsdam lädt Mitte Mai zum siebten Mal zu Kulturveran- staltungen, Lesungen und Diskussionen in die brandenburgische Landeshauptstadt ein. Unter dem Motto „Starke Worte, schö- ne Orte“ stünden vom 14. bis 19. Mai an ge- schichtsträchtigen Orten Potsdams, am Wasser, in Parks und auf den Bühnen der Stadt, Veranstaltungen unter anderen mit Karen Duve, Robert Habeck, Nino Hara- tischwili, Alexa Henning von Lange, Eva Menasse, Robert Menasse und Christoph Ransmayr auf dem Programm, teilten die Veranstalter am Montag in Potsdam mit. Als Writer in Residence wird den Anga- ben zufolge der österreichische Autor Ro- bert Menasse in Potsdam erwartet. Der Schriftsteller und kulturkritische Essayist habe sechs Jahre an der Universität São Paulo gelehrt und lebe seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 als freier Literat in Wien, hieß es. Menasses Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt, zentrale The- men darin seien der politische Zustand Europas, die Idee der Europäischen Union als Einigungsprojekt und die Überwindung nationalstaatlichen Denkens. Der Schrift- steller stand zuletzt in der Kritik, weil er angebliche Zitate des Europapolitikers Walter Hallstein frei erfunden hatte. epd Literatur Krimipreis für Simone Buchholz Der Deutsche Krimipreis geht in diesem Jahr an „Mexikoring“ von Simone Buch- holz in der nationalen und an den japani- schen Thriller „64“ in der internationalen Wertung. Das teilte das Bochumer Krimi- Archiv mit. Die undotierte Auszeichnung würdigt seit 1985 Autoren für Krimis, „in denen sie dem Genre literarisch gekonnt und inhaltlich originell neue Impulse ge- ben“. In Buchholz’ Roman werden Nacht für Nacht Autos in Hamburg wahllos ange- zündet – doch in einem sitzt noch jemand drin, der Sohn eines Gangsterclanchefs. Den zweiten Platz „national“ für 2019 be- legt Matthias Wittekindt mit „Die Tank- stelle von Courcelles“. Auf den dritten Platz wählte die Jury den Politroman „Finster- walde“ von Max Annas. In der internationalen Wertung über- zeugte „64“ von Hideo Yokoyama die Jury: Im Fokus stehen die Entführungen von zwei Mädchen, die beide getötet werden. Den zweiten Platz belegt Tom Franklin mit „Krumme Type, krumme Type“. Und das Rennen um Platz drei machte „Blut Salz Wasser“ von Denise Mina. dpa

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Kontakt

KulturredaktionTelefon: 07 11/72 05-12 41E-Mail: [email protected]

Mit Godot gegen die Dschihadisten

A nders als in „TausendundeinerNacht“, wo Scheherazade und ihrKönig in luftigen Sommergewän-

dern stecken, gibt es auch im Orient unge-mütliche Winter. Erbil, die Stadt im Nord-irak, zeigt seinen 1,5 Millionen Einwoh-nern sein kaltes, feuchtes Gesicht. In di-cken Jacken eilen die Menschen durch dieAltstadt rund um die Zitadelle, die einenganzen Hügel einnimmt und als ältester durchgängig bewohnter Ort der Welt gilt.Wie eine Glucke hockt die mitdicken Mauern umgebeneFestung auf der Stadt, einWahrzeichen und Unesco-Welterbe, zu dem unentwegteinheimische Besucher hoch-steigen. Besucher, ausländi-sche gar, gibt es auch anders-wo in Erbil. Ebenfalls frierend warten sie inder Universität der Künste auf Einlass, umSamuel Becketts „Warten auf Godot“ desKonstanzer Stadttheaters zu sehen.

Geht’s noch? Beckett im Bürgerkriegs-land Irak? Dazu in einer Stadt, der sich dieTerrormiliz des Islamischen Staats 2014 bisauf zehn Kilometer genähert hatte? Godot gegen Gotteskrieger? Bei einem fünftägi-gen Festival, zu dem auch Ensembles ausTunesien, Ägypten, Kuwait, Jordanien unddem Gastgeberland geladen sind? In derTat: Mit einem solchen Fronttheater würdeman im noch immer zerrütteten Irak nichtrechnen. Zwar ist die Lage nicht so ange-spannt wie im benachbarten Syrien, wo zu den Schrecken von Assad und IS noch Stra-tegiespiele der Amerikaner, Russen undTürken kommen, aber trotzdem: Dass es inErbil ein Theaterfestival gibt, das fünfteseit 2011, ist alles andere als normal. Dassieht man auch beim Konstanzer Gastspiel,wo inmitten der Besucherschar bewaffneteSoldaten in Uniform auffallen: Kämpfer der Peschmerga, der kurdischen Armee, diemit Springerstiefeln und Maschinenge-wehr für die Sicherheit der Kunst sorgen.Gewöhnungsbedürftig, aber auch gut so,zumal das Festival anderswo im Irak kaumstattfinden könnte, auch nicht in der unru-higen Hauptstadt Bagdad.

Das ruhige Erbil ist eine andere Kapita-le. Hier sitzt die Regierung der Autonomen

Republik Kurdistan, die politisch zum Irak gehört, sich aber seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 eine weitreichende Unab-hängigkeit erkämpft hat und zwischenzeit-lich sogar zu dem wurde, was sich Europawünscht: ein prosperierendes Land, in dasFlüchtlinge freiwillig wieder zurückge-kehrt sind. Zwei Familienstämme habendas Land autokratisch unter sich aufgeteilt,die Barzanis und die Talabanis, wobei sieneben der Macht auch das Geld aus den rei-

chen Erdölvorkommen inHänden halten. Und die Clanswissen: je stabiler die politi-sche Lage, desto besser dieGeschäfte in der boomendenGroßstadt mit ihrer Skylineaus Hochhäusern und Bau-kränen. Es herrscht Friede in

Erbil, auch die Straßenkriminalität gehtgegen null. „Andernfalls“, sagt ChristophNix, der Konstanzer Intendant, „hätten wirdie Festivaleinladung nicht angenommen.“

Jetzt aber steht im kalten Uni-Saal dieBühne für „Godot“. Eine Schräge, über derBleistift und Sichelmond schweben, einabstrakter Raum für die existenziellen Clownerien von Wladimir und Estragon,Pozzo und Lucky sowie die beiden ins Spieleingreifenden Souffleusen, die der regie-führende Nix dem Klassiker hinzugefügthat. Seine von abgründigem Witz durch-drungene Inszenierung strahlt eine Frische

aus, die jedem deutschen Stadttheater zurEhre gereicht. Und die Verblüffung ist groß:Auch in Erbil feiert man die Aufführung.Das kurdisch übertitelte Drama der un-erfüllten Sehnsucht nach Erlösung, sei esdurch Gott, Religion, Wissenschaft, Liebeoder Freitod, trifft den Nerv der Zuschauer.Becketts bitterhumorige Verzweiflung istauch die Verzweiflung der von einer jahr-hundertealten Verfolgung gezeichnetenKurden – und sie klatschen begeistert, alssich der Regisseur in seiner grellorangenWindjacke dem Theatergespräch stellt.

Nix wird mit Lob überhäuft, bedanktsich und weist auf die „Solidarität mit den kurdischen Kulturschaffenden“ hin – dasfreundliche Ritual ersetzt die Theaterkri-tik, die es in der uns bekannten, diskursivenForm hier nicht gibt. Auch das Drumherumdes Theaters ist anders, nicht nur wegender Präsenz der Peschmergas.Der Eintritt ist frei, es gilt dasWindhundprinzip. Wer alsErster da ist, gewinnt einenvon zweihundert Hartscha-lensitzen. Wer nicht, verfolgtdie Show von der offenen, vorGedränge fast platzendenSaaltür aus. Reservierte Plätze gibt es nurfür Kulturfunktionäre und Kamerateams,deren Job es zu sein scheint, unter weitge-hender Auslassung der Kunst sich wechsel-seitig ihrer Bedeutung zu versichern. Und überhaupt: Es sind Männer, die das Ge-schehen dominieren. Frauen kommen nur am Rande vor, sind im Theater aber immer-hin stärker vertreten als im Stadtbild, das zu neunzig Prozent von dunkel gewande-

ten Bartträgern geprägt wird. In Kurdistan herrscht das Patriarchat.

Dass auch der stellvertretende Kultur-minister der Republik ein Mann ist, ver-wundert nicht. Nach dem obligatorischenSicherheitscheck wird man zu FarhangGhafur vorgelassen, einem leise sprechen-den, höflichen Funktionär, der auch alsKünstler bekannt ist. Er spielt in Konzert-sälen die Oud, die orientalische Kurzhals-laute, was ihm sicher näher liegt, als aufeiner Theaterbühne zu stehen. „Theater“,sagt er mit gewinnender Offenheit, „hat in Kurdistan keine Tradition. In unserer Kul-tur sind Geschichten immer von Erzählernweitergetragen worden, mündlich in Tee- und Kaffeehäusern.“ Warum dann seit sie-ben Jahren ein Theaterfestival? „Kurdistanwäre gerne eine liberale Gesellschaft“, sagtFarhang Ghafur, „aber unsere geopoliti-

sche Lage lässt das nicht zu.Trotzdem suchen wir die Nä-he zu Europa und den Kontaktzu internationalen Theatern.“So einleuchtend diese Kultur-politik auch sein mag, soschwer ist sie vor Ort umzu-setzen. Das Budget wird sei-

nem Ministerium, auch um der Korruptionzu begegnen, mittlerweile nicht mehr jähr-lich, sondern nur noch monatlich zugewie-sen. Planungssicherheit: keine.

Das mag ein Grund für das Drunter undDrüber beim Konstanzer Gastspiel sein. Schon einmal war Nix in Erbil, 2011 mitBrechts „Mutter Courage“, die ebenfalls ge-feiert wurde. „Aber heute ist alles chaoti-scher als vor den IS-Jahren“, sagt der ob derWirren zunehmend ungeduldigere Wu-schelkopf, dessen Truppe sich ohne beglei-tenden Dolmetscher durchs Festival-Tohu-wabohu schlagen muss. Lange steht nichtfest, wo und wann Beckett stattfinden undob die Bühne eingerichtet sein wird. AmEnde aber, nach nervenraubenden Telefo-naten, läuft „Godot“ zur Hochform auf –ein Trost für den Intendanten, den man alskulturpolitischen Wirbelwind überall mehr zu schätzen scheint als in der Stadt, inder er seinen Arbeitsplatz hat. Noch.

Im Sommer 2020 muss Nix nach einerverweigerten Vertragsverlängerung Kons-tanz verlassen. In Erbil aber heimst seineInszenierung den Regiepreis und der Schauspieler Peter Cieslinski für seinen Lucky den Darstellerpreis ein. In Konstanzwird das niemanden kümmern.

Krisenregion Geht’s noch? Das Konstanzer Theater ist mit Beckett ins kurdische Erbil gereist, ins Bürgerkriegsland Irak. Von Roland Müller

Erbil im Nordirak , vor dessen Toren die Gotteskrieger des Islamischen Staats standen, blickt in der Altstadt auf ein reiches Erbe zurück. Die Zitadelle ( links) zählt zum Weltkulturerbe derUnesco, der darunter liegende Platz grenzt an den Basar (Bild rechts unten) – und das Konstanzer Theater bringt einen Beckett mit Sichelmond in den Orient. Fotos: Mauritius, Müller (2), Theater

Auf der Beckett-Bühne in der Uni von Erbil:der Intendant Christoph Nix

AUTONOME REPUBLIK KURDISTAN

Bagdad

Mossul

Euphrat

Tigris

Al-Hasaka

SYRIEN

IRAN

I R A K

TÜRKEI

Kirkuk

Dohuk

Suleimaniya

100 kmStZ-Grafik: loc

Die RegionKurdistanmit ihren vierProvinzen

Erbil

Halabdscha

„Heute ist es hier chaotischer als vor den IS-Jahren.“Christoph Nix, Intendant in Konstanz, über Erbil

„Wir wären gerne so liberal wie Europa.“Farhang Ghafur, Stellvertreterdes Kulturministers in Erbil

Alles fällt, nur die Liebe trägt

C hronistin ihrer Zeit wollte sie sein.Doch wie schreiben, wenn die Zeitaus den Fugen geraten ist? Frei

nach den Tagebüchern der Esther Hille-sum (1914–1943) erlebte das Publikum amSonntagabend bei einer Uraufführung imForum-Theater die Adaption ausgewählterTexte Hillesums in einem fordernden, an-spruchsvollen Musiktheaterstück von be-eindruckender künstlerischer Qualität.

Lena Sutor-Wernich ist Esther, genanntEtty, eine sich zwischen Höchstanspruchund Selbstzweifeln bewegende junge Auto-rin, emanzipatorisch und verspielt. Ihr

emotionaler Bezugspunkt ist S.: ein verhei-rateter Mann, den sie herbeisehnt und der als stummer Maskenträger ihre klaustro-phobische Einsamkeit für Momente durch-bricht. Werke der Weltliteratur türmensich auf einem Podest in fragiler Anord-nung. Sie rutschen durcheinander, als dieNazis in Holland einmarschieren.

Marco Bindelli kommentiert die Katas-trophe mit Kaskaden auf dem Konzertflü-gel. Seine Kompositionen für Piano, Gongund kleine Harfe haben ebenso starke Il-lustrationskraft wie Sutor-Wernichs Ge-sangspartien, die mit Sprechsequenzen ab-

wechseln. Nichts verspricht an diesemAbend in der Regie von Ingeborg Waldherrwohlig oder stabil zu sein.

Inspiriert von Daniel Libeskinds Ent-wurf „Between the Lines“ zum JüdischenMuseum Berlin, hat Silvio Motta die kleineBühne mit simulierten fallenden Wändenausgestattet. Gelbe Fußbodenstreifen füh-ren von der Bühne durch den ansteigendenZuschauerraum bis zum Piano. Lena Sutor-Wernich, meist barfuß und in ein zartes, fe-minines Gewand gekleidet, singt mit sanf-tem Mezzosopran von der Macht der Liebe.

Hinter der Bühne grollt der Krieg, stum-me Diener in stilisierten Uniformen brin-gen Botschaften. Humor blitzt auf, wennEttys Vater in einem Schreiben das aktuelleRadfahrverbot der Nazis für holländische Juden mit einem Rückgriff auf die jüdische

Geschichte kommentiert: „In der Wüstemussten wir auch 40 Jahre ohne Fahrradauskommen.“

Später flattert der Deportationsbefehlin Esthers Leben. Die junge Intellektuelle teilt das Schicksal ihres Volkes; 1943 wird sie in Auschwitz-Birkenau ermordet. DerLuxemburger Olivier Garofalo hat die um-fangreichen Tagebuchaufzeichnungen, die1981 unter dem Titel „Das zerstörte Leben“in niederländischer und 1983 in Deutsch-land als „Das denkende Herz der Baracke“in deutscher Sprache veröffentlicht wur-den, sehr knapp gefasst. Erinnert wird aneine fast übermenschlich standhafte Frau.

Termine „Das denkende Herz“ ist im Forum-Theater nochmals vom 25. bis 27. Januar zu sehen. Infos: www.forum-theater.de

Uraufführung Mit „Das denkende Herz“ erinnert das Forum-Theater an die Autorin Esther Hillesum. Von Brigitte Jähnigen

Goldene Himbeere

Donald Trump ist nominiertNicht nur die besten Filme werden mit Gol-den Globes und Oscars ausgezeichnet, auchdie schlechtesten Filme bekommen einenPreis: die Goldene Himbeere. In diesemJahr sind John Travoltas Rohrkrepierer „Gotti“ nominiert, die Muppet-Farce „TheHappytime Murders“ und die Hauptdar-stellerin Melissa McCarthy, die Detektiv-Persiflage „Holmes & Watson“ und derHauptdarsteller Will Ferrell, der übermo-dernisierte „Robin Hood“ und der Neben-darsteller Jamie Foxx, das Drama „Win-chester – Das Haus der Verdammten“ unddie Hauptdarstellerin Helen Mirren.

Auch Michael Moores brillante Doku-mentation „Fahrenheit 11/9“ ist dreimal imRennen – allerdings nicht der Film selbst,sondern nur einige Darsteller: US-Präsi-dent Donald Trump ist als schlechtesterSchauspieler nominiert, seine EhefrauMelania als schlechteste Nebendarstelleringenau wie Trumps Beraterin Kellyanne Conway. Trump hat die Goldene Himbeere,die in den USA Razzie (Golden Raspberry) genannt wird, schon einmal gewonnen: Erbekam die Spott-Trophäe 1991 für seinen Auftritt in dem Film „Ghosts can’t do it“, einem skurrilen Mix aus Romanze, Krimi, Fantasy und Komödie, der total floppte.Trump spielte sich selbst, einen Immobi-lienunternehmer.

Die Spott-Trophäen werden am 23. Feb-ruar verliehen, einen Tag vor den Oscars. ha

Literaturfest Potsdam

Menasse wird Writer in Residence Das Literaturfestival LIT:potsdam lädtMitte Mai zum siebten Mal zu Kulturveran-staltungen, Lesungen und Diskussionen indie brandenburgische Landeshauptstadtein. Unter dem Motto „Starke Worte, schö-ne Orte“ stünden vom 14. bis 19. Mai an ge-schichtsträchtigen Orten Potsdams, amWasser, in Parks und auf den Bühnen derStadt, Veranstaltungen unter anderen mitKaren Duve, Robert Habeck, Nino Hara-tischwili, Alexa Henning von Lange, EvaMenasse, Robert Menasse und Christoph Ransmayr auf dem Programm, teilten dieVeranstalter am Montag in Potsdam mit.

Als Writer in Residence wird den Anga-ben zufolge der österreichische Autor Ro-bert Menasse in Potsdam erwartet. DerSchriftsteller und kulturkritische Essayisthabe sechs Jahre an der Universität SãoPaulo gelehrt und lebe seit seiner Rückkehraus Brasilien 1988 als freier Literat in Wien,hieß es. Menasses Werke wurden in mehrals 20 Sprachen übersetzt, zentrale The-men darin seien der politische ZustandEuropas, die Idee der Europäischen Unionals Einigungsprojekt und die Überwindungnationalstaatlichen Denkens. Der Schrift-steller stand zuletzt in der Kritik, weil erangebliche Zitate des EuropapolitikersWalter Hallstein frei erfunden hatte. epd

Literatur

Krimipreis für Simone BuchholzDer Deutsche Krimipreis geht in diesemJahr an „Mexikoring“ von Simone Buch-holz in der nationalen und an den japani-schen Thriller „64“ in der internationalenWertung. Das teilte das Bochumer Krimi-Archiv mit. Die undotierte Auszeichnung würdigt seit 1985 Autoren für Krimis, „indenen sie dem Genre literarisch gekonnt und inhaltlich originell neue Impulse ge-ben“. In Buchholz’ Roman werden Nachtfür Nacht Autos in Hamburg wahllos ange-zündet – doch in einem sitzt noch jemanddrin, der Sohn eines Gangsterclanchefs.Den zweiten Platz „national“ für 2019 be-legt Matthias Wittekindt mit „Die Tank-stelle von Courcelles“. Auf den dritten Platzwählte die Jury den Politroman „Finster-walde“ von Max Annas.

In der internationalen Wertung über-zeugte „64“ von Hideo Yokoyama die Jury:Im Fokus stehen die Entführungen vonzwei Mädchen, die beide getötet werden.Den zweiten Platz belegt Tom Franklin mit„Krumme Type, krumme Type“. Und dasRennen um Platz drei machte „Blut Salz Wasser“ von Denise Mina. dpa