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Dienstag, 26. Januar 2021, 12:00 Uhr ~37 Minuten Lesezeit Der Weg in den Krieg Mit Stalingrad wendete sich das „Kriegsglück“ Deutschlands, das große Teile Europas ins Unglück stürzte. Teil 3/4. von Richard J. Evans Foto: DMG Vision/Shutterstock.com Polen wurde in 37 Tagen erobert; die Beneluxländer haben nach 18 Tagen und Frankreich nach 42 Tagen kapituliert. Wie kam es zu diesen unglaublichen Anfangserfolgen? Der britische Historiker Richard J. Evans hat in einer Vortragsreihe die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des Zweiten Weltkriegs aus deutscher Sicht beschrieben und diskutiert. Sein Ziel ist es nicht, nur zu erklären, wie es zu diesem Krieg kam, warum Deutschland den größten Teil Europas mit so scheinbarer Leichtigkeit eroberte, wann sich das Kriegsgeschehen gegen Deutschland wendete und was letztendlich die Gründe für Hitlers Niederlage waren.

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Dienstag, 26. Januar 2021, 12:00 Uhr~37 Minuten Lesezeit

Der Weg in den KriegMit Stalingrad wendete sich das „Kriegsglück“ Deutschlands, das große Teile Europasins Unglück stürzte. Teil 3/4.

von Richard J. Evans Foto: DMG Vision/Shutterstock.com

Polen wurde in 37 Tagen erobert; die Beneluxländerhaben nach 18 Tagen und Frankreich nach 42 Tagenkapituliert. Wie kam es zu diesen unglaublichenAnfangserfolgen? Der britische Historiker Richard J.Evans hat in einer Vortragsreihe die Ursachen, denVerlauf und die Folgen des Zweiten Weltkriegs ausdeutscher Sicht beschrieben und diskutiert. Sein Zielist es nicht, nur zu erklären, wie es zu diesem Kriegkam, warum Deutschland den größten Teil Europasmit so scheinbarer Leichtigkeit eroberte, wann sich dasKriegsgeschehen gegen Deutschland wendete und wasletztendlich die Gründe für Hitlers Niederlage waren.

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Evans versucht auch die ungewöhnliche, ja in vielerleiHinsicht einzigartige Natur des Krieges zu erforschen,den Deutschland insbesondere in Osteuropa führte. Erwill zeigen, wie der Krieg von gewöhnlichen Deutschen— sowohl von Angehörigen der Wehrmacht als auchvon Zivilisten an der Heimatfront — erlebt wurde. Dieshilft, zu beurteilen, wie sich der Grad derUnterstützung für die Kriegsführung in der deutschenBevölkerung insgesamt veränderte. Im Folgenden derdritte Vortrag der Reihe.

In dem Moment, als die Operation Barbarossa gestartet wordenwar, entfesselten Hitler und Goebbels eine wütende undununterbrochene Propagandaoffensive, in der ChurchillsVerstocktheit und Stalins Starrsinn mit der steigenden Menge anunverzichtbarem transatlantischen Lieferverkehr unter Roosevelts

Für Hitler war 1939 bis 1945 in vielerlei Hinsicht eineWiederholung von 1914 bis 1918, außer dass er natürlichentschlossen war, es mit einem Sieg statt mit einer Niederlageenden zu lassen. Die Nazis strebten danach, sowohl den Geist dernationalen Einheit wieder aufleben zu lassen, der ihrer Meinungnach durch die Kriegserklärung im August 1914 heraufbeschworenworden war, als auch danach, zuhause dem Dolchstoß jüdischerRevolutionäre zu entgehen, den sie als Hauptgrund für die deutscheNiederlage vier Jahre später ausgemacht hatten. In Hitlersparanoider und extremistischer Ideologie waren nicht nur Stalin,sondern auch Churchill und Roosevelt Werkzeuge einerinternationalen jüdischen Verschwörung, in der sich ingemeinsamer Entschlossenheit Plutokraten und Kommunistenvereint hatten, um das Dritte Reich zu zerstören.

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Regie in Zusammenhang gebracht wurden. In zahlreichenRundfunksendungen, Reden, Plakaten und Zeitungsartikeln, die inder zweiten Hälfte des Jahres 1941 vom Propagandaministeriumveranlasst wurden, war der Refrain immer derselbe: „Die Judenversuchen, Deutschland zu zerstören, deshalb müssen sie selbstzerstört werden.“

Hitler und Goebbels beriefen sich häufig auf Hitlers„Prophezeiung“ am 30. Januar 1939 im Reichstag, woer gesagt hatte, dass nicht Deutschland, sondern dieJuden vernichtet würden, sollten diese einen Weltkriegbeginnen.

All dies erzeugte eine rassenmörderische Mentalität, die starkprägend wirkte auf gewöhnliche deutsche Soldaten und vor allemauf die Spezialeinheiten der SS, die im Gefolge dereinmarschierenden Armeen in die Sowjetunion geschickt wurden.Bald organisierten die SS-Einheiten Massenerschießungen jüdischerMänner, Frauen und Kinder, aufgereizt/angestachelt von SS-Anführer Heinrich Himmler, der oft ihre Einsatzgebiete besuchteund sie anspornte, niemanden zu verschonen.

Im Oktober 1941, als es unübersehbar wurde, welche Belastung dieseErschießungen für die SS-Männer bedeutete, organisierte Himmlerden Bau von Speziallagern bei Belzec und Chelmo, deren einzigerZweck es war, große Anzahlen von Juden durch Vergasen ermordenzu lassen. Ab dem Frühjahr 1942 wurden die Juden, die in den vonden Nazis in größeren polnischen Städten eingerichteten Gettoseingesperrt waren, dorthin und in weitere Vernichtungslager beiSobibor und Treblinka gebracht, um dort umgehend umgebracht zuwerden. Ein neues Lager wurde bei Auschwitz eingerichtet, wohinJuden aus von Nazis besetzten Ländern in ganz Europa gebrachtwurden, um dort ermordet zu werden.

Insgesamt wurden im Verlauf des Krieges beinahe sechs Millionen

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Juden ermordet. Aus der Perspektive von Hitler und den Nazisbeseitigte dies eine mächtige innere Bedrohung für die Sicherheitdes Deutschen Reiches in Europa. Es war ein Kriegsakt, eineNotwendigkeit. Es war kein Nebenprodukt des Krieges, stand nichtisoliert neben der Kriegsführung, es war integraler Bestandteil desKrieges.

Hitler begann diese unerhörte Völkermordkampagne nicht auseinem Gefühl der Euphorie nach den Siegen im Juni, Juli und Augustdes Jahres 1941; tatsächlich hatte sie bereits an genau dem Tagbegonnen, als deutsche Streitkräfte in der Sowjetunioneinmarschierten. Während des Herbstes 1941 jedoch begann derOptimismus der Sommermonate allmählich nachzulassen.

Der Generalstab der deutschen Armee begann zu erkennen, dass dieRote Armee Millionen von Männern in Reserve hatte und dieseeinsetzte, um die Millionen durch die Invasionstruppen Getötetenoder Gefangenen zu ersetzen. Hitler begann zu erkennen, dass dasSowjetsystem nicht bei den ersten Anzeichen einer militärischenNiederlage zusammenbrechen würde. Die deutschen Verlustenahmen allmählich zu — Ende Juli waren es bereits 213.000Vermisste, Getötete oder Verwundete. Es wurde der deutschenFührung bewusst, dass die Heeresgruppen Nord, Mitte und Südnicht in gleicher Stärke vorrücken konnten — eine Entscheidungmusste getroffen werden.

Die Generäle, die der traditionellen Clausewitz‘schen Doktrinfolgten, nach der das Ziel eines Krieges die Zerstörung derHauptstreitkräfte des Feindes sei, wollten weiter vordringen und diegroße Sowjetarmee, die Moskau verteidigen sollte, stellen. Hitlerjedoch beschloss, Truppen in den südlichen Sektor der Ostfront zuüberführen, um den Rest der Ukraine einzunehmen und weitervorzudringen Richtung Kaukasus. Weitere massive Siege folgten,und Ende September wurde die Armeegruppe Mitte noch einmalverstärkt und setzte ihren Marsch auf Moskau fort.

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Aber nun begann der Vormarsch in Schwierigkeiten zu geraten.Zuallererst verwandelten die gnadenlosen Oktoberregen dieunbefestigten russischen Straßen in unpassierbaren Schlamm.Eisenbahnstrecken gab es nur ganz vereinzelt, und die Breitspurverursachte Probleme beim Transport von Munition und Nachschubbeim Übergang aus dem deutschen Normalspursystem. Die Russenhatten Rollmaterial zerstört und Gleise, Brücken und Viaduktesabotiert.

Die Deutschen hatten den größten Teil ihrer Truppen in dieSchlacht geworfen und hatten nur wenige Reserven. Im Gegensatzdazu beschloss Stalin, 400.000 erfahrene Soldaten, 1.000Kampfpanzer und 1.000 Kampfflugzeuge aus Ostsibirien zu verlegen,nachdem er von seinem Spion in Tokyo, Richard Sorge, kurz vordessen Verhaftung Mitte Oktober erfahren hatte, dass die Japanerandere Ziele als die Sowjetunion im Auge hatten; tatsächlichstarteten sie einige Wochen später ihren Angriff auf Pearl Harbor.

Als im November die kalte Jahreszeit begann und die Deutschenihren Vorstoß fortsetzen konnten, begannen Temperaturen von biszu -40 °C sich verheerend auf die Truppen auszuwirken, die nichtmit Winterkleidung ausgerüstet waren, weil man angenommenhatte, sie würden in Moskau überwintern statt in der offenenSteppe. Es vervielfachten sich Fälle von Erfrierungen, und einpersönlicher Appell am 20. Dezember 1941 an die deutscheÖffentlichkeit, warme Kleidung für die Truppen zur Verfügung zustellen, kam zu spät. Schneestürme verhinderten das Durchkommenvon Nachschub. Die Soldaten waren bereits müde von ihren beinaheununterbrochenen Kämpfen seit dem vorangegangenen Juni. Siewaren leichte Beute für die frischen russischen Streitkräfte, dieStalin und sein führender General Schukow auf sie warfen.

Die deutschen Generäle waren nur geübt in der klassischenpreußischen Tradition des Angriffs. Jetzt waren sie zum Rückzuggezwungen, da Schukow sie einzukesseln drohte. Nur eine

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Eisenbahnlinie war offen von der Front bei Moskau in Richtungdeutscher Nachhut, und fast alle Straßen waren durch Schneeblockiert. Wie Gotthard Heinrici in seinem Tagebuch schrieb:

„Behindert durch den Schnee und besonders durch die

Schneeverwehungen, oftmals Meter um Meter uns

hindurchschaufelnd, mit Fahrzeugen und Ausrüstung, die ganz und

gar nicht angemessen waren an den russischen Winter, hinter uns der

vorrückende Feind, besorgt, die Truppen rechtzeitig in Sicherheit zu

bringen, die Verwundeten mitzuführen, nicht zu viele Waffen oder zu

viel Ausrüstung in die Hände des Feindes fallen zu lassen, all dies sind

schmerzliche Bemühungen um die Truppen und ihre Führer. (...)

Ausgestattet mit fabelhafter Winterausrüstung stoßen die Russen

überall vor durch die großen Lücken, die sich in unserer Front

aufgetan haben. (...) Der Rückzug bei Schnee und Eis ist absolut

napoleonisch in seiner Art. Die Verluste sind ähnlich.“

Die Belastung für die deutschen Generäle, meist Männer zwischensechzig und siebzig, war so groß, dass sie krank wurden. Fedor vonBock, Kommandant der Heeresgruppe Mitte, meldete sich am 16.Dezember krank, Walther von Brauchitsch, Oberbefehlshaber derArmee, hatte Mitte November einen Herzinfarkt, Gerd vonRundstedt, Kommandant der Heeresgruppe Süd, der von Hitlerentlassen worden war, weil er General von Kleist den Rückzug ausRostow gestattet hatte in einem Manöver, das Hitler kurz darauf alsrichtig bezeichnete, hatte Anfang Dezember einen Herzanfall, undsein Nachfolger, Walter von Reichenau, starb am 17. Januar 1942 aneinem Herzanfall. Hitler übernahm das Armeekommando selbst undbefahl, der Belagerung standzuhalten.

Im Gegensatz zu dem, was viele von ihnen später behaupteten,begrüßten die Generäle und Truppen den Ersatz vonUnübersichtlichkeit durch Klarheit. Männer wie Bock hattengewusst, dass ihre Streitkräfte zu schwach und zu schlechtausgerüstet waren, um Moskau im Winter zu überrennen, aber sie

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hatten keine Verteidigungsstellungen vorbereitet für eineÜberwinterung in der Steppe. Die spätere Legende, dass sie denKrieg gewonnen hätten, wenn Hitler nicht eingegriffen hätte, warnicht mehr als das — eine Legende.

Aber sobald er entschieden hatte, der Belagerung standzuhalten,ließ Hitler keinen Widerspruch mehr zu, und er entließ eine Reihevon Generälen, darunter Ritter von Leeb, Heinz Guderian und ErichHoepner, die trotzdem auf einem Rückzug bestanden. Ab MitteJanuar war die Front dennoch stabilisiert. Die deutschen Verlustewaren riesig.

Während 1939 nur 19.000, und 1940 83.000 deutsche Soldatengefallen waren, fielen 1941 nicht weniger als 357.000, davon über300.000 an der Ostfront. Bis zum Ende des Krieges kämpften undstarben mehr Menschen auf beiden Seiten der Ostfront als an allden anderen Kriegsschauplätzen zusammengenommen,einschließlich dem Fernen Osten. Der Anteil der deutschenStreitkräfte, die vom 22. Juni 1941 bis zum Ende des Krieges an derOstfront beteiligt waren, war nie weniger als zwei Drittel. Mehr alsjeder andere Teil des Krieges erwies sie sich hiermit als dieentscheidende Kriegsarena.

Trotz des Rückschlags bei Moskau begann die deutsche Armee 1942an der Ostfront einen Einsatz mit einer neuen Serie von Erfolgen.Man konnte nicht viel unternehmen, bevor die Frühjahrsregen imMai 1942 endeten. Unbedachte und schlecht vorbereitetesowjetische Gegenangriffe wurden unter schweren Verlustenzurückgeschlagen. Hitler wusste, dass er die Ölfelder des Kaukasuseinnehmen musste. Feldmarschall von Bock, der inzwischen vonseiner Krankheit genesen war, wurde das Kommando über dieHeeresgruppe Süd übertragen, aber nach der Einnahme der StadtWoronesch entschied sich der Feldmarschall, ernüchtert durchseine Erfahrungen im vorangegangenen Winter, zu pausieren,umzugruppieren und sich neu auszurüsten.

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Hitler hielt ihn für übervorsichtig, entließ auch ihn, und teilte dieHeeresgruppe in zwei Einheiten auf. Eine bekam den Befehl, durchden Kaukasus nach Tschetschenien und den Ölfeldern von Bakuvorzurücken, während die andere die Stadt Stalingrad einnehmenund weiter vorrücken sollte über die untere Wolga zum KaspischenMeer.

Die deutschen Armeen besetzten die Krim, machtenHunderttausende von Gefangenen und drangen weiter nach Südenvor. Aber die Rote Armee verfolgte eine neue Taktik, indem sie sichlieber zurückzog, als sich umzingeln zu lassen, und die neueAusrüstung aus den Fabriken, die man hinter den Ural in Sicherheitgebracht hatte, konnte nun zur Anwendung kommen. Dierussischen Generäle lernten zum ersten Mal, Panzer, Infanterie undLuftunterstützung zu koordinieren, und begannen ernsthafteAngriffe zu starten. Der Chef des Armeegeneralstabs, Franz Halder,wurde von Hitler entlassen, als er versuchte, darauf hinzuweisen,dass steigende deutsche Verluste erfolgreiche neue Offensivenzunehmend unwahrscheinlicher machen würden.

Hitler war nicht immer gegen taktischeAbsetzbewegungen und Rückzüge, wenn er dieNotwendigkeit dafür erkennen konnte, abergrundsätzlich glaubte er, wie der Titel des Films, denLeni Riefenstahl 1934 über ihn gemacht hatte, an den„Triumph des Willens“.

Wie General Erich Hoepner bemerkte, kurz bevor Hitler ihn feuerte:„Fanatischer Wille allein wird nicht genügen. Der Wille ist da. DieKraft fehlt.“

Der nächste General, der gehen musste, war Feldmarschall WilhelmList, der die im Kaukasus einmarschierenden Armeenkommandierte. List hatte gegenüber Hitler erklärt, dass er nicht dieEinsatzmittel habe, um die Aufgabe vor dem Winteranfang zu

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vollenden. Hitler bestimmte, dass Feldmarschall Ewald von Kleistübernehmen solle, aber auch dieser sah als einzige Möglichkeit denRückzug. So bekam Kleist also Hitlers widerwillige Erlaubnis, sich bisganz nach Rostow zurückzuziehen.

Der Versuch, die Ölreserven des Kaukasus einzunehmen, wargescheitert. Ein Grund war einfach der, dass die in drei Teileaufgespaltenen deutschen Streitkräfte versuchten, zu vielgleichzeitig zu tun. Truppen und Ausrüstung waren im Norden inder Belagerung von Leningrad gebunden, dem heutigen St.Petersburg, wo Hitler beschlossen hatte, die Stadt auszuhungern —eine Million Einwohner starben, bevor die Belagerung schließlichaufgegeben wurde. Aber der Hauptgrund war, dass der Vorstoß aufStalingrad zunehmend auf ernsthafte Schwierigkeiten stieß. Andersals der Kaukasus hatte Stalingrad gewaltige symbolische Bedeutungfür Hitler: Die Stadt trug Stalins Namen, und während es gutestrategische Gründe für einen Angriff gab, wurde die EinnahmeStalingrads bald reiner Selbstzweck.

Der Oberbefehlshaber der 6. Armee, General Friedrich von Paulus,hatte seine gesamte berufliche Laufbahn in Stabsstellen verbrachtund fast keine Kampferfahrung. Er hatte vollkommene Ehrfurcht vorHitlers Genialität als Militärbefehlshaber, wie er es empfand. AnfangOktober 1942 jedoch riet er Hitler, gemeinsam mit anderenranghohen Generälen, dass ein Rückzug am besten wäre. SeineMänner hatten zwei Drittel der Stadt überrannt, aber derWiderstand, auf den sie stießen, forderte viele Tote. Aber Hitlerbestand darauf, dass die Stadt eingenommen werden müsse.Deutsche Bomber hatten die meisten Gebäude in der Stadt zerstört,aber dadurch hatten sie ideale Bedingungen für einen direktenHäuserkampf geschaffen. Die Rote Armee setzte über eine MillionMänner und jede Menge Panzer ein für einen Gegenangriff.

In diesem Stadium des Krieges produzierte Russland pro Monatmehr als 2.000 Panzer, wohingegen Deutschland nur 500 fertigte. In

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dem Versuch, diese völlig festgefahrene Situation aufzulösen,verlegten die Deutschen ihre besten Truppen in die Stadt undüberließen westliche Verteidigungsstellungen den Soldaten derVerbündeten des Dritten Reiches, Italien und Rumänien. Paulusverlegte auch seine Panzer in die Stadt, wo sie allerdings ziemlichunnütz waren, statt sie in der offenen Steppe in Reserve zu halten.Am 19. November 1942 griff die Rote Armee die rumänischen Linienfast 160 Kilometer westlich der Stadt an und brach durch.

Als die T-34-Panzer in der Lücke durchbrachen und damit diedeutschen in benachbarten Positionen zum Rückzug zwangen,erkannte Paulus die Lage erst, als es zu spät war. Ein russischerVorstoß von Süden her riss ein weiteres Loch in die rückwärtigenVerteidigungslinien der deutschen Armee, und die beiden Gruppender Roten Armee stießen am 23. November aufeinander undumzingelten Paulus und seine Männer vollkommen. Ein Versuch vonFeldmarschall von Manstein, von Süden her durchzubrechen, wurdezurückgeschlagen, als der Befehlshaber der Rote-Armee-Einheitenin der Region, Marschall Georgi Schukow, die italienischenStreitkräfte an der Nordwestgrenze angriff, durchbrach und dieGefahr entstand, dass Manstein rückwärtig abgeschnitten würde.Manstein sah sich gezwungen, seinen Versuch zur Entlastung derBelagerungskräfte aufzugeben und sich zurückzuziehen, um seineeigene Einkesselung zu vermeiden.

Hitler verweigerte Paulus mehrfach die Genehmigung zum Rückzugaus der Stadt, aber dies wäre in jedem Fall schwierig, wenn nichtunmöglich gewesen. Das Problem war nicht, wie im Jahr zuvor inMoskau, die Kälte: Die deutschen Truppen vor Stalingrad warenwarm gekleidet und gut für einen Winterkampf vorbereitet. DasProblem war, sie mit Nachschub an Waffen, Munition,Lebensmitteln und Treibstoff zu versorgen. Paulus musste Hitlererklären, dass er sowieso nicht ausbrechen könne, da seine Armeenur ausreichend Treibstoff für circa 19 Kilometer habe, währendMansteins Panzer sich höchstens auf 56 Kilometer der Stadtgrenze

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nähern konnten, bevor sie zum Rückzug gezwungen wären.Flugzeuge hatten Schwierigkeiten, in dem Schnee zu landen, unddie Flugplätze waren unter ständigem Beschuss. Langsam gingen dieVorräte aus/zur Neige.

Das Fazit kann man in den Briefen lesen, die die deutschen Soldatennach Hause schickten. „Alle Pferde sind innerhalb weniger Tageaufgegessen worden“, berichtete General Heinrici, kurz bevor erselbst ausgeflogen wurde. Ein Soldat berichtete, seine gesamteKompanie habe pro sechs Mann jeweils nur einen Laib Brot für dreiTage erhalten. „Obwohl ich völlig erschöpft bin“, schrieb ein andererSoldat am 10. Januar 1943, „kann ich nachts nicht schlafen, sondernträume mit offenen Augen immer wieder von Kuchen, Kuchen,Kuchen. Manchmal bete ich, und manchmal verfluche ich meinSchicksal. Es hat alles sowieso keine Bedeutung und keinen Sinn.“„Wie sehr wir uns wünschen, wieder wirklich sauber schießen zukönnen“, schrieb ein anderer — aber sie hatten schlicht keineMunition.

Bombardiert von der Artillerie und aus der Luft und angesichts desVorrückens russischer Panzer und Infanterie durch ihregeschwächte Abwehr im Süden und Westen, wurden dieheruntergekommenen deutschen Soldaten der 6. Armeezurückgedrängt in die Ruinen der Stadt — krank, hungernd, mitErfrierungen, erschöpft und halb verrückt von den Läusen, die aufihnen herumkrochen und ideale Brutplätze in ihrer warmenWinterkleidung fanden. 100.000 deutsche Soldaten waren bereitsumgekommen, als das erste Kapitulationsangebot kam. Aber Hitlerverbot Paulus, es anzunehmen. Stattdessen beförderte er ihn zumFeldmarschall mit einem klaren Hinweis, dass er von ihm erwarte,sich eher selbst zu erschießen, als zu kapitulieren.

Paulus wendete sich schließlich am 31. Januar gegen seinen Führerund kapitulierte mitsamt allen Truppen, die noch unter seinemKommando standen; die restliche Armee legte zwei Tage später die

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Waffen nieder. Zu diesem Zeitpunkt waren 200.000 deutscheSoldaten umgekommen. 235.000 wurden gefangen genommen. DieRussen waren nicht darauf vorbereitet, mit solchen Mengenumzugehen, insbesondere da die Deutschen in einem solcherbärmlichen Zustand waren, geschwächt durch Hunger undKrankheit. Am Ende schafften es nach dem Krieg weniger als 6.000der deutschen Gefangenen wieder nach Hause.

Dies war eine Niederlage von enormer Größe undBedeutung. Hitler, Goebbels und Göring versuchten siezu verbrämen durch eine Rhetorik derSelbstaufopferung und des Heldentodes fürDeutschland, aber die meisten normalen Deutschenwaren nicht begeistert.

Sie hatten bereits die Wahrheit vernommen aus den MillionenBriefen, die die Familien, Freunde und Verwandten erreicht hatten,bevor der letzte Flugplatz in Stalingrad nicht mehr erreichbar war.

Berichte des Sicherheitsdienstes der SS stellten fest, dass dieMenschen überall der Meinung waren, dass Stalingrad früher hätteentsetzt werden sollen oder dass man der deutschen Armee denRückzug hätte erlauben sollen. Viele betrachteten es als einenWendepunkt im Krieg. Vielleicht am bedeutendsten von allem warjedoch, dass man jetzt Kritik an Hitler hören konnte, selbst inverhaltener Form.

Es begannen sich Gerüchte über ihn zu verbreiten — beispielsweise,sein Haar sei weiß geworden — und auch Witze. Einer ging so: „Wasist der Unterschied zwischen der Sonne und Hitler?“ „Die Sonnegeht im Osten auf, Hitler geht im Osten unter.“ Die Menschenhörten auf, bei Begegnungen „Heil, Hitler!“ zu sagen, und sagtenstattdessen wieder „Guten Morgen!“. Und es gab Berichte darüber,dass die Menschen zunehmend ausländische Radiosender hörten,obwohl dies eine strafbare Handlung war und die Todesstrafe

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drohte. Die BBC schätzte, dass ihre deutschsprachigen Sendungenzu dieser Zeit mehr als 15 Millionen Zuhörer hatten.

Hitler war an die Macht gekommen nicht zuletzt wegen seinercharismatischen Redekunst, und während der ersten Jahre seinerHerrschaft war er unermüdlich dabei, die verschiedenen Teile desLandes zu besuchen, bei Massenkundgebungen zu sprechen undRundfunkansprachen zu halten. Aber nun, besessen davon, dieKriegsgeschicke zu lenken, hörte er auf, zum deutschen Volk zusprechen, und gab damit genau das auf, was in vielerlei Hinsichtseine größte Stärke war.

Nach Stalingrad hielt er bis zum 21. Mai, fast zwei Monate nach derKapitulation, keine Rundfunkansprache, und die Hörer warenbestürzt über die triste, schnelle Monotonie, in welcher er seineRede vorlas; einige von ihnen konnten nicht einmal glauben, dass eres überhaupt selbst war, der die Rede vortrug. 1940 hielt Hitler neunöffentliche Ansprachen, 1942 fünf und 1943 nur zwei. Am 30. Januar1944 machte er eine Rundfunkansprache und am 21. Juli 1944 einekurze Bekanntgabe, und das war‘s. Die deutsche Öffentlichkeit hörtenie wieder direkt etwas von ihm. Goebbels beschwor ihn, Städte zubesuchen, die durch alliierte Bombardierungen zerstört wordenwaren, aber er weigerte sich.

Albert Speer, sein Minister für Bewaffnung und Munition berichtetespäter, wie er mit Hitler am 7. November 1942 in dessen Privatzugreiste und dieser zufällig neben einem stehenden Güterzug anhielt,in dem verwundete deutsche Soldaten aus Stalingrad inViehwaggons zurückgebracht wurden. Als Hitler und seine Begleiterihr opulentes Abendessen begannen, mit Silberbesteck undkristallenen Trinkgläsern, die auf den eleganten, mitBlumenarrangements und gestärkten Tischtüchern und Serviettengeschmückten Tischen des Speisewagens ausgelegt waren,„bemerkte Hitler die düstere Szene zwei Meter vor seinem Fenster.Ohne die geringste Geste eines Grußes in ihre Richtung“, so Speer,

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„befahl er seinem Diener in harschem Ton, die Vorhängezuzuziehen“.

Ein Teil des Problems bestand zu dieser Zeit darin, dass Hitler selbstunter einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands litt mitprogressiver Arteriosklerose und einem Herzleiden, wiederholtenMagenkrämpfen, die möglicherweise von der immer größerenMenge an Pillen verursacht wurden, die ihm sein Arzt, Theo Morellverschrieb, und einem Zittern seiner linken Hand sowie Zuckungenin seinem linken Bein, die zum Ende des Jahres 1942 für alle sichtbarwurden und die den Beginn einer Parkinson-Erkrankungsignalisierten. Aber obwohl er zunehmend zurückhaltend wurde,sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, bestand er weiterhin darauf, dieZügel der Macht in seiner Hand zu halten. Er verlor mehr oderweniger jegliches Interesse an der Innenpolitik und konzentriertesich stattdessen auf die Führung des Krieges.

Als Folge nahmen interne Machtkämpfe zwischen unterschiedlichenTeilen des Regimes an Schärfe zu. Während die Zivilverwaltungeinfach weiterhin ihre Routine absolvierte, indem sie nach eigenemErmessen neue Regeln und Vorschriften verkündete, vergrößertendie Partei und insbesondere der ehrgeizige Leiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, gemeinsam mit Heinrich Himmlers SSstetig ihren Einfluss. Bormann profitierte besonders von derTatsache, dass sein früherer Chef, Rudolf Hess, nominell zumindestHitlers Stellvertreter, am 10. Mai 1941 für eine fragwürdige,selbsternannte Friedensmission nach England geflogen war und dieWirkkraft seines Amtes, das sofort formal abgeschafft wurde, anBormann übergeben hatte.

Es war ein anderer radikaler Nazi, Propagandaminister JosephGoebbels, der die Initiative übernahm. Mit Hitlers Zustimmung hatteGoebbels 14.000 der fanatischsten Aktivisten der Nazi-Partei zueiner Massenkundgebung am 18. Februar 1943 in den BerlinerSportpalast zitiert, um seine hetzerische Rede zugunsten des

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„totalen Krieges“ zu hören. „Seid ihr und ist das deutsche Volk“, riefer, „entschlossen, wenn der Führer es befiehlt, zehn, zwölf undwenn nötig vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten unddas Letzte herzugeben für den Sieg?“ (Laute „Ja“-Rufe undlanganhaltender Applaus) (...) „Ich frage euch: Wollt ihr den totalenKrieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihnuns heute überhaupt noch vorstellen können?“ (Laute „Ja“-Rufe undApplaus).

Diese inszenierte Veranstaltung wurde im öffentlichen Rundfunkübertragen und in Gänze in den Tageszeitungen abgedruckt.Gemeinsam mit dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition,Albert Speer, führte Goebbels eine Reihe von Maßnahmen ein, mitdenen Luxusgüter noch stärker beschränkt und Restaurants undCafés geschlossen wurden, und startete eine neue Kampagne, dieFrauen für die Kriegsanstrengungen zuhause mobilisieren sollte.

Aber die einfachen Bürger waren zu Recht der Meinung, dass siebereits seit Langem einen totalen Krieg führten. Die reale Pro-Kopf-Produktion bei allen Verbrauchsgütern war zwischen 1938 und 1941bereits um fast ein Viertel gesunken, und ab 1942 wurde durchRegierungsvorschriften der zivile Konsum noch weiter gedrosselt,indem die Wehrmacht mit dem Großteil der Konsumgüter versorgtwurde, wodurch der Pro-Kopf-Konsum an Fleisch in derWehrmacht viermal so hoch war wie in der Zivilgesellschaft; dieHälfte aller Textilgüter gingen in die Wehrmacht und 90 Prozent derin Deutschland gefertigten Möbel an das Militär.

Die Steuern waren für normale Arbeiter um durchschnittlich 20Prozent und für die Wohlhabenden um über 50 Prozent gestiegen.Die Rationierungen bei Lebensmitteln und Kleidung waren bereitsseit dem Frühjahr 1942 streng gewesen. Die Menschen hungertennicht, aber sie konnten selten einmal Nahrungsmittel und Kleidungbis zur maximal möglichen Ration kaufen, weil diese gar nichtverfügbar waren — und 1943 war die maximale Zuteilung pro Monat

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neun Kilogramm Brot, knapp unter zwei Kilogramm Fleisch undknapp unter einem Kilogramm Fett einschließlich Butter undMargarine. Wenige Menschen konnten von diesen geringen Mengenleben.

Der Konsum an Kleidung war im Oktober 1941 auf ein Viertel desNiveaus in Friedenszeiten gesunken, und die Mühen, Baumwolle,Leder und Wolle zu bekommen, bedeuteten, dass vieleKleidungsstücke aus minderwertigen Ersatzstoffen hergestelltwurden. „Ein Mann ist lebensmüde und versucht vergeblich, sich zuerhängen“, so lautete ein Scherz auf den Straßen Berlins im April1942, „ — unmöglich: Das Seil ist aus synthetischen Fasern undreisst. Dann versucht er, in den Fluss zu springen — aber er treibt ander Oberfläche, weil sein Anzug aus Holz gemacht ist. Schließlichgelingt es ihm, sich umzubringen: Er hat es drei Monate langdurchgehalten, von nicht mehr zu leben als von dem, was auf seinerLebensmittelkarte stand.“

So wie es unmöglich war, den Lebensstandard und den Konsumweiter zu drosseln, so konnte auch Goebbels nicht mehr Frauen fürdie Kriegsproduktion mobilisieren. Zunächst hatte Deutschland vordem Krieg einen sehr viel höheren Anteil erwachsener Frauen ander Erwerbsbevölkerung als Großbritannien oder die USA,insbesondere weil sie in kleinen landwirtschaftlichen Betriebenarbeiteten. Dann aber verhinderten die großzügigen staatlichenUnterstützungen, die an Ehefrauen oder Witwen von Männern imaktiven Dienst gezahlt wurden und die vom Regime konzipiertworden waren, um die Art von Armut und Unzufriedenheit im Landzu vermeiden, die Hitler für ausschlaggebend für die Schwächungder deutschen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg hielt, dass vieleFrauen arbeiten gingen.

Die Nazipropaganda betonte sowieso, dass die Frau Kinder gebärensolle für das Reich und dass sie das Mannsvolk zu unterstützenhabe. Es gab keine deutsche Entsprechung zu dem amerikanischen

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Propaganda-Symbol „Rosie the Riveter“ (Rosie die Nieterin), dieMännerarbeit verrichtete in einer Umgebung, die zuvor alsindustrielle Welt des Mannes betrachtet worden war. Arbeitgeberfanden es auf jeden Fall einfacher, billige, aber gut ausgebildeteausländische Arbeitskräfte einzustellen, bei denen sie viele derSicherheitsvorschriften nicht einhalten sowie die Sozialleistungenund Vergünstigungen nicht leisten mussten, die das Gesetz fürweibliche Arbeitskräfte aus Deutschland vorschrieb.

„Totaler Krieg“ war daher wenig mehr als ein Slogan. Eines jedochhatte Goebbels' Rede erreicht: eine sich verbreiternde undvertiefende Besorgnis bei den einfachen Deutschen, dass diemilitärische Situation nach Stalingrad nun für Deutschland sehrernst geworden war. Im Laufe des Jahres 1943 verschlechterte siesich noch weiter. Die Deutschen verlegten frische Truppen ausWesteuropa nach Osten und begannen, nachdem dieFrühjahrsregen vorbei waren, einen größeren Angriff auf eineAusbuchtung der Front um die Stadt Kursk herum in der Hoffnung,die russischen Truppen abzuschneiden durch gleichzeitige Angriffevom Norden und vom Süden her. Aber die Russen warteten schonauf sie. Sie waren im Voraus über die deutschen Pläne informiertund hatten große Mengen Männer und Material herbeigeschafft.

Über drei Monate lang hatten ungefähr 300.000 zivile Verpflichtetetief gestaffelte Verteidigungsanlagen gebaut mit tiefen Gräben,Panzerfallen, Bunkern und Artillerie in acht Linien, eine hinter deranderen. Die Folge war die größte Landschlacht in der Geschichtemit insgesamt auf beiden Seiten mehr als vier Millionenteilnehmenden Soldaten, 69.000 Geschützen, 12.000 Panzern undSelbstfahrlafetten sowie 12.000 Kampfflugzeugen.

Die Schlacht von Kursk nahm einen schlechten Anfang für die RoteArmee. Die Deutschen schossen 425 sowjetische Flugzeuge ab undverloren selbst nur 36 ihre Flugzeuge. Die neuen deutschen PanzerTiger und Panther waren so leistungsfähig, dass sowjetische

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Panzerkommandanten sich gezwungen sahen, ihre eigenenunterlegenen Panzer im Boden einzugraben, wobei nur der getarnteGeschützturm sichtbar herausragte, um aus nächster Nähe auf diedeutschen Panzer schießen zu können. Als Feldmarschall Mansteinim Süden die sowjetischen Verteidigungsstellen durchbrach,schickten die Generäle der Roten Armee 600 Panzer ins Geschehen,um zu versuchen, seine Streitkräfte aufzuhalten. Angesichts von nur117 deutschen Panzern schien dies gelingen zu müssen.

Aber die Sowjetpanzer übersahen einen viereinhalb Meter tiefenAnti-Panzer-Graben, der als Teil der Verteidigungslinien kurz zuvorvon sowjetischen Pionieren angelegt worden war, und als sie denHügel außerhalb der Stadt Prochorowka hinunterstürmten, fielensie dort hinein, und jene, die ihnen folgten, krachten ineinander undgingen in Flammen auf, als sie versuchten, durch Umkehren demUnheil zu entgehen. Die deutschen Panzersoldaten, die geradegeschlafen hatten, als der Angriff begann, eröffneten das Feuer undvergrößerten das Chaos. Am Ende des Tages waren 235 russischenPanzer zerstört; die Deutschen hatten nur drei verloren.

Aus Furcht vor den voraussichtlichen Folgen für sich selbst, sollteStalin herausbekommen, was geschehen war, fabrizierten dersowjetische Panzerkommandant Pawel Rotmistrow und derführende Parteifunktionär in dem Gebiet, ein gewisser NikitaChruschtschow, einen Bericht, in dem behauptet wurde, dass ineiner großen und heldenhaften Schlacht, die in einem sowjetischenSieg geendet habe, 400 deutsche Panzer zerstört worden seien, undsetzten dadurch die langlebige Legende in die Welt, dass Kursk diegrößte Panzerschlacht in der Geschichte gesehen habe, wohingegenes in Wahrheit einer der größten militärischen Patzer in derGeschichte war.

Diese Rückschläge änderten jedoch nichts an der Tatsache, dass dieRote Armee bei Kursk eine gewaltige Überlegenheit an Soldaten,Waffen und Ausrüstung hatte. Am 12. Juni 1943 wurden mehr als eine

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Million frische russische Soldaten mit 3.200 Panzern undSelbstfahrlafetten sowie 4.000 Flugzeuge in die Schlacht geworfen.Während von den Sowjets unterstützte Partisanen die deutscheNachhut nervten und den Nachschub von Verstärkung, Treibstoffund Munition unterbanden, starteten die Sowjets eine riesigeGegenoffensive und trieben die deutsche Armee zurück. Hitler sahsich gezwungen, die Operation zu beenden.

Die Russen verzeichneten 1.677.000 Tote, Verwundete oderVermisste, sie verloren 6.000 Panzer und mehr als 4.200 Flugzeuge.Stalin war erstaunlich verschwenderisch mit dem Leben seinerMänner. Die deutschen Verluste waren weitaus geringer: 170.000Tote, Verwundete oder Vermisste, 760 zerstörte Panzer, 524abgeschossene Flugzeuge. Aber die Deutschen waren weit wenigerin der Lage, ihre Verluste zu ertragen. Kursk war der letzteernsthafte Gegenangriff im Osten. Er zerstörte die deutsche Armeenicht, aber sie war danach sehr geschwächt. Er eröffnete einenlangen Rückzug, der die gesamte restliche Zeit des Kriegesandauern sollte.

Was war mit den fehlenden deutschen Panzern bei Kursk geschehen— den Panzern, die laut Rotmistrow und Chruschtschow zerstörtworden waren? Hitler hatte befohlen, sie abzuziehen und nachItalien zu verlegen, um die Halbinsel zu verteidigen angesichts einersich abzeichnenden alliierten Invasion. Rommels Vorstoß inNordafrika war im Oktober 1942 bei der Schlacht von El Alameinzum Stillstand gekommen, wo seine Streitkräfte von einer alliiertenArmee überwältigt worden waren, die über mehr als doppelt so vieleMänner und Panzer verfügte wie er. Als er den Rückzug begann,nutzten die Alliierten ihre Seehoheit im Mittelmeer, um 63.000Männer in Marokko und Algerien an Land zu bringen.

Im März 1943 kehrte Rommel im Krankenstand nach Deutschlandzurück; im Mai 1943 ergaben sich eine Viertelmillion Soldaten derAchsenmächte, die Hälfte davon Deutsche, den Alliierten in

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Nordafrika. Im darauffolgenden Jahr resümierte Rommel seineNiederlage. Er war immer noch des Glaubens, er hätte denSuezkanal einnehmen und weiter vordringen können, um dieÖlfelder des Mittleren Ostens zu erobern. Aber „der Krieg inNordafrika“, so schloss er, „wurde durch das Gewicht des anglo-amerikanischen Materials entschieden. Tatsächlich“, fügte er hinzu,„bestand seit Eintritt Amerikas in den Krieg sehr geringe Aussichtauf einen Endsieg unsererseits.“

Nach der Vertreibung der Achsenmächte aus Nordafrika begannendie Alliierten am 10. Juli 1943 eine Invasion in Sizilien. Die britischenStreitkräfte kamen nur langsam voran, weil ihr übervorsichtigerBefehlshaber Montgomery seine Einheiten in eine küstennahe undeine landeinwärts agierende Kolonne aufgeteilt hatte, wodurch erden meisten Deutschen die Flucht auf das Festland ermöglichte, alsklar wurde, dass die Insel fallen würde. Es war diese Aussicht, dieHitler veranlasste, seine wesentlichen Panzerregimente aus Kurskabzuziehen, und den dortigen Vorstoß beendete. Als sie ankamen,war der italienische Diktator Mussolini bereits auf dem Weg nachdraußen.

Der anscheinend endlosen Kette von Fehlleistungen überdrüssig,hatte der Große Rat der Faschisten am 24./25. Juli 1943 beschlossen,ihm seine Machtbefugnisse abzuerkennen. Erschöpft, verwirrt undkrank, leistete Mussolini keinen wirklichen Widerstand und wurdeins Gefängnis gebracht, nachdem er vom italienischen Monarchenals Ministerpräsident entlassen worden war. Die FaschistischePartei zerfiel und wurde verboten. Am 3. September 1943unterzeichnete die neue, militärgeführte Regierung von MarschallPietro Badoglio ein Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten,die am selben Tag bei Salerno und in Kalabrien an Land gingen. FünfTage später kapitulierte Italien.

Die Folgen dieser Ereignisse waren dramatisch. Um auf deutscherSeite keinen Verdacht zu erwecken, hatte Badoglio zugestimmt,

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deutsche Truppen über die Alpenpässe nach Norditalien einrückenzu lassen, während deutsche Truppen, die aus Sizilien gekommenwaren, Verteidigungsstellungen auf dem Festland aufbauten.

Als sich die Italiener ergaben und ihre Waffen niederlegten, nahmendie Deutschen fast eine Zweidrittelmillion Soldaten fest unddeportierten sie nach Deutschland als Zwangsarbeiter, wo eineweitverbreitete Feindseligkeit ihnen gegenüber wegen des Verratsan der Idee der Achsenmächte dazu führte, dass sie schlechterbehandelt wurden als alle anderen ausländischen Arbeiter außerden Russen.

50.000 italienische Kriegsgefangene starben, eine Todesrate, diefünfmal so hoch war wie die unter britischen Kriegsgefangenen. InItalien selbst flog eine SS-Kommandoeinheit unter demÖsterreicher Otto Skorzeny in einem Gleitflugzeug über dasAlpenhotel, in dem Mussolini gefangen gehalten wurde, sprang mitFallschirmen ab und überrannte das Gebiet, ohne einen einzigenSchuss abzugeben. Der ehemalige Diktator wurde in einem kleinenFlugzeug nach Deutschland gebracht, danach in einemMarionettenregime in Norditalien installiert, wo er sich rächte anden führenden Faschisten, die ihn abgesetzt hatten. Fünf von ihnenließ er erschießen einschließlich seines Schwiegersohnes GrafCiano.

Während die deutschen Truppen den Rest von Italien besetzten,trafen SS-Einheiten ein, um die 34.000 Juden zusammenzutreiben,die in dem von Deutschen oder von italienischen Faschistenkontrollierten Gebiet lebten. Antisemitismus war in Italientraditionell schwach ausgeprägt, und normale Menschen nahmenbeträchtliche Mühen in Kauf, um sie zu schützen; 80 Prozent derjüdischen Bevölkerung Italiens überlebte den Krieg.

Der Seekrieg nahm ebenfalls eine Wende zum Schlechten, daherkömmliche Überwasserschiffe eins nach dem anderen torpediert

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oder bombardiert wurden, während die Deutschen, die den Bau vonFlugzeugträgern versäumt hatten, nicht in der Lage waren,ihrerseits alliierte Kriegsschiffe zu bombardieren. Im Januar 1943entließ Hitler den Marinekommandanten Großadmiral Raeder undersetzte ihn durch den Chef der U-Bootflotte, Karl Dönitz.

Zu Anfang des Krieges versenkten deutsche U-Boote dank derEntschlüsselung britischer Funkübertragung mehr als eineZweidrittelmillion Tonnen britischer Handelsschiffe, aber diegeringe Rate der U-Bootproduktion in Kombination mit Verlusten,Ausfällen und langwierigen Reparaturarbeiten in Docks bedeutete,dass immer nur 25 U-Boote zu gleicher Zeit im Atlantik operierten.

Die Einführung eines neuen Konvoisystems, wo Handelsschiffe vonKriegsschiffen begleitet wurden, und die erfolgreiche britischeEntschlüsselung des deutschen Funkverkehrs bewirkten 1941 eineAbnahme in den Tonnage-Verlusten durch U-Boote. Hitler hatteeine große Steigerung der U-Bootproduktion angeordnet, undAnfang 1943 waren 120 davon im Nordatlantik im Einsatz. Allein imNovember 1942 versenkten sie 720.000 Tonnen alliierterSchiffstransporte. Die Störung, die dadurch für die unverzichtbareVersorgung über den Atlantik verursacht wurde, war sehr real.Britische Versuche, U-Boot-Häfen zu bombardieren, schlugen fehl,und die Deutschen hatten ein neues Verschlüsselungsverfahren, dasdie Briten nicht knacken konnten.

Im Dezember 1942 jedoch wurde der neue Code endlich geknackt.Konvois konnten die Gebiete umfahren, in denen die U-Booteoperierten. Ohne Aufklärungsflugzeuge mussten die U-Boote inlosen Verbänden, den Wolfsrudeln, fahren und waren dabei leichtaus der Luft auszumachen, da sie nur kurzzeitig abtauchen konntenund untergetaucht ihre Torpedos nicht abfeuern konnten. KleineFlugzeugträger begannen die Konvois zu begleiten, wodurch einLokalisieren der Wolfsrudel einfacher wurde. Ab Mai 1943 verlorendie Deutschen durchschnittlich mehr als ein U-Boot pro Tag, und

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die Alliierten bauten neue Schiffe schneller, als die Deutschen sieversenken konnten. Am 24. Mai 1943 fügte Dönitz sich demUnvermeidlichen und zog die U-Boot-Flotte aus dem Nordatlantikab. Die Atlantikschlacht war vorüber.

Wenn auch Rückschläge an Land und auf See die Moral zuhause inDeutschland beschädigten, so war es aber doch vor allem derLuftkrieg, der die stärkste Auswirkung auf die Haltung derMenschen im Dritten Reich hatte. Ungeachtet desÜberraschungsangriffs auf London setzten sowohl Hitler als auchGöring, der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe,Luftbombardements lieber taktisch ein für die Unterstützung vonBodentruppen als strategisch. Stalin hatte ein ähnliches Konzept fürdie sowjetische Luftwaffe. Aber obwohl er selbst nie einestrategische Bombardierung begann, übte er zunehmend Druck aufdie Westalliierten aus, genau dies zu tun, insbesondere da sie ausseiner Sicht die Invasion in Frankreich in ungerechtfertigter Weisehinauszögerten.

Die Briten und die Amerikaner hatten tatsächlich seit den späten1930er-Jahren schwere Bomber produziert. Bis 1942 standen keinein ausreichender Anzahl zur Verfügung, und obwohl es in den erstenzweieinhalb Jahren des Krieges zahlreiche kleine Luftschläge aufdeutsche Städte und Großstädte gab, richteten diese relativ wenigSchaden an. Anfang 1942 jedoch begannen die Briten und dieAmerikaner eine großangelegte strategische Bombenoffensivegegen Deutschland, angeführt von Arthur Harris.

Harris demonstrierte die Wirksamkeit großangelegterBombardierungen mit einem Angriff auf die norddeutscheKüstenstadt Lübeck im März 1942, bei dem grob die Hälfte derGebäude der Stadt zerstört wurde. Im Mai veranstaltete er einenEintausend-Bomber-Angriff auf Köln, gefolgt von einem ähnlichenAngriff auf Essen im Ruhrgebiet. Danach jedoch wurden für eineWeile die Ziele verschoben auf U-Boot-Nester an der französischen

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Atlantikküste angesichts der Bedrohung, die die deutschen U-Bootezu der Zeit darstellten. Erst im Januar 1943 beschlossen Rooseveltund Churchill den ernsthaften Einsatz einer strategischenBombardierung.

Der gemeinsame Operations- und Planungsstab erklärte denbritischen und amerikanischen Piloten, das Ziel des Einsatzes sei„die fortlaufende Zerstörung und Verlagerung des deutschenmilitärischen, industriellen und wirtschaftlichen Systems sowie dieUntergrabung der Moral des deutschen Volkes bis zu einem Punkt,wo ihre Fähigkeit zu bewaffnetem Widerstand unwiderruflichgeschwächt ist“. Dieses Mal waren die Angriffe weit umfangreicherangelegt als zuvor, und sie kamen sehr viel häufiger.

Bis Ende Juni 1943 waren ungefähr 15.000 Menschen getötetworden in einer langen Serie von Angriffen im Industriegebiet ander Ruhr, wodurch die Stahl- und Waffenproduktion nachhaltig zumErliegen gebracht wurde. Ende Juli und Anfang August 1943verursachte eine Serie von Angriffen — die beiden ersten mit jeweilsmehr als 700 Bombern — weit größere Zerstörungen imÜberseehafen von Hamburg, Deutschlands zweitgrößter Stadt.

Harris setzte kleine Flugzeuge als Zielbeleuchter ein, dieLeuchtfackeln über dem Zielgebiet abwarfen, gefolgt von derHauptbomberflotte, die dann ihre Brandbombenlast abwarf. So großwar die Hitze, die während des zweiten und größten Angriffs in derSerie erzeugt wurde, dass es nahe des Stadtzentrums zu einemFeuersturm kam, der die Luft aus der ganzen Umgebung ansaugteund eine überhitzte Feuersbrunst entfachte, die binnen Minutenganze Gebäude in Asche verwandelte. 40.000 Menschen kamen beiden Luftangriffen auf Hamburg um, mehr als die Hälfte der Gebäudeder Stadt war zerstört, 900.000 Menschen waren obdachlos undüber eine Dreiviertelmillion Menschen flüchteten aus der Stadt.

Die Bomber mussten zwangsläufig schwer und langsam sein, um

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wirksame Bombenlasten tragen zu können. Kampfflugzeugekonnten sie nur bis zur deutschen Grenze begleiten, wo sie zurUmkehr gezwungen waren, bis Ende 1943 Langstreckenbomberentwickelt wurden, insbesondere der in Amerika gebaute Mustang.Da sie sehr hoch flogen, um Bodenluftabwehrfeuer zu vermeiden,konnten die Bomber nur sehr große Ziele wie Städte undGroßstädte treffen, und wenn die Wetterbedingungen schlechtwaren mit starkem Wind oder Regen, dann verfehlten sie diesehäufig.

Bombardierungen konnten niemals präzise durchgeführt werden:Der Angriff zur „Dammsprengung“ auf die Eder- und dieMöhnetalsperre im Mai 1943 war eine bemerkenswerte Ausnahmevon einer ansonsten allgemeinen Regel, dass strategischeBombardierungen nichts anderes sein können als wahllos. DieDeutschen hatten Radarausrüstung, aber die alliierten Bomberwarfen Metallstreifen ab, um das Radar zu verwirren.

Die deutschen Kampfflugzeuge waren relativ erfolgreich beiAngriffen auf alliierte Bombergeschwader, aber es wurden so vieleKampfflugzeuge von der Ostfront wegverlegt, dass Anfang 1944 dortnur noch 500 Kampfflugzeuge mehr als 13.000 sowjetischenFlugzeugen gegenüberstanden. 39.000 Flugabwehrkanonen warenzu dieser Zeit in Deutschland im Einsatz, bemannt mit über einerhalben Million Kanonieren, aber dies schluckte ein Drittel dergesamten Artillerieproduktion und schwächte die Position derBodentruppen, speziell an der Ostfront. Dennoch blieben dieBomber über Deutschland eine gefährliche Angelegenheit.Insgesamt wurden während der Bombenangriffe circa 80.000Mitglieder der Flugbesatzungen getötet.

Während der letzten 18 Monate des Krieges übertraf die britischeund amerikanische Flugzeugproduktion die ihrer deutschenGegenspieler um ein Vielfaches, und die deutsche Luftverteidigungwurde regelrecht überwältigt allein aufgrund zahlenmäßiger

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Überlegenheit. Die alliierten Bomber weiteten stetig ihrenAktionsradius aus, bewegten sich frei über dem Deutschen Reichund zerstörten eine Stadt nach der anderen. In einem spätenStadium des Krieges verwüsteten sie die Stadt Dresden, wo durchdie Intensität der Bombardierungen ein weiterer Feuersturmentstand, der bis zu 35.000 Menschen das Leben kostete.

Während des gesamten Verlaufs des Krieges wurdenüber eine halbe Million Deutsche getötet und circa 40Prozent des Wohnungsbestandes in deutschen Städtenmit über 20.000 Bewohnern zerstört; in einigenGroßstädten wie Hamburg und Köln waren es bis zu 70Prozent.

Die Zerrüttung der deutschen Wirtschaft und desKommunikationswesens war immens. Ende Januar 1945 errechneteAlbert Speers Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, dassallein die Bombardierungen verantwortlich waren für eineMinderproduktion der Wirtschaft gegenüber den Planungen von 25Prozent bei Panzern, 31 Prozent bei Flugzeugen und 42 Prozent beiLastwagen. Als im Juni 1944 die Alliierten ihre Landungen in derNormandie begannen, hatte Deutschland die Lufthoheit verloren —sonst wären die Landungen nicht möglich gewesen.

Die Vorbereitungen des Naziregimes auf die Bombardierungenwaren wenig erfolgreich. Im März 1944 gab es eine offizielleSchätzung, wonach nahezu zwei Millionen Menschen obdachloswaren, wobei nur wenige neue Wohnungen gebaut wurden, und imDezember 1944 beschrieb Goebbels die verbliebenen Bewohner derRuhrgebietsstadt Bochum als „kampierend in Kellern undBodenlöchern“. Zu dieser Zeit gab es über acht MillionenFlüchtlinge und Evakuierte, und über eine Million Kinder aus denStädten lebten in Lagern auf dem Land, die von der Hitlerjugend undder nationalsozialistischen Volkswohlfahrt errichtet worden waren.

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Der Bau von Luftschutzbunkern ging schleppend voran, und ihreAnzahl war völlig unzureichend. Es wurden mehr Arbeitskraft undBeton eingesetzt, um Hitlers eigene Bunker in Berlin undRastenburg zu bauen und den Komplex des unterirdischenHauptquartiers bei Ohrdruf in Thüringen, als im gesamtenProgramm für den Bau ziviler Schutzbunker in ganz Deutschlandzusammengenommen für die Jahre 1943 und 1944. In Dresdenbefand sich der einzige bombensichere Luftschutzbunker unter derVilla des regionalen Parteichefs Martin Mutschmann. Dies machteihn nicht gerade beliebt bei den Bürgern der Stadt.

Die Menschen machten weithin das Naziregime verantwortlich fürdie Toten und die Verwüstungen durch die Bombardierungen. Nachden Angriffen auf Hamburg 1943 wurden Parteifunktionäre offen aufder Straße angegriffen, und es wurden ihnen die Parteiinsignien vonder Kleidung gerissen. Der Volkszorn richtete sich insbesonderegegen Herrmann Göring für dessen Versäumnis, eine Luftwaffeaufgebaut zu haben, die Deutschlands Städte hätte verteidigenkönnen.

Die Menschen versuchten Spannungen abzubauen, indem sie Witzeerzählten — wie so oft in solchen Situationen. Der Sicherheitsdienstder SS berichtete im August 1943, dass die Menschen im ganzenReich einen Witz verbreiteten, der folgendermaßen ging: „Ein Mannaus Berlin und ein Mann aus Essen diskutieren das Ausmaß derBomberschäden in ihren jeweiligen Städten. Der Berliner erklärt,dass die Bombardierung Berlins so schrecklich gewesen sei, dassnoch fünf Stunden nach dem Angriff die Fensterscheiben aus denHäuserfassaden gefallen seien. Der Essener antwortet, dass das garnichts sei und dass in Essen sogar noch vierzehn Tage nach demAngriff Hitlerporträts aus den Fenstern geflogen seien.“

Vielleicht ist es erstaunlich, dass es wenig Wut oder Groll gegen dieBriten und Amerikaner gab. Forderungen zur Bombardierung derBriten waren weitverbreitet, aber nur deshalb, weil die Leute

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glaubten, dass man sie dadurch am besten würde stoppen können.Einige alliierte Piloten, die mit dem Fallschirm hatten abspringenmüssen, wurden am Boden von wütenden Menschenmengengelyncht, aber dies betraf nicht mehr als ein Prozent aller Fälle.Trotz massiver Propaganda durch Goebbels musste derSicherheitsdienst der SS im Jahre 1944 berichten, dass „man nichtvon Hass gegen das englische Volk als Ganzes sprechen kann“. Undum dies zu illustrieren, zitierten sie eine Frau, die bei einem Angriffihr Haus verloren hatte:

„Es schmerzt mich, dass all meine Sachen auf immer verloren sind.

Aber so ist eben der Krieg. Gegen die Engländer, nein, ich habe

überhaupt nichts gegen sie.“

Was die Menschen jedoch wahrnahmen, war ein Gefühl,dass die Zerstörungen eine Art Vergeltung waren für dieGräueltaten, die von Deutschland an den Juden verübtwurden.

Das Wissen über die Erschießungen im Osten wurde unter derZivilbevölkerung durch Briefe von Soldaten und Erzählungen vonSoldaten auf Heimaturlaub verbreitet. Die deutschsprachigenSendungen der BBC brachten Ende 1942 detaillierte Berichte überdie Vergasungen in Treblinka und an weiteren Orten. Goebbels'Propagandamaschine hatte der deutschen Bevölkerung während dermeisten Zeit des Krieges die Botschaft eingehämmert, dass dieAlliierten von finsteren jüdischen Interessen geleitet würden — eineBotschaft, für die es natürlich nicht die geringsten Belege gab.

1943 berichtete der Sicherheitsdienst der SS, dass die Menschen inBayern der Meinung seien, „Würzburg sei deshalb nicht vonfeindlichen Piloten angegriffen worden, weil dort keine Synagogeniedergebrannt worden sei“. Ähnliche Berichte kamen während derfolgenden Monate aus vielen Teilen Deutschlands. Der Bischof vonWürttemberg schrieb Ende 1943 an den Leiter der Reichskanzlei,

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dass das deutsche Volk der Meinung sei, dass „das Leiden, das siewegen der feindlichen Luftangriffe ertragen müssen, die Vergeltungdafür ist, was den Juden angetan wird“.

Zu dieser Zeit glaubten die meisten Deutschen nicht mehr, dass derKrieg gewonnen werden könne. Es gab weitverbreitete Ängste, dassdie Juden schreckliche Vergeltung üben würden, wenn er endgültigverloren sei. „Die Juden allein werden uns die Verbrechenheimzahlen, die wir gegen sie begangen haben“, stand in einemanonymen Brief an das Propagandaministerium vom Juli 1944. DieseÄngste waren einer der Faktoren, die die Deutschen — sowohl dieMilitärs als auch die Zivilbevölkerung — auf Linie hielten bis fastzum bitteren Ende. Wie dieses Ende kam und warum es inDeutschland keine erfolgreiche Revolution gegen ein Regime gab,das die meisten Menschen für sowohl kriminell als auch fürtodgeweiht hielten, werde ich kommenden Monat in meinemvierten und letzten Vortrag diskutieren.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter demTitel „Stalingrad and beyond(https://www.gresham.ac.uk/lectures-and-events/stalingrad-and-beyond-1942-1943)“. Er wurde von Matthias Thomsen vomehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam(https://www.rubikon.news/kontakt) übersetzt und vomehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam(https://www.rubikon.news/kontakt) lektoriert.

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Richard J. Evans, Jahrgang 1947, war bis zu seinerEmeritierung im Jahr 2014 Regius Professor fürGeschichte an der Universität Cambridge. Unter anderemveröffentlichte er: „Das Dritte Reich“ und „Das DritteReich: Geschichte und Erinnerung im 21. Jahrhundert“.Von 2014 bis 2020 war er Provost of Gresham College inLondon, das 1597 gegründet wurde.

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