Dieter Blumenwitz Feindstaaten Klauseln

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    Dieter Blumenwitz

    FEINDSTAATEN KLAUSELN

    Die Friedensordnung der Sieger

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    1972 by Albert Langen • Georg Müller Verlag GmbH München •Wien

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    Inhalt

    A. Einführung ....................................................................... 6I. Name ............................................................................ 6

    II. Texte, Materialien .......................................................... 6

    III. Deutsche Übersetzung................................................... 8

    IV. Gang der Untersuchung ................................................. 9

    B. Die Entstehung der Feindstaatenklauseln.............................10

    I. Das Entstehen der Vereinten Nationen ..............................10

    II. Die »Dumbarton Oaks Proposals«....................................10

    III. Die französische Initiative zur regionalenAggressionsprävention .......................................................11

    IV. Die Konferenz von San Francisco ....................................12

    C. Inhalt und Auslegung der Feindstaatenklauseln ....................14

    I. Der Kreis der berechtigten Staaten...................................14

    a) Der Vertrag von Dünkirchen vom 4.3.1947 ...............19

    b) Der Brüsseler Vertrag vom 17.3.1948 ......................19

    c) Bei den Beratungen in San Francisco........................20

    d) das Ostblock-Bündnissystem ..................................20

    II. Der Kreis der betroffenen Staaten. ..................................22

    1. Die Feindstaaten.........................................................22

    2. Die »befreiten Nationen« .............................................22

    3. Die besondere Lage im Nachkriegsdeutschland ...............23Kontinuität und Diskontinuität des Deutschen Reichs. .......24

    1. Nach der Debellations-, wie auch nach derDismembrationstheorie ist das Deutsche Reich alsVölkerrechtssubjekt [NICHT] untergegangen. ..................26

    2. Gedankliche Modelle, die den Fortbestand desüberkommenen Staates zum Gegenstand haben, werden alsKontinuitätstheorien bezeichnet:....................................27

    Die Feindstaatenqualität von BRD und DDR........................29

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    III. Die Befugnisse der Siegermächte ...................................31

    IV. Die Einschränkung der Kompetenzen der Vereinten Nationen......................................................................................38

    1) Befugnis der Feindstaaten, die UN anzurufen ...............392) Maßnahmen und Zuständigkeiten der Vereinten Nationenhinsichtlich Feindstaaten...............................................39

    3) Streit zwischen Siegerstaaten über einen Feindstaat ....41

    4) Befugnisse im Zusammenhang mit Friedensverträgen mitehemaligen Feindstaaten ..............................................41

    V. Die Feindstaatenklauseln und das Völkerrecht ...................43

    D. Die Beendigung der Sonderrechte aus den Feindstaatenklauseln.........................................................................................48

    I. Zeitablauf...................................................................49

    II. Obsoletität ................................................................51

    III. Veränderte Umstände................................................56

    IV. Desuetudo................................................................56

    V. Änderung der Charta...................................................56

    Vl. Verzicht auf die Rechte aus den Feindstaatenklauseln .....58E. Schlußbemerkungen .........................................................69

    zur Bedeutung der Feindstaatenklauseln für Sicherheit undStatus der Bundesrepublik und für die Entwicklung derzwischenstaatlichen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ....................................................................69

    Literaturhinweise .................................................................74

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    Abkürzungsverzeichnis

    aaO. am angegebenen Ort (verweist auf die Literaturhinweise amEnde)

    Abs. AbsatzAdG Archiv der Gegenwart

    Art. Artikel

    Bd., Bde Band, Bände

    BGBl. Bundesgesetzblatt

    BRD Bundesrepublik Deutschland Bulletin Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung

    DDR Deutsche Demokratische Republik

    EA Europa Archiv

    GBI. Gesetzblatt der DDR

    GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.Mai 1949

    NJW Neue Juristische Wochenschrift

    RGBI. Reichsgesetzblatt

    S. Seite, Satz

    UN United Nations

    UNCIO United Nations Conference on International Organisation inSan Francisco 1945

    UN Doc Documents issued by the United Nations

    UN Rep Repertory of Practice of United Nations Organs

    UNTS United Nations Treaties Series

    UNYB Yearbook of the United Nations

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    A. Einführung

    I. NameUnter dem Begriff Feindstaatenklauseln versteht man die Artikel53 und 107 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 .Diese Vorschriften werden in der Literatur auch Deutschlandartikelgenannt. Im Schrifttum der DDR hat sich weitgehend dieBezeichnung antifaschistische Klauseln durchgesetzt.

    Im Folgenden wird von der Bezeichnung »Feindstaatenklauseln«ausgegangen, da diese Bezeichnung Rückhalt im Text der Charta

    findet und am neutralsten erscheint. Die Verwendung des Begriffs»Deutschlandartikel« enthält nämlich bereits eine in der politischenPraxis nicht unbestrittene Wertung: Es wird zum Ausdruckgebracht, daß die Artikel 53 und 107 der Charta nur mehr aufDeutschland anwendbar sind (vgl. unten S. 93 ff.). Die in der DDRgebräuchliche Bezeichnung »antifaschistische Klauseln« enthält imNamen bereits ein politisches Programm: Die Vorbehalte derSieger des 2. Weltkriegs sollen nur am Faschismus anknüpfen, dersich in Deutschland auf die staatliche Ordnung der Bundesrepublikbeschränkt (vgl. unten S. 96 ff.).

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    II. Texte, Materialien

    Nach Art. 111 Abs. 1 der Charta ist für ihre Auslegung derchinesische, französische, russische, englische und spanischeWortlaut gleichermaßen verbindlich. Bei wissenschaftlichenErörterungen – nicht nur im Westen – steht meist die englische

    und die französische Version im Vordergrund, wobei sich hier mehrund mehr das Englische durchsetzt. Dies hängt damit zusammen,daß bei den vorbereitenden Gesprächen in San Francisco im Jahre1945 nur Englisch und Französisch Konferenzsprachen waren. DieKonferenzprotokolle (publiziert als United Nations Conference onInternational Organisations in San Francisco 1945 = UNCIO) liegennur in englischer und französischer Sprache vor. Für den Zweckder vorliegenden Untersuchung genügt der Text der Artikel 53 und107 in englischer und französischer Sprache:

     Artikel 53:

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    »I. The Security Council shall, where appropriate, utilise suchregional arrangements or agencies for enforcement action underits authority. But no enforcement action shall be taken underregional arrangements or by regional agencies without the

    authorisation of the Security Council, with the exception ofmeasures against any enemy

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    state, as defined in paragraph 2 of this Article, provided forpursuant to Article 107 or in regional arrangements directedagainst renewal of aggressive policy on the part of any such state,until such time as the Organisation may, on request of theGovernments concerned, be charged with the responsibility forpreventing further aggression by such a state.

    II. The term enemy state as used in paragraph 1 of this Articleapplies to any state which during the Second World War has beenan enemy of any signatory of the present Charter.«

    »I. Le Conseil de Sécurité utilise, s'il y a lieu, les accords ouorganismes régionaux pour l'application des mesures coercitivesprises sous son autorité. Toutefois, aucune action coercitive nesera entreprise en vertu d'accords régionaux ou par desorganismes régionaux sans l'autorisation du Conseil de Sécurité;

    sont exceptées les mesures contre tout Etat ennemi au sens de ladéfinition donnée au paragraphe 2 du présent article, prévues enapplication de l'article 107 ou dans les accords régionaux dirigéscontre la reprise, par un tel Etat, d'une politique d'agression,

     jusqu'au moment ou l'Organisation pourra, à la demande desgouvernements intéressés, être chargée de la tâche de prévenirtoute nouvelle agression de la part d'un tel Etat.

    II. Le terme >Etat ennemi', employé au

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    para graphe 1 du présent article, s'applique ä tout Etat qui, aucours de la seconde guerre mondiale, a été l'ennemi de l'unquelconque des signataires de la présente Charte.«

    Artikel 107:

    »Nothing in the present Charter shall invalidate or preclude actionin relation to any state which during the Second World War hasbeen an enemy of any signatory to the present Charter, taken orauthorised as a result of that war by the Governments having

    responsibility for such action.«

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    »Aucune disposition de la présente Charte n'affecte ou n'interditvis-àvis d'un Etat qui, au cours de la seconde guerre mondiale, aété l'ennemi de l'un quelconque des signataires de la présenteCharte, une action entreprise ou autorisée, comme suite de cette

    guerre, par les Gouvernements qui ont la responsabilité de cetteaction.«

    III. Deutsche Übersetzung

    Da Deutschland nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist, gibt es indeutscher Sprache keinen für die Weltorganisation authentischenText; es gibt darüber hinaus für den Rechtskreis derBundesrepublik auch keine im Bundesgesetzblatt abgedruckteverbindliche Übersetzung. Einen halboffiziellen Charakter hat dievom Sprachendienst des Auswärtigen Amtes besorgte Übersetzungerlangt:

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     Artikel 53:

    (1) Der Sicherheitsrat nimmt gegebenenfalls diese regionalenAbmachungen oder Einrichtungen zur Durchführung vonZwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch. Ohne

    Ermächtigung des Sicherheitsrats dürfen Zwangsmaßnahmenaufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionalerEinrichtungen nicht ergriffen werden; ausgenommen sindMaßnahmen gegen einen Feindstaat im Sinne des Absatzes (2),soweit sie in Artikel 107 oder in regionalen, gegen dieWiederaufnahme der Angriffspolitik eines solchen Staatesgerichteten Abmachungen vorgesehen sind; die Ausnahme gilt, bisder Organisation auf Ersuchen der beteiligten Regierungen dieAufgabe zugewiesen wird, neue Angriffe eines solchen Staates zu

    verhüten.(2) Der Ausdruck »Feindstaat« in Absatz (1) bezeichnet jedenStaat, der während des zweiten Weltkriegs Feind einesUnterzeichnerstaates dieser Charta war.

     Artikel 107:

    Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungeninfolge des Zweiten Weltkriegs in bezug auf einen Staat ergreifenoder genehmigen, der während dieses Krieges Feind einesUnterzeichnerstaats dieser Charta war, werden durch diese Chartaweder außer Kraft gesetzt noch untersagt.

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    IV. Gang der Untersuchung

    Die genannten Vorschriften räumen den Siegern des ZweitenWeltkriegs Sonderrechte gegenüber den unterlegenen Staaten ein.Der in dem Kapitel XVII »Übergangsbestimmungen betreffend dieSicherheit« geregelte  Art. 107 stellt die hierfür verantwortlichenRegierungen bei der Durchführung von Kriegsfolgemaßnahmen vonden Verpflichtungen der Charta der Vereinten Nationen frei. Der imKapitel VIII über regionale Sicherheitsabkommen geregelte Art.53dehnt die Freistellung aus auf Präventivmaßnahmen gegen eineErneuerung der aggressiven Politik seitens der Feindstaaten.

    Um das juristische und politische Verständnis derFeindstaatenklauseln zu erleichtern, wird zunächst die historischeSituation zu beleuchten sein, aus der die Artikel 53 und 107 derCharta entstanden sind (Kapitel B). Der folgende Abschnitt solldann der Interpretation der Vorschriften gewidmet sein (KapitelC); es wird hier insbesondere zu klären sein, welche Staaten durchdie genannten Bestimmungen der Charta begünstigt, welchebetroffen werden; es muß untersucht werden, welche Maßnahmendie Siegermächte ergreifen können, inwieweit die Kompetenzender Vereinten Nationen eingeschränkt

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    werden und inwieweit allgemeines Völkerrecht zu Lasten derFeindstaaten modifiziert wird. Es schließt sich die Untersuchungder Frage an, ob die Feindstaatenklauseln heute noch geltendesRecht sind (Kapitel D) und welche aktuelle Bedeutung sie für dieSicherheit und den Status der Bundesrepublik haben (Kapitel E).

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    B. Die Entstehung derFeindstaatenklauseln

    I. Das Entstehen der Vereinten Nationen

    Die heutige Weltorganisation – und das erscheint symptomatischfür die Feindstaatenklauseln – geht zurück auf die Siegerkoalitiondes 2. Weltkriegs. Am Neujahrstag des Jahres 1942unterzeichneten die Vereinigten Staaten, Großbritannien, dieUdSSR und China in Washington die Declaration by the UnitedNations, der am folgenden Tag zwanzig weitere Nationen beitraten

    (AdG, 5340). Diese Washingtoner Erklärung war im wesentlicheneine Kriegsallianz, die die Mobilisierung aller Kräfte und dieVerhinderung eines separaten Friedensschlusses verfolgte. Die ausder Siegerkoalition zu bildende Weltorganisation nahm Gestalt anin

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    der »Four-Nations Declaration«  zum Abschluß der MoskauerKonferenz vom 30. Oktober 1943 (AdG, 6172 A); die Errichtungeiner »allgemeinen internationalen Organisation auf der Grundlage

    der souveränen Gleichheit aller friedliebenden Völker« wurde insAuge gefaßt. Die geforderte Universalität war jedoch schon inihrem Ansatz durch das Kriterium »friedliebende Völker« (»peace-loving States«) eingeengt worden; wie die amerikanischenHistoriker R. B. Russel  und J. A. Muther in ihrer 1958 publiziertenGeschichte der Charta der Vereinten Nationen dargelegt haben,waren »friedliebende« Staaten nur die gegen die Achsen-MächteVerbündeten; die Einschränkung war auf Vorschlag des britischenVertreters angenommen worden, um die Feindstaaten zumindestzunächst von der zu schaffenden Weltorganisation fern zu halten.

    II. Die »Dumbarton Oaks Proposals«

    Auf der Konferenz der Großmächte von Dumbarton Oaks (benanntnach dem Landsitz in der Nähe von Washington, der alsTagungsort diente) einigte man sich im Herbst 1944 auf einen inenglischer Sprache verfaßten Satzungsentwurf, die »Dumbarton

    Oaks Proposals« (UNCIO 3, 1 ff.). Der Entwurf

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    enthielt in den Übergangsbestimmungen (»TransitorialArrangements, Kap. XII § 2) eine »Feindstaatenklausel«, die in

    den wesentlichen Punkten Art. 107 der geltenden Chartaentsprach.

    Eine Art. 53 Abs. I Satz 2 der Charta entsprechende Vorschrift warnicht vorgesehen; der Sicherheitsrat hatte nach Kap. VIII § 2 derDumbarton Oaks Proposals volle Kontrolle über dieZwangsmaßnahmen im Rahmen der Regionalabkommen.

    III. Die französische Initiative zurregionalen Aggressionsprävention

    Dieses Konzept der kollektiven Sicherheit war jedoch mit denPlänen der USA bezüglich des interamerikanischenSicherheitssystems wie auch mit den Anti-Hitler-Allianzen dereuropäischen Siegermächte nicht vereinbar. Nach Art. 103 dergeltenden Charta haben für die Mitgliedstaaten die Verpflichtungenaus der Charta Vorrang vor ihren sonstigen völkervertraglichen

    Übereinkünften. Damit wären die am Ende des 2. Weltkriegsabgeschlossenen Bündnisverträge (britisch-sowjetischer Pakt vom26. Mai 1942, Bündnisvertrag zwischen der UdSSR und der CSRvom 12. Dezember 1943 und der französisch-sowjetische Paktvom 10. Dezember 1944) weitgehend gegenstandslos geworden.Denn im Mittelpunkt

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    dieses bilateralen Allianzsystems standen gemeinsamePräventivmaßnahmen, die einen neuen deutschen Angriff

    unterbinden sollten; am deutlichsten kommt dies imfranzösischsowjetischen Pakt zum Ausdruck:

    »Die Hohen vertragschließenden Seiten verpflichten sich,nach Beendigung des Konflikts mit Deutschland gemeinsamalle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um eine neueBedrohung von Seiten Deutschlands zu verhindern und jedeInitiative zu einem neuen deutschen Angriffsversuch zuunterbinden.«

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    IV. Die Konferenz von San Francisco

    Am 25. April 1945 legten in San Francisco die Vereinigten Staaten,die UdSSR, Großbritannien und China als sogenannte »SponsoringPowers« die Entwürfe von Dumbarton Oaks zur Diskussion vor.Nach einer in Jalta getroffenen Übereinkunft waren die Staaten zurTeilnahme an der Gründung der Vereinten Nationen eingeladenworden, die sich bis 1. März 1945 der als United Nationsbezeichneten Siegerallianz angeschlossen hatten. Bis zum1.3.1945 hatten 42 Staaten die Deklaration von Washingtonunterzeichnet. Frankreich, das ursprünglich eine der SponsoringPowers sein sollte, arbeitete mit den Großmächten eng zusammen.Nur die kriegführenden Alliierten und ihre Verbündeten

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    – weder Feindstaaten noch Neutrale – waren an der Ausarbeitungder Satzung beteiligt. Die Universalität der zu schaffendenOrganisation sollte zwar durch die nachträgliche Zulassung vonStaaten erreicht werden; aber auch hier erscheint nach Art. 4 Abs.1 der Charta die »Friedensliebe« als Zulassungsvoraussetzung,und es bestand in Konferenzkreisen Einigkeit darüber, daß dieunterlegenen Mächte erst nach Ablauf einer Bewährungsfristzugelassen werden sollten.

    Die Befreiung der verantwortlichen Siegermächte vonSatzungsverpflichtungen bei der Durchführung ihrerKriegsfolgemaßnahmen, über die man sich schon in DumbartonOaks geeinigt hatte, wurde mit einigen bedeutungslosenNeuformulierungen aus sprachlichen Gründen als Art. 107 in dieÜbergangsbestimmungen der Charta aufgenommen. Bei derDiskussion der Vorschrift war man sich zunächst im unklarendarüber, welche Folgerungen aus den gescheiterten Bemühungendes Völkerbundes um eine beständige Friedenssicherung zu ziehen

    seien.Mexiko  vertrat den Standpunkt, es sei falsch gewesen, denVölkerbund so eng mit dem Versailler Friedensvertrag zuverbinden; deshalb sollten die

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    Kriegsfolgemaßnahmen ausgeklammert und in einem besonderenProtokoll geregelt werden (UNCIO 3, 156)– eine Trennung also derzukünftigen Friedensordnung von den Maßnahmen, die mit der

    Beendigung der Feindseligkeiten in unmittelbarem Zusammenhangstehen, wie sie der britische Politologe Edward Carr  bereits 1943 in

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    seiner Studie »Conditions of Peace« (S. 236) gefordert hatte. Nachder Ansicht Venezuelas  war der Völkerbund   bei seinerFriedenssicherung gescheitert, weil er eine Friedensordnung zuverteidigen hatte, an deren Zustandekommen er nicht mitwirken

    konnte. Die Freistellung der Großmächte vonSatzungsverpflichtungen bei der Durchführung vonKriegsfolgemaßnahmen habe zur Folge, daß die VereintenNationen ein Friedensdiktat der Großmächte als Friedensordnungzu garantieren hätten; gerade die Stimme der kleineren Staatensei aber eine Garantie für Billigkeit, Ausgewogenheit und dieHerrschaft des Rechts (UNCIO 3, 190). Die Vereinigten Staaten waren der Ansicht, die Friedensordnung nach dem 1. Weltkrieg seigescheitert, weil die Siegerstaaten keine dauernde Kontrolle über

    die unterlegenen Staaten behalten hätten; deshalb dürfe dieCharta Kriegsfolgemaßnahmen nicht

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    behindern (UNCIO 12, 403/702). Norwegen  wollte durch seinenAntrag zumindest eine Kontrolle der Maßnahmen der Siegermächtedurch den Sicherheitsrat erreichen, da die Beziehungen zwischenSieger und Besiegten der Ausgangspunkt der politischenEntwicklung nach dem Krieg wäre (UNCIO 3, 364).

    Auf die Initiative Frankreichs  und der UdSSR  hin wurde in SanFrancisco den Vereinten Nationen die Zuständigkeit zurAggressionsverhütung bezüglich der Feindstaaten entzogen. Diesgeschah durch eine Ausnahmevorschrift, die der Regelung vonZwangsmaßnahmen durch regionale Bündnisse in Art. 53 derCharta angefügt wurde (Abs. 1 Satz 3 der meisten deutschenÜbersetzungen). Nach der Auffassung der Vereinigten Staaten,Großbritanniens und Chinas sollte die Einschränkung derKompetenzen des Sicherheitsrats zeitlich begrenzt sein; nacheinem nicht weiter bestimmten Zeitraum sollte die Organisation

    der Vereinten Nationen »mit der Zustimmung der betroffenenRegierungen« die Verantwortung übernehmen (UNCIO 12, 765).Der Vorschlag  Ägyptens, die Ausnahmeregelung stellevorübergehende Maßnahmen dar und gehöre – wie die

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    Regelung der Kriegsfolgemaßnahmen – in das Kapitel»Übergangsbestimmungen« (UNCIO 12, 705), scheiterte amEinwand Frankreichs; der französische Delegierte wies darauf hin,daß die europäischen bilateralen Pakte auf Dauer angelegt seien.

    Frankreich erreichte schließlich eine erneute Änderung des

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    Entwurfs, die von einer zeitlichen Begrenzung derAusnahmevorschrift praktisch nichts mehr übrig ließ: DieOrganisation der Vereinten Nationen erhält erst dann dieZuständigkeit zur Aggressionsverhütung bezüglich der

    Feindstaaten, wenn sie ihr »auf Ersuchen der beteiligtenRegierungen« zugewiesen wird (UNCIO 12, 863). Schließlich wurdees am Ende der Beratungen in San Francisco für erforderlichgehalten, den  Begriff »Feindstaat« zu definieren. Die Definitionwurde als Art. 53 Abs. II in die Charta aufgenommen (UNCIO 17,304/364).

    Das Plenum der Konferenz in San Francisco nahm am 26. Juni1945 die Charta der Vereinten Nationen einstimmig an; sie trat am24. Oktober 1945 in Kraft, nachdem die fünf mit dem Vetorecht

    ausgestatteten Großmächte und die Mehrheit der übrigenUnterzeichnerstaaten die Ratifikationsurkunden gemäß Art. 110Abs. III der Charta hinterlegt

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    hatten. Damit war eine Friedensordnung geschaffen worden, dienoch deutlicher als zur Zeit des Völkerbundes einenTrennungsstrich zwischen Sieger und Besiegte zog. Zwar warenauch die Besiegten des 1. Weltkriegs von der Gründung dergemeinsamen Friedensordnung ausgeschlossen, und dieAufnahmebedingungen waren so gestaltet, daß die Besiegtenbeliebig lange von der Gemeinschaft ferngehalten werden konnten;doch die ehemaligen Feindstaaten wurden nicht zu bloßenObjekten von Kriegsfolge- und Präventionsmaßnahmenherabgestuft, wie dies durch die Artikel 53 und 107 der Chartanach 1945 der Fall war.

    C. Inhalt und Auslegung derFeindstaatenklauseln

    I. Der Kreis der berechtigten Staaten

    Art. 107 der Charta spricht von »Maßnahmen, welche die hierfürverantwortlichen Regierungen ... ergreifen oder genehmigen.« Ausdem Wort »genehmigen« ergibt sich zunächst, daß dieverantwortlichen Regierungen ihre Maßnahmen nicht nur

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    höchstpersönlich durchzuführen haben, sondern daß sie sichhierbei dritter Staaten oder inter-

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    nationaler Organisationen als Erfüllungsgehilfen bedienen können.Für diese mit Einwilligung der verantwortlichen Regierungenvorgenommenen Handlungen (»authorised action«, »actionautorisée) tragen jedoch die gen. Regierungen die volleVerantwortung. Es muß deshalb zunächst der Begriff »die hierfürverantwortlichen Regierungen« geklärt werden.

    Art. 53 Abs. I der Charta knüpft zunächst an Art. 107 an; darüberhinaus werden Maßnahmen erwähnt, die in regionalen, gegeneinen Feindstaat gerichteten Abmachungen vorgesehen sind.

    Insoweit werden alle Staaten zu Maßnahmen gegenüber einemFeindstaat berechtigt, die sich in einer regionalen Abmachunggegen einen Feindstaat verbünden. Auch diese »regionalenAbkommen« müssen deshalb näher bestimmt werden.

    1) Die wenig präzise Umschreibung der Staaten, die beiNachkriegsmaßnahmen gegen Feindstaaten vonSatzungsverpflichtungen entbunden sein sollen, mit den Worten»die hierfür verantwortlichen Regierungen« (»the governmentshaving responsibility for such action«; »les gouvernements qui ont

    responsabilité de cette action«) hat zu den unterschiedlichstenAuslegungen

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    geführt. Nach den Auffassungen namhafter Völkerrechtler in Ostund West sollen im einzelnen nach Art. 107 der Charta privilegiertsein:

    a)  die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der VereintenNationen (China, Frankreich, Großbritannien, die UdSSR unddie USA),

    b) 

    die nach den interalliierten Kriegsvereinbarungenzuständigen Hauptmächte (dies wären nach Abschnitt II,Ziffer 3 II Potsdamer Abkommen für den europäischenBereich Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und dieUSA),

    c) 

    alle Siegerstaaten des 2. Weltkriegs,

    d) 

    die Gründungsmitglieder der UNO,

    e) 

    alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen,

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    f) 

    alle Staaten, die nicht selber Feindstaat sind.

    Folgt man der überwiegend vertretenen Auffassung, daß dieCharta nur Rechte und Pflichten für ihre Mitgliedstaaten begründen

    kann (hierzu eingehend unten S. 73 ff.), so können nach Art. 107der Charta nur Mitglieder der Vereinten Nationen berechtigt sein;damit entfällt die Auslegung f, und es stellt sich die Frage, ob Art.107 von den Mitgliedern gewisse Qualifikationen verlangt. WederArt. 107 noch irgend einer anderen

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    Bestimmung ist zu entnehmen, »daß nur die ständigen Mitgliederdes Sicherheitsrates verantwortliche Regierungen« i. S. derVorschrift sein sollen; damit entfällt die Auslegung a. Wenn die

    Charta den Kreis der legitimierten Mitgliedstaaten einengt, sogeschieht dies nach dem Wortlaut des Art. 107 nur durch dieBezugnahme auf Kriegsfolgemaßnahmen. Die »hierfürverantwortlichen Regierungen« sind die zu Maßnahmen gegenüberdem besiegten Aggressor zuständigen Regierungen bzw. Staaten.Kriegsfolgemaßnahmen können nach allgemeinemKriegsvölkerrecht nur von Staaten ergriffen werden, die mit demBesiegten im Kriegszustand waren. Damit verengt sich der Kreisder verantwortlichen Regierungen auf die Siegerstaaten des 2.Weltkrieges (dies sind die 42 Staaten, die bis zum 1. März 1945die Deklaration von Washington unterzeichnet hatten, vgl. oben5.18). Diese Abgrenzung deckt sich in etwa mit dem Kreis derGründungsmitglieder der Vereinten Nationen (Auslegung d). Nichtzum Kreis der »verantwortlichen Regierungen« zählen somit dienach Art. 4 der Charta später aufgenommenen Mitglieder derVereinten Nationen, so insbesondere die nach dem Abschluß vonFriedensverträgen

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    aufgenommenen ehemaligen Feindstaaten (Auslegung e).Die bisherigen Staatenpraxis gibt zur Abgrenzung des Begriffs»verantwortliche Regierungen« wenig her. Der Erklärung dersowjetischen Regierung an die Bundesregierung vom 21.November 1967 zur Frage des Gewaltverzichts ist immerhin zuentnehmen, daß sie vom Recht der Siegerkoalition(»Antihitlerkoalition«) ausgeht.

    Die Staaten der Siegerkoalition sind in der politischen Praxis nach1945 allerdings nur durch die Großmächte als Träger von

    Kriegsfolgemaßnahmen in Erscheinung getreten. Die Großmächte

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    haben durch ihre Kriegführung wie auch durch den Abschluß vonKapitulationen und Waffenstillstandsabkommen besondereBeziehungen zu den besiegten Feindstaaten aufgenommen unddiese als »governments chiefly responsible for the military defeat

    of the enemy« außerhalb der Charta der Vereinten Nationen durchinteralliierte Übereinkünfte abgesichert. So ist der gemeinsamenErklärung der Regierungschefs auf der Konferenz von Jalta  vom11. Februar 1945 zu entnehmen, daß für Kriegsfolgemaßnahmenin Deutschland primär Großbritannien, die UdSSR und die USAverantwortlich sein

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    sollten und daß Frankreich aufgefordert werden sollte, sich alsvierte Macht anzuschließen (AdG 1945, S. 87 A). Die besondereVerantwortung der Großmächte erscheint auch im PotsdamerAbkommen in den Bestimmungen über den Rat der Außenminister(Abschnitt II, Ziffer 3 II).

    In der politischen Diskussion um die Aktivlegitimation hatschließlich die Frage eine Rolle gespielt, ob die »verantwortlichenRegierungen« nur gemeinsam Kriegsfolgemaßnahmen treffendürfen. Die Regierungen von Frankreich, Großbritannien und denUSA bestritten zum Beispiel in amtlichen Verlautbarungen zumsowjetischen Interventionsanspruch der UdSSR das Recht,einseitig mit Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland zuintervenieren. So die USA:

    »Die Regierung der USA möchte der Bundesrepublikversichern, daß sie der ausdrücklichen Auffassung ist, daß:

    1. weder Art. 107 noch Art. 53 noch beide Artikel zusammender Sowjetunion oder Mitgliedern des Warschauer Paktesirgend ein Recht einräumen, einseitig mit Gewalt in derBundesrepublik zu intervenieren ...« (Erklg. 17. 9. 68 – AdG

    1968, S. 14200).Erklärungen der Westmächte (vgl. Erklärung der französischen undbritischen Regierung v. 16./20. 9. 68, Text. AdG

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    1968, S. 14200) kann entnommen werden, daß sie von derFortgeltung der Feindstaatenklauseln ausgehen (vgl. hierzueingehend unten S. 110 ff.), daß aber Kriegsfolgemaßnahmen nurgemeinsam von den verantwortlichen Regierungen ergriffenwerden können. Auch diese Verpflichtung zu gemeinsamemVorgehen gegen einen Feindstaat ist nicht der Charta zu

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    entnehmen; die Verwendung der Pluralform (»die hierfürverantwortlichen Regierungen«) in Art. 107 verbindet dieSiegermächte nicht zu einem Kondominium oder einem Ko-Imperium über die Feindstaaten. Eine gesamthänderische

    Verantwortung kann nur auf interalliierten Vereinbarungenaußerhalb der Charta beruhen.

    Ergreift eine Siegermacht ohne Absprache mit den übrigenSiegermächten einseitig Maßnahmen gegen einen Feindstaat, soverstößt sie damit nicht gegen die UN-Charta, sondern nur gegendie gemeinsamen Kriegsziele oder interalliiertes Recht derSiegerkoalition, soweit dieses noch fortbestehen sollte (vgl. untenS. 50 ff.).

    2. An der Sicherung gegen die »Erneuerung einer aggressivenPolitik« eines ehemaligen Feindstaates (Art. 53 Abs. I S.3 derCharta) sind nicht nur die

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    Siegermächte des 2. Weltkriegs beteiligt; der Kreis derberechtigten Staaten ist bei Art. 53 größer als bei Art. 107, da sich

     jedes Mitglied der Vereinten Nationen an einem Bündnis gegeneinen Feindstaat beteiligen kann. Ob sich auch ehemaligeFeindstaaten nach ihrer Aufnahme in die Weltorganisation auf Art.

    53 Abs. I berufen können, ist nicht restlos geklärt; dieüberwiegende Mehrheit der Autoren räumt dies ein, da derFeindstaat durch seine Aufnahme in die UN seineFeindstaatenqualität verliert. Bedeutsam wird die Frage in Hinblickauf die ehemaligen Feindstaaten Bulgarien, Rumänien und Ungarn,die im Rahmen des bilateralen Ostpakt-Systems an gegenDeutschland gerichteten Bündnissen teilnehmen.

    Um den Aktionsradius des Art. 53 Abs. I näher zu bestimmen,müssen die gegen Feindstaaten gerichteten Militärallianzen näher

    untersucht werden. Denn Art. 53 Abs. I ist nur eineErlaubnisnorm; die Zwangsmaßnahmen haben nicht ihreRechtsgrundlage in der Charta, sondern in einem entsprechendenregionalen Abkommen. Derartige regionale Abmachungen(»regional arrangements«, »accords régionaux«) müssen

    30

    a) 

    gegen einen oder mehrere Feindstaaten gerichtet sein,

    b) 

    die Anwendung militärischer Gewalt einschließen,

    18

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    c) 

    als Bündnisfall nicht nur die Aggression, sondern schonvorbereitende Handlungen wie die Wiederaufnahme einerAggressionspolitik vorsehen. Nachdem die zwischen Chinaund der UdSSR geschlossenen Bündnisverträge vom 14. 8.

    1945 und 14.2. 1950 durch die Aufnahme Japans in dieWeltorganisation ihren präventiven Charakter eingebüßthaben, richten sich die auf der Grundlage von Art. 53abgeschlossenen Militärallianzen nur mehr gegenDeutschland. Wichtig erscheint jedoch in diesemZusammenhang, daß nicht alle gegen Deutschlandgerichteten Militärallianzen als »regionale Abmachungen« imSinne von Art. 53 der Charta erscheinen; tritt derBündnisfall nur bei Angriffshandlungen Deutschlands ein, so

    handelt es sich um allgemeine Verteidigungsmaßnahmen imRahmen der kollektiven Selbstverteidigung (Art. 51 derCharta).

    Im einzelnen müssen die folgenden Verträge näher untersuchtwerden:

    a) Der Vertrag von Dünkirchen vom 4.3.1947In Art. I des Vertrages vereinbaren Großbritannien und Frankreichals Bündnisfall

    31die Bedrohung ihrer Sicherheit »durch die Wiederaufnahme einerAngriffspolitik von Seiten Deutschlands oder einer deutschenInitiative zwecks Ermöglichung einer solchen Politik«; dieVertragsparteien verpflichten sich, im gemeinsamenEinverständnis »die geeigneten Maßnahmen« zu treffen, »umdieser Bedrohung ein Ende zu bereiten«, womit militärische Gewaltmit eingeschlossen wird. Obgleich sich Art. I seinem weiterenWortlaut nach nur auf Art. 107 der Charta beruft, wird doch

    sachlich der Tatbestand unterschrieben, der nach Art. 53 zumEinschreiten gegen Deutschland ermächtigt. Der Dünkirchenpaktwurde für die Dauer von 50 Jahren geschlossen; er ist formell nochin Kraft, wenngleich auch in bezug auf die Bundesrepublik wegenderen Eingliederung in das westliche Bündnissystem bis aufweiteres gegenstandslos.

    b) Der Brüsseler Vertrag vom 17.3.1948Frankreich, Großbritannien und die Beneluxstaaten verpflichtensich in diesem ebenfalls auf 50 Jahre abgeschlossenen Vertrag,»die Maßnahmen zu ergreifen, die im Falle der Wiederaufnahme

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    einer Angriffspolitik von seiten Deutschlands für notwendigerachtet werden.« Ob die Vertragsstaaten schon im Falle derWiederaufnahme einer Angriffspolitik nach Konsultation zurAnwendung militärischer Gewalt verpflichtet waren oder ob

    militärischer Beistand nur bei einem Angriff geschuldet war, wurdewegen der Vieldeutigkeit des

    32

    Wortes »Maßnahmen« nicht restlos geklärt. Die Frage ist für dieBundesrepublik ohne praktische Bedeutung, da der BrüsselerVertrag zur Westeuropäischen Union erweitert wurde, der dieBundesrepublik und Italien im Jahre 1955 beitraten; durch dasProtokoll zur Änderung und Ergänzung des Brüsseler Vertragesvom 23.10.1954 wurde die antideutsche Zielsetzung desVertragswerks aufgegeben.

    c) Bei den Beratungen in San Franciscowurden als regionale Abmachungen im Sinne von Art. 53 Abs. Ider britisch-sowjetische und der oben schon erwähnte französisch-sowjetische Beistandspakt vom 26. 5.1942 bzw. 10.12.1944ausdrücklich genannt. Die Sowjetunion hat jedoch diese Verträgenach dem Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5.5.1955annulliert, und auch Großbritannien und Frankreich fühlten sich

    derzeit nicht mehr an diese antideutschen Militärallianzengebunden.

    Damit gewinnt derzeit nur mehr

    d) das Ostblock-BündnissystemBedeutung für Art 53 Abs. I der Charta. Das Bündnissystembesteht aus ca. 20 bilateralen Verträgen, die die UdSSR mit ihreneuropäischen Bundesgenossen und diese miteinander verbindet.Diese Freundschafts- und Beistandsverträge enthalten alle

    Bestimmungen, die gegen eine deutsche Aggression oder gegendie Wiederaufnahme einer deutschen Aggressionspolitik gerichtetsind. Das Bündnissystem wird durch den Warschauer Pakt vom14.5.1955 ergänzt,

    33

    der jedoch selbst keine regionale Abmachung im Sinne von Art. 53darstellt, da er seinem Wortlaut nach als reinesVerteidigungsbündnis konzipiert ist. Seit dem Jahre 1964 ist auchdie DDR in das bilaterale Bündnissystem durch Verträge mit derUdSSR, Polen, der CSSR und Ungarn eingegliedert; da die DDR

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    II. Der Kreis der betroffenen Staaten.

    Von den Kriegsfolgemaßnahmen des Art. 107 und den Maßnahmengegen die Wiederaufnahme der Angriffspolitik im Sinne von Art. 53Abs. I der Charta werden die »Feindstaaten« betroffen.»Feindstaaten« sind nach der Definition in Art. 107 und 53 Abs. IIdie Staaten, die während des 2. Weltkrieges Feind einesUnterzeichnerstaates der Charta der UNO waren. Von einergenaueren Bestimmung des Anfangs- und Enddatums desWeltkriegs wurde abgesehen. 

    1. Die Feindstaaten

    Als Feindstaaten werden neben Deutschland, das sich mit allenSignatarstaaten der Charta im Kriegszustand befand, die StaatenBulgarien, Finnland, Italien, Japan, Rumänien und Ungarnangesehen. (Einen Sonderfall stellt Thailand   dar, das seineKriegserklärung später für nichtig erklärt hat). EineUnterscheidung zwischen den Hauptkriegsschuldigen Deutschlandund Japan einerseits und ihren Mitläufern andererseits wird vonder Charta nicht gemacht, so daß  Bulgarien, Finnland, Italien,Rumänien und Ungarn als Feindstaaten erscheinen, obgleich sie in

    der letzten Phase des Weltkriegs an der Seite der Siegermächtegegen

    36

    Deutschland in den Krieg eingetreten waren. Trotzdem gebeneinige Sonderfälle zu Zweifeln Anlaß; auch die Frage, durch welcheMaßnahmen (z. B.  Abschluß eines Friedensvertrags, Aufnahme indie Vereinten Nationen) ein ehemaliger Feindstaat seineFeindstaatenqualität verliert, scheint noch nicht restlos geklärt.

    2. Die »befreiten Nationen«

    Von einem Teil der Völkerrechtslehre werden auch diesogenannten »befreiten Nationen« zu den Feindstaaten gerechnet.Es handelt sich hier um Gebiete oder Staaten, die vor dem 2.Weltkrieg integrierender Bestandteil eines Feindstaates wurden,nach dem 2. Weltkrieg jedoch als unabhängiger Staatwiedererstanden. Korea als Bestandteil Japans und Österreich als

    Bestandteil des Deutschen Reiches fallen in diese Gruppe. In der

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    Staatenpraxis, vor allem in den Vereinten Nationen, hat sich gegenden Widerstand der Ostblockstaaten die Haltung durchgesetzt, die»befreiten Nationen« Österreich und Korea nicht als Feindstaatenzu behandeln.

    Die österreichische Frage wurde von Brasilien  der 7.Sitzungsperiode der Generalversammlung vorgelegt. Der

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    brasilianische Antrag stützte sich auf das Argument, Österreich seikein Feindstaat; es sei vor Kriegsbeginn annektiert worden, unddie Moskauer Erklärung spreche von Österreichs Befreiung vondeutscher Herrschaft. Die Sowjetunion wandte dagegen ein, dieösterreichische Frage sei wegen Art. 107 der Charta ausschließlich

    eine Angelegenheit der vier Mächte. Die Generalversammlungnahm am 20. Dezember 1952 die Resolution 613 (VII) im Sinnedes brasilianischen Antrags an. (Bzgl. Korea vgl. die Res. 112 (II)und 195 (III) v. 14. Nov. 1947 bzw. 12. Dez. 1948).

    Die Haltung, die die Generalversammlung gegenüber den befreitenNationen eingenommen hat, ist völkerrechtlich durchausvertretbar. Genauso wie Hoheitsgebiete, die infolge des 2.Weltkriegs von Feindstaaten abgetrennt werden, nicht demzunächst dafür vorgesehenen Treuhandsystem (Art. 77 Abs. I c)

    unterfallen, wenn diese Hoheitsgebiete Mitglied der VereintenNationen geworden sind und nun eigene Völkerrechtspersönlichkeit  besitzen (Art. 78), erlischt auch die Feindstaatenqualität mit derEntstehung eines neuen, vom Feindstaat unabhängigen Staates.Es wäre eine völkerrechtliche

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    Einschränkung der Souveränität des Neustaates, würde man ihnvon vornherein als Feindstaat brandmarken. Diese Gedanken sindbesonders bedeutsam für die auf dem deutschen Territorium nach

    1949 entstandenen Staaten.

    3. Die besondere Lage imNachkriegsdeutschland

    Es taucht hier zunächst die Frage auf, ob die im Jahre 1949entstandenen Staaten Bundesrepublik und DDR (wie auch immerman ihren völkerrechtlichen Status wertet) Feindstaaten im Sinne

    von Art. 53 Abs. II, 107 sind, ob die Feindstaateneigenschaft

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    untrennbar mit dem Deutschen Reich verbunden ist und nur mitihm fortbesteht oder untergeht.

    Kontinuität und Diskontinuität des Deutschen Reichs.a) Soweit ersichtlich, haben sich nur deutsche Autoren mit derFrage eingehender beschäftigt. Der Bonner VölkerrechtlerScheuner  und sein Schüler H. Schneider  vertreten die Auffassung,daß der Begriff »Feindstaat« durch Territorium und Volk dereinstigen Gegner der Siegerkoalition bestimmt wird, »so daßweder der Untergang eines ehemaligen Kriegsgegners mitanschließender Errichtung einer neuen Völkerrechtspersönlichkeitnoch die Sezession wie die Dismembration die Eigenschaft als

    39Feindstaat beseitigen.« Lediglich die rechtsbeständigeEinverleibung des gesamten Gebietes oder eines Gebietsteilesdurch einen dritten Staat könne die Aufhebung derFeindstaateneigenschaft bewirken  (H. Schneider, aaO. S. 80).Diese Ansicht läßt sich mit allgemein anerkanntenvölkerrechtlichen Grundsätzen kaum rechtfertigen. Bezugsobjektvölkerrechtlicher Rechte und Pflichten ist nicht ein bestimmtes Volkoder Territorium, sondern der Staat im Sinne des Völkerrechts, der

    durch drei Merkmale, nämlich Staatsvolk, Staatsgebiet undStaatsgewalt, beschrieben wird. Es gehört weiter zu einemfundamentalen Grundsatz der Lehre von der Staatensukzession,die sich mit Veränderungen im Status von Völkerrechtssubjektenund deren Wandel befaßt, daß höchstpersönliche Angelegenheitennicht auf einen Nachfolgestaat übergehen können. Es gibt wohlkeine persönlichere und zur Übertragung weniger geeigneteRechtsposition als die quasi völkerstrafrechtliche, diskriminierendeFeindstaateneigenschaft. In einem ähnlichen Sinn haben dieVereinten Nationen zum umgekehrten Fall, der Eigenschaft als

    Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, die den Mitgliedern derSiegerkoalition

    40

    des 2. Weltkriegs vorbehalten blieb, Stellung genommen: Britisch-Indien, obgleich 1945 noch kein vollsouveräner Staat, gehörte alsUnterzeichnerstaat der Washingtoner Erklärung zu denGründungsmitgliedern der Vereinten Nationen; als 1947 auf demTerritorium von Britisch-Indien Pakistan als Neustaat   entstand,behauptete Pakistan, wie Indien ein ursprüngliches Mitglied derWeltorganisation zu sein. Die Vereinten Nationen wiesen die

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    Behauptung Pakistans zurück und verlangten Neuaufnahme nachArt. 4 der Charta.

    Die Sowjetunion, die ihre politischen Ziele in Deutschland leichter

    durchsetzen zu können glaubt, wenn das Deutsche Reichuntergegangen ist, andererseits in ihrer Deutschlandpolitik auf diedem Deutschen Reich anhaftende Diskriminierung als Feindstaatnicht verzichten oder nur gegen politische Gegenleistungenverzichten will, hat versucht, die beiden unvereinbarenRechtspositionen durch eine Art Teilidentitätsdoktrin zu verbinden. Bundesrepublik und DDR werden hier quasi alsTeilrechtsnachfolger des untergegangenen Deutschen Reichsgesehen, die in erster Linie die Verpflichtungen Hitlerdeutschlandsals Feindstaat zu tragen haben. Die Sowjetunion hat so z. B.

    41

    auch in der DDR, die sich als den mit dem Deutschen Reich inkeiner Weise identischen ersten Arbeiter- und Bauernstaat aufdeutschem Boden versteht, lange Jahre den Partner für denAbschluß eines deutschen Separatfriedensvertrags  gesehen,obgleich sich der ostdeutsche Staat mit der UdSSR nie imKriegszustand befunden hat. Aber auch diese Konzeption von derTeilrechtsnachfolge widerspricht   den Grundsätzen derStaatensukzession. Es gibt im zwischenstaatlichen Bereich keingesetzliches Erbrecht , wie es das innerstaatliche Recht vorsieht(das aber immerhin auch die Möglichkeit mit einschließt, einenüberschuldeten Nachlaß auszuschlagen). Eine von außen diktierteIdentifikation des Neustaates mit dem Status einesuntergegangenen Völkerrechtssubjekts stellt einen rechtswidrigenEingriff in die freie Selbstbestimmung des neu entstandenenStaates dar. Der Neustaat kann freiwillig in gewisseRechtspositionen des Altstaates eintreten. In derzwischenstaatlichen Praxis wird auch mitunter Druck auf den

    Neustaat ausgeübt, Verpflichtungen zu übernehmen. Dies kanndurch die Nichtanerkennung des Neustaates oder durchFriedensverträge geschehen. So wurde z. B. im

    42

    Friedensvertrag von St. Germain Rest-Österreich  nach dem 1.Weltkrieg wider seinen Willen mit dem Habsburg-Reichidentifiziert, das sich in eine Vielzahl von Staaten aufgegliederthatte; der Entwurf der Regierung der UdSSR für einenFriedensvertrag mit Deutschland  vom 10. Januar 1959 sah in Art.

    2 eine gesamtschuldnerische Haftung der beiden deutschen

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    Staaten vor: »... alle Rechte und Pflichten Deutschlands, die durchden Vertrag vorgesehen sind, beziehen sich sowohl auf dieDeutsche Demokratische Republik als auch auf die DeutscheBundesrepublik.« In allen Fällen ist eine Zustimmung des

    Neustaates erforderlich, wenn diese auch durch politischen Druckherbeigeführt werden kann. Für die Situation imNachkriegsdeutschland ergibt sich hieraus, daß die Siegermächteim Rahmen der Feindstaatenklauseln alle Möglichkeiten besitzen,um die Bildung von Neustaaten auf dem Territorium desehemaligen Feindstaates zu verhindern; entsteht aber dennoch einNeustaat,  so ist dieser frei von der Feindstaatenhypothek. DieSiegermächte können den Neustaat dann zwar völkervertraglichverpflichten, sich so zu verhalten, als wäre er ein Feindstaat; sie

    tragen aber dann – wie bei jeder43

    vertraglichen Verpflichtung – das Erfüllungsrisiko; erfüllt derNeustaat die von ihm übernommenen Verpflichtungen nicht, dannkann er weder beseitigt, noch als Feindstaat hingestellt werden.Ob die Feindstaatenklauseln auf Deutschland Anwendung finden,hängt mit der Frage zusammen, ob und in welcher Form das 1871durch Erweiterung des Norddeutschen Bundes entstandene Reichheute noch besteht.

    Die folgenden kurzen Hinweise müssen genügen:

    1. Nach der Debellations-,  wie auch nach derDismembrationstheorie  ist das Deutsche Reich alsVölkerrechtssubjekt [NICHT]1 untergegangen.

    Unter »debellatio« versteht die Völkerrechtslehre und Praxis denfaktischen Zustand der völligen Unterwerfung; dieser ist danngegeben, wenn ein Kriegführender nach der Vernichtung der

    Streitkräfte und der Eroberung des Gebietes seines Gegners dengegnerischen Staat durch die Annexion des eroberten Gebietesauslöscht. Autoren, wie z. B. Kelsen, haben in der bedingungslosenKapitulation oder in der Übernahme der obersten Gewalt inDeutschland durch die Alliierten eine völlige UnterwerfungDeutschlands erblickt. Dies erscheint jedoch nicht richtig, da die

    1  Das ‹nicht› fehlt im Originaltext. Aufgrund der Zusammenfassung des

    Ergebnisses auf S. 44 muß davon ausgegangen werden, daß hier ein Druckfehlervorliegt.

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    Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 zunächst nurals rein

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    kriegsrechtlicher Akt erscheint und die Berliner Erklärung der vierGroßmächte in Anbetracht der Niederlage Deutschlands vom 5.Juni 1946 die Annexion Deutschlands ausschließt: »Die Übernahme... der besagten Regierungsgewalt und Befugnisse bewirkt nichtdie Annektierung Deutschlands.« Deutschland – wenn auchhandlungsunfähig – ist 1945 n i c h t   untergegangen.

    Unter »Dismembration« versteht die Völkerrechtslehre dasZerfallen eines Völkerrechtssubjekts in zwei oder mehrere neueStaaten. Die Dismembrationstheorie knüpft an den Vorgang der

    Staatswerdung von Bundesrepublik und DDR an; sie sieht in denbeiden deutschen Staaten zwei neue, rechtlich gleich- undvollwertige Völkerrechtssubjekte, die das alte Deutsche Reichrestlos verdrängt haben. In der Staatenpraxis findet dieseBetrachtung der Rechtslage in Deutschland nach 1949 vorerstnoch keinen Rückhalt. Denn der Nachweis von zwei deutschenStaaten auf dem ehemaligen Reichsterritorium führt nicht zurDismembration des überkommenen deutschenVölkerrechtssubjekts.  A u c h w e n n B u n d e s r e p u b l i k u n dD D R d e n v o l l e n v ö l k e r r e c h t l i c h e n S t a t u s e r l a n g th a b e n , g e h t d e r 1 8 6 7 / 7 1 g e g r ü n d e t e d e u t s c h eS t a a t s o l a n g e n i c h t u n t e r , a l s e i n S t a a t s i c h m i td e m D e u t s c h e n R e i c h i d e n t i f i z i e r t o d e r z u m i n d e s ts i c h e i n e m f o r t b e s t e h e n d e n g e s a m t d e u t s c h e nV ö l k e r r e c h t s s u bj e k t u n t e r o r d n e t .

    45

    2. Gedankliche Modelle, die den Fortbestand des

    überkommenen Staates zum Gegenstand haben, werdenals Kontinuitätstheorien bezeichnet:

    a) Nach der vornehmlich von der Bundesregierung lange Zeitvertretenen Identitätstheorie besitzt von den in Deutschland nach1949 entstandenen politisch-rechtlichen Gebilden nur dieBundesrepublik den vollen Völkerrechtsstatus, und nur sie kanndas deutsche Völkerrechtssubjekt fortsetzen und nach außenvertreten, worauf letztlich ihr umstrittener»Alleinvertretungsanspruch« beruhte.

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    b) Kann dieser Alleinvertretungsanspruch politisch und rechtlichnicht durchgesetzt werden, so ist ein Modell mit mindestens zweivollgültigen deutschen Staaten die Folge. Nach dieser Form derZweistaatentheorie besitzen Bundesrepublik und DDR

    uneingeschränkte Völkerrechtssubjektivität; die Bundesrepublikerscheint als das personal und territorial verringerte alte DeutscheReich, während die DDR der durch Sezession vom Deutschen Reichbzw. der Bundesrepublik abgetrennte Neustaat ist. Hier zeigt sichein rechtlicher Nachteil des Identitätsmodells für dieBundesrepublik. Während bei der Dismembration die beidendeutschen Staaten Neustaaten sind und grundsätzlich nicht denFeindstaatenklauseln unterliegen, entsteht bei der Sezession nurein Neustaat mit der Folge, daß die mit dem Deutschen Reich

    46identische Bundesrepublik noch Feindstaat wäre, die DDR sich aberden diskriminierenden Bestimmungen entzogen hätte.

    c) Diese letzte Konsequenz der Identitätstheorie vermeidet dieTeilordnungslehre.

    Nach ihr besitzt keines der staatlichen Gemeinwesen, die nach1949 auf dem Gebiet des überkommenen, handlungsunfähigendeutschen Völkerrechtssubjekts entstanden sind, den vollen

    Völkerrechtsstatus eines »Staates im Sinne des Völkerrechts«.Bundesrepublik und DDR sind Teilordnungen unter einemfortbestehenden gesamtdeutschen Reichsdach und genießenpartielle Völkerrechtssubjektivität nur insoweit, als dies dergesamtdeutsche Status zuläßt.

    Der Minderstatus von Bundesrepublik und DDR ergibt sich aus denVorbehalten der Siegermächte, die –  trotz allerSouveränitätsbeteuerungen – bei der Paraphierung derOstverträge und bei der Behandlung des Berlin-Problems wieder

    deutlich wurden. Die für den völkerrechtlichen Status derBundesrepublik entscheidende Regelung ist in Art. 2Deutschlandvertrag  enthalten. Die drei Westmächte behalten sichhier »im Hinblick auf die internationale Lage ... die bisher vonihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte undVerantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf

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    Deutschland als Ganzes einschließlich der WiedervereinigungDeutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung« vor.

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    Das Modell der Teilordnungslehre kann wohl auch am besten dieauf den ersten Blick paradoxe These der gegenwärtigenBundesregierung von den »beiden deutschen Staaten, diefüreinander nicht Ausland sind« (Regierungserklärung v. 28.

    Oktober 1969) verständlich machen; sie verbindet die beidenGrundpfeiler der Deutschlandpolitik der Bundesregierung, –nämlich:

    1.  Festhalten an der Viermächteverantwortung in bezug auf»Deutschland als Ganzes«, wobei dieser Rechtsstandpunktim politischen Bereich durch die These von der »Einheit derNation« ergänzt wird, und

    2. 

    qualitative Gleichheit der beiden deutschen Staaten.

    Im Ergebnis muß deshalb davon ausgegangen werden, daß es aufdem Territorium des Deutschen Reichs noch so etwas wie einegesamtdeutsche Verantwortung gibt, wobei jedoch das»Deutschland als Ganzes« mehr und mehr zu einer juristischenFiktion wird. Mit dem weiteren Erstarken der Teilordnungenerscheint es nur als ein sich in Liquidation befindlichesRechtssubjekt, das nicht mehr aus eigenem Antrieb

    48

    gestaltend in die zwischenstaatlichen Beziehungen eingreift,sondern nur mehr so lange existiert, als noch Kriegsfolgen zubegleichen sind.2

    Die Feindstaatenqualität von BRD und DDR

    Wenn auch Deutschland derzeit noch einen Anknüpfungspunkt fürdie Feindstaatenklauseln darstellt, so ergeben sich doch für die

    Feindstaatenqualität von Bundesrepublik und DDR gewisse

    2  Vgl. Urteil Bundesverfassungsgericht 31.07.1973 (2 BvF 1/73)«Orientierungssatz: 1. Es wird daran festgehalten (vgl zB BVerfG, 1956-08-17, 1BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 ), daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch die Ausübungfremder Staatsgewalt in Deutschland durch die Alliierten noch späteruntergegangen ist; es besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings alsGesamtstaat mangels Organisation nicht handlungsfähig. Die BRD ist nicht‹Rechtsnachfolger› des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem

    Staat ‹Deutsches Reich›, - in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings‹teilidentisch›.»

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    Besonderheiten. Die Bundesrepublik erscheint als dieStaatsgründung der westlichen Alliierten in ihremVerantwortungsbereich auf deutschem Boden, die DDR als dieStaatsgründung der östlichen Siegermacht. Es ist

    selbstverständlich, daß jede Siegermacht in ihrem Bereich nachden Art. 53, 107 der Charta vorgehen kann; zweifelhaft erscheint

     jedoch, ob die Siegermacht außerhalb ihres primärenZuständigkeitsbereichs auf deutschem Boden intervenieren darf.Es handelt sich also um das in der aktuellen politischen Praxislebhaft diskutierte  Problem, ob die UdSSR in der Bundesrepublikintervenieren darf   – etwa weil deren Politik den im PotsdamerAbkommen niedergelegten Grundsätzen nicht entspricht. Aberauch in west-östlicher Richtung stellt sich die Frage: Können die

    drei Westmächte, einzeln oder zusammen, in der DDRintervenieren –

    49

    etwa wenn die DDR die Zufahrtswege von und nach Berlin sperrt?

    Bei der Beantwortung der Frage müssen zwei Rechts- undProblemkreise auseinandergehalten werden:

    1. Die Beziehungen  zwischen der deutschen Teilordnung und derSiegermacht:  Wie oben schon kurz erwähnt, verlangt die Charta

    bei Kriegsfolge- und Präventivmaßnahmen nicht das gemeinsameVorgehen aller berechtigter Siegermächte; auch beschränkt dieCharta den Aktionsradius einer Siegermacht nicht auf einenbestimmten Gebietsteil des Feindstaates. Bundesrepublik oderDDR haben deshalb rechtlich betrachtet keinen Anspruch darauf,nur mit ihrer Siegermacht konfrontiert zu werden. DieBeschränkung der Siegermacht auf ein bestimmtes Gebiet kannsich nur aus interalliiertem Recht ergeben. Die Bundesrepublikbzw. die DDR können aus diesen Übereinkünften keine eigenenRechte ableiten, da sie nur Objekt der Vereinbarung sind.

    2. Die Beziehungen zwischen den Siegermächten hinsichtlichDeutschlands gründen sich auf eine Reihe InteralliierterVereinbarungen (z. B. Londoner Abkommen über die gemeinsamenKontrolleinrichtungen), die aber durch das

    50

    Auseinanderbrechen der gemeinsamen Kontrollorgane und dieStaatsgründung in Ost und West weitgehend überholt sind. Dievon den Siegermächten gesamthänderisch konzipierte

    Verantwortung für Deutschland ist heute im wesentlichen

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    »realgeteilt«. Trotzdem wird an einem Minimum gesamtdeutscherVerantwortung festgehalten. Dies hat zur Folge, daß nunmehr dieWestmächte der UdSSR gegenüber für ihre Staatsgründunghaften, die UdSSR umgekehrt den Westmächten für die DDR

    verantwortlich ist. Um der jeweiligen Verpflichtung hinsichtlich»Deutschland als Ganzes« gegenüber den alliierten Partnerngerecht werden zu können, haben sich die westlichenSiegermächte bei ihrer Staatsgründung die Konzepte in bezug auf»Deutschland als Ganzes« und Berlin vorbehalten; das gleiche gilt,wie oben dargestellt, für die östliche Seite. Bundesrepublik undDDR werden weiterhin durch die Siegermächte mediatisiert, soweites sich um gesamtdeutsche oder Berliner Fragen handelt. DieseKonzeption hat für die Anwendung der Feindstaatenklauseln auf

    deutschem Territorium folgende Konsequenz: Auf Grundinteralliierten Rechts darf keine Siegermacht in einen Bereichdirekt intervenieren, in

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    dem sie nicht nach den Londoner Protokollen und Abmachungenprimär verantwortlich ist. Glaubt eine Siegermacht, daß auf einemdeutschen Gebiet, für das sie unmittelbar keine Verantwortungträgt, Kriegsfolge- oder Präventivmaßnahmen ergriffen werdenmüßten, so muß sie sich an die verantwortliche Siegermacht oder

    die zuständigen Siegermächte wenden und um Abhilfe bitten. Die jeweils verantwortliche Siegermacht hat auch das Recht derselbständigen Würdigung der Sach- und Rechtslage. Da dasinteralliierte Recht der Siegermächte nicht justiziabel ist, kann jedeSeite für sich die Auslegung der in Teil III A des PotsdamerAbkommensenthaltenen Bestimmungen über die Ziele derBesetzung Deutschlands vornehmen. So kann dasRegierungssystem der DDR von der UdSSR als »demokratisch«,von den Westmächten als »totalitär« gewertet werden.

    III. Die Befugnisse der Siegermächte

    1) Art. 107 der Charta entläßt die Siegermächte bei derDurchführung von Kriegsfolgemaßnahmen von ihrensatzungsgemäßen Verpflichtungen;  damit werden dreiProblemkreise angesprochen:

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    1. Was ist eine »Folge des Krieges« (»result of that war«, »suitede cette guerre«)?

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    2. Welche Arten von Kriegsfolgemaßnahmen gibt es?

    3. Welche Bestimmungen der Charta müssen im einzelnenzurücktreten?

    a) Der Begriff »Folge des Kriegs« ist äußerst dehnbar, da praktischnach einer strengen naturwissenschaftlichen Kausalität jedesNachkriegsereignis in den ehemaligen Feindstaaten als eine Folgedes Zweiten Weltkriegs bezeichnet werden kann.

    b) Die Kriegsfolgemaßnahmen selbst zerfallen in zwei Gruppen.Zunächst handelt es sich um vertragliche Regelungen derSiegermächte mit den besiegten Feindstaaten über Folgen desZweiten Weltkriegs – also etwa Waffenstillstands-, Kapitulations-,Friedensverträge oder sonstige Verträge, die der Siegermacht

    besondere Rechte einräumen (z. B. Deutschlandvertrag). DieseKriegsfolgemaßnahmen beruhen zwar zumindest formell auf einemKonsens, dennoch wären sie nach Art. 103 nicht verbindlich,soweit sie zwingendem Satzungsrecht widersprechen. Art. 107verhindert somit, daß ehemalige Feindstaaten, die nach Abschlußeines Friedensvertrages Mitglieder der

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    Weltorganisation werden, sich auf die Unwirksamkeit gewisservertraglich übernommener Verpflichtungen berufen und diese an

    den Grundprinzipien der Charta messen. Ungerechte und einseitigverpflichtende Verträge mit den Siegermächten sollen so in alleZukunft vor berechtigten Einwendungen »juristisch immunisiert«werden. Die Siegermächte können aber nach Art. 107 auch ohneden formellen Konsens des betroffenen Feindstaates durchHandlungen autoritativen Charakters vorgehen; sie können z. B.sein Territorium auch nach der Beendigung der Feindseligkeitenbesetzt halten, das gesamte Gebiet unterwerfen oder Teileannektieren, die Souveränität einschränken oder bei Nichterfüllung

    eines Friedensvertrages mit Waffengewalt vorgehen.2) Die Sonderrechte, die Art. 107 den im 2. Weltkrieg siegreichenStaaten einräumt, werden durch Art. 53 Abs. I S. 3 noch erweitert.Art. 53 der Charta verbietet Zwangsmaßnahmen auf Grund vonregionalen Abkommen ohne die Ermächtigung desSicherheitsrates; Zwangsmaßnahmen gegen einen Feindstaatkönnen jedoch ohne die Kontrolle durch den Sicherheitsratvorgenommen werden. Zwangsmaßnahmen

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    sind nach Art. 53 Abs. I S. 3 in doppelter Richtung möglich: Siekönnen die oben 1) beschriebenen Kriegsfolgemaßnahmen nachArt. 107 der Charta flankieren; Zwangsmaßnahmen werden abernicht nur gestattet, um die Folgen des 2. Weltkriegs zu regulieren,

    sondern auch um »die Erneuerung einer aggressiven Politik«seitens eines ehemaligen Feindstaates zu unterbinden. Der Begriff»Erneuerung einer aggressiven Politik«  (»renewal of aggressivepolicy«; »la reprise ...d'une politique d'aggression«) wird in derCharta nicht näher definiert. Art. 53 Abs. I knüpft hier an dieebenso unbestimmten Begriffe in den 1945 bestehenden gegenDeutschland gerichteten Bündnissen an, die auf der Konferenz vonSan Francisco in das Recht der Weltorganisation integriert wurden(vgl. oben S. 31 ff.). Die Bestimmung dessen, was mit

    »Erneuerung einer aggressiven Politik« gemeint ist, hat auch derLiteratur Schwierigkeiten bereitet. Sicherlich deckt sich derTatbestand nicht mit der in Art. 2 Abs. IV der Chartaangesprochenen »Drohung und Anwendung von Gewalt« oder mitdem in Art. 51 erwähnten »bewaffneten Angriff«; der Begriff dürfteauch weiter sein als die in Art. 39 geregelten Tatbestände»Friedensbedrohung, Friedensbruch

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    oder Angriffshandlungen«. Nach Art. 53 Abs. I S. 3 kann bereits 

    eine politische Tendenz , die keinesfalls zu einer unmittelbarenGefährdung völkerrechtlicher Positionen oder einer Einwirkung aufdie vom Völkerrecht anerkannten Rechte eines dritten Staates zuführen braucht, sämtliche Zwangsmaßnahmen des Völkerrechts inGang setzen. Man kann zum besseren rechtlichen Verständnis derLage, in die die Feindstaaten nach Art. 53 Abs. I S. 3 geraten sind,nur das Beispiel des innerstaatlichen Strafrechts heranziehen, wogelegentlich gewisse Handlungen schon strafbar sind, bevor eszum Versuch oder zur Vollendung einer strafbarenRechtsgüterverletzung kommt. Diese im Strafrecht – umstrittenen

    – Straftatbestände werden im innerstaatlichen Recht durchunabhängige Rechtspflegeorgane angewendet, die aber imzwischenstaatlichen Bereich fehlen. Die jeweilige Siegermacht hatdamit das Recht, den Begriff »aggressive Politik« selbstauszulegen, und sie wird das zwangsläufig immer in ihrem eigenenInteresse tun:  Das, was auf der Seite des Feindstaates alsSelbstbestimmungsrecht oder Recht auf Heimat erscheint, kann sovon den Siegern als aggressiver Revanchismus gewertet werden.Art. 53

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    Abs. I S. 3 der Charta gibt damit den Siegern bzw. den gegenFeindstaaten gerichteten Allianzen ein einseitiges, nichtkontrollierbares Recht zu Zwangsmaßnahmen einschließlich desRechts zur Führung eines Präventivkriegs.

    3) Die Feindstaaten stehen heute – trotz ihrer außerordentlichenDiskriminierung durch die Charta – keineswegs als »Aussätzige«isoliert außerhalb des politischen Kräftespiels, wie diesursprünglich geplant war. Mit der wachsenden Ost-West-Spannungwurden sie schon bald als Bündnispartner in das jeweiligeBlocksystem eingegliedert. Kriegsfolge- und Präventivmaßnahmenkönnen bei der derzeitigen Verflechtung der Feindstaaten in einneues Bündnissystem kaum mehr gezielt gegen einen Feindstaatdurchgeführt werden, ohne nicht zugleich in die Rechtspositionen

    dritter Staaten, die nicht Feindstaaten sind, aber dem Feindstaatgegenüber Bündnispflichten übernommen haben, einzugreifen. DieUdSSR hat zumindest in den ersten Nachkriegsjahren denStandpunkt vertreten, daß Kriegsfolgemaßnahmen direkt oderindirekt dritte Staaten berühren können und nach Art. 107 solangerechtmäßig seien, als die Maßnahmen nur in

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    irgendeiner Beziehung zu einem ehemaligen Feindstaat stehen.Der Streit um die Berlinblockade im Jahre 1948 vor den VereintenNationen demonstrierte die unterschiedliche Auslegung derFeindstaatenklauseln unter den Siegermächten. (Vgl. UN SecurityCouncil, 3rd year, 361st und 362nd meeting).

    Die Behandlung der Blockade in den Vereinten Nationen stellthinreichend klar, daß sich die UdSSR mit ihrer extensiven, dieRechtspositionen dritter Staaten nicht berücksichtigendenAuslegung der Feindstaatenklauseln in der Staatenpraxis nichtdurchsetzen konnte. Kriegsfolge- und Präventivmaßnahmen gegenFeindstaaten sind dann unzulässig, wenn mit ihnen mittelbar oder

    unmittelbar nachteilige Einwirkungen auf die Rechte eines drittenStaates verbunden sind. Die UdSSR hat auch nach der BerlinerBlockade nicht mehr versucht, Maßnahmen gegen die ehemaligenVerbündeten auf dem Territorium eines Feindstaates alsKriegsfolgemaßnahmen nach Art. 107 hinzustellen.

    4) Die Feindstaatenklauseln gefährden durch die Gestattung vonKriegsfolge- und Präventivmaßnahmen, die heute fast

     zwangsläufig die Positionen unbeteiligter

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    Dritter berühren, nicht nur den internationalen Frieden, sondernden gesamten von der Weltorganisation geschaffenenNormenbereich. Der Dispens der Siegermächte von densatzungsgemäßen Pflichten läßt sich nämlich nur schwer

    abgrenzen. Entbinden die Feindstaatenklauseln die Siegermächteetwa nur vom Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt(Art. 2 Ziff. 4) und von der Verpflichtung zur friedlichenStreitbeilegung (Art. 2 Ziff. 3, 33 Abs. 1) oder werden sie auch vonder Befolgung des Grundsatzes der Selbstbestimmung (Art. 1 Ziff.2, 55), von der Achtung der Menschenrechte (Art. 1 Ziff. 3, 55 lit.c) freigezeichnet?

    a) Eigentliches Ziel der Feindstaatenklauseln ist die Freistellungder Siegermächte und der Anti-Feindstaaten-Koalitionen von der in

    Art. 2 Ziff. 4 der Charta enthaltenen Verpflichtung derMitgliederstaaten, »in ihren internationalen Beziehungen jedegegen die territoriale Unversehrtheit oder die politischeUnabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielender Vereinten Nationen unvereinbaren Androhung oder Anwendungvon Gewalt« zu unterlassen. Mit Art. 2 Ziff. 4 korrespondieren dieArt. 2 Ziff. 3 und Art. 33 ff. der Charta, die die Verpflichtung -

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    zur friedlichen Streitbeilegung enthalten. Auch dieseBestimmungen finden bei Maßnahmen im Rahmen derFeindstaatenklauseln keine Anwendung.

    a) [b] Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland haben denin der Präambel zum Grundgesetz vom 23. Mai 1949 enthaltenenAuftrag zur Wahrung und Vollendung der nationalen undstaatlichen Einheit mit der Forderung des deutschen Volkes auffreie Selbstbestimmung artikuliert; hieran hält auch diegegenwärtige Bundesregierung fest, wie der anläßlich derUnterzeichnung des Moskauer Vertrages im sowjetischen

    Außenministerium übergebene »Brief zur deutschen Einheit« zeigt.Es ist deshalb für die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik vonentscheidender Bedeutung, ob Kriegsfolgemaßnahmen nach Art.107 sich am »Selbstbestimmungsrecht der Völker« auszurichtenhaben, ob etwa z. B. die Siegermächte beim Friedensvertrag mitDeutschland das »Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes«respektieren müssen. Das »Selbstbestimmungsrecht der Völker«ist in Zusammenhang mit den Feindstaatenklauseln insoweitproblematisch, als es sich hier nicht wie beim

    Gewaltanwendungsverbot

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    und beim Prinzip der friedlichen Streiterledigung um die Frage derMittel handelt, mit denen Kriegsziele durchgesetzt werden können,

    sondern um die Kriegsziele selbst. Die Kriegsziele der Alliiertenerschienen zunächst programmatisch in Roosevelts Erklärung überdie »Vier Freiheiten« vom 6. Januar 1941, die dann in dergemeinsamen britisch-amerikanischen Erklärung über dieFriedensziele vom 14. August 1941 als »Atlantikcharta«  Gestaltgewannen. Die Atlantikcharta enthält u. a. ein Bekenntnis zumSelbstbestimmungsrecht.

    Nach der Beendigung des Krieges sollten keineGebietsvergrößerungen eintreten (Ziff. 1), Gebietsveränderungennur mit der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung erfolgen(Ziff. 2), ferner wurde den Völkern die freie Wahl derRegierungsform zugesichert.

    Am 24. September 1941 stimmten auf der interalliierten Konferenzin London zehn weitere Staaten zu – die UdSSR und Polenallerdings nur mit dem Vorbehalt, daß die Grundsätze derAtlantikcharta »den Umständen, Notwendigkeiten und historischenBesonderheiten ihrer Länder« Rechnung tragen müßten. DiePrinzipien der Atlantikcharta waren damit von Anfang an

    61relativiert; spätestens auf der Konferenz von Casablanca im Januar1943 sagten sich auch die westlichen Alliierten mit ihrer Forderungnach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands von ihrenFriedenszielen los.

    Anders als Wilsons 14 Punkte vom 8. Januar 1918, die durch diedeutsche Note vom 3. Oktober 1918 »als Grundlage für dieFriedensverhandlungen« angenommen wurden, verpflichtet die

     Atlantikcharta  die Siegermächte nicht , mit Deutschland nach den

    dort aufgeführten Grundsätzen zu verfahren. Die Atlantikchartahatte – obgleich in der deutschen Literatur immer wieder alsangebliche Rechtsgrundlage des Selbstbestimmungsrechtsangeführt – in erster Linie nur politische Bedeutung: DenKriegszielen Hitlerdeutschlands sollten die an hohen Prinzipienausgerichteten Friedensziele der Alliierten entgegengestelltwerden, die nicht zuletzt auch der amerikanischen Bevölkerungden Eintritt der damals noch neutralen Vereinigten Staaten in den2. Weltkrieg erklären sollten. Als sich das Blatt zugunsten derAlliierten gewendet hatte, machten sehr rasch die moralischen

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    Prinzipien dem »vae victis« Platz. Es muß deshalb davonausgegangen werden, daß die Siegermächte

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    bei der Verwirklichung ihrer Kriegs- und Nachkriegsziele durch dieFeindstaatenklauseln auch vom Selbstbestimmungsrecht derVölker entbunden werden – ganz gleich, ob man nun der Chartaeine echte Rechtspflicht der Mitglieder zur Achtung des Willenseiner bestimmten Bevölkerung bei der Organisierung von Staatenund Regelung von Grenzen entnimmt oder unter»Selbstbestimmungsrecht« nur eine von vielen Staatenanerkannte (aber keineswegs überall verwirklichte!)rechtspolitische Richtlinie versteht.

    c) Etwas anderes gilt nur für die Menschenrechte. Es handelt sichhier um individuelle Rechtspositionen, die außerhalb desallgemeinen völkerrechtlichen Systems staatlicherBerechtigungssubjekte stehen. Die Abgrenzung der vomVölkerrecht garantierten Rechtsposition Einzelner von derRechtsposition von Staaten als den geborenen und generellenVölkerrechtssubjekten erscheint wichtig, da sich dieFeindstaatenklauseln nur mit Maßnahmen gegen Staaten, nichtaber gegen Individuen befassen.  Bei einer totalen Kriegführungund einer ebenso totalen Reaktion der Siegermächte erscheint eszwar schwierig, den staatlichen Bereich, in dem alle Maßnahmen

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    gestattet sind, und den individuellen Bereich, in dem gewisseGrundpositionen menschlichen Lebens unangetastet bleiben sollen,voneinander scharf zu trennen. Immerhin hat die Charta einigewichtige, wenn auch konkretisierungsbedürftige Grundsätzeaufgestellt. Art.1 Ziff. 3 der Charta nennt unter den Zielen derWeltorganisation ausdrücklich »die Achtung vor den

    Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschiedder Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion;« ähnlichePrinzipien finden ihren Ausdruck in den Artikeln 13 (1) b; 55 (c),56, 6 II, 58 und 76 c. Für die internationale Absicherung derMenschenrechte ist insbesondere Art. 56 bedeutsam, wonach dieMitgliedstaaten sich verpflichten, gemeinsam und einzeln inZusammenarbeit mit der Weltorganisation für die Erfüllung derMenschenrechte tätig zu werden. Wie beimSelbstbestimmungsrecht, so taucht zwar auch hier wiederum dieFrage auf, ob es sich nur um Programmsätze für künftig erst zu

    verwirklichendes Recht oder schon um unmittelbar verpflichtende

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    Normen handelt. Trotz mangelnder Präzision erscheinen jedoch dieMenschenrechte nach der Charta wie auch nach dem Willen derGründungsmitglieder

    64als echte Rechtsverpflichtungen, wobei allerdings einvölkerrechtliches Erzwingungsverfahren, wie es z. T. im Rahmender europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechteund Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950  verwirklicht wurde,gegenüber UN-Mitgliedern fehlt.

    Daß die Menschenrechte auch der Feindstaatenbevölkerung beiKriegsfolgemaßnahmen beachtet werden sollten, ergibt sich auszahlreichen Dokumenten. So sollte die Vertreibung der Deutschen

    aus den Ostgebieten – in Pkt. XIII des Potsdamer Abkommens als»ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile«umschrieben – mit den Menschenrechten bemäntelt werden und»in humaner Weise erfolgen«. Die Friedensverträge mit denFeindstaaten (Italien: Art. 15, 19 IV; Finnland: Art. 6; Ungarn:Art.2; Rumänien: Art.3; Bulgarien: Art.2), der Staatsvertrag mitÖsterreich vom 15. 5. 1955 (Art. 6) und auch der sowjetischeEntwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland von 1958/59 (Art.14) verankern die Menschenrechte. Die Generalversammlung hatauch ihre Zuständigkeit für die Wahrung der Menschenrechte inFeindstaaten mehrfach bejaht. (Vgl. etwa in bezug auf die in

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    der UdSSR zurückgehaltenen Kriegsgefangenen Res. 427 (V) ).

    IV. Die Einschränkung der Kompetenzender Vereinten Nationen

    Die Behandlung der Befugnisse der Siegermächte bei Kriegsfolge-und Präventivmaßnahmen haben deutlich werden lassen, daß dieFeindstaatenklauseln nicht nur als Erlaubnisnormen erscheinen, dieden Siegermächten gestatten, Aktionen vorzunehmen, die sonstnach der Charta verboten sind; sie schränken weiter auch dieKompetenzen der Weltorganisation auf dem Gebiete derinternationalen Friedenssicherung ein. Dies hat nun diebedeutsame Folge, daß die Siegermächte bei der Durchführungvon Maßnahmen gegen einen Feindstaat praktisch zum Richter ineigener Sache werden.

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    1) Befugnis der Feindstaaten, die UN anzurufen

    Zunächst erscheint die Frage, ob ein Feindstaat, der nicht Mitgliedder Vereinten Nationen geworden ist, überhaupt die

    Weltorganisation mit seinen Problemen befassen kann. Nach Art.11 Abs. II, 35 Abs. II der Charta kann auch ein Nichtmitgliedstaatder Generalversammlung eine Frage zur Erörterung vorlegen, diedie Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheitbetrifft. Zweifel erscheinen jedoch insoweit

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    berechtigt, als bei der Beratung der genannten Artikel in SanFrancisco mehrfach die Ansicht geäußert wurde, daß Feindstaatenkeinerlei institutionelle Rechte im Rahmen der Weltorganisation

    haben sollten.In der Praxis der Vereinten Nationen hat die Frage bislang nochkeine Rolle gespielt, da die Probleme der Feindstaaten immer vondritten Staaten aufgegriffen wurden.

    2) Maßnahmen und Zuständigkeiten der VereintenNationen hinsichtlich Feindstaaten

    Aber auch wenn man den ehemaligen Feindstaaten das Recht auf

    Anrufung der Vereinten Nationen nach Art. 11 Abs. II und 35 Abs.II der Charta einräumt, so kann doch die Weltorganisation imRahmen ihrer Aufgabe zur Friedenssicherung nicht Maßnahmen derSiegermächte nach den Feindstaatenklauseln unterbinden odermodifizieren. Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob dieWeltorganisation nicht Angelegenheiten behandeln kann, die zwarmit der Regelung von Folgen des 2. Weltkriegs in Zusammenhangstehen, die aber eine nach den Feindstaatenklauseln berechtigteNachkriegsmaßnahme nicht unmittelbar berühren. Die Frage freierWahlen in Deutschland hat in der Praxis der Weltorganisationwesentlich zur Klärung dieser schwierigen Abgrenzungsfragebeigetragen.

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    Durch die gemeinsame Note vom 5. November 1951 an denGeneralsekretär beantragten die drei Westmächte die Aufnahmefolgenden Punktes auf die Tagesordnung der Generalversammlungder Vereinten Nationen: »Einsetzung einer unparteiischeninternationalen Kommission unter der Aufsicht der Vereinten

    Nationen zur Durchführung einer gleichzeitigen Untersuchung in

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    der Bundesrepublik Deutschland, in Berlin und in der SowjetzoneDeutschlands, um festzustellen, ob die dort gegebenenBedingungen die Abhaltung tatsächlich freier Wahlen in allendiesen Gebieten ermöglichen« (UN Documents A/1938). Dem

    Antrag widersprachen die Ostblockstaaten und Israel  unter Hinweisauf Art. 107 der Charta. Sie führten aus, Art. 107 nehme derWeltorganisation alle Zuständigkeit in dem Bereich derLiquidierung der Folgen des 2. Weltkriegs; es sei nach 1945 zueiner Kompetenzteilung zwischen der Weltorganisation und denSiegermächten gekommen, wonach die Vereinten Nationen nur fürdie allgemeine Friedenssicherung zuständig seien, den Alliiertenaber die Regelung der besonderen, aus Kriegsfolgen entstandenenFragen obliegen sollte. Für Deutschland sei demzufolge – wie im

    Potsdamer Abkommen geregelt – der Außenministerratausschließlich zuständig. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten  vertratdem gegenüber die Ansicht, Art. 107 der Charta sei keine»Kompetenznorm«, sondern nur eine »Erlaubnisnorm«. DieSiegermächte könnten

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    nach den Feindstaatenklauseln zwar Maßnahmen ergreifen, die imWiderspruch zu anderen Bestimmungen der Satzung stünden; dieswürde aber die grundsätzliche funktionelle Zuständigkeit von

    Sicherheitsrat und Generalversammlung nach den Kapiteln IV, VIund VII der Charta nicht beeinträchtigen. Art. 107 verbiete nichtErörterungen, die Probleme eines Feindstaates zum Gegenstandhaben; nach seinem Wortlaut werde die Kompetenz derWeltorganisation nur insoweit eingeschränkt, alsGeneralversammlung und Sicherheitsrat keine Handlungenvornehmen dürfen, die eine statthafte Kriegsfolgemaßnahme einerverantwortlichen Siegermacht »unwirksam machen« oder»ausschließen« würde; dies sei bei der Erörterung von Problemenund Empfehlung von Maßnahmen in bezug auf einen Feindstaat

    nicht der Fall.

    Die Generalversammlung ernannte am 20. Dezember 1951 eineKommission für freie deutsche Wahlen und bot ihre Garantie fürdie Freiheit der Wahlen an (Resolution 510 (VI), UNYB 1951, 325).

    Da die Kommission jedoch nicht in die Sowjetzone einreisendurfte, legte sie am 31. Juli 1952 einen Abschlußbericht ohneErgebnis vor und vertagte sich auf unbestimmte Zeit.

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    3) Streit zwischen Siegerstaaten über einen Feindstaat

    Die Diskussion über freie Wahlen in Deutschland vor derGeneralversammlung hat noch ein weiteres Problem

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    deutlich werden lassen: Die Differenzierung zwischen einem Streitzwischen Sieger und Feindstaat einerseits und einem Streitzwischen den Siegermächten über einen Feindstaat andererseits.Gerade der Streit unter den Siegerstaaten über einen Feindstaaterscheint heute eher wahrscheinlich, da die Feindstaaten ohneAusnahme in das jeweilige Blocksystem integriert sind. DieMehrheit der Mitgliedstaaten vertrat 1951 die Auffassung, daß dieFeindstaatenklauseln lediglich Beschwerden der Feindstaaten vor

    der Weltorganisation ausschließen; sie entzögen dagegen nichtden Vereinten Nationen die Befugnis, sich mit Streitigkeiten

     zwischen den Mitgliedern  über die Behandlung der ehemaligenFeindstaaten zu beschäftigen.

    4) Befugnisse im Zusammenhang mit Friedensverträgenmit ehemaligen Feindstaaten

    Der Abschluß von Friedensverträgen mit den Feindstaaten zählt zu

    den typischen Kriegsfolgemaßnahmen des Art. 107; gerade hiersollten die Siegermächte freie Hand haben. So hat auch dieWeltorganisation, obgleich für die Aufrechterhaltung desWeltfriedens primär verantwortlich, auf den Abschluß derFriedensverträge mit Bulgarien, Finnland, Italien, Rumänien undUngarn, sowie mit Japan keinen Einfluß genommen. DasAusbleiben des

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    Friedensvertrags mit Deutschland   und die damit verknüpften

    internationalen Spannungen haben jedoch die Frage aufgeworfen,ob hier nicht die Weltorganisation im Interesse des Weltfriedenstätig werden könnte. Sicherlich können die Vereinten Nationenbeim Friedensschluß ihre guten Dienste anbieten und auchEmpfehlungen aussprechen; es ist ihnen jedoch verwehrt,gestaltend auf die Beziehungen zwischen den verantwortlichenSiegerstaaten und den Feindstaaten einzuwirken.

    Der Völkerbund war in vielfacher Hinsicht Vollstreckungsorgan dernach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Friedensverträge. Die

    Übernahme derartiger Aufgaben durch die Vereinten Nationen

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    sieht die Charta nicht vor. Dennoch könnten den VereintenNationen — etwa durch Friedensverträge — die Aufgaben derDurchführung und Abwicklung friedensvertraglicher Regelungenübertragen werden. Der Friedensvertrag mit Italien vom 10. 2.

    1947 wäre hier gleichsam ein Präzedenzfall: Dem Sicherheitsratwar hier die Kontrolle über das geplante Freie Territorium vonTriest zugedacht worden; die Generalversammlung übernahm dieAufgabe der Verfügung über die

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    italienischen Kolonien. Der Friedensvertrag mit Italien  bot weiterGelegenheit, die Frage nach einer Revision der Friedensverträgedurch die Vereinten Nationen zu erörtern. Art.19 der Satzung desVölkerbundes gab der Bundesversammlung das Recht,völkerrechtliche Verträge von Zeit zu Zeit auf ihre Vereinbarkeitmit den Anforderungen der internationalen Friedensordnung zuüberprüfen. 1945 hat namentlich die UdSSR  die Aufnahme einerähnlichen Bestimmung in die Charta verhindert; sie argumentierte,die Aufnahme einer Klausel über die Revision von völkerrechtlichenVerträgen würde den besiegten Feindstaaten helfen, sich denihnen in den Friedensverträgen aufzuerlegenden Verpflichtungen

     zu entziehen. Dennoch befaßte sich die Generalversammlungbereits im September 1947, veranlaßt durch den von Ekuador  und

    Honduras  unterstützten Antrag  Argentiniens, mit der Frage derRevision des italienischen Friedensvertrags. DieGeneralversammlung sah sich durch Art. 107 nicht gehindert, ineine sachliche Erörterung der Frage einzutreten. Argentinien zog

     jedoch später seinen Antrag zurück, da wenige Monate nachAbschluß des Friedensvertrages geringe Aussicht auf eineerfolgreiche

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    Revision bestand (vgl. UN, General Assembly, Official Records,

    S.15 ff. v. 20. 9. 1947 und S.527 v. 19. 11. 1947). Auch hier istdavon auszugehen, daß die Anpassung völkerrechtlicher Verträgean veränderte Umstände im zwischenstaatlichen Leben nicht zurNegierung von Kriegsfolgemaßnahmen S. von Art. 107 der Chartaführen darf.

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    V. Die Feindstaatenklauseln und dasVölkerrecht

    Trotz der von den Vereinten Nationen angestrebten Universalitätist die satzungsgemäße Ordnung der Weltorganisation keineswegsidentisch mit der allgemeinen zwischenstaatlichen Ordnung, daimmer noch einige wichtige Staaten außerhalb derWeltorganisation stehen und auch die Mitgliedstaaten nicht dengesamten Bereich ihrer zwischenstaatlichen Beziehungen derKontrolle der Vereinten Nationen unterworfen haben. Strenggenommen, ist das Verhältnis zwischen den Normen der Chartaund denen des allgemeinen Völkerrechts ähnlich dem Verhältniszwischen der Satzung eines Vereins und der allgemeinen

    Rechtsordnung im innerstaatlichen Recht. Die Vereinten Nationensind ein Sonderrechtskreis, der auf partikulärem Völkerrechtaufbaut. Dieses partikuläre Völkerrecht bindet Staaten, dieaußerhalb dieses Rechtskreises stehen, ebensowenig, wie iminnerstaatlichen Recht spezielle Normen einer VereinssatzungAußenstehende verpflichten können.

    1) Es ist hier natürlich einzuräumen, daß in vielen Bereichen derCharta das Recht der Vereinten Nationen identisch ist mit denNormen des allgemeinen zwischenstaatlichen Rechts, daß insoweit

    die Charta nur eine Kodifizierung bereits bestehendenVölkergewohnheitrechts darstellt. Die in den Art. 53 und 107 derCharta geregelte Materie zählt jedoch sicher nicht zu dem Bestandder Normen, die 1945 im allgemeinen völkerrechtlichenGewohnheitsrecht vorgefunden und von der Charta nurübernommen wurden. Daß die Feindstaatenklauseln mit denallgemeinen Normen des Völkerrechts in einem Zusammenhangstehen, wurde nur von der Literatur im Ostblock vertreten; geradedie Völkerrechtslehre in der DDR hat immer wieder versucht, dieFeindstaatenklauseln durch allgemeine völkerrechtlicheErwägungen abzusichern und ihren diskriminierenden Charakter zuleugnen. Bernhard Graefrath schreibt in seinem Beitrag »Dieantifaschistischen

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    Klauseln der UN-Charta und der Gewaltverzicht«:

    »Es handelt sich (beim Artikel 107) ... um die Anwendungder allgemeinen völkerrechtlichen Normen gegenüber den

     Aggressorstaaten des zweiten Weltkriegs. Völkerrechtlich

    diskriminiert wird der Friedensbruch, und es wird die

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    Verantwortlichkeit des Staates sowie seiner Funktionäre fürdieses völkerrechtswidrige Verhalten fixiert« (Neue Justiz1968, D. 690).

    Ein Widerspruch in den Ausführungen Graefraths zu denFeindstaatenklauseln ergibt sich bereits aus den eben zitiertenSätzen: Die Regelung eines speziellen  Einzelfalles, nämlich dieBeziehungen gegenüber den »Aggressorstaaten des zweitenWeltkriegs«, schafft kein allgemeines Völkerrecht. Auch werden dieFolgen der unerlaubten Aggression keineswegs »fixiert«. DieFeindstaatenklauseln sollen den Siegermächten gerade freie Handlassen. Die Regelung der Verantwortlichkeit eines Staates fürvölkerrechtswidriges Verhalten kann nur dann die Normen desallgemeinen Völkerrechts für sich beanspruchen, wenn sie rechtlich

    begrenzt ist auf die Verpflichtung zu künftig rechtmäßigemVerhalten und zur Wiedergutmachung. Verneint man eine derartigesachbezogene Begrenzung

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    und räumt den Siegermächten demgegenüber ein im Prinzipschrankenloses Recht zu Kriegsfolge- und Präventivmaßnahmenein, so bleibt im Grunde lediglich Willkür, die mit Recht nichtsgemein hat. Das Prinzip der »Vogelfreiheit« oder »Friedlosigkeit«hat in der allgemeinen Friedensordnung des 20. Jahrhundertskeinen Platz. Aber auch die von Graefrath angesprocheneindividuelle Verantwortlichkeit für sog. »Verbrechen gegen denFrieden«  ist über eine einsei