Dirk Reinhardt: Anastasia Cruz. Die Höhlen von Aztlán

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Dirk Reinhardt AnAstAsiA Cruz Die Höhlen von Aztlán Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher

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Mexico City, eine Megastadt mit zwanzig Millionen Einwohnern — laut, lebendig und chaotisch. Doch unter dieser Oberfläche liegen die Überreste Tenochtitláns verborgen, der einstigen Hauptstadt der Azteken. Und deren Schätze warten nur darauf, wiederentdeckt und ans Licht gebracht zu werden.

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Dirk Reinhardt

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AnAs tAs i A C r uz

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I n h a l t s v e r z e i c h n i s

1. Die Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Eine mysteriöse Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. In der Stadt der Azteken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Paco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Im Staub der Jahrhunderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6. Die Entschlüsselung der Karte . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7. In der Geisterhöhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 8. Von Göttern und Eroberern . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9. Die Wahrsagerin und der Bettler . . . . . . . . . . . . . . 183 10. Eine Falle für die Zorak-Brüder . . . . . . . . . . . . . . 208 11. Im Restaurant »Azteca« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 12. Nebel über den schwimmenden Gärten . . . . . . . . 259 13. Horatio Eldergast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 14. Belauschte Geheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 15. Der Einstieg in die Unterwelt . . . . . . . . . . . . . . . . 332 16. In der Halle der Jaguarkrieger . . . . . . . . . . . . . . . . 348 17. Die Brücke von Aztlán . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 18. Der Weg durch die Sieben Höhlen . . . . . . . . . . . . 400 19. Gefangen unter der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 20. Schliemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 21. Ein unvergesslicher Abend . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

Aztekische Namen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

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Für Ulrike und Pablo,ohne die es dieses Buch nicht geben würde

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D i e R ü c k k e h r

Großes war geschehen im fernen Mexiko. Die Kunde davon hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und heute war der Tag, an dem die Helden in die Heimat zurückkehrten. Schon am Vormittag versammelten sich Tausende von Schaulustigen am Flughafen. Viele Kinder waren darunter, ganze Schul-klassen stürmten die Schalterhalle. Eine bunte Menge wogte dort, wo sonst nur grau gekleidete Geschäftsleute zu ihren Flügen hasteten.

»Wer ist eigentlich diese Anastasia Cruz, dass ihretwegen ein solcher Zirkus veranstaltet wird?«, schimpfte ein Mann mit Aktentasche, der mitten in eine lärmende Schulklasse hineingeraten war.

»Weißt du das etwa nicht?«, fragte ihn ein Mädchen, das direkt vor ihm stand, empört. »Sie ist eine Heldin!«

»Heldin? Pah! Dass ich nicht lache!«, schnaubte er. »Nach allem, was ich gehört habe, ist sie nichts weiter als eine Göre, die ihre Nase in Sachen steckt, die sie nichts angehen. Sie kann von Glück sagen, dass sie überhaupt noch lebt – nach allem, was sie angerichtet hat.«

Das Mädchen wollte entrüstet antworten, aber ihre Leh-rerin kam ihr zuvor. »Lasst den Mann durch!«, sagte sie. »Er hat dringende Geschäfte zu erledigen. Und bestimmt keine Zeit, sich um Helden zu kümmern.«

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Szenen wie diese gab es viele. Gegen Mittag war die Schal-terhalle endgültig hoffnungslos überfüllt – ein komplettes Chaos drohte den Flughafen lahmzulegen. Endlich hatten die Sicherheitskräfte ein Einsehen. Sie öffneten die Türen zur Dachterrasse und zu einem abgesperrten Areal am Rand des Rollfelds. Die Menge drängte hinaus.

»Nun sieh dir bloß all die Leute an«, sagte eine Frau mit leuchtend roten Haaren, die sich einen guten Platz an der Brüstung der Dachterrasse gesichert hatte, zu ihrer Beglei-terin. »Und es werden immer mehr. Es hört gar nicht auf!«

»Ist ja auch kein Wunder«, erwiderte ihre Freundin. »Seit Tagen steht nichts anderes in den Zeitungen. Keine Nach-richtensendung ohne das Neueste aus Mexiko. Da wollen die Leute natürlich sehen, wer diese Anastasia Cruz eigentlich ist – nachdem sie schon so viel von ihr gehört haben.«

»Ich will vor allem Schliemann sehen«, mischte sich ihr Sohn ein, der neben ihr stand und sich vergeblich abmühte, über die Brüstung zu schauen. »Er hat ihr das Leben geret-tet!«

»Ja, das stimmt«, sagte seine Mutter und schüttelte nach-denklich den Kopf. »Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie diesen Hund nicht gehabt hätte!«

»Und vergiss nicht den Indianerjungen, der ihr geholfen hat«, sagte die Rothaarige. »Ohne ihn würde sie gar nicht in diesem Flugzeug sitzen!« Sie wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber plötzlich abgelenkt. »Seht mal da drüben!«, rief sie. »Das Fernsehen ist da!«

Tatsächlich hatte die Menge einen schmalen Korridor freigegeben, durch den sich nun ein Kamerateam hindurch-schob. Den Mann mit dem Mikrofon, der an der Spitze ging, kannten alle hier. Es war Rufus Pinkerton, einer der bekann-testen Fernsehreporter des Landes, der zugleich eine beliebte

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allabendliche Talkshow moderierte. Mit einem breiten Grin-sen schritt er zum vorderen Rand der Terrasse und genoss dabei sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde. Während er noch lässig ein paar Scherze machte, trat eine Mitarbeiterin zu ihm und begann sein Gesicht zu pudern. Ein paar Kinder, die in der Nähe standen, kicherten, aber Pinkerton brachte sie mit einem bösen Blick zum Schweigen.

Schließlich war alles für seinen Auftritt hergerichtet. Er warf sich vor der Kamera in Positur und begann zu sprechen. »Verehrte Zuschauer! Was sich in den letzten Tagen und Wochen in Mexiko ereignet hat, klingt wie ein modernes Märchen. Aber es unterscheidet sich in einem Punkt von all den anderen modernen Märchen unserer Zeit: Es ist wirklich passiert!«

Er drehte sich um und wies mit einer weit ausholenden Handbewegung auf die Landebahn. »In wenigen Minuten wird hier auf dem Londoner Flughafen Heathrow die Ma-schine der British Airways aus Mexico City landen. Tausende sind gekommen, um dieses Ereignis mitzuerleben. Denn an Bord befindet sich niemand anderes als Anastasia Cruz, das zwölfjährige Mädchen, das uns mit seinen Abenteuern so sehr in Atem gehalten hat. Begleitet wird sie von ihrem Vater, dem deutschen Archäologen Professor Paul Kimbel – der, wie Sie wissen, seit vielen Jahren hier in England an der Uni-versität Oxford lehrt –, und von ihrem treuen Hund Schlie-mann, den sie nach keinem Geringeren als Heinrich Schlie-mann, dem Entdecker der Ruinen von Troja, benannt hat.«

Mit diesen Worten wandte sich Pinkerton einem kleinen, spitzbärtigen Mann zu, der schon eine ganze Weile schwei-gend neben ihm gestanden hatte. »Bei uns ist nun Professor Langley, einer der größten Experten auf dem Gebiet der alt-amerikanischen Kulturen. Herr Professor, verraten Sie uns

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bitte: Wie würden Sie die sensationelle Entdeckung in Me-xiko aus wissenschaftlicher Sicht einordnen?«

Der Angesprochene strich sich nachdenklich über seinen Bart. »Leider hatte ich noch nicht die Gelegenheit, den Fund persönlich in Augenschein zu nehmen«, sagte er dann. »Aber nach dem, was mir die Kollegen vor Ort berichtet haben, scheinen die Fundstücke für die Wissenschaft von geradezu unschätzbarem Wert zu sein. Ja, ich möchte so weit gehen zu behaupten, dass dieses Ereignis auf eine Stufe zu stellen ist mit der Öffnung des Grabes von Tutanchamun oder der Ent-deckung von Machu Picchu oder der Freilegung der Ruinen von Troja oder auch –«

»Ja, ja«, fiel ihm Pinkerton ins Wort. »Aber wie erklären Sie sich dann, dass diese Entdeckung nicht von einem Ihrer ehrenwerten Fachkollegen gemacht worden ist, sondern von einem zwölfjährigen Mädchen?«

»Nun, ob das wirklich so gewesen ist, wird noch nach-zuprüfen sein«, sagte Professor Langley und warf Pinkerton einen scharfen Blick zu. »Wie Sie ja wohl selbst am besten wissen, junger Freund, lieben die Medien solche Geschich-ten und bauschen sie gerne auf. Aber wenn es wirklich die Entdeckung der Tochter meines geschätzten Kollegen Kim-bel war, dann kann es sich nur um eine Verkettung glück-licher Umstände handeln und keineswegs um das Ergebnis logischer Überlegungen.«

Bei diesen Worten begann die Menge deutlich vernehm-bar zu murren. Pinkerton nutzte die Gelegenheit und wandte sich von Langley ab. »Wie Sie sehen, verehrte Zuschauer«, sagte er, »sind keineswegs alle Anwesenden der gleichen Mei-nung wie Professor Langley.«

Er ging zu einer Gruppe von Leuten, die sich besonders lautstark geäußert hatten. »Was sagen Sie dazu?«, fragte er

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und hielt einem Mann mit schwungvoller Bewegung das Mikrofon unter die Nase.

»Ich glaube kaum, dass er auch nur ansatzweise etwas Derartiges zustande gebracht hätte«, sagte der Mann und nickte zu Langley hinüber, der mit säuerlicher Miene zu-hörte. »Dazu reicht nämlich ein kluger Kopf nicht aus. Man braucht vor allem ein mutiges Herz. Denken Sie nur daran, wie Anastasia in diesem Käfig tief unter der Erde –«

Gerade in diesem Augenblick jedoch setzte ein Flugzeug mit ohrenbetäubendem Lärm zur Landung an, sodass der Rest seiner Worte verschluckt wurde. Pinkerton wandte sich kurzerhand von dem Mann ab und sah wieder in die Kamera. »Tja, das ist live, verehrte Zuschauer, wie Sie es von uns ge-wohnt sind«, sagte er mit einem verheißungsvollen Lächeln und warf dann einen Blick auf seine Uhr. »Wie ich sehe, wird Anastasia in wenigen Minuten bei uns sein. Und wir hoffen, dann exklusiv für Sie das erste Interview mit ihr führen zu können. Und, wer weiß? Vielleicht spricht ja sogar der alte Schliemann noch ein paar Worte zu uns.«

Die Menschenmenge war unterdessen verstummt. Alle starrten erwartungsvoll zum Himmel empor. Dann war ein Raunen zu hören. Ein silberner Punkt erschien am Hori-zont – zunächst ganz klein, dann rasch größer werdend. Das Warten, so schien es, hatte ein Ende.

Anastasia beugte sich zum Fenster und blickte hinab. Stun-denlang war dort unten nichts als Wasser gewesen, nun war endlich wieder Land in Sicht. Bald würde sie zu Hause sein, in Oxford, wo sie lebte, seit ihr Vater dort Professor gewor-den war. Das war vor neun Jahren gewesen. Davor hatten sie in Deutschland gewohnt, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Ihre Heimat kannte sie nur von alten Bildern.

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Sie freute sich darauf, wieder nach Hause zu kommen. Dennoch war der Abschied von Mexiko, wo sie die letzten vier Wochen verbracht hatte, nicht leicht gewesen. Einige Menschen, die sie dort kennengelernt hatte, waren ihr richtig ans Herz gewachsen, und nun würde es wohl ziemlich lange dauern, bis sie sie wiedersehen konnte. Als sie daran dachte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, streckte die Hand unter ihren Sitz und kraulte das weiche Fell des Hundes, der sich dort zusammengerollt hatte.

Kaum hatte sie ihn berührt, spürte sie auch schon seine raue Zunge an ihrer Hand. Guter alter Schliemann, dachte sie und beugte sich vor, um ihn anzusehen. Sofort spitzte er die Ohren und richtete seine klugen braunen Augen auf sie. Er wusste immer am besten, was sie dachte und fühlte – so als könnte er es mit seiner empfindlichen Nase erschnuppern. Vor zwei Jahren hatte sie ihn im Tierheim entdeckt: einen jungen, noch etwas tapsigen Sibirischen Schlittenhund, grau-schwarz gescheckt, mit einem weißen Kopf. Sie hatten sofort einen Narren aneinander gefressen und waren seitdem un-zertrennlich. Anastasia schob ihm noch schnell eine Leckerei zu, dann lehnte sie sich wieder in ihren Sitz zurück.

Als sie erneut aus dem Fenster sah, erkannte sie in der Ferne bereits den Flughafen. »Hey! Ich kann die Landebahn sehen«, sagte sie und stieß ihren Vater an, der neben ihr saß.

»Na, das wird auch langsam Zeit«, antwortete der Pro-fessor, legte die Zeitung, in der er gelesen hatte, beiseite und reckte sich. »Ich weiß allmählich nicht mehr, wie ich meine Knochen in diesem Sitz noch unterbringen soll.«

Das war kein Wunder, fand Anastasia. Ihr Vater war sehr groß und hatte sichtlich Mühe, seine langen Beine hinter die Rückenlehne des Vordermannes zu falten. Sie blickte ihn von der Seite an. Seit dem Tod ihrer Mutter María, deren

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Nachnamen sie trug, durfte sie ihren Vater in den Ferien bei seinen Reisen und Ausgrabungen begleiten. Inzwischen war sie mit ihm schon fast auf allen Kontinenten gewesen und hatte dabei mehr von der Welt gesehen, als es vielen anderen in ihrem ganzen Leben vergönnt war. Und bei all den Aben-teuern, die sie auf diesen Reisen erlebt hatte, war ihr Vater stets so etwas wie ein ruhender Pol gewesen, wie ein sicherer Hafen, zu dem sie zurückkehren konnte, wann immer ihr danach war.

Sie wandte den Blick von ihm ab und beugte sich wieder zum Fenster. Der Flughafen war näher gerückt, schon konn-te sie einzelne Gebäude unterscheiden. Und dann sah sie es. Die Maschine flog eine weite Schleife, und die Menschen-menge war jetzt deutlich zu erkennen. Anastasia hielt den Atem an. »Was ist denn da unten los?«, murmelte sie.

Der Professor blickte sie fragend an. »Auf dem Flughafen«, sagte sie. »Überall Leute. Tausen-

de. Auf dem Dach, und sogar unten am Rollfeld, wo eigent-lich gar keiner sein darf.«

Sie lehnte sich zurück, um ihrem Vater Platz zu machen. Er schaute hinab und runzelte die Stirn. »Das hatte ich be-fürchtet«, murmelte er.

»Dann weißt du, worauf die alle warten?«, fragte Anas-tasia. Sie bemühte sich, weitere Einzelheiten zu erkennen, aber die Entfernung war noch zu groß. »Na los, spann mich nicht auf die Folter!«, sagte sie. »Kommt etwa der Papst zu Besuch?«

Der Professor lachte. »Nein, der nun gerade nicht«, sagte er und blickte sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand zuhörte. »Ich glaube, es befinden sich zwei berühmte Per-sönlichkeiten an Bord«, flüsterte er, so als handle es sich um ein großes Geheimnis.

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»Was, hier?«, fragte Anastasia. »Hier bei uns in der Ma-schine?«

Der Professor nickte.»Und du weißt, wer es ist?«»Natürlich!«Anastasia blickte ihn forschend an. Ob er wie so oft ver-

suchte, sie auf den Arm zu nehmen? Er machte ein unschul-diges Gesicht, das war verdächtig. Plötzlich kam ihr eine Idee. »Warten die etwa auf dich?«

Der Professor hob abwehrend die Hände. »Um Himmels willen!«, sagte er lachend. »Ich bin glücklicherweise kei-ne berühmte Persönlichkeit, und das wird hoffentlich auch noch lange so bleiben.«

Gleich darauf aber wurde er wieder ernst, nahm die Zei-tung und reichte sie Anastasia. Und dann begriff sie, wen er mit der berühmten Persönlichkeit gemeint hatte, denn sie sah – sich selbst. Eine ganze Seite war nur ihr und den Ereig-nissen in Mexiko gewidmet.

»Ich habe es auch erst heute erfahren«, sagte der Professor. »Seit Tagen spricht man hier anscheinend von nichts anderem mehr – so wie es zuletzt auch in Mexiko war. Wie es scheint, haben die Zeitungen eine richtige Heldin aus dir gemacht.«

Anastasia starrte auf den Zeitungsartikel. Sie konnte es noch immer nicht begreifen. Natürlich: Was in Mexiko ge-schehen war, erschien ihr selbst unglaublich. Aber mit einem solchen Empfang hatte sie nie und nimmer gerechnet. Sie blickte auf. »Und wen meinst du mit der zweiten berühmten Persönlichkeit?«, fragte sie.

»Schliemann natürlich«, sagte der Professor. »Er ist ein richtiger Star geworden. In dem Artikel steht, dass sich jetzt jedes zweite Kind zum Geburtstag einen Sibirischen Schlit-tenhund wünscht.«

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Anastasia schüttelte ungläubig den Kopf und blickte dann wieder auf den Flughafen hinunter. Die Menge war nun ganz deutlich zu erkennen. Kein Zweifel: Es waren noch viel mehr Leute, als sie zuerst gedacht hatte. »Was wollen die bloß alle von mir?«, fragte sie.

»Dich sehen«, sagte der Professor. »Dir zujubeln. Dir Fra-gen stellen. Dir die Hand schütteln. Was weiß ich?« Er legte Anastasia beruhigend den Arm um die Schultern. »Keine Angst. Lass mich nur machen.«

Bei diesen Worten mischte sich plötzlich die Frau in das Gespräch ein, die auf der anderen Seite des Professors saß und bisher gelangweilt in einem Magazin geblättert hatte. »Kommt man denn in dieser Familie nie zur Ruhe?«, jam-merte sie. »Erst der Trubel in Mexiko, und jetzt geht der gleiche Zirkus wieder von vorne los!«

Anastasia verdrehte die Augen. Auch das noch! Dass die-se Person zu allem ihren Senf dazugeben musste! Gestatten: Eine Gewitterwolke namens Doris, dachte sie. Die – wie hieß es so schön? – »Lebensgefährtin« ihres Vaters, die seit un-gefähr einem Jahr bei ihnen wohnte. Und Anastasia konnte nicht gerade behaupten, dass es das glücklichste Jahr ihres Lebens gewesen war. Die albernen Versuche dieser Doris, sie zu »erziehen«, hatten nur für Ärger gesorgt. Und überhaupt: Wieso redete sie eigentlich von »Trubel« und »Zirkus«? Ihr größtes Abenteuer in Mexiko war es doch gewesen, bei ei-nem nachmittäglichen Einkaufsbummel ins Schwitzen zu geraten. Nur mit einem hatte sie recht, fand Anastasia: Diese Familie würde wirklich nie zur Ruhe kommen – zumindest solange Doris ein Teil von ihr war.

Inzwischen hatte das Flugzeug seine Schleife beendet und schwebte auf die Landebahn zu. Anastasia beobachtete, wie die Menschenmenge in Bewegung geriet. Viele begannen zu

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winken, Transparente wurden geschwenkt. Fast glaubte sie den Jubel selbst im Inneren des Flugzeugs hören zu können. Eingeschüchtert sank sie in ihren Sitz. »Was für ein Emp-fang!«, murmelte sie.

Als die Maschine sicher gelandet war, brandete ohrenbe-täubender Jubel auf – wie bei einem Fußballspiel, wenn die Heimmannschaft in der Schlussminute den Siegtreffer er-zielt. Die Sicherheitskräfte hatten alle Hände voll zu tun, die Menschen hinter den Absperrgittern zu halten. Pinkerton hastete mit seinem Kamerateam von der Dachterrasse, um rechtzeitig am Ort des Geschehens zu sein.

Die Maschine rollte aus und näherte sich mit fauchenden Triebwerken dem Flughafengebäude. In einiger Entfernung blieb sie stehen, eine Gangway wurde herangeschoben. Dann öffnete sich die Tür, und gleich darauf kamen die Passagiere heraus. Sie blickten ungläubig auf den Trubel, der sie emp-fing; die meisten von ihnen hatten wohl erst jetzt erfahren, wer da mit ihnen in der Maschine gesessen hatte.

Nach einigen Minuten hatten alle Passagiere das Flug-zeug verlassen. Nur zwei Stewardessen standen noch auf der obersten Stufe der Gangway und unterhielten sich amüsiert über den ungewöhnlichen Empfang. Die Menge begann all-mählich ungeduldig zu werden. In diesem Moment erschien plötzlich der Professor. Die Leute erkannten ihn und spen-deten höflichen Beifall. Er winkte kurz, drehte sich dann um und schien etwas zu sagen. Gleich darauf kamen Anastasia und Schliemann aus der Tür.

Jetzt war die Menge nicht mehr zu halten. Der Beifall schwoll zu einem Lärm an, der sogar den Krach der landen-den und startenden Flugzeuge übertönte. Anastasia wäre am liebsten wieder ins Flugzeug zurückgerannt und hätte sich

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unter dem erstbesten Sitz verkrochen. Schliemann sah einge-schüchtert zu ihr auf und drängte sich an sie. Sie blickte sich um, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Tausende von Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, winkten und jubelten ihr zu. Es war faszinierend und beängstigend zugleich.

Dann spürte sie die Hand ihres Vaters auf der Schulter. »Na komm, Anastasia«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns!«

Sie stiegen die Gangway hinab und gingen über das Roll-feld. Anastasia kam es vor, als wäre alles nur ein Traum. Undeutlich hörte sie Stimmen aus der Menge, die ihr irgend-etwas zuriefen, aber sie verstand es nicht. Dann passierten sie die Absperrgitter und tauchten in die Menschenmassen ein. Glücklicherweise waren Sicherheitskräfte da, die sie ab-schirmten. Von beiden Seiten reichten Autogrammjäger Stifte und Zettel. Anastasia spürte, wie ihr wildfremde Menschen anerkennend auf den Rücken klopften.

Sie schoben sich durch die Menge, bis sie fast das Flug-hafengebäude erreicht hatten. Dann wurden sie aufgehalten: Pinkerton wartete auf sie. Er lächelte sie an und deutete auf die Kamera.

»Willkommen in der Heimat, Anastasia«, begann er. »Wir sind live auf Sendung. Möchtest du unseren Zuschauern er-zählen, wie du dich fühlst – jetzt, wo du wieder zu Hause bist?«

Anastasia blickte zu Schliemann hinab. Sie fühlte, dass er zitterte. »Er hat Angst«, sagte sie leise.

Pinkerton starrte sie verständnislos an. »Wie bitte?«, frag-te er.

»Schliemann«, sagte Anastasia. »Er fühlt sich nicht wohl, wenn so viele Menschen um ihn herumstehen. Er kann nichts sehen, verstehen Sie?«

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»Ja, ja«, sagte Pinkerton ungeduldig. »Aber verrate uns doch, was du von dem Empfang hältst, den die Menschen dir bereiten. Ist das nicht –«

»Hören Sie, Rufus«, schnitt ihm der Professor das Wort ab, der bereits einmal in Pinkertons Talkshow zu Gast gewe-sen war. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Meine Tochter ist müde von dem langen Flug. Lassen Sie uns bitte durch, ja?« Er schob Anastasia und Schliemann vor sich her und drängte sich an dem lästigen Fragensteller vorüber.

»Aber du versprichst doch, in meine Show zu kommen, Anastasia?«, rief Pinkerton hinter ihnen her.

»Sie wird es sich überlegen«, sagte der Professor. »Rufen Sie mich an, Rufus. Meine Nummer kennen Sie ja.«

Mit diesen Worten eilte er durch die Schalterhalle. Die Leute, die sich dort aufhielten, wichen vor ihm zurück und machten Platz, sodass sie unbehelligt den Ausgang erreich-ten. Draußen winkte der Professor ein Taxi heran und be-deutete ihnen, rasch einzusteigen. Kaum waren die Türen geschlossen, klopften von draußen schon wieder die ersten Autogrammjäger gegen die Fenster.

»Oxford«, sagte der Professor zu dem Fahrer. »Und sehen Sie zu, dass wir schnell hier wegkommen.«

Das Taxi setzte sich in Bewegung. Anastasia atmete tief durch und sank in den Sitz zurück. Sie schloss die Augen. Würde das jetzt für immer so weitergehen? Sie hörte die Stimme ihres Vaters. Er schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Mach dir keine Sorgen, Anastasia«, sagte er. »Es wird genauso sein wie immer: Die Leute vergessen schnell.«

Sie öffnete die Augen wieder und blickte durch das Fens-ter zum Himmel hinauf. Ein Flugzeug war gerade gestartet und stieg jetzt steil empor. Vor vier Wochen waren sie in einer Maschine wie dieser nach Mexiko aufgebrochen. Damals

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hatte sie noch niemand beachtet. Während sie dem Flug-zeug nachblickte, das allmählich in den Wolken verschwand, dachte sie zurück an jenen Tag, an dem das bislang größte Abenteuer ihres Lebens seinen Anfang genommen hatte.