Dissertation

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Das arrangierte Bild Strategien malerischer Fiktion im Werk von Jeff Wall Von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde einer Doktorin der Geisteswissenschaften (Dr. phil.) genehmigte Abhandlung vorgelegt von Valerie Antonia Hammerbacher aus Böblingen Hauptberichter: Prof. Dr. R. Steiner Mitberichter: Prof. Dr. H. Schlaffer Tag der mündlichen Prüfung 22. Dezember 2004 Kunsthistorisches Institut der Universität Stuttgart 2005

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Das arrangierte Bild Strategien malerischer Fiktion im Werk von Jeff Wall Von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde einer Doktorin der Geisteswissenschaften (Dr. phil.) genehmigte Abhandlung vorgelegt von Valerie Antonia Hammerbacher aus Böblingen Hauptberichter: Prof. Dr. R. Steiner Mitberichter: Prof. Dr. H. Schlaffer Tag der mündlichen Prüfung 22. Dezember 2004 Kunsthistorisches Institut der Universität Stuttgart 2005

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INHALTSVERZEICHNIS 2

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung 6

B. Das Fotografische – Paradigma der Sichtbarkeit 14

I. William Henry Fox Talbot – „The Pencil of Nature“ 16

II. Talbots Schlüsselbegriffe in der Fotogeschichte 24

1. „unconsciously recorded“: Baudelaire, das „Neue Sehen“, Benjamin 24

2. Talbots „Abdruck“ und die semiotische Fototheorie von Rosalind Krauss 27

C. „Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen“ 36

I. Die Figuration – Bilder entstehen aus Bildern 38

1. Manets Gemälde als Paraphrase 38

II. Tableau vivant, Attitüde oder Arrangement? 42

1. Was ist ein fotografisches Tableau vivant? 42

2. Was ist eine fotografische Attitüde? 48

3. Was ist ein fotografisches Arrangement? 52

III. Der Spiegel – oder: Wo befindet sich der Betrachter bei Jeff Wall? 54

IV. Arrangement und Indexikalität 61

V. „Fictional narrative“ – Kategorie der inszenierten Fotografie 65

D. Der ausgeschlossene Betrachter – Grundlagen einer optischen Kunst 71

I. Jeff Wall – Maler des modernen Lebens? 73

II. Fotografie als Fensterblick? 75

III. Exkurs: Leon Battista Albertis Konzeption der Malerei 85

IV. Das Sehen ohne Betrachter – die keplersche Sehkultur 93

V. Der Aspekt – Topos der Kunsttheorie 110

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INHALTSVERZEICHNIS 3

E. Erzählung oder Schilderung? 122

I.Dauer oder Moment? 125

II.Exkurs: Malerei als Erzählung 135

1. Das epische Erzählen 136

2. Das dramatische Erzählen 139

3. Der fruchtbare Moment 142

III.Malerei als Schilderung 150

1. Der Schild des Achill als Ursprung der Malerei 150

2. Der Maler als neuer Phidias 156

3. Die Tradition des Handwerks 158

IV.Die Stilllegung der Handlung als Strategie zeitgenössischer Künstler 165

1. Ute Friederike Jürß – „ You Never know the whole Story“ 166

2. Theresa Hubbard / Alexander Birchler – „Gregor’s Room“ 168

V.Tiefe – Guckkasten oder Raumbühne? 170

1. Der Blick ins Innere – Türschwellen- statt Fenstersicht 171

2. Sukzessive Blickbewegung und Distanzpunktverfahren 182

VI.Der Guckkastenraum als Strategie zeitgenössischer Künstler 190

1. Thomas Demand – „Salon“ 190

2. Lois Renner – „Atelier“ 192

3. Sam Taylor-Wood – „Five revolutionary Seconds“ 194

F. „Die Augen betrügen“ – die Ästhetik der Schilderung 197

I.Der ehrliche Betrug – „Fictional narrative“? 201

G. Schlussbetrachtung 215

H. Literaturverzeichnis 218

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Abstract

The Canadian Artist Jeff Wall stages his photographs. By using strategies of pictorial

fiction, he conveys to the viewer that his works are not intended to document reality:

they are works of art. What is it that makes us realize that we are not dealing with a

document but with a staged composition? Can one point out a particular event or a

specific year when “Photographic Document” and “Photographic Fiction” became

distinct? In what tradition does Wall stand, and what are the typical characteristics of

his work? These are the questions investigated in the present thesis. It will concen-

trate in particular on Wall’s 1979 photograph “Picture for Women”. This is a key

picture in which all the characteristics responsible for Wall’s “fictionalization” strat-

egy are to be found. The people are placed in a peep-show type room, and are not

involved in a story that can be told. A story recounted like a written or verbal report

is out of the question. Instead, in Wall’s photographs, action and space are responsi-

ble for a fictional narrative portrayal (schilderij) which stands in a particular picto-

rial tradition. The pictorial portrayal to which Wall refers has its origins in a painting

tradition found north of the Alps – where it is not the text that issues the decisive

directives, but the portrayals on Archilles’ shield – with major consequences for

painting: the duration of the activity is defined by standstill, and the charm of the

paintings lies in the fine details of the presentation. It is by making such allusions

that Wall’s photographs develop into fictional works of art.

His work pioneers an art which has liberated itself from the influence of indexicality

as characterized by the semiologist Charles S. Peirce – both medially and themati-

cally. As a medium, every photograph is an index. But transferring the strategies of

painting to the photograph, Wall establishes a new variant of art and prevents con-

clusions being drawn from his work on the basis of indexicality.

Wall’s pictorial method permits a morphological comparison of photographs and

paintings so that the investigation is based on descriptions of pictures which are

compared with one another. Because the pictures correspond, it is possible to come

to a similar understanding analysis of how the pictures are made. The present thesis

is divided in five sections (B. – F). First Wall’s photographs are contrasted with con-

temporary works which are indexically structured. Then analogies with Dutch pant-

ing are highlighted which provide the basis for a development of further evidence.

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The aim of this thesis is to give Wall his place in a picture-making tradition and to

demonstrate that it is painting that is responsible for the fictional effect of his art. In

Section D, contrary to current research findings, parallels to painting of the Dutch

school will emerge. These analogies will make it possible to explain Wall’s photog-

raphy as a form of art based on Johannes Kepler’s optics – an art form which affects

the spatial composition and the way action is presented. Section E. is devoted to

these two elements – space and action. The final section F. gives a summary of the

findings, and formulates an aesthetics of portrayal.

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Abstract

Was zeichnet die Fotografien des kanadischen Künstlers Jeff Wall aus? Dieser Frage

wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Es gilt zu klären, inwieweit sich

Walls Arbeiten von der Gegenwartskunst der 60er- und 70er-Jahre unterscheiden und

wie diese Verschiedenheit für den Betrachter deutlich gemacht wird. Es ist das Ziel,

für das arrangierte fotografische Bild einen Begriff zu finden, diese Kunst in eine

Tradition zu stellen und damit ihre Merkmale zu definieren.

Jede analoge Technik der Fotografie ist zwangsläufig an ihr physikalisches und

chemisches Herstellungsverfahren gebunden und steht als fotografisches Bild in

einer physikalischen Verbindung zur Wirklichkeit. Fotografie kann aufgrund ihrer

Technik nichts anderes sein als die Darstellung eines bildgebenden Prozesses auf

lichtempfindlichem Fotopapier. Doch seit den 70er-Jahren konterkarieren Künstler

durch Bildsignale die medialen Gegebenheiten und ermöglichen es, die Fotografie in

ein anderes Bezugssystem zu überführen. Fotografie soll nun nicht mehr als ein

Dokument, sondern als Fiktion gewertet werden Die Fiktionalisierung erfolgt dabei

als eine Transgression der Technik durch Methoden der Darstellung.

In der Arbeit Jeff Walls zeigt sich dies in der fotografischen Darstellung von

Handlung und Raum. Walls Fotografie friert weder einen Moment ein, noch ist sie an

einem klar ausgewiesenen Ort zu lokalisieren. Sie ist weder Schnappschussaufnahme

noch erzählt sie eine Geschichte.

Ein besonderes Augenmerk wird auf Walls Fotografie „Picture for Women“ von

1979 gerichtet. In diesem Schlüsselbild finden sich die entscheidenden Merkmale,

die für Walls Überschreitungsstrategie verantwortlich sind. Hier etabliert Wall einen

Bildraum, der sich der Korrespondenz mit der Betrachterwelt entzieht und dennoch

auf den ersten Blick von augentäuschendem Realismus gekennzeichnet ist. Die

Fotografie stellt nicht einen Blick durch ein Fenster dar, wie es von Leon Battista

Alberti seit den Renaissance für die malerische Bildkunst gefordert wurde, sondern

schließt den Betrachter aus – sowohl in ihrer zeitlichen wie in ihrer räumlichen

Struktur.

Die Personen befinden sich in einem Guckkastenraum und sind in eine Handlung

involviert, die keine Nacherzählung erlaubt. Von einer Erzählung, die sich an einem

schriftlichen oder mündlichen Rapport orientiert, kann nicht die Rede sein.

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Stattdessen sind in Walls Fotografie Handlung und Raum für eine fiktional narrative

Schilderung verantwortlich, die in einer malerischen Tradition steht.

Wall begründet eine neue Gattung, in dem er Strategien der Malerei auf die

Fotografie anwendet. Die Schilderung, auf die sich Wall bezieht, hat ihren Ursprung

in der Malerei nördlich der Alpen. Dort liefert nicht der Text die ausschlaggebenden

Direktiven, sondern die Darstellung des Schildes des antiken Helden Achill. Für die

Malerei ist das folgenreich: Die Dauer der Handlung wird durch eine Stilllegung

definiert, und die Gemälde beziehen ihren Reiz aus der Delikatesse der Darstellung.

Die Gemälde von Jan Vermeer oder Nicolas Maes liefern die ästhetischen

Sehkonventionen, durch deren Vergleich sich Walls Fotografien beschreiben lassen.

Durch die Analogie zwischen Walls Fotografie und einem speziellen Typus der

Malerei können seine Fotografien klassifiziert werden.

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A. EINLEITUNG 6

A. Einleitung

Strategien fotografischer Fiktion – was bedeutet das? Das bemühte Lächeln, wenn

der Fotograf bei der Passfotoaufnahme die Formel „Bitte recht freundlich„ murmelt

oder das alljährliche Ablichten des üppig geschmückten Weihnachtsbaumes? In bei-

den Fällen wird inszeniert. Die Passfotopose ist ebenso kalkuliert wie das „Porträt„

der Weihnachtstanne. Beide Aufnahmen sind mit einem speziellen Wollen aufge-

nommen, in Szene gesetzt und zeigen, dass sowohl vor der Kamera wie hinter der

Kamera das Bewusstsein, eine Fotografie herzustellen die Bildkomposition be-

stimmt. Beide Fotografien stellen Situationen dar, die dem Betrachter vermitteln,

dass sie an einem klar definierbaren Ort und zu einem eindeutigen Zeitpunkt entstan-

den sind. Beide präsentieren einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Sie sind Dokumente.

Und gerade durch ihren Dokumentcharakter amüsiert das Betrachten der Passfoto-

aufnahme auch Jahre später. Die Unterstellung, das Foto repräsentiere etwas, was

damals mit Sicherheit so gewesen sei, und der Vergleich mit der abgebildeten Person

heute – zum Zeitpunkt des Betrachtens – erzeugt Amüsement.

Bei der inszenierten Fotografie, die Ende der 70er-Jahre in den USA und kurz darauf

auch in Europa entsteht, ist die Bilddefinition eine andere. Diese Fotografien sind

zwar auch Spuren der Wirklichkeit, Aufzeichnungen eines je Gewesenen und ebenso

mit kalkulierter Geste in Szene gesetzt, und dennoch unterscheiden sie sich grundle-

gend von der fotografischen Produktion früherer Jahrzehnte: Die technischen Vor-

aussetzungen des Mediums werden nun überschritten. Durch Bildsignale konterka-

rieren die Foto-Künstler die medialen Gegebenheiten und ermöglichen, die Fotogra-

fie in ein anderes Bezugssystem zu überführen. Fotografie soll nun nicht mehr als ein

Dokument, sondern als Fiktion gewertet werden Die Fiktionalisierung erfolgt dabei

als eine Transgression der Technik durch Methoden der Darstellung.

Jede analoge Technik der Fotografie ist zwangsläufig an ihr physikalisches und che-

misches Herstellungsverfahren gebunden, und steht als fotografisches Bild in einer

physikalischen Verbindung zur Wirklichkeit. Fotografie kann aufgrund ihrer Technik

nichts anderes sein als die Darstellung eines bildgebenden Prozesses auf lichtemp-

findlichem Fotopapier. Doch seit den 70er-Jahren werden den technischen Qualitäten

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A. EINLEITUNG 7

bildnerische Mittel gegenübergestellt, welche der Dokumentation und Aufzeichnung

von Wirklichkeit entgegentreten.

Das hat Konsequenzen für die Darstellung von Handlung und Raum. Die fiktionali-

sierte Fotografie friert weder einen Moment ein, noch ist sie an einem klar ausgewie-

senen Ort zu lokalisieren. Sie ist weder Schnappschussaufnahme noch erzählt sie

eine Geschichte. Die Fotografen verwandeln das Medium durch Überschreitungsstra-

tegien in Fiktionen – und dadurch in Kunstwerke. Die Konditionen der üblichen Bet-

rachterwelt sind nun für die Bildhandlung nicht mehr verbindlich, und die Fotografie

wird zu einem eigenständigen Interpretament. Diese Art der Fotografie liefert eine

Alternative zum Wirklichkeitsdokument und genießt eine Ausnahmestellung. Die

sonst geltenden Gesetze der Welt können von ihr zeitweise überschritten, aber nicht

dauerhaft aufgehoben werden, denn ästhetisches Vergnügen ist immer zeitlich be-

schränkt. Nur durch diese Sonderstellung liefert diese Fotografie dem ästhetischen

Bewusstsein des Betrachters interesseloses Wohlgefallen.

In der vorliegenden Untersuchung werden die Kennzeichen solcher Fotografien be-

schrieben und dingfest gemacht. Im Zentrum der Arbeit steht das Werk des kanadi-

schen Künstlers Jeff Wall. Er gehört zu der ersten Generation von Fotografen, die

bereits Ende der 70er-Jahre mit arrangierten Bildern arbeiten. Wall wurde 1946 in

Vancouver geboren und studierte in London Kunstgeschichte. Er arbeitet und lebt in

Kanada. Wall etabliert in seinen Fotografien bewusst eine Entfremdung, „die das

Flüchtige und das Zufällige des modernen Alltags mit einem Moment des ‚Ewigen‘

zu verbinden sucht“1. Doch wie kann dieses Charakteristikum durch einen kunsthis-

torischen Begriff gefasst werden? Was zeichnet Walls Arbeit aus? Woran merken

wir, dass wir es nicht mit einem Dokument, sondern mit einem Kunstwerk zu tun

haben, und gibt es einen markanten Punkt, ein Jahr, in dem sich „Fotografie als Do-

kument“ und „Fotografie als Fiktion“ differenzieren? Diesen Fragen geht die vorlie-

gende Untersuchung nach. Ziel ist es, für das arrangierte fotografische Bild einen

Begriff zu finden, diese Kunst in eine Tradition zu stellen und damit ihre Merkmale

zu definieren.

Ein besonderes Augenmerk wird auf Walls Fotografie „Picture for Women“ von

1979 gerichtet. In diesem Schlüsselbild finden sich die entscheidenden Merkmale,

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A. EINLEITUNG 8

die für Walls Überschreitungsstrategie verantwortlich sind. Hier etabliert Wall einen

Bildraum, der sich der Korrespondenz mit der Betrachterwelt entzieht und dennoch

auf den ersten Blick von augentäuschendem Realismus gekennzeichnet ist. Die Fo-

tografie stellt nicht einen Blick durch ein Fenster dar, wie es von Leon Battista Al-

berti seit den Renaissance für die malerische Bildkunst gefordert wurde, sondern

schließt den Betrachter aus – sowohl in ihrer zeitlichen wie in ihrer räumlichen

Struktur.

Die Personen befinden sich in einem Guckkastenraum und sind in eine Handlung

involviert, die keine Nacherzählung erlaubt. Von einer Erzählung, die sich an einem

schriftlichen oder mündlichen Rapport orientiert, kann nicht die Rede sein. Stattdes-

sen sind in Walls Fotografie Handlung und Raum für eine fiktional narrative Schil-

derung verantwortlich, die in einer malerischen Tradition steht.

Wall begründet eine neue Gattung, in dem er Strategien der Malerei auf die Fotogra-

fie anwendet. Die Schilderung, auf die sich Wall bezieht, hat ihren Ursprung in der

Malerei nördlich der Alpen. Dort liefert nicht der Text die ausschlaggebenden Direk-

tiven, sondern die Darstellung des Schildes des antiken Helden Achill. Für die Male-

rei ist das folgenreich: Die Dauer der Handlung wird durch eine Stilllegung definiert,

und die Gemälde beziehen ihren Reiz aus der Delikatesse der Darstellung. Die Ge-

mälde von Jan Vermeer oder Nicolas Maes liefern die ästhetischen Sehkonventionen,

durch deren Vergleich sich Walls Fotografien beschreiben lassen. Durch die Analo-

gie zwischen Walls Fotografie und einem speziellen Typus der Malerei können seine

Fotografien klassifiziert werden.

Walls Arbeit weist den Weg für eine Kunst, die sich aus dem Bannkreis der Indexi-

kalität durch Möglichkeiten der malerischen Darstellung befreit. Der Begriff der In-

dexikalität entstammt der Lehre des amerikanischen Semiologen Charles S. Peirce,

dessen Schrift „Logik als Untersuchung von Zeichen“ von 1873 die Sprachphiloso-

phie stark beeinflusst hat. In den 60er-Jahren entdeckt die Kunstwissenschaft das

semiotische System und macht es für die Auslegung von Kunstwerken fruchtbar.

Peirce hat eine Zeichenlehre entwickelt, deren drei Typen – Ikon, Symbol und Index

– den Bildwissenschaften hilfreiche Begriffe an die Hand gegeben haben und bis

1 Rabionovitz, Cay Sophie: Jeff Wall, in: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): documenta 11 – Plattform 5: Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2002, S. 243.

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A. EINLEITUNG 9

heute die Rezeption von Fotografie bestimmen.2 Qua Medium ist jede Fotografie ein

Index. Doch indem Wall Strategien der Malerei auf die Fotografie transferiert, etab-

liert er eine neue Variante der Kunst und entzieht seine Werke den Schlussfolgerun-

gen, die durch mediale Indexikalität begründet werden.

Bereits die Vorbereitungen, die Wall für jede seiner Fotografien trifft, zeigen den

kalkulierten Charakter seiner Arbeit: Schauspieler müssen organisiert werden, die

später in den Bildszenerien die Handlung darstellen. Räume werden entweder nach

kompositorischen Gesichtspunkten ausgewählt oder akribisch gezimmert, mit Inven-

tar bestückt und mit einer oftmals geprobten Lichtregie ausgestattet.

Der detaillierten Planung entspricht das Herstellungsverfahren: Seit 1978 arbeitet er

mit Großbilddias. Mit einer Plattenkamera belichtet Wall einen Film, um anschlie-

ßend die Bildinformation auf das Großdia übertragen. Aus meist zwei Teilen wird

das spätere Tableau montiert. So zeigen seine Großbilddias oftmals die Stelle, an der

die Diafolien aneinanderstoßen – manchmal wird sie als schwarze Linie deutlich,

manchmal ist sie fast transparent. Im Gegensatz zum Abzug ist das Dia als Durch-

sichtsbild für die Projektion und nicht als Zwischenstufe für eine Vervielfältigung

gedacht. Der Generalverdacht, jeder Fotograf stehe im Bannkreis von Walter Benja-

mins „technischer Reproduzierbarkeit“ kann damit für Wall ausgeschlossen werden.

Die Maße seiner Großbilddias sind monumental. Einige Fotografien sind zwei mal

drei Meter groß. Man steht ihnen gegenüber wie einem Historiengemälde. Das weite-

re Verfahren gibt Hinweise darauf, dass Wall sich von der Fotografie der Massen-

medien distanziert. Die Großbilddias werden in einem Kasten montiert, der mit

Leuchtstoffröhren versehen ist. Somit erhalten die Bilder eine „Selbstlichtigkeit“3,

welche die Konnotationen des technischen Herstellungsverfahrens unterläuft. Walls

Bilder leuchten aus sich selbst. Neben dem Beleuchtungslicht der Szene besitzen sie

eine eigene Lichtqualität, die dem Betrachter zeigt, dass diese Fotografien keine Ab-

bilder der Wirklichkeit sein wollen, sondern selbstständige Bildeinheiten.

2 Beat Wyss bezieht sich ausdrücklich auf Charles S. Peirce, um die Kunstgeschichte in eine Chrono-logie verschiedener Arten des Bildermachens zu ordnen. Demnach folgt auf die Ära des magischen Bildes, das rhetorische und das mechanische Bild. Wyss, Beat: Das Fotografische und die Grenzen des mechanischen Bildes, in: Belting, Hans / Kamper, Dietmar / Schulz Martin: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 365-376. 3 Der Begriff der Selbstlichtigkeit stammt von Wolfgang Schöne. Schöne, Wolfgang: Über das Licht in der Malerei, Berlin 1989.

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A. EINLEITUNG 10

Bisher ist noch kein Terminus gefunden worden, der die Arbeit von Jeff Wall kate-

gorisiert.4 Während in der fotohistorischen Literatur sehr wohl das Phänomen der

Arrangierung erkannt wurde und seit den 70er-Jahren die Begriffe „staged“,

„constructed“ und „fabricated“ kursieren5, ist es vernachlässigt worden, die Bildqua-

litäten von Walls Fotografien zum Anlass einer Begriffsfindung zu nehmen. Es ist

vom „pictorial impact“ und dem „Bild im Konjunktiv“ die Rede.6 Vor allem der

Begriff der Inszenierung ist im deutschsprachigen Raum für diese Art der Fotografie

verwendet worden.7 Doch auch Fotografien können inszeniert sein, die mit dem Ziel,

als Dokumente gewertet zu werden, erstellt worden sind. Der Begriff ist zwar hilf-

reich, um einen Schnappschuss von einer kalkulierten Bildproduktion zu unterschei-

den, eine Bild-Kategorie liefert er ebenso wenig wie die Bestimmung von Walls Fo-

tografie als Erzählung.8 „Eine inszenierte Fotografie zeigt damit eine Sequenz, die

als Bestandteil einer (theatralen) Inszenierung denkbar ist und die – weil die Sequenz

Teil eines erzählerischen Ganzen ist – eine narrative Struktur hat9, bestimmt Christi-

4 Es existieren zwar Werkübersichten, jedoch keine begriffliche Fundierung von Walls Arbeit. Als Übersicht sind zwei Ausgaben der Kunstzeitschrift Parkett zu empfehlen. Parkett: Collaborations Jeff Wall – Christian Boltanski, 22, 1989, S. 52-89; Parkett: Douglas Gordon – Jeff Wall – Laurie Ander-son, 49, 1997, S. 84-123. 5 Vor allem in der englischsprachigen Literatur wurde versucht, für diese neue Kunst Begriffe zu finden. Der Fotokritiker Allan Douglas Coleman führte den Ausruck der „directorial mode“ in einem gleichnamigen Aufsatz ein und ergänzte ihn durch die Begriffe „staging“ und „arranging“. 1977 widmete Coleman den „constructed realities“ eine Publikation. Coleman, Allan Douglas: The directo-rial Mode – Notes towards a definition, in: Artforum, 15, 1976, S. 55-61. In deutscher Übersetzung in: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie III – 1945 bis 1980, München 1983, S. 239-243; Über die „constructed realities“: Coleman, Allan Douglas: The Grotesque in Photography, Verona 1977, S. 72-75. 6 Der Begriff des „pictorial impact“ stammt aus dem Ausstellungskatalog „Transparencies“, der „des Bildes im Konjunktiv“ von Belinda Gardner. Institute of Contemporary Arts London (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, London 1984. S. 3; Gardner, Belinda: Lakonie der Landschaft – ein Gespräch zwischen Belinda Gardner und Jeff Wall, in: neue bildende kunst, 4, August/September 1996, S. 41. 7 Bazon Brock führt den Begriff „Inszenierte Fotografie“ 1972 ein. Brock, Bazon: Ein neuer Bilder-krieg, in: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): documenta 5 – Begrabung der Realität – Bilderwelten heute, Kassel 1972, S. 3ff. Zur Bildinszenierung auch: die Magisterarbeit von Dorothea Linck „Konstruiert oder authentisch? Photographische Wirklichkeit als Inszenierung“, die Link 1995 an der Universität Lüneburg abgeschlossen hat. Des Weiteren: Andreas Müller-Pohle: Inszenierung – zeitgenössische Fotografie aus der Bundesrepublik, Göttingen 1988; Museum für Kunst- und Kulturgeschichte (Hrsg.): Inszenierte Wirklichkeit, Dortmund 1989; Honnef, Klaus: Simulierte Wirklichkeit – inszenierte Fotografie – Bemerkungen zur Paradoxie der fotografi-schen Bilder in der modernen Konsumgesellschaft, in: Kunstforum International, 83, März/April/Mai 1986, S. 88-92. 8 Hartnäckig hält sich die Unterstellung, Walls Fotografien erzählten Geschichten. Lauter, Rolf: Die Erzählung von der Gegenwart der Erinnerung, in: ders. (Hrsg.): Figures and Places, München 2002, S. 13-15.; Walter, Christine: Bilder erzählen – Positionen inszenierter Fotografie: Eileen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lochhart, Tracy Moffat, Sam Taylor-Wood, Weimar 2002. 9 Walter, Christine: aaO., S. 57.

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A. EINLEITUNG 11

ne Walter Walls Arbeiten. Ihr ist nur teilweise zuzustimmen: Sicherlich findet man

bei Wall das Moment der Zeitlichkeit – jedoch nicht die Zeitlichkeit, die sich als

Davor und Danach darstellt. Im Gegensatz zur Narration findet sich bei Walls Foto-

grafien Zeit als Dauer ohne linearen Verlauf.

Die Auswertung der Forschungsliteratur zu den Fotografien von Jeff Wall hat ge-

zeigt, dass sein Werk nicht nur im Hinblick auf die Erzählstruktur analysiert wird,

sondern auch die Fragen nach malerischen und fotografischen Vorläufern diskutiert

werden.

Es sind vor allem zwei Festlegungen, welche die Analyse bestimmen:

1. Können seine Fotografien als Erzählungen klassifiziert werden?10

2. Steht er in einer fotografischen Tradition der Piktorialisten?11

Die vorliegende Arbeit widerspricht sowohl dem Vergleich von Walls Ansatz mit

der baudelaireschen Kunsttheorie als auch der Ableitung seiner Fotografie aus der

piktorialistischen Kunstproduktion des 19. Jahrhunderts.12 Denn im Gegensatz zur

Fotografie der Piktorialisten arbeitet Wall nicht mit Montagen, Retuschen oder Fil-

tern, versucht also nicht, Malerei zu imitieren, sondern reizt die fotografischen Qua-

litäten mittels malerischer Referenzen aus. Fotografie muss nicht mehr in einem Pa-

ragone zwischen Malerei und technisch generierter Bildherstellung aufgewertet wer-

den, sondern erhält eine weitere Qualität. Sie ist nun nicht mehr nur fotografisches

Dokument, sondern signalisiert dem Betrachter eine Lesart als fotografische Fiktion.

10 Chevrier, Jean-Francois: Ein Maler des modernen Lebens, in: Lauter, Rolf (Hrsg.):aaO., S. 168-185; Bonnet, Anne-Marie / Metzger, Rainer: Eine demokratische, eine bourgeoise Tradition der Kunst – ein Gespräch mit Jeff Wall, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 33-45. Diese These folgt eben-so Kerry Brogher mit seinem Aufsatz „The Photographer of Modern Life“, in: ders. (Hrsg.): Jeff Wall, Los Angeles 1997, S. 13-21; auch in der jüngsten Publikation zu Walls Werk vertritt Gregor Stemmrich die These, Wall rehabilitiere eine avantgardistische Praxis. „Zwischen Exaltation und sinnierender Kontemplation – Jeff Walls Restitution des Programms der peinture de la vie moderne“, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hrsg.): Jeff Wall – Photographs, Wien 2003, S. 154-173. 11 Walter begründet ihren Verweis mit den Worten: „Da die wenigen Fotografien des Piktorialismus dennoch großen Einfluss auf das Werk zeitgenössischer Künstler haben, wird die piktorialistische Fotografie im folgenden als historischer Vorläufer inszenierter Fotografie vorgestellt.“ Walter, Chris-tine: aaO., besonders das Kapitel „Exkurs – zur Inszenierten Fotografie im 19. Jahrhundert“, S. 63-68, S. 63. 12 Zur Auseinandersetzung von Baudelaires Kunsttheorie und Wall siehe Kapitel D.I. der vorliegen-den Arbeit.

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A. EINLEITUNG 12

Die Analyse der Werke von Jeff Wall gliedert sich in fünf Teile:

1. Es wird anhand der Schriften von William Henry Fox Talbot ein fotografi-

sches Paradigma ausgearbeitet. Dies ermöglicht, einen Referenzrahmen zu

erstellen, an dem sich Walls Ansatz abgrenzen und konturieren lässt.

2. Daraufhin werden Walls Überlistungsstrategien des fotografischen Paradig-

mas deutlich gemacht, um anschließend Analogien zwischen seiner fotografi-

schen Produktion und eines speziellen Typus’ von Malerei zu zeigen.

3. Die Gleichartigkeit zwischen seiner Fotografie und einer malerischen Praxis

wird durch das Bildarrangement, in dem der Betrachter ausgeschlossen ist,

verdeutlicht. Ebenso wie in holländischer Malerei entzieht sich Walls Foto-

grafie der Korrespondenz mit dem Betrachter. Er kann die Darstellung zwar

visuell erkunden, die Bildhandlung und der Bildraum führen seine Konditio-

nen jedoch nicht weiter. Vorbildlich ist nicht das Bild, als Schnitt durch die

Sehpyramide, sondern die Erfahrung des Auges als anonyme Aufzeichnungs-

apparatur.

Die Beziehung zwischen holländischen Gemälden und Walls Fotografien

steht dabei nicht in einem Verhältnis der Ableitung. Es ist nicht das Ziel, eine

Kausalität, eine Epochendefinition oder eine Schule darzustellen. Keine line-

are Entwicklungslinie soll dargelegt werden, die sich als folgerichtiger Ver-

lauf darstellt, sondern Analogien vor Augen geführt werden, die Walls Aus-

einandersetzung mit den Möglichkeiten der Fotografie offen legt.

4. Ziel der Arbeit ist, Walls Überlistung der fotografischen Technik in Bezug zu

einer malerischen Art der Bildgenese zu stellen und das Arrangement von

Raum und Zeit als Komplement einer optischen Kunst darzulegen. Beide –

Raum und Zeit – werden in einer optischen Kunst, zu der sowohl die hollän-

dische Malerei als auch Jeff Walls Fotografie zu zählen ist, betrachterunab-

hängig definiert. Die Handlung lässt sich dabei als Schilderung kategorisie-

ren, der Raum als Guckkastenraum, der mit einer Türschwellen-Sicht ausges-

tattet ist.

5. Das abschließende Kapitel fasst die Feststellungen der Analyse zusammen

und formuliert eine Ästhetik der Schilderung. Es soll deutlich gemacht wer-

den, dass Walls Fotografien durch kalkulierte Bildsignale eine fiktionale Les-

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A. EINLEITUNG 13

art hervorrufen und ein drittes Element zwischen Wahrheit und Lüge etablie-

ren.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

14

B. Das Fotografische – Paradigma der Sichtbarkeit

Jeff Wall ist Fotograf – angesichts seiner Werke und des Themas der vorliegenden

Arbeit scheinbar eine banale Selbstverständlichkeit. Keine Gemälde, Zeichnungen

oder Collagen von ihm werden derzeit öffentlich gezeigt, und schließlich hat er 2004

den Hasselblad-Award für seine Verdienste in der Fotografie und keiner anderen

Kunst erhalten. Dennoch standen am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn nicht

die fotografischen Medien, sondern andere Techniken der Bildherstellung.13 Der

Kanadier arbeitete mit Pinsel und Leinwand, Zeichenstift und Papier.14 Erst Anfang

der 70er-Jahre benutzte er die Plattenkamera und den Foto-Film, um seine großfor-

matigen Tableaus zu entwickeln.15 „Mein Werdegang hängt also eigentlich damit

zusammen, daß ich die Photographie als etwas akzeptiert habe, wovon ich nicht weg-

kam, obwohl sie zuerst nicht mein Hauptinteresse war. Ich habe oft das Gefühl, ich

sei aus der Welt der Malerei und des Zeichnens kommend, in die Photographie ver-

bannt worden“16.

Es stellt sich nun die Frage, was das Spezifische der Fotografie ist, für die sich Wall

entschieden hat. Will man über die Werke des kanadischen Künstlers schreiben, 13 Die Fotografie wird im vorliegenden Text als Medium klassifiziert. Seit 1839, dem Jahr des Ver-kaufs des fotografischen Patents an den französischen Staat, wird für diese Technik der Begriff „Me-dium“ verwendet. Er wird zur Polarisierung und als Abgrenzung zu Herstellungsverfahren der nicht-technischen Bildkünste gebraucht. Jedes Zeichensystem hat per se die Aufgabe, Inhalte an ein Publi-kum zu vermitteln. Jede Kunst ist Medium, seitdem es sie gibt. Doch seit der Erfindung der Fotogra-fie hat der Begriff nicht mehr nur die Bedeutungen „Mitte“, „Mittel“ oder „Vermittlung“, sondern bezeichnet einen Vorgang, der allein durch technische Apparaturen eingeleitet wird. Diese Verengung des Begriffs bildete sich angesichts der technischen Erzeugung der fotografischen Zeichensysteme heraus. Wolfgangs Kemps Quellensammlung zur Fotografiegeschichte belegt den Gebrauch dieses begrifflichen Vokabulars. Als Beispiel sei auf den Aufsatz von Arthur James Anderson „Die künstle-rische Qualität des Mediums“ aus dem Jahr 1910 verwiesen. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie – 1839-1912, München 1980, S. 247-250. Dazu auch: Wyss, Beat: Der Weg zur Welt im Kopf – eine Kunstgeschichte der Medien fast-forward, in: Kunstfonds e.V. (Hrsg.): RAM – Reali-tät – Anspruch – Medium, Köln 1995, S. 15-36. 14 Bereits vor seinem Studium hat Wall Naturabstraktionen und Gemälde in der Art des abstrakten Expressionismus’ angefertigt. In den 60er-Jahren lassen sich deutliche Bezüge zu Robert Motherwell nachweisen. Wall experimentierte jedoch mit verschiedenen Kunstrichtungen, ohne sich auf einen Stil oder eine künstlerische Technik festzulegen. Zum Frühwerk: Museum of Contemporary Art Los An-geles (Hrsg.): Jeff Wall, New York 1997, S. 16ff. 15 „Was ich Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger machte, änderte sich, als ich mich der Pho-tographie zuwandte, da ich seit meiner Kindheit gemalt und gezeichnet hatte. Vor 1967 hatte ich schon eine Weile gemalt und die Minimal Art durchgemacht (...) “, beschreibt Wall den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn. Jeff Wall, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Szenarien im Bildraum der Wirk-lichkeit, Dresden 1997, S. 190.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

15

muss man sich zunächst klar darüber werden, was diese Technik von anderen unter-

scheidet, welchen Ursprung und welche Geschichte sie hat.

„Bevor nicht klar erkannt wird, daß das Medium Photographie aus sich selbst keine

Kunst hervorzubringen vermag, wohl aber durch seine besonderen Eigenschaften

über eine eigene Stilgeschichte verfügt, (...) und anderseits mit Hilfe diese Mediums

sehr wohl Kunst produziert werden kann (...) – werden weder die Photographen noch

die Museen zu einer brauchbaren theoretischen Grundlegung kommen“, kritisiert der

Fotografiehistoriker Rolf H. Krauss die Diskussion um die Kunstwürdigkeit der Fo-

tografie bereits Ende der 70er-Jahre.17

Was ist also die analoge Fotografie? Die technischen Vorgänge sind zu ausreichend

dargestellt worden: Die Fotografie ist ein Verfahren, welches die Herstellung von

Abbildungen durch die Einwirkung von Strahlung ermöglicht. Die Strahlung trifft

auf Schichten, deren physikalische und chemische Eigenschaften verändert werden.

Auf einem Glas- oder Kunststoffträger befindet sich eine lichtempfindliche Emulsi-

on, auf der sich mit Hilfe des fotografischen Objektivs das Bild des Aufnahmege-

genstands optisch abbildet. Seit über 160 Jahren hat sich daran nichts geändert, und

auch die Digitalfotografie funktioniert durch die „Belichtung“ empfindlicher Senso-

ren.18 Nahezu jede Einzelfrage der fotografischen Funktionen ist erörtert worden;

das Verfahren der Gebrauchsfotografie ist hinlänglich bekannt.19 Eine weitere Dar-

stellung der Technik ist also nicht notwendig.

Stattdessen soll im Folgenden ein begriffliches Feld ausgearbeitet werden, durch das

die Ideengeschichte der Fotografie bestimmt werden kann. Gedankliche Muster und

Kategorien werden dadurch deutlich; ein Definitionsrahmen kann erstellt werden und

die weitreichenden Verästelungen der Fotogeschichte können anhand von Kernbeg-

riffen des Fotografischen konturiert werden. Einerseits erhält man also eine Definiti-

16 Jeff Wall in: Stemmrich, Gregor: aaO., S. 191. 17 Krauss, Rolf H.: Photographie als Medium – 10 Thesen zur konventionellen und konzeptionellen Photographie, Ostfildern 1995, S. 153. 18 In der Digitalfotografie wird die Lichtinformation jedoch anschließend in einen binären Code um-gewandelt.

19 Freier, Felix: Dumont’s Lexikon der Fotografie, Köln 1992; Osterloh, Günter: Leica R – angewand-te Leica– Technik, Frankfurt/Main 2000.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

16

on des Fotografischen, andererseits die Möglichkeit, die spezifische Wahrnehmung

der Fotografie und ihr Bezugsfeld darzulegen.20

B.I. William Henry Fox Talbot – „The Pencil of Nature“

Die frühesten Äußerungen zur Fotografie zeigen bereits die Denkfiguren, die sich

durch die gesamte spätere Auseinandersetzung mit der Fotografie ziehen werden.

Besonders die Äußerungen des Engländers William Henry Fox Talbot sind für die

Erstellung eines fotografischen Paradigmas aufschlussreich.21 In seinen Schriften

„Some Account of The Art of Photogenic Drawing or The Process By Which Natural

Objects May Be to Delineate Themselves Without The Aid of The Artist’s Pencil“

von 1839 und dem „Pencil of Nature“ legt William Henry Fox Talbot die ersten

Texte zur Theorie der Fotografie vor.22

Talbot hat als naturwissenschaftlicher Privatgelehrter nicht nur unabhängig von den

französischen Erfindern die Fotografie entdeckt, sondern auch Beschreibungen und

Erklärungen der Fotografie geliefert. Die neue Technik musste benannt werden; er

benötigte ein entsprechendes Vokabular, um in Vorträgen, Rezensionen oder wissen-

schaftlichen Artikeln von den Möglichkeiten der Kamera-Bilder zu berichten. In

seinem 6-bändigen Werk „The Pencil of Nature“, das zwischen 1844 und 1846 ver-

öffentlicht wurde, führt Talbot dem Leser die verschiedenen Anwendungsgebiete der

Fotografie vor.23 Die erste Ausgabe erschien 1844 mit insgesamt 24 eingeklebten

Kalotypien, fotografischen Papierabzügen, die – im Gegensatz zu den Fotografien 20 Dem Ansatz von Bernd Busch ist zu folgen, wenn er die Geschichte der Fotografie als Geschichte ihrer Wahrnehmung beschreibt. Busch, Bernd: Belichtete Welt – eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt/Main 1995. 21 Beaumont Newhall betont Talbots Leistung mit den Worten: „Its importance in the history of pho-tography is comparable to that of the Gutenberg Bible in printing“. Newhall, Beaumont: Introduction, in: ders. (Hrsg.): William Henry Fox Talbot – The Pencil of Nature, New York 1969, o.S.. 22 Hubertus von Amelunxen verneint den theoretischen Anspruch Talbots. Inzwischen ist sich jedoch die Fotografie– Forschung über die Theorietauglichkeit von Talbots Schriften einig. Amelunxen, Hubertus von: William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature (I) – ein kleines Plädoyer für eine neue „Lektüre“, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 14, 1984, S. 17-27. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. 23 Das Werk teilt sich wie folgt auf: Juni 1844 (Tafel I-V), Januar 1845 (Tafel VI-XII), Mai 1845 (Tafel XIII-XV), Juni 1845 (Tafel XVI-XVIII), Dezember 1845 (Tafel XIX-XXI) und April 1846

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

17

Jacques-Mandé Daguerres, der mit Glas- und Metallplatten arbeitete – im Positiv-

Negativ-Verfahren entstanden waren.24 „The Pencil of Nature“ ist das erste Buch,

dessen Fotografien als Massenproduktion hergestellt wurden und das eine Gegen-

überstellung von Bild und Text aufweist. Talbot hat mit kurzen, meist eine Seite um-

fassenden Kommentaren seine Kalotypien eingeordnet und in einen Bezugsrahmen

gesetzt. Durch diesen ergibt sich nun die Möglichkeit, die Wahrnehmungen des Fo-

tografischen zu erstellen.

Bereits im knappen Vorwort wendet Talbot sich an den Leser und verdeutlicht, dass

sich seine Entdeckung von allen etablierten Abbildungsmethoden unterscheidet. Tal-

bot nimmt eine Differenzierung vom technischen Verfahren und dem Denkmuster,

welches die Fotografie unweigerlich begleitet, vor:

„It must be understood that the plates of the work now offered to the public are the pictures themselves, obtained by the ac-tion of light, and not imitations of them (...) The plates of the present work will be executed with the greatest care, entirely by optical and chemical processes. It is not intended to have them altered in any way, and the scenes represented will con-tain nothing but the genuine touches of Nature’s Pencil.“25

Die folgenden 24 Tafeln sind Produkte eines chemischen und optischen Prozesses

und zeigen gleichzeitig die Abdrücke der Natur, „the genuine touches of Nature’s

Pencil“26. Die Fotografie stellt insofern etwas Neues dar, weil sie ganz in der Ver-

mittlung des Realen aufzugehen scheint, anders als das Bild des Künstlers, der nach

seinen subjektiven Vorstellungen arbeitet.27 Die Fotografie erzeugt eine besondere,

(Tafel XXII-XXIV). Weitere Daten zur Produktion findet man bei Harry John Philip Arnold: William Henry Fox Talbot – Pioneer of Photography and Man of Science, London 1977. 24 Die entscheidenden Anstöße für die Entwicklung der Fotografie im heutigen Verständnis gingen weniger von der Daguerreotypie als vielmehr von den Arbeiten Talbots aus. Seine Begründung des Positiv-Negativ-Verfahrens 1835 ermöglichte die Reproduzierbarkeit des Originals durch die Herstel-lung unendlich vieler fotografischer Abzüge. Zur Weiterentwicklung des fotografischen Verfahrens durch Talbot siehe Eder, Maria Josef: Die unbekannten künstlerischen Verdienste eines Erfinders, in: [ohne Hrsg.]: Sonnenbilder von William Henry Fox Talbot, Luzern 1985, S. 1-4. 25 Talbot, Henry Fox: The Pencil of Nature, in: aaO., o.S.. 26 An anderer Stelle spricht er davon, die Bildtafeln „are impressed by Nature’s hand“. Talbot, Wil-liam Henry Fox: The Pencil of Nature, in: aaO., o.S..

27 Die Gegenüberstellung von objektiver Fotografie und subjektivem künstlerischem Meisterwerk wird angeführt, weil sie in der Argumentation des 19. Jahrhunderts oftmals bemüht wird. Rodolphe Töpffer schrieb 1841 im Morgenblatt für gebildete Stände: Das Künstler schaffte das Werk „nach Maßgabe seines subjektiven Empfindens (...) zu einem Mittel des Ausdrucks, nicht zu Nachahmung“.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

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zweite Welt. Dennoch ist die im Foto abgebildete Wirklichkeit von ihrem Vorbild

abhängig und gerade dieser Sachverhalt unterscheidet die Fotografie von allen bishe-

rigen Möglichkeiten der bildhaften Darstellung.

Daraufhin skizziert Talbot die Folge einer Versuchsreihe, die letztlich zur Analyse

des fotografischen Verfahrens geführt hat und fügt hinzu, dass „the Author of the

present work having been so fortunate as to discover (...) the principles and practice

of Photogenic Drawing (...) which employs processes entirely new, and having no

analogy to any thing in use before“28. Talbot definiert seine naturwissenschaftlichen

Erkenntnisse als Entdeckung (discovery) der Fotografie. Er beschreibt seine For-

schung als Vorfinden eines natürlichen Vorgangs, der seit jeher latent vorhanden war

und nun zufällig aufgedeckt wurde. Seine Tätigkeit bestand darin, diesen Vorgang zu

beobachten und als allgemeines Gesetz zu formulieren. Durch den Begriff der Entde-

ckung verdeutlicht Talbot, dass er die Funktionen der Fotografie als etwas versteht,

das zwar von Forschern untersucht und reproduziert werden könne, sich jedoch au-

ßerhalb der menschlichen Einflusssphäre befinde. Die Fotografie unterliegt einer

eigenen, naturgemäßen Gesetzlichkeit; sie ist keine Erfindung, sondern kann, ebenso

wie andere physikalische und chemische Vorgänge nur aufgedeckt werden.29

Den Anwendungsmöglichkeiten widmet er sich in den Erläuterungen des Abbil-

dungsteils. Tafel II zeigt die Fotografie von chinesischem Porzellan. Sie kann als

„inventory describing“30 oder als „mute testimony“31, als stumme Zeugenaussage,

vor Gericht verwendet werden, sollten die Kostbarkeiten von einem Dieb entwendet

werden. Das Bild ersetzt also nicht nur die schriftliche Inventarliste, sondern ist

gleichzeitig ein gerichtsgültiges Dokument.

Der Fotografie fehle es daher an „poetischem Wollen“, sie sei lediglich eine „Sklavin der Reprodukti-on“, in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): aaO., S. 70-77, S. 74. 28 Talbot, William: Henry Fox: aaO., o.S.. 29 Talbot verwendet für die Fotografie auch den Begriff der „Invention“. Er wird jedoch lediglich für das Experimentieren mit verschiedenen optischen Geräten verwendet, mit deren Hilfe er die Fotogra-fie entdeckt hat. Solange es sich noch um Spekulationen handelt, spricht Talbot von „Invention“. Wenn er die naturwissenschaftlichen Gesetze beschreibt, verwendet er ausschließlich den Begriff „Discovery“. Dem Kultur-Natur-Dualismus, den Peter Geimer bei der Durchsicht des Talbotschen Werks entwirft, ist also zu widersprechen. Geimer, Peter: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit – Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 7-25, S. 15. 30 Talbot: aaO., o.S..

31 Talbot: aaO., o.S..

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

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Fotografische Bilder besitzen für Talbot noch weitere Vorzüge: Sie zeichnen Dinge

auf, deren Existenz dem Fotografen zum Zeitpunkt der Bildherstellung nicht ins Au-

ge gefallen sind. Sie übersteigen also die menschliche Wahrnehmung, denn “it fre-

quently happens (...) that the operator himself discovers on examination, perhaps

long afterwards, that he has depicted many things he had no notion of at the time (...)

Sometimes a distant dial-plate is seen, and upon it – unconsciously recorded – the

hour of the day at which the view was taken“32. Zudem sind die Aufnahmen der Fo-

tografie so detailreich, wie sie kein Maler herzustellen vermag. Die Fotografie „will

enable us to introduce into our pictures a multitude of minute details which add to

the truth and reality of representation, but which no artist would take the trouble to

copy faithfully from nature“33.

Für die Tafel II, „View of the Boulevards at Paris“, gibt Talbot folgende Lesean-

weisung:

„His View was taken from one of the upper windows of the Hotel de Douvres, situated at the corner of the Rue de la Paix. The spectator is looking to the North-east. The time is after-noon. The sun is quitting the range of buildings adorned with columns: its facade is already in shade, but a single shutter standing open projects far enough forward to catch a gleam of sunshine. The weather is hot and dusty, and they have just been watering the road, which has produced two broad bands of shade upon it, which unite in the foreground, because, the road being partially under repair (...) A whole forest of chim-neys borders the horizon: for, the instrument chronicles what-ever it sees, and certainly would delineate a chimney pot or a chimney-sweeper with the same impartiality as it would the Apollo of Belvedere. The view is taken from a considerable height, as appears easily by observing the house on the right hand; the eye being necessarily on a level with that part of the building on which the horizontal lines or courses of stone ap-pear parallel to the margin of the picture“34.

Er beschreibt präzise die Abbildung eines Pariser Boulevards; das Licht- und Schat-

tenspiel, das sich an den Kolonnaden abzeichnet, den Glanz des Sonnenscheins auf

den Hausfassaden, die Wasserpfützen, die man wegen der großen Hitze auf dem 32 Talbot: aaO., o.S.. 33 Talbot: aaO., o.S..

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

20

Boulevard angelegt hatte. Talbot benennt verlassene Wagen und Geräte, welche für

Reparaturarbeiten, die derzeit auf der Straße stattfinden, benutzt wurden. Weit wich-

tiger als Talbots Gegenstandsbeschreibung ist jedoch die Einordnung der Fotografie

in den raum-zeitlichen Zusammenhang: Er gibt die Tageszeit an („The time is after-

noon“), den exakten Standpunkt („Rue de la Paix“) und die Himmelsrichtung

(„North-east“), von der aus die Ansicht aufgenommen wurde. Damit benennt er so-

wohl den Zeitpunkt der Entstehung, den Blickwinkel wie den Ort, von dem aus die

Kamera angesetzt wurde.

„The instrument chronicles whatever it sees“, unterrichtet er den Leser und betont

dabei, dass der fotografische Apparat unparteiische Bilder herstellt. Die Kamera ist

zudem eine Chronographin

des Vergangenen, welche

Ausschnitte eines Raum-

und Zeit-Zusammenhangs

wiedergibt. Sie zeichnet

alles auf, was sich ihrer Lin-

se darbietet – und zwar als

ein Protokoll eines „Hier

und Jetzt“, das durch einen

Zeitpunkt und einen spezifi-

schen Ort definiert wird.

Ihre Erzeugnisse sind Do-

kumente, die zweifellos das als Bild festhalten, was einmal gewesen ist. Das Mo-

menthafte wird haltbar gemacht und dem Strom der Veränderung entrissen.35 Die

Fotografie konserviert, friert ein und fixiert. Talbots „Zwang zur sprachlichen Verar-

beitung gründet geradezu in der Kluft zwischen der fotografischen Zeit der Fixierung

und der Zeit der Wahrnehmung, der vergangenen des Motivs wie der nachträglichen

Abbildung 1: William Henry Fox Talbot: „View of the Boulevards at Paris“, 1854, 24 x 30,5 cm in: „The Pencil of Nature“, 1854

34 Talbot: aaO., Plate II., o.S..

35 Seine frühen Versuche, mit optischem Gerät zu experimentieren, sind von diesem Streben gekenn-zeichnet. „Während dieser Überlegung kam mir der Gedanke (...), wie bezaubernd es wäre, könnte man diese natürlichen Bilder dazu veranlassen, sich dauerhaft einzudrücken, um festgehalten zu blei-ben auf dem Papier“. Zitiert nach: Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit – die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Berlin 1988, S. 26.

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des Bildes“36. Die Fotografien sind für Talbot Zeugnisse einer vergangenen Wirk-

lichkeit, in deren Verlauf die Kamera-Technik eingebrochen ist und die im Augen-

blick der Aufnahme abreißt. Die im Bild angehaltene und aufgehobene Zeit soll an-

schließend durch den Text dem Leser zurückgegeben werden.

Talbots Beschreibung der Tafel III liefert aber noch ein weiteres Charakteristikum

des Fotografischen: Talbot berichtet von den Umständen der Bildherstellung und

beschreibt den Standpunkt, den er für die Anfertigung der Fotografie gewählt hat: Er

hat die Kamera vor eines der oberen Fenster des Hotel de Douvres aufgestellt und

durch die geöffneten Fensterflügel die Aufnahmen hergestellt. Die fotografischen

Abbildungen zeigen also nicht nur Raum-Zeit-Fragmente, sondern eine spezifische

Sicht des Boulevards. Sie repräsentieren den Blick durch ein Fenster.

Bereits in seinem ersten erhaltenen Negativ, das Talbot im Jahr 1835 anfertigte, zeigt

sich sein Interesse, die Fotografie als Äquivalent eines Fensterblicks zu verstehen:

„Ein lila gefärbtes Stück dünnes Papier, eine wirklich unscheinbare Prospettiva, ein

Blick auf und gerade noch durch das Fenster, hinter dem nur undeutlich Konturen

einiger Bäume und eines Gebäudes zu sehen sind. Aber es ist im Wesentlichen der

Blick nach außen, der eine solche Faszination auf den Betrachter ausübt. Talbot hat

später andere Ansichten photographiert, wobei wie auch hier der Rahmen oder der

leicht geöffnete Fensterflügel immer der Ikonographie des Bildes zugehörten“37.

Talbots Fotografien sind Ausblicke auf die Welt des Sichtbaren, deren Oberfläche

sich in den Kamera-Bildern selbst abbildet.

In der Beschreibung der Tafel II, die Geschirr in Regalen zeigt, führt Talbot einen

weiteren wichtigen Gedanken ein. Er benennt die Analogie zwischen der Fotokamera

und dem menschlichen Auge, die besonders für die Untersuchung der Fotografien

von Jeff Wall später von Wichtigkeit sein wird.38 Diese Eigenschaft ist zwar nur ein

sekundäres Merkmal des Fotografischen, der Augenvergleich ist nicht zwangsläufig

36 Busch, Bernd: Fotografie / fotografisch – die sogenannten Entdecker, in: Barck, Karlheinz / Fonti-us, Martin / Schlenstedt, Dieter / Steinwachs, Burkhart / Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2001, S. 496-553, S. 501. 37 Amelunxen, Hubertus von: aaO., S. 27.

38 Dazu das Kapitel D.II. der vorliegenden Arbeit.

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an die Kameratechnik gebunden, er zeigt jedoch, dass sich seit Beginn der fotografi-

schen Praxis eine Verknüpfung von Auge und Kamera finden lässt.39

„The articles represented on this plate are numerous. But, how-ever numerous the objects – however complicated the arrange-ment – the Camera depicts them all at once. It may be said to make a picture of whatever it sees. The object glass is the eye of the instrument – the sensitive paper may be compared to the ret-ina. And the eye should not have too large a pupil: that is to say, the glass should be diminished by placing a screen or a diaphragm before it, having a small circular hole, through which along the rays of light may pass. When the eye of the instrument is made to look at the objects through this contracted aperture, the resulting image is much sharp and correct.“40

Das Objektiv der Kamera wird als Auge des Instruments beschrieben und der Film,

auf dem sich die empfangenen Bilder abdrücken, als Netzhaut. Die fotografischen

Bilder sind – ebenso wie die des Auges – nach den Gesetzen der Perspektive organi-

siert. Dinge, die im Hintergrund liegen, sind kleiner als Gegenstände, die sich im

Vordergrund befinden.41

Bilder, welche die Kamera aufzeichnet, sind an die perspektivische Verkürzung ge-

bunden. Der Film der Kamera kann nur das darstellen, was durch das Objektiv an

Lichtstrahlung vermittelt wird. Die Wellenfronten, die von Objekten ausgesendet

werden, verlieren an Lichtintensität, je weiter sie vom Objektiv entfernt sind. Die

Substanzen der Filmemulsion, auf die ein niedriger Strahlenbeschuss erfolgt, werden

in einer geringeren Stärke zur Veränderung angeregt, als diejenigen, die durch nahe

Objekte starker Strahlung ausgesetzt sind. Der Grund für die perspektivische Ver-

kürzung liegt also in der Intensität der reflektierenden Lichtstrahlung, die den Film

erreicht.42 Der Straßenzug von Abbildung 1, den Talbot beschreibt, muss sich als

39 Diese Denkfigur findet sich sowohl bei William Henry Emerson wie bei Heinrich Kühn. Während Emerson aus piktorialistischer Perspektive argumentiert, bezieht sich Kühn auf die Wahrnehmungs-theorie des Physiologen Hermann Helmholtz. Ullrich, Wolfgang: Unschärfe, Anitmodernismus und Avantgarde, in: Geimer, Peter (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit – Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 381-412. 40 Talbot, William Henry Fox: aaO., o. S.. Die kursive Hervorhebung findet sich auch in Talbots Ori-ginaltext. 41 Der Aufsatz von Linsen unterschiedlicher Brennweite ermöglicht es zwar, entfernte Gegenstände näher an den Vordergrund zu rücken, Talbots Instrumentarium bot jedoch nicht die Tele- und Weit-winkelfunktion, die heute im Gebrauch sind.

42 Zajonc, Arthur: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, Hamburg 1993. Besonders das Kapitel: die Anatomie des Lichts, S. 76-120.

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Raumflucht organisieren, denn die Gegebenheiten der Fotografie funktionieren nach

den Gesetzen der Physik, genauer, sie folgen den Gesetzen der Optik. Die Wiederga-

be der Außenwelt durch die Fotografie hat dadurch Ähnlichkeit mit den Abbildun-

gen, die durch die Gesetze der Zentralperspektive erhalten werden. Die Perspektive

“rationalisiert mit Hilfe der mathematisch konstruierten Perspektive den Bildraum

bis zum letzten Punkt auf den Betrachter hin“43 – ebenso wie die Fotografie mittels

physikalischer Gesetze.

Für Talbot ist dies ein Grund, um seine Entdeckung auch dilettierenden Künstlern zu

empfehlen, denen die Fotografie Erleichterung in der Darstellung der Räumlichkeit

bieten könne: „those amateurs especially, and they are not few, who find the rules of

perspective difficult to learn and to apply (...) prefer to use a method which dispenses

with all that trouble.“44

Bevor ausschnitthaft die Geschichte der Fotografie skizziert wird, sollen nun Talbots

Definitionen zusammengefasst werden: Talbot apostrophiert in seinen Ausführungen

die Merkmale des neuen Mediums und die Neuartigkeit der Fotografie. Talbot betont

die Abwesenheit des gestaltenden Subjekts. In der Fotografie bilden sich Gegenstän-

de und die Dinge der Natur quasi von selbst ab. Es ist der Zeichenstift der Natur

(„Pencil of Nature“), der die Darstellung liefert. Der Fotograf setzt lediglich einen

Vorgang in Gang, der sich jedoch nach eigenen Gesetzen, ohne menschliche Inter-

vention vollzieht. Es sind die Gesetze einer Maschine, eines Apparates, die optisch

und chemisch funktionieren. Dieses Instrument liefert „stumme Zeugenaussagen“

und detailreiche Abbildungen einer Apparatur, die unbewusst aufzeichnet („uncons-

ciously recorded“). Die Gegenstände zeigen sich als authentische „self-

representations“ in den Abbildungen, in welche sich die Zeit der Aufnahme einge-

schrieben hat und versiegelt wurde. Nach Talbots Beschreibung sind Fotografien

„Augenblicke“, die durch die optischen Gesetze der Kamera die perspektivische

Wahrnehmung des Betrachters weiterführen. In unendlicher Vielzahl lassen sich die-

43 Stelzer, Otto: Kunst und Photographie – Kontakte, Einflüsse, Wirkungen, München 1966, S. 52.

44 Talbot: aaO., o.S.

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se Selbstabbildungen der Natur reproduzieren.45 Sie sind unbestechliche Produkte

eines Instruments, das nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten operiert.

B.II. Talbots Schlüsselbegriffe in der Fotogeschichte

B.II.1. Charles Baudelaire, das „Neue Sehen“, Walter Benjamin

Seit ihrer Entstehung wird die Fotografie von einem semantischen Feld bestimmt,

das die Selbstabbildung der Natur und das maschinelle Registrieren zum Thema hat.

Um diesen „begrifflichen Kern“ kreisen die Argumente, in denen entweder für eine

Ablehnung oder eine Befürwortung der Fotografie plädiert wird. Das Fotografische

ist damit ein Paradigma einer spezifischen Sichtbarkeit, die erstmals 1839 von der

Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Elemente dieses Paradigmas werden isoliert,

verabsolutiert und sind stilprägend für bestimmte fotografische Ausrichtungen. Auch

wenn sich die Bilder, welche die Fotografen des „Neuen Sehens“ herstellen, von

denen unterscheiden, die 40 Jahre früher von Piktorialisten angefertigt wurden, so

beziehen sie sich doch auf das, was das Fotografische ausmacht – nur dass die

Künstler des 19. Jahrhunderts das Fotografische negieren, die des 20. Jahrhunderts es

forcieren. Fotografie ist und bleibt ein Bildmedium, das durch einen Apparat produ-

ziert wird und nur aufgrund seiner spezifischen, technischen Eigenschaften funktio-

niert. Die Geschichte der Fotografie schreibt sich somit immer als Verhältnis zu ih-

ren technischen Voraussetzungen fort.

Deutlich wird dies in den Vokabeln, die für die inszenierte Fotokunst unserer Ge-

genwart verwendet werden. Zeitgenössische Künstler wie Lois Renner, Thomas De-

mand oder die Becher-Schüler Andreas Gursky und Axel Hütte stellen „echte Fäl-

schungen“ oder „true lies“46 her; sie operieren mit dem Paradox aus fiktionalem An-

spruch und physikalischer Gesetzmäßigkeit des Mediums. In der kalkulierten Über- 45 „The number of copies which can be taken from a single original photographic picture, appears to be almost unlimited“. William Henry Fox Talbot, aaO., o.S.. 46 Mit dem Titel „Echte Fälschung“ wurde der Artikel von Andreas Langen in der Stuttgarter Zeitung vom 17. März 2004 überschrieben. Er rezensierte eine Fotoausstellung der Lois-Renner-Schüler, die in der Galerie der Stadt Backnang zu sehen war. Unter dem Titel „True Lies“ wurde zwischen 16.1

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schreitung der Technik positionieren sie sich, ebenso wie Jeff Wall, gegenüber einem

Sachverhalt, der seit der Erfindung der Technik diskutiert wird.

Doch zurück zu den frühen Jahrzehnten der Fotografie. In den Naturwissenschaften,

in denen das Foto um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Handzeichnung ablöste,

wurde die neue Abbildungstechnik mit Begeisterung aufgenommen.47 Während das

mechanische Produzieren von dokumentarischen Bildern in der Medizin oder Astro-

nomie dem Streben nach wissenschaftlicher Objektivität entsprach, wurde die Foto-

grafie aufgrund ihrer maschinellen, geistlosen Bildproduktion von den bildenden

Künstlern abgelehnt. Kurz nach der Veröffentlichung der Fotografie meldeten sich

kritische Stimmen, welche die Merkmale, die von Talbot bereits vorgestellt wurden,

für eine Zurückweisung des Mediums angaben: die Detailgenauigkeit, die Trennung

von Geist und Hand, der Mangel an künstlerischer, subjektiver Einflussnahme, der

Verlust des Ausdrucks, der Fantasie und des Genies.48 „Die Fotografien sind derzeit

zu buchstabengetreu, um mit Kunstwerken konkurrieren zu können (...) die wunder-

barsten Details mikroskopischer Fotografien überfordern die Nachahmung durch

Menschenhand, aber sie sind keine Kunstwerke“49, proklamierte John Leighton in

seiner Rede vor der Photographic Society in London 1853. Der Landschafts- und

Reisefotograf Francis Frith schreibt in seinem Artikel „Die Kunst der Fotografie“

1859: „Ganz offenkundig und grundlegend für ihre Popularität ist ihre wesentliche

Genauigkeit in der Wiedergabe der Umrisse und in beträchtlichem Maße auch der

Perspektive und von Licht und Schatten (...) Tatsache ist, dass die Fotografie zu

wahrheitsgetreu ist. Sie besteht darauf, uns „die Wahrheit und nichts als die Wahr-

heit“ zu geben“50.

und 28. 3. 2004 im Franz-Gertsch-Museum im schweizerischen Burgdorf eine Ausstellung zur Ge-genwartsfotografie und -videokunst gezeigt. 47 Lorraine Daston und Peter Galison beschreiben in ihrem Aufsatz „Das Bild der Objektivität“ eine Veränderung in der Erstellung von Bildatlanten für die Anatomie während des 19. Jahrhunderts. Sie skizzieren einen Wechsel vom Typischen, Ausgewählten und Normativen zum Einzelfall und Indivi-duellen unter der Bezugnahme auf die fotografische Technik. Daston, Lorraine / Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit – Fotografie in Wissen-schaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main, S. 29-99. 48 Zum Problem der Detailliertheit in der Fotokunst siehe: Brückle, Wolfgang: Einzelheiten über Ein-zelheiten, in: Brückle, Wolfgang / Henning, Andreas / Pfarr, Ulrich (Hrsg.): Photo-Kunst – 1852-2002, Ostfildern 2003, S. 4-13. 49 Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie – 1839-1912, München 1980, S. 91-93, S. 91.

50 Kemp, Wolfgang: aaO., S. 100-103, S. 101.

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Charles Baudelaire führt in seinem Aufsatz „Die Fotografie und das moderne Publi-

kum“ an: „Wenn es ihr erlaubt wird, sich auf die Domäne des Geistes und der Phan-

tasie auszuweiten, auf all das was nur durch die Seele des Menschen lebt, dann wehe

uns! (...) Das Verhältnis von Fotografie und Kunst ist und soll wie das Verhältnis

von Buchdruck und Literatur sein, ein dienendes.“51 Negativbearbeitung, Bromöl-

drucke, Unschärfe, kurz die Anleitungen, die im 19. Jahrhundert für die Bildbearbei-

tungen gegeben werden, sind die Antworten auf den Vorwurf, das Medium könne

nur durch eine subjektive Gestaltung „Durchgeistung“ und Relevanz erreichen.

Das ändert sich in dem Moment, als die Fotografie unter einem neuen Blickwinkel

betrachtet wird. Was zuvor ein Manko war, wird nun als Maschinenkunst in Scha-

dographien oder Fotogrammen gefeiert. Das Bewußtwerden dieser Möglichkeit hätte

dahin geführt, Existenzen, die mit unserem optischen Instrument, dem Auge nicht

wahrnehmbar oder aufnehmbar sind, mit Hilfe des fotografischen Apparates sichtbar

zu machen; d.h. der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Au-

ge, vervollkommnen bzw. ergänzen“52, schreibt Laszlo Moholy-Nagy 1927 im ach-

ten Band des Bauhausbuches. Die Einheit von Kunst und Technik als ästhetisches

Gestaltungsprinzip, das Moholy-Nagy am Bauhaus verfolgte, konnte nun mit Hilfe

der Fotografie verwirklicht werden.53„Es kommt der neue Fotograf?“54 verkündet

Werner Gräff 1929 anlässlich der Werkbundausstellung „Film und Foto“; Alexander

Rodtschenko proklamiert 1931: „In der Fotografie gibt es alte Blickwinkel, Stand-

punkte des Menschen, der auf der Erde steht und geradeaus blickt, oder wie ich es

nenne, Aufnahmen vom Bauchnabel aus, den Apparat am Bauch“55.

51 Kemp, Wolfgang: aaO., S. 110-113, S. 111. 52 Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei – Fotografie – Film, Bauhausbücher, 8, München 1927, S. 26. 53 Die Verbindung von Technik und Kunst am Bauhaus stellt Hans Belting dar. „Das unsichtbare Meisterwerk – die modernen Mythen der Kunst, München 1998, besonders das Kapitel: Kunst und Technik – der Wandel des Bauhauses, S. 385-388. 54 Gräff, Werner: Es kommt der neue Fotograf, Berlin 1929.

55 Zitiert nach Weiss, Evelyn (Hrsg.): Alexander Rodtschenko – Fotografien 1920-1938, München 1978, S. 51. Zur Fotografie von Rodtschenko siehe auch: Vöhringer, Margarete: Faktografie – Foto-grafie als Fakt, in: Belting, Hans / Schulze, Ulrich (Hrsg.): Beiträge zur Kunst und Medientheorie – Projekte und Forschung an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Ostfildern 2000, S. 133-155.

Page 29: Dissertation

B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

27

Das „Neuen Sehen“ kultiviert, was Talbot als „unconsciously recorded“, als unbe-

wusstes Aufzeichnen, beschrieben hatte.56 Die Fotografie kann dasjenige darstellen,

was der Aufmerksamkeit des Fotografen bei der Herstellung entgeht und erst nach

der Entwicklung des Abzugs verwundert im Bild aufgefunden wird.57 Türme mit

Uhren wie bei Talbots Fotografie des „Queens College“ oder Strukturen, bloß geleg-

te Gegenstände, die sich der Kamera bei Moholy-Nagy oder Alexandr Rodtschenko

als Kompositionen aus Licht und Schatten offenbaren. Als das „Optisch-Unbewußte“

erscheint es in Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni-

schen Reproduzierbarkeit“. Es wird „handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die

zur Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle

eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums, ein unbewußt durchwirk-

ter tritt (...). Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie“58.

B.II.2. Talbots „Abdruck“ und die semiotische Fototheorie von Rosalind Krauss

Dem unbewußten Registrieren korrespondiert die Eigenschaft der Fotografie, Abbil-

dungen herzustellen, in denen sich die Objekte durch reflektierte Strahlung abdrü-

cken. Im Vorwort des „Pencil of Nature“ weist Talbot den Leser darauf hin, „how

charming it would be if it were possible to cause these natural images to imprint

themselves durably, and remain fixed upon the paper!“59. Mit seiner Entdeckung hat

er diesen Anspruch eingelöst: Kamera-Bilder sind Abdrücke (imprints), die sich auf

dem Papierabzug dauerhaft eingeschrieben haben.

56 Zur fotografischen Richtung des „Neuen Sehens“: Kemp, Wolfgang: Das neue Sehen – Problemge-schichtliches zur fotografischen Perspektive, in: ders.: Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 1978. 57 Michelangelo Antonioni machte diesen Sachverhalt zum Thema seines Filmes „Blow up“. 58 Benjamin Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1994, S. 10-44, S. 36. Die Geist-Fotografie okkulter Zirkel um 1900 ging ebenfalls davon aus, dass die Kamera die Fähigkeit besitze, Dinge aufzuzeichnen, die das menschliche Auge nicht wahrnehmen könne. Dazu: Emslander, Fritz: Geisterfotografen, in: Bilstein, Johannes / Winzen, Matthias (Hrsg.): Seele – Konstruktionen des Innerlichen in der Kunst, Nürnberg 2004, S. 58-65.

59 Talbot, Henry Fox: aaO., o.S.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

28

In den 60er-Jahren kehrt mit der Concept Art Talbots Begriff des „imprints“ in der

Fototheorie der Indexikalität wieder.60 Unter Bezugnahme auf die Sprachphilosophie

von Charles Sanders Peirce wird der Abdruck talbotscher Prägung in ein zeichenthe-

oretisches Rahmenwerk eingepasst, angereichert und erweitert sowie als eigenstän-

diger Bildtypus ausgewiesen.

Alle drei Typen der peirceschen Semiotik – Index, Ikon und Symbol – definieren

eine Relation zwischen einem Zeichenträger und seinem Designat. Der Zeichenträger

ist ein Gegenstand, auf dem die Zeichen inskribiert sind. Er kann verschiedene Stoff-

lichkeiten haben oder ganz auf eine materielle Natur verzichten. Rauch oder roter

Lippenstift am Kragen können ebenso als Zeichenträger fungieren wie elektrische

Signale. Sie bezeichnen ein Objekt, das in der formalen Logik mit dem Begriff „De-

signat“ belegt wird. Auf das Designat wird verwiesen, es wird durch das Zeichen

dargestellt. Ikon, Symbol oder Index referieren auf das Designat und liefern dadurch

verschiedene Modelle, um ihr relationales Verhältnis zu beschreiben. Sie stellen un-

terschiedliche Referenzformen und Rezeptionsformen dar: Während das Ikon mit

dem Modus der Ähnlichkeit operiert, funktioniert das Symbol durch Konvention. Es

ist ein Zeichen, das durch Übereinkunft gefunden wird, willkürlich gesetzt wird und

nur mit einem entsprechenden Code zu dechiffrieren ist. Die Wörter beispielsweise,

durch welche dieser Text aufgebaut ist, basieren auf einer gesellschaftlichen Kon-

vention, die ein verbindliches Alphabet liefert und jedem Laut einen bestimmten

Buchstaben zuweist. Im Gegensatz zum symbolischen Zeichen wird der Index durch

einen natürlichen Zusammenhang mit dem Bezeichneten definiert. Sein Objektbezug

ist unmittelbar rekonstruierbar, beruht jedoch nicht auf einer sinnlich wahrnehmba-

ren Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Designat. Ein Fingerabdruck auf einer Mord-

waffe ist beispielsweise ein indexikalisches Zeichen für den Benutzer dieser Waffe.

Dieser Abdruck operiert im Modus der Kausalität und wird durch eine physikalische

Verbindung mit dem Bezeichneten bestimmt. Er macht sich geltend als Spur und

Markierung und bezieht seine Triftigkeit aus einer chemischen oder physikalischen

Beziehung zur Wirklichkeit. Der Index garantiert Präsenz.

60 Besonders dazu Metzger, Rainer: Indexikalität und Alienation, in: ders.: Kunst in der Postmoderne – Dan Graham, Köln 1994, S. 114-132.

Page 31: Dissertation

B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

29

Peirce’ Sprachphilosophie wird in den 60er- und 70er-Jahren in die bildende Kunst

überführt und bildet eine Allianz mit ästhetischen Kategorien61. Was sich bei Peirce

noch auf „spekulative Grammatik“ oder „die Physiologie der Formen“62 bezog, wird

nun mit genuin künstlerischen Fragestellungen belegt. Die theoretischen Ressourcen

von Strukturalismus und Semiotik dienen der Kunst als Feld, in dem Homologien

sich auf der Zeichenebene statt über geschichtlich wandelbare Stile einstellen. Wenn

Robert Rauschenberg Ende der 50er-Jahre einen eingefärbten Autoreifen über eine

sieben Meter lange Papierbahn rollt und anschließend den „Automobile Tire Print“

in die Vertikale befördert, propagiert er ebenso eine indexikalische Kunst wie Yves

Klein, der für die „Anthropomètries“ die Spuren von bemalten Frauenkörpern auf

Papier festhält. Beiden beschert der Index ein Dokument der Wirklichkeit; ein Real-

Phänomen fixiert sich selbst als Zeichen. Indexikalität ist nun nicht mehr nur eine

zweiwertige Relation, sondern eine artistische Verfasstheit, sie wird zum künstleri-

schen Programm.

Die Apologetin des Index’ in der Fototheorie ist Rosalind Krauss.63 1977 erscheint

in der Zeitschrift „October“ ihr Aufsatz „Notes on Index: Seventies’ Art in America“

indem sie die „photographic condition“64 als gemeinsames Merkmal der Gegen-

wartskunst beschreibt. In ihrer Charakterisierung des Fotografischen bezieht sie sich

auf Talbots Schlüsselbegriff des Abdrucks; Fotografie ist ein „physical imprint“.

„The photogram only forces, or makes explicit what is the case of all photography. Every photograph is the result of a physical imprint transferred by light reflections onto a sensitive surface.

61 Metzger, Rainer: Kunst in der Postmoderne, Köln 1994. 62 Peirce spricht in seinem „Syllabus of Certains Topics of Logic“ von diesen Gegenständen seiner Zeichentheorie. Pape, Helmut: Charles S. Peirce – Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/Main 1983. 63 Krauss steht mit ihrem Ansatz nicht alleine: Auch Philippe Dubois sieht in der Fotografie auf die Strategie des Spurenlegens. Dubois, Philippe: Der Fotografische Akt – Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden 1998. Ebenso: Schulz, Martin: Körper sehen – Körper haben? – Fragen der bild-lichen Repräsentation, in: Belting, Hans / Kamper, Dietmar / Schulz, Martin (Hrsg.): Quel Corps? – eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 1-25, besonders das Kapitel: Die photographische Spur, S. 20-25; Frohne, Ursula: Berührung mit der Wirklichkeit – Körper und Kontingenz als Signa-turen des Realen in der Gegenwartskunst, in: Belting, Hans (Hrsg.): aaO., S. 401-426; Didi-Hubermann, Georges: Ähnlichkeit und Berührung – Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999; Wyss, Beat: Das indexikalische Bild, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Ge-schichte und Ästhetik der Fotografie, 76, 2000, S. 3-11.

64 Krauss, Rosalind: Anmerkungen zum Index, in: Harrison, Charles / Wood, Paul (Hrsg.): Kunsttheo-rie im 20. Jahrhundert, Ostfildern 1998, S. 1203-1209, S. 1203.

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The photograph is thus a type of icon, or visual likeness, which bears an indexical relationship to its object. Its separation from true icons is felt through the absoluteness of this physical gene-sis, one that seem to short-circuit or disallow those processes of schematization or symbolic intervention that operate within the graphic representation of most paintings. If the Symbolic finds its way into pictorial art through the human consciousness oper-ating behind the forms of representation, forming a connection between objects and their meaning this is not the case for pho-tography.“65

Indexikalität arbeitet als Bedeutungsproduktion mit reiner Präsenz, während ästheti-

sche Konventionen und künstlerische Autorenschaft hier ausgeschaltet sind. „Die

Funktionsweise des Index’ in der Kunst der Gegenwart, die Weise, in der er die

hochdifferenzierte Sprache ästhetischer Konventionen (und die Art von Geschichte,

die sie codieren) durch die Registrierung nackter physischer Präsenz ersetzt wird

(...)“66 findet Krauss in der Arbeit Marcel Duchamps.

Duchamps Beziehung zum Thema des indexikalischen Zeichens, die Weise, wie sei-

ne Kunst als Matrix für gegenwärtige Konzeptionen dient, beschreibt Krauss als äs-

thetischen Präzedenzfall. Seine Arbeit „Das Große Glas“, das zwischen 1915 und

1923 entstand, ist für Krauss eine Spielart der Fotografie: „nicht nur die Markierung

der Oberfläche mit Beispielen des Index und die Verteilung von Bildern als physi-

sche Substanzen innerhalb des Bildfeldes, sondern auch die Undurchdringlichkeit

des Bildes im Bezug auf seine Bedeutung“67, charakterisiert Duchamps Strategie.

Noch deutlicher formuliert Krauss ihre These in der 1998 entstandenen Schrift über

das Fotografische. Sie signalisiert bereits durch das Frontispiz ihre Fotografie-

Konzeption. Es zeigt eine Arbeit des französischen Künstlers Roger Parry. Die 1930

entstandene Fotografie stellt eine Handfläche dar, die gegen eine Glasscheibe ge-

presst wird und deutlich ihre Druckspuren vorführt. Diese Fotografie beschreibt kei-

ne Handlung – bezeichnender Weise hat sie Parry als „Sans Titre“ bezeichnet. Sie ist

buchstäblich bloßer Abdruck und verweist darauf, dass Krauss Indexikalität als

„Kardinaltugend“ des Fotografischen versteht. „Die Photographie kann nur über die

65 Krauss, Rosalind: Notes on the Index: Seventies Art in America, in: October – The First Decade, 1976-1986, Cambridge / Massachusetts, 1987, S. 2-15., S. 9. 66 Krauss, Rosalind: aaO., S. 1206.

67 Krauss, Rosalind: aaO., S. 1208.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

31

Direktheit einer physischen Pfropfung verlaufen: Wie ein Fußabdruck im Sand ist sie

an die Tätigkeit des direkten Eindrückens gebunden“68. Daher ist die Fotografie un-

trennbar mit dem verbunden, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen ist. Die

wesentliche Eigenschaft des Mediums ist dadurch bestimmt, Spuren des je Dagewe-

senen zu zeigen.

In ihrem Aufsatz über den französischen Fotogra-

fen Nadar macht Krauss deutlich, dass die indexi-

kalische Spur in einem raum-zeitlichen Zusam-

menhang steht: Nadar konzentriert „seine Auf-

merksamkeit wiederum auf die physische Nähe,

die ihr absolutes Erfordernis ist, auf den Sachver-

halt, daß – egal, wie irgend ein anderes System

der Informationsübertragung arbeiten mag – die

Photographie von einem Akt der Passage zwi-

schen zwei Körpern im selben Raum abhängt“69.

Damit das Aufzeichnungsgerät arbeiten kann,

müssen Gegenstände anwesend sein. Der indexi-

kalische Abdruck liefert also etwas, was die Ver-

fassung von Objekten zu einem spezifischen Augenblick darstellt und deren Verän-

derung angehalten hat. Durch die Indexikalität ist jede Fotografie ein Dokument der

Wirklichkeit, eine Zeitzeugin im buchstäblichen Sinn. Sie hat aus dem Verstreichen

der Zeit einen Punkt isoliert. Da der Verlauf von Zeit nur an Objekten sichtbar ist,

die sich an einem Ort befinden, haben sich diese raumzeitlichen Determinanten eben-

falls eingeschrieben.

Abbildung 2: Frontispiz von Rosalind Krauss' Schrift "Das Photographische – eine Theorie der Abstände" von 1998

Innerhalb der Fotografiegeschichte hat sich gezeigt, dass dieser Sachverhalt nicht

zwangsläufig als Qualität der Fotografie bewertet wird. Kritisch formuliert bereist

1927 Siegfried Kracauer: „Die Fotografie versammelt Fragmente um ein Nichts. Als

die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für einige Sekunden in einem

Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt ist aber statt der

Großmutter jener Aspekt (...). Nicht der Mensch tritt ins einer Fotografie heraus, 68 Krauss, Rosalind: Das Photographische – eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 23.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

32

sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem

sie ihn abbildet“70. Für Kracauer ist jede Fotografie ein Inventar verschiedener Frag-

mente und Details, denen aber eine innere Einheit fehlt, da eine solche Einheit nur

auf der Ebene des Gemeinten, des Sinns und der Bedeutung entsteht.71 Die Fotogra-

fie stellt bloße Äußerlichkeit dar, die mit seiner Erfahrung und Vorstellung nicht

übereinstimmt.

Kracauers Vorwurf der fotografischen Darstellung bloßer Sichtbarkeit wird von Ro-

land Barthes’ Text „Die helle Kammer“ aus dem Jahr 1980 aufgegriffen. Barthes

nimmt sich eine Fotografie seiner verstorbenen Mutter vor und versucht sie darin

wiederzufinden. Und ebenso wie bei Kracauer bleibt sein Versuch vergeblich. Statt

seiner Mutter sieht Barthes nur unpersönliche Gegenstände, die auf die Mode einer

früheren Zeit verweisen. Das innere Wesen, die wahre Identität entzieht sich der fo-

tografischen Wiedergabe, da diese nur oberflächliche Details darzustellen vermag.

Was sie zeigt, „ist so gewesen“. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Oberflächendar-

stellung zwangsläufig alle Facetten des Menschen, beziehungsweise der Erinnerung,

die man von diesem Menschen hat, miteinschließt.72

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich durch Talbots Charakterisierung des

neuen Mediums Denkmuster innerhalb der Fotografiegeschichte etabliert haben, die

sich in drei Punkten ausprägen:

1. Die Fotografie wird durch einen Apparat erzeugt, der die künstlerische Einfluss-

nahme ausschließt.

2. Fotografien stehen in einem spezifischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Sie sind an

die Präsenz der abgebildeten Gegenstände gebunden. Auf ihrer Oberfläche haben

sich die Gegenstände der äußeren Welt abgedrückt und eingeschrieben.

3. Diese fixierten Spuren des Dagewesenen sind aus einem raum-zeitlichen Zusam-

menhang isoliert worden. 69 Krauss, Rosalind: aaO., S. 25. 70 Kracauer, Siegfried: Die Photographie, in: ders.: Der verbotene Blick, Leipzig 1992, S. 185-202, S. 196. 71 Dazu: Groys, Boris: Die Wahrheit der Fotografie, in: ders.: Logik der Sammlung am Ende des musealen Zeitalters, München 1997, S. 127-144.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

33

Ob es sich um die stumme Zeugenschaft oder um die Möglichkeit der Selbstabbil-

dung handelt, es hat sich gezeigt, dass das Fotografische nur abhängig von seinen

technischen Möglichkeiten gedacht werden kann. Die fotografische Technik liefert

das Paradigma einer spezifischen Sichtbarkeit, die nur in Relation zu ihren techni-

schen Voraussetzungen konstruiert werden kann. Ihrer „natürlichen Magie“73 oder

der Analogie von Fotografie und Acheiropoieta, den nicht von Künstlerhand angefer-

tigten Christus-, Marien- oder Heiligenbildern, wie sie Didi-Hubermann postuliert,

liegt immer die maschinelle Apparatur zugrunde.74 Als Medium kann Fotografie

dadurch niemals Kunstanspruch haben. Lediglich der Blick und die Verwendung

dieses Mediums stehen für einen intentionalen Gebrauch, der auf eine künstlerische

Verwendung schließen lässt. Was sich an der Fotografie ändert, ist also nicht das

Fotografische, sondern sind der Kontext und die Ansprüche, denen das Fotografische

ausgesetzt wird. Die Geschichte der Fotografie unterliegt darum einem Verlauf ver-

schiedener Erwartungen und künstlerischer Bilddefinitionen und zeugt von der Wei-

se, in der sie als Idee einer wahrheitsgemäßen Repräsentation von Wirklichkeit kon-

struiert, instrumentalisiert oder überlistet wird.75 Dieser Sachverhalt gilt auch für Jeff

Wall. Seine künstlerische Arbeit definiert sich anhand dessen, was das Selbstver-

ständnis des Fotografischen ist.

„Meine Generation begann ihre fotografische Arbeit mit einer Art Kampf gegen das, was aus dem Medium oder der Kunstform ge-worden war, was sie ihrem Selbstverständnis nach geworden war. (...) Lange Zeit musste man gegen die traditionelle Ästhetik der Fotografie streiten, die vom Gedanken des Faktischen ausgeht, und gegen den Anspruch der Faktizität, den die Fotografie sowohl in der Kunst, wie auch außerhalb von ihr erhebt. Ich weise zwar

72 Barthes Suche nach dem Bild seiner Mutter wird jedoch mit einer anderen Fotografie beendet. Die-ses Foto zeigt seine Mutter als Kind, das heißt zu einem Zeitpunkt, von dem Barthes keine erlebte Anschauung von ihr gehabt haben kann. 73 Talbot, William Henry Fox: aaO., o.S. 74 Didi-Huberman, Georges: The Index of the Absent Wound (Monograph on a stain), in: October, 29, 1994. S. 68. Weitere Aufsätze finden sich in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika – aktuelle Perspektiven der zeitgenössischen Fotografie, Zürich 1998.

75 Ronald Berg hat in seiner Studie über Talbot, Benjamin und Barthes das Fotografische als „roten Faden“ innerhalb eines intertextuellen Geflechts der drei Autoren dargelegt und anschließend die unterschiedlichen Gewichtungen dargestellt. Er kommt zum Ergebnis, das Fotografische bei Talbot als Registrieren, bei Benjamin als Wahrnehmen und bei Barthes als Imaginieren zu beschreiben. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

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diesen Anspruch nicht zurück, aber ich glaube nicht, dass man auf ihn eine Ästhetik der Fotografie – der Fotografie als Kunst – gründen kann. Ich dachte, ich könnte dieses Problem dadurch lö-sen, dass meine Fotografien den Anspruch auf Faktizität suspen-dieren, jedoch nicht ohne den Betrachter zu einer Auseinanderset-zung mit der Frage der Faktizität zu zwingen. Das habe ich zum Teil dadurch zu erreichen versucht, dass ich die Beziehung zu an-deren bildnerischen Medien hervorgehoben habe (...) Das war für mich so etwas wie eine Mimesis an die anderen Künste, etwas, was nur in der Fotografie möglich war. Erst später stellte ich fest, dass diese Mimesis auf einer Basis stattfand, die die Fotografie selbst geliefert hatte.“76

Wall arbeitet mit einem Medium des Faktischen, mit der Technik, die anhand von

Talbots Kernbegriffen beschrieben wurde. Qua Technik sind Walls Fotografien e-

benso wie Talbots Kalotypien Erzeugnisse eines optischen und chemischen Prozes-

ses. Sie sind „Ikonen des Realen“77, die an die faktischen Gegebenheiten gebunden

sind, und arbeiten ausschließlich in einer indexikalischen Relation.

Für die technische Genese ist dieser Sachverhalt eine unumstößliche Gesetzmäßig-

keit – für Walls künstlerische Zielsetzung jedoch keine zwingende Vorgabe: „Jahre-

lang wurde die Beschäftigung mit Fotografie vor allem durch die Beschäftigung mit

der Frage vorangetrieben, wie man sich von den orthodoxen Haltungen absetzen

konnte“78, beschreibt er seinen Ansatz, den er seit Mitte der 70er-Jahre verfolgt. Die

technische Konstitution wird dabei zwar als gegeben vorausgesetzt, kann jedoch

durch spezifische Bildsignale unterlaufen werden. Dem Betrachter wird vorgeführt,

dass die Fotografie in ein nicht-dokumentarisches Feld überführt wird. Ihre fiktionale

Qualität wird durch eine Transgression des Technischen erreicht, die als Überlistung

der Kamera funktioniert. Wie Vilém Flusser richtig bemerkt, muss die Frage, die

sich die Künstler Mitte der 70er-Jahre stellen, lauten: „Inwieweit ist es dem Fotogra-

fen gelungen, das Apparatprogramm umzuleiten?“79. Das heißt nicht, dass die Foto-

grafie als Lüge entlarvt wird. Ganz im Gegenteil: Ihr dokumentarischer Charakter 76 Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Jeff Wall – Figures and Places, Frankfurt/Main 2001, S. 138-141, S. 139. 77 Der Begriff stammt aus Ronald Bergs Disseration über die Fotografie Talbots. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. 78 Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S. 138. 79 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1991, S. 73.

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B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT

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wird als zwingende Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, denn da sie eine Technik

ist, funktioniert sie nach den Gesetzen der Optik. Nur, wenn das Fotografische als

Voraussetzung akzeptiert wird, kann es überschritten werden. Wie sich zeigen wird,

liegt Walls Antwort darauf in der spezifischen Darstellung der Figuration und der

Benutzung eines Spiegels. Um seine Mechanismen der Apparat-Überlistung zu ver-

deutlichen, wird im Folgenden sein Schlüsselbild „Picture for Women“ aus dem Jahr

1979 untersucht, anhand dessen sich Walls Bildsignale exemplifizieren lassen

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C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN

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C. „Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen“80

„Picture for Women“ zeigt eine junge Frau und einen Mann in einem abgeschlosse-

nen Innenraum. Draußen ist es dunkel, so dass zur Beleuchtung der Szenerie die

Glühlampen angeschaltet wurden. Im Hintergrund sieht man einen Tisch, Stühle und

Kabel, die auf dem Parkettboden verteilt sind. Im Vordergrund lehnt links eine auf-

recht stehende Frau an einer Art Holzgesims. Ihre Hände ruhen auf der Platte. Sie

blickt den Betrachter an, während der junge Mann, etwas zurückgesetzt in der rech-

ten Bildhälfte, die Frau beobachtet. Der Mittelgrund wird durch eine Kamera, die auf

einem Stativ montiert ist, dominiert. Sie teilt das Foto in zwei Bildhälften. Neben

dieser symmetrischen Struktur wird eine weitere deutlich. Zwei Stangen, auf denen

möglicherweise Studioleuchten angebracht wurden, flankieren die Kamera rechts

und links und bewirken, dass die Bildfläche aus drei Zonen zusammengesetzt er-

scheint. Die Figuren sind in einen klar komponierten Bildraum eingepasst; ihre

Abbildung 3: Jeff Wall: Picture for Women, 1979, Großbilddia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm

80Das Zitat stammt von Vilém Flusser: aaO., S. 73. Es bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf die ästhetische Strategie, die sich aus Flussers Ansatz ableiten lässt, nicht auf das Unterdrückungs- und Macht-Potential, das Flusser in der fotografischen Technik sieht.

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C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN

37

Handlungen sind jeweils einer Bildzone zugeordnet. Jede Figur des Bildpersonals,

einschließlich der Kamera, befindet sich in einem vertikalen Bildstreifen.

Durch ein wiederholtes Betrachten der Szenerie wird klar: Der Mann betätigt den

Fernauslöser der Kamera, er ist der Künstler, und das Foto zeigt sein Selbstporträt.

Es ist Jeff Wall, der sich nicht hinter der Kamera befindet, sondern das fotografische

Verfahren durch den Fernauslöser einleitet. Die Kamera steht isoliert im Raum und

funktioniert als automatischer Mechanismus der Bildaufzeichnung.

Doch die Arbeit zeigt weit mehr als die Darstellung des fotografischen Aktes. Wall

hat die Szene vor einem Spiegel inszeniert. Der Spiegel nimmt den gesamten Bild-

raum ein und reflektiert das Arrangement, ohne dass dem Betrachter vermittelt wird,

wo der Spiegel beginnt oder an welcher Stelle er endet. Was auf der Fotografie zu

erkennen ist, führt also keine Realität vor Augen, die sich als Schnitt durch die Seh-

pyramide darstellt, sondern ist eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, das Bild einer

Spiegelung. Die Fotografie zeigt keinen Ausblick oder gerahmten Durchblick, son-

dern ein abgeschlossenes Gefüge, in das der Betrachter nicht einbezogen, sondern

aus dem er ausgeschlossen wird. Er sieht eine Szene, die sich ihm nur durch die Re-

flektion erschließt.

Wall zeigt uns „Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit“81. Aber was verbirgt sich

hinter diesem enigmatischen Etikett? Um das Programm der fiktionalen Fotografie

näher zu bestimmen, sollen die Merkmale der Fotografie „Picture for Women“ nun

entzerrt und einzeln dargestellt werden. Zum einen bedeutet das, die Wahl des Mo-

tivs – die Frauenfigur, die sich im Vordergrund befindet – zu analysieren, zum ande-

ren das Spiegelarrangement zu erörtern. Es wird dabei deutlich werden, dass Wall

seine Motive in einer Weise verwendet, die sich auf eine genuin malerische Konzep-

tion gründet und welche die Absicht verfolgt, das fotografische Bild durch das male-

rische Bild zu überschreiben.

81 Das Zitat bezieht sich auf den Titel einer Textsammlung, die Interviews, Vorträge und Aufsätze Jeff Walls vereinigt. Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit, Dresden 1997.

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C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN

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C.I. Die Figuration – Bilder entstehen aus Bildern

C.I.1. Manets Gemälde als Paraphrase

Die junge Frau, die sich bei Wall im Spiegel betrachtet, steht im Vordergrund, in der

linken Bildhälfte. Vor ihr befindet sich eine horizontal verlaufende Holzplatte, auf

der ihre Hände liegen. Aufrecht stehend blickt sie scheinbar aus der Fotografie. Wall

hat sich bei der Pose seines Modells an

einem berühmten Vorbild orientiert; er

bezieht sich auf Edouard Manets Gemälde

„Le Bar aux Folies-Bergère“, das zwi-

schen 1881 und 1882 entstanden ist: „

‚Picture for Women‘ ist ein Remake vom

Manets Gesellschaftsporträt. Die ‚Bar‘

hatte es mir tatsächlich angetan; ich hatte

das Bild mehrmals in den Courtauld Gal-

leries während meiner Studienzeit in

London gesehen. Ich wollte es ausdeuten, in Gestalt einer neuen Version analysieren,

wollte versuchen seine innere Struktur freizulegen“82, berichtet Wall 1986 in einem

Interview.

Abbildung 4: Jeff Wall: Picture for Wo-men, 1979, Großbilddia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm

Worin besteht nun Walls Ausdeutung?

Was übernimmt er, und was verändert er

an der malerischen Vorlage? In beiden

Bildern befinden sich die Figurinen in

einem deutlich querformatigen Bildfeld,

dessen Raum durch ein Netz von Hori-

zontalen und Vertikalen strukturiert wird.

Sowohl parallel zur Bildfläche wie zu den

Rändern verlaufen Kompositionsachsen.

Bei Manet sind es der Balkon im Hintergrund, die Pfeiler der Galerie und der Tresen

im Vordergrund, bei Wall ein Strukturgerüst, das durch die Tischplatte und das Ge-

Abbildung 5: Edouard Manet: Le Bar aux Folies-Bergère, 1881-82, Öl auf Lein-wand, 93 x 114 cm

82 Jeff Wall in: Typologie, Luminiszenz, Freiheit – ein Gespräch zwischen Els Barents und Jeff Wall, in: Barents, Els (Hrsg.): Jeff Wall – Tranparencies, München 1986, S. 96f.

Page 41: Dissertation

C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN

39

stänge vorgegeben wird. In beiden Fällen wird das Bildpersonal in einen kompositi-

onellen Rahmen eingefügt. Alle Raumelemente führen jeweils über die Bildgrenze

hinaus. Die Frauenfiguren werden in beiden Fällen durch den Tresen präsentiert; sie

erhalten eine klar definierte Bildzone, die sie vorführt, fast auszustellen scheint. Bei-

de Frauen werden frontal dargestellt. Ihre Ansichten werden unterhalb der Hüfte

durch die Theken abgeschnitten.

Dennoch unterscheidet sich Walls Protagonistin von der Manets. Nach der sozialhis-

torischen Deutung des Gemäldes ist die Frau bei Manet eine Grisette.83 Sie ist eine

Gelegenheitsprostituierte und die Lokalität der Folies-Bergère ein Ort, an dem sich

die bourgeoise Gesellschaft von Paris amüsiert. Sie ist eine „Parisienne“, eine junge

Frau, die nach der Mode ihrer Zeit gekleidet ist. Ihre zweiteilige Kleidung besteht

aus einem Rock und einem hüftlangem Oberteil, das sie über einem eng geschnürten

Mieder trägt. Das Oberteil besitzt einen viereckigen Ausschnitt, der mit Spitze und

Blumen besetzt ist und in der Mitte geknöpft wird. Es springt in Hüfthöhe auf und

betont die nach hinten gerichtete Drapierung des Rockes. Ihr Haar hat sie zu einem

Chignon, einem Knoten am Hinterkopf, gebunden; in die Stirn sind Fransen frisiert.

Die Enge und Schlankheit der Silhouette kennzeichnen sie als eine Frau, deren Mode

den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstammt.84 Obwohl Manets Gemälde nicht

auf ein Gesellschaftsporträt zu reduzieren ist, sondern vielmehr eine komplexe In-

szenierung der Bildentstehung darstellt85, sind die Unterschiede zu Wall offensicht-

lich. Und gerade daraus lässt sich Walls Verfahren, das ihn von anderen Künstlern

der inszenierten Fotografie unterscheidet, ermitteln.

Walls Protagonistin ist eine Frau des 20. Jahrhunderts. Sie befindet sich – in Shirt

und Hose – im Studio des Künstlers, während Manet seine Szene in einem Amüsier-

lokal spielen lässt. Wall paraphrasiert lediglich die Pose von Manets Modell und die

Art und Weise, wie das Gemälde durch ein Raster aus Kompositionsachsen struktu- 83 Timothy Clark untersucht Manets Gemälde im Bezug auf die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts und die gesellschaftlichen Umbrüche, die sich dadurch in Paris zeigten. Die Frauenfiguren werden dabei aufgrund ihrer sozialen Identitäten dargestellt. Clark unterscheidet die „Cocotte“, die „Grisette“, die „Lorette“ und die „Fille“. Clark, Timothy: The Painting of Modern Life – Paris in the Art of Manet and His Followers, Princton 1984. 84 Die ausladende Mode der 1870er-Jahre wurde Anfang der 80er-Jahre durch eine schlanke, flache und langgestreckte Mode ersetzt. Erst 1885 setzte durch den „Cul de Paris“, einen Gestell, das die Stoffdrapierung des Rocks in Kaskaden zu Boden gleiten ließ, eine Veränderung in der Mode ein. Lenning, Gertrud: Kleine Kostümkunde, Berlin 1987. 85 Eine Analyse des Bildarrangements liefert Michael Lüthy in seiner Arbeit „Bild und Blick in Ma-nets Malerei“, Berlin 2001. Besonders dazu das Kapitel: Der Spiegel des Subjekts – Un bar aux Fo-lies-Bergère, S. 161-182.

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riert wird. Er nimmt nur noch vage auf das Vorbild Bezug – nur soweit, dass man

durch die Horizontale im Vordergrund und das Standmotiv des Modells Überein-

stimmungen finden kann. Die zweite Szene, die sich in Manets Bild abspielt, welche

die Grisette als Spiegelung und Rückenfigur einführt, wird von Wall nicht über-

nommen. Er bezieht sich auf Manet, um seine Figurine zu transformieren, sie in die

Fotografie einzufügen und in einen neuen Bildzusammenhang zu integrieren. Sie

weist zwar auf „Le Bar aux Folies-Bergère“ zurück, ist jedoch gleichzeitig die Prota-

gonistin einer neuen Bildhandlung. Die Bardame wird von Wall in einen neuen Kon-

text versetzt, gewissermaßen funktionalisiert. Nicht Bar und Tresen sind in die Foto-

grafie überführt worden, sondern die Paraphrase der Komposition und Pose. Walls

Adaption führt dazu, dass die Referenz zugunsten einer neuen Bildhandlung in den

Hintergrund rückt.

Das hat Folgen, denn nur derjenige, der Manets Gemälde als Erinnerungsbild vor

sich sieht, erkennt die Referenz der Fotografie. Die Referenz von Wall ist somit ein

Bildungsproblem; und Walls Nachbild lebt von Manets Vorbild – und zwar im Sinne

kunsthistorischer Gelehrsamkeit.

Betrachtet man Manets Werk unter dieser Voraussetzung, wird klar, dass dieser seine

Referenzen in ähnlicher Weise einsetzt. In freier artistischer Verfügbarkeit bedient

sich Manet der Motive. Sein Gemälde „Frühstück im Grünen“ ist ein Paradebeispiel

für Manets Konzeption des pluralen Bildes86. Es bezieht sich sowohl auf das „Länd-

liche Konzert“ von Giorgione als auch auf einen Kupferstich aus dem 16. Jahrhun-

dert, in dem Marcantonio Raimondi eine heute verschollene Arbeit Raffaels wieder-

gibt, und verweigert damit die Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung.

Ebenso ruft Manet durch die Pose der Olympia in seinem gleichnamigen Gemälde

Tizians „Venus von Urbino“ auf, verlagert seine kanonische Vorgabe jedoch in das

Kurtisanen-Milieu und liefert damit eine Dekonstruktion der Stilhöhe. Das Decorum,

die Angemessenheit von Genre und Referenz treten auseinander; semantische Äqui-

valenzen werden vernachlässigt. Was letztlich von Manet gezeigt wird, ist eine re-

flektierte Transformation von Bild- und Kunsttradition. Die Vorbilder werden nur in

dem Maß kenntlich gemacht, dass eine Verbindung zum Original zu erkennen ist –

86 Der Begriff entstammt der Magisterarbeit „Das plurale Bild – das Bildzitat als Verfahren in der Malerei Edouard Manets“ von Stefan Borchert. Sie entstand 1997 am kunsthistorischen Institut in Stuttgart bei Professor Reinhard Steiner.

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ohne eine Übernahme der Inhalte und Verweise. Die Motive sind einfach da, unmit-

telbar und großformatig, vorgeführt mit bestechender Appellativität.87

In der Fotografie „The Storyteller“ von 1986

dient Manets Arbeit Wall erneut als Vorlage.

Diesmal ist es „Déjeneur sur l’herbe“ aus

dem Jahr 1863, von dem er die Figurenkons-

tellation und einzelne Sitzmotive verwendet.

Das angewinkelte Bein und der Arm, der auf

das Knie gestützt wird sowie die Hand, die

das Winkelmotiv aufnimmt und zum Gesicht

führt, werden übernommen – nur seitenver-

kehrt. Wo Manet eine unbekleidete Frau darstellt, hat Wall einen Mann in Jeans und

Lederjacke gewählt.

Abbildung 6: Edouard Manet: Déje-neur sur l’herbe, 1863, Öl auf Lein-wand, 208 x 264 cm

In seinem Aufsatz „Einheit und Fragmentie-

rung bei Manet“, der 1984 in der Zeitschrift

„Parachute“ veröffentlicht wurde88, charakte-

risiert Wall Manets Kunst und weist sich als

Kenner seiner Mechanismen aus: „Die Figu-

ren, die er [Manet] malt und darstellt, sind

gleichzeitig greifbar, das heißt traditionell

erotisiert, und doch aufgelöst, ausgehöhlt und

sogar ‚ansatzweise‘ dekonstruiert“89. Wie Manet stellt er die Figur in einer Doppel-

rolle dar. Seine Modelle sind Schablonen, Codes und erscheinen gleichzeitig als

Hauptdarsteller einer neuen Bildeinheit. Auf diese Haltung bezieht sich Wall auch in

den Fotografien „Eviction Struggle“, „The Stumbling Block“, „Tattoos and Sha-

dows“ und „The Thinker“.90 Dort unterlegt er der Bildszenerie barocke Pathosfor-

meln, Posen aus Dürers „Melancholia“ oder Paul Gauguins Tahiti-Gemälden. Er

transformiert eine Referenz, schildert eine Geschichte und verweist darauf, dass sei-

Abbildung 7: Jeff Wall: The Storytel-ler, Großbilddia in Leuchtkasten, 1986, 229 x 437 cm, (Detail)

87 Metzger, Rainer: Attitüde und Modernität – Aspekte des Kanonischen in der Kunst der letzten Jahr-zehnte, in: Kunstforum International, 162, Nov./Dez. 2002, S. 126-142. 88 Wall, Jeff: Unity and Fragmentation in Manet, in: Parachute, 35, 1984, S. 5-7; deutsch in: West-fälischer Kunstverein (Hrsg.): Jeff Wall, Münster 1988, S. 53-62.; Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 235-248. 89 Wall, Jeff: Einheit und Fragmentierung bei Manet, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 243. 90 Weitere Fotografien, die auf einen Bilderkanon referieren, sind: „Outburst“ und „Vampires’ Pic-nic“.

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ne Fotografien in ein System von Bildern einzuordnen sind. Durch dieses System

erhält die Referenz ihre Berechtigung. Kunst entsteht demnach aus Kunst, und der

Nachhall des Kanonischen legitimiert die Autorität von Manets Gemälde und Walls

Fotografie. „Unter jedem Bild liegt immer schon ein anderes Bild“, hat der Theoreti-

ker Douglas Crimp, mit dem sich das Kapitel C.V. beschäftigt, dieses Verfahren be-

zeichnet. Es tritt mit der inszenierten Fotografie Mitte der 70er-Jahre auf den Plan

und zeigt sich als Mechanismus, der es ermöglicht, Werke der Fotografie als Kunst

zu lesen. Fotografien werden als Kunstwerke ausgelegt, und ihre Auslegung wird

durch die Aufrufung anderer Gemälde erzeugt. Die Funktion dieser Referenz liegt

darin – wie Walls Zitat auf Seite 33 gezeigt hat –, das Paradigma der Sichtbarkeit der

Fotografie zu überschreiten. Indem Wall kalkuliert etablierte Motive zitiert, evoziert

er im Betrachter ein weiteres Bild. Ein Bild, das durch die Sichtbarkeit in Walls Fo-

tografie hervorgerufen wird, jedoch nur im Gedächtnis des Betrachters vorhanden ist.

C. II. Tableau vivant, Attitüde oder Arrangement?

Walls Arrangierung hat das Ziel, durch spezielle Bildmechanismen die Technik der

Fotografie zu überschreiten. Damit steht er nicht alleine. Dieses Verfahren kenn-

zeichnet auch die Arbeit anderer Künstler, die Mitte der 70er-Jahre beginnen, foto-

grafisch zu arbeiten. Cindy Sherman, Irene Andessner und Eleanot Antin schöpfen

ebenfalls aus dem Reservoir der Kunstgeschichte; Valie Export und Hannah Wilke

beziehen sich auf Pathosformeln von Gemälden und verwenden diese als Attitüde.

Alle genannten Künstler verbindet das Ziel, das fotografische Bild aus dem Refe-

renzrahmen des indexikalischen Zeichens in den Referenzrahmen der künstlerischen

Fiktion zu überführen, unterschiedet jedoch die spezifische Verwendung des vorge-

fundenen Bildmaterials.

C.II.1. Was ist ein fotografisches Tableau vivant?

Das Tableau vivant ist ein lebendes Bild. Es ist eine körperliche Nachstellung oder

Nachempfindung eines Gemäldes oder einer Plastik; eine Live-Inszenierung auf der

Basis von Kunstwerken. Es wird von einer Personengruppe für kurze Zeit bewe-

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gungs- und wortlos nachgestellt und durch ein Publikum betrachtend rezipiert. Der

Reiz des Tableau vivant liegt in seiner Fähigkeit, die medialen Gegensätze von Vor-

und Nachbild zu verbinden. Wie der Begriff bereits andeutet, werden in dieser

Kunstform zwei unterschiedliche Verfasstheiten miteinander verbunden. Während

das statische Kunstwerk für kurze Zeit zum Leben erweckt wird, erscheinen die dar-

gestellten Protagonisten für die Dauer der Aufführung in den vorgegebenen Posen

eingefroren zu sein.91

Seit der Antike finden sich lebende Bilder als Teil der Fest- und Triumphzüge.92 Ihre

Tradition wurde in sakralen Prozessions-, profanen Huldigungs- oder Karnevalszü-

gen im 15. Jahrhundert weitergeführt. Anlässlich des Einzugs Johannas von Kastilien

in Brüssel 1496 spricht ein Chronist von „personagias“, von figuralen Bildern und

Posen, auf erhöhten Bühnen und Gerüsten, die in den Winkeln der Gassen aufgestellt

wurden und für die Vorübergehenden im rechten Moment auf Befehl durch daran

angebrachte Vorhänge mal verhüllt wurden, mal dem Blick offenstanden. Die insge-

samt 27 Stationen zeigten weibliche Persönlichkeiten, alttestamentliche, antike oder

zeitgeschichtliche Figuren, mit denen sich das Programm explizit an die Braut wand-

te.

In den „trionfi“, den weltlichen Umzügen in Neapel, Rom, Venedig und Mailand

wurden auf Wagen oder Traggerüsten lebende Bilder gezeigt, die meist religiöse,

allegorische oder mythologische Themen verkörperten.93 Sie zeigten „rappresentazi-

oni“, Darstellungen, die in ein komplexes inhaltliches Programm eingepasst waren,

sich jedoch nicht explizit auf eine malerische Vorlage bezogen.94 Mit dem Tableau

vivant teilen sich diese Bildinszenierungen den Nachstellungscharakter. Beide zeigen

lebende Bilder, die sich – ohne mündlichen Vortrag – in einer zeitlichen Beschrän-

kung nur dem Auge darstellen und sich stumm und bewegungslos für den Betrachter

zu einem Bild formieren. Im Unterschied dazu haben die lebenden Bilder zwar Teil

91 Christian Janecke hat in seinem erhellenden Aufsatz über die aktuelle Performancekunst auf die Konstruktion von Bildhaftigkeit durch vorübergehenden Stillstand hingewiesen. Janecke, Christian: Performance und Bild / Performance als Bild, in: ders. (Hrsg.): Performance und Bild / Performance als Bild, Berlin 2004, S. 11-113. 92 Köhler, Jens: Untersuchungen zur hellenistischen Festkultur, Frankfurt/Main 1996. 93 Dazu ausführlich: Helas, Philine: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhun-derts, Berlin 1999. 94 Nach der Recherche von Philine Helas lässt sich lediglich in einem Fall eine konkrete malerische Vorlage benennen. Bei dem Einzug Philipps des Guten in Gent 1458 diente der 26 Jahre zuvor ge-weihte eycksche „Genter Altar“ als Vorbild für die Darstellung eines Lebensbrunnens. Helas Philine: aaO., S. 5.

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am ikonographischen Bilderschatz, thematisieren jedoch nicht dessen Inhalt.95 Le-

bende Bilder sind immer an einen Anlass gebunden, während das Tableau vivant, die

Nachstellung eines Gemäldes, den Anlass selbst vorgibt.

Der erste Bericht, der nachgestellte Gemälde als eigenständige Kunstgattung nennt,

stammt von der Malerin Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun. Sie beschreibt in ihren

Memoiren eine Szene aus dem Spätsommer 1795. Auf dem Landsitz der Fürstin Ka-

tharina-Feodorowna Dolgorouky bei Sankt Petersburg habe sie im höfischen Kreis

Tableaux vivants nachgestellt:

„ Le petit théatre était charmant, je voulais en profiter pour com-poser des tableaux vivant. Il nous arrivait sans cesse du monde de Saint-Pétersbourg; je choisissais mes personnages entre les plus beaux hommes et les plus belles femmes, et je les costumais en les drapant avec des chales de cachemire que nous avions à profu-sion. Je préférais le sujets graves ou ceux de la Bible à tout autre. Je représentais aussi de souvenir plusieurs tableaux connus, tels que la famille de Darius, que réussit à merveille; mais celui qui obtint le grand succès fut celui d’Achille à la cour de Lycoméde; je me chargeais de personnage d’Achille, car le plus souvent je m’habillais de manière qu’un casque et un bouclier suffisaient pour me composer un costume fort exact. Les tableaux vivants amusaient extrêmement la société. »96

Diese Zeilen geben einige wichtige Anhaltspunkte. Es handelte sich um eine exklu-

sive, höfische Gesellschaft von Sankt Petersburg. Zunächst werden Bilder mit bibli-

schen Inhalten dargestellt, dann aber auch „de souvenir plusieurs tableaux connus“.

Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun nennt zwei Titel, „Darius und seine Familie“ und

„Achill am Hof des Lycomedes“. Die Vorlagen sind demnach allgemein bekannt,

und die Malerin inszeniert sie aus dem Gedächtnis.97 Aus den Reihen der Zuschauer

werden Darsteller ausgesucht; Schals dienen als Draperie. Um die Gestalt eines A-

chill nachzustellen, muss Vigée-Lebrun sich jedoch mit Requisiten behelfen. Sie

benötigt einen Helm und einen Schild, um ein „costume fort exacte“ zu schaffen. Um

ein Tableau vivant zu inszenieren, benötigt man also erstens ein bekanntes Gemälde 95 Zur Beeinflussung der italienischen Malerei durch die lebenden Bilder der Festumzüge und Auto-mateninszenierung siehe: Helas, Philine: aaO., Kapitel: Präsenz – Dramatisierung von Liturgie, Pre-digt und Kirchenfest, S. 13-58. 96Elisabeth Vigée-Lebrun: Souvenirs, hrsg. von Claudine Herrmann, Paris 1984, S. 83. 97 Möglicherweise handelte es sich bei der Inszenierung,, um die Darstellung von Poussins Gemälde „Achill unter den Töchtern des Lycomedes“ aus dem Jahr 1650. „Leider gibt die Malerin nicht an, wessen Werk sie damit meinte, vielleicht eine unnötige Anlage, da dies zum Allgemeinwissen der Anwesenden zählte“. Jooss, Birgit: Lebende Bilder – zur körperlichen Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999, S. 116f.

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als Vorlage und zweitens Requisiten, Draperien, Staffagen und Dekorationen.98 Oft-

mals wurden die Tableaux in Rahmen mit Vorhängen inszeniert, um dem Publikum

den „Gemäldecharakter“ noch deutlicher vorzuführen.99 Die Teilnehmer der Veran-

staltung sind in erster Linie an der Darstellung des lebenden Bildes selber beteiligt,

beziehen keine Schauspieler mit ein und entwickeln das lebende Bild als gesell-

schaftlichen Anlass. Mit der Inszenierung von Tableaux vivants verfolgt man das

Ziel eines „amusement de la société“.

Das Tableau vivant ist eine Kostümierung, eine Demonstration des Körpers, der de-

koriert seine Wandlungsfähigkeit beweist. Es ist eine Selbstdarstellung in einer vor-

gegebenen Rolle. Diese Rolle muss jedoch nicht mit dem Geschlecht der Darsteller

übereinstimmen. In der zitierten Passage stellt die Hauptperson, Elisabeth-Louise,

selbst den Achill nach. Es ist also in einem lebenden Bild ebenso möglich, als Frau

einen Männerrolle zu spielen, wie umgekehrt. Das Tabelau vivant „ist auf reine

Bildhaftigkeit geschrumpftes Theater“100. Durch die zeitliche Beschränkung und

durch die Bezugnahme auf lebendige Akteure gehört das Tableau vivant zu den dar-

stellenden Künsten. Es bedient sich zwar der Malerei, ist selbst jedoch keine maleri-

sche Technik. Es ist auf eine zeitliche Dauer von ein bis drei Minuten beschränkt und

zuallererst eine performative Kunstform.

Was bedeutet das nun für die Fotografie? Wenn sich Cindy Sherman mit aufwendi-

gen Verkleidungen als Bacchus in caravaggesker Manier darstellt, bezieht sie sich

einerseits auf die Tradition des Tableau vivant, kultiviert jedoch gleichzeitig den

Medienwechsel von Malerei in Fotografie. Das Vorbild wird von Sherman in zwei-

facher Weise modelliert: erstens durch die Übertragung als lebendes Bild und zwei-

tens durch die Überführung in die Fotografie.

98 Darin liegt sein Unterschied zu den lebenden Bildern aus Pygmalions Werkstatt. Dazu: Blühm, Andreas: Pygmalion – die Ikonographie eines Künstlermythos zwischen 1500 und 1900, Frank-furt/Main 1989; Eschenburg, Barbara: Pygmalions Werkstatt – die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, Köln 2001. 99 Aus den Materialien, die Birgit Joos in ihrer Studie zum Tableau vivant der Goethezeit zusammen-getragen hat, erfahren wir, mit welchem zeitlichen und materiellen Aufwand die Verkleidungen be-trieben wurden. Meist begnügte man sich mit Gemälden, die wenig figürliches Personal hatten und oftmals moralische oder politische Intentionen transportierten. Später finden sich jedoch neben den Einzelporträts auch Bilder mit bis zu 20 Akteuren, dann auch aufwendige Spektakel, in denen etwa fünf Tableaus gleichzeitig zu sehen waren. Jooss, Birgit: aaO., S. 175ff. 100 Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: Atmende Bilder – Tableau vivant und Attitüde zwischen „Wirklichkeit und Imagination“, in: dies. / Matt, Gerald (Hrsg.): Tableaux vivants – Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film, Video, Wien 2002, S. 9-52, S. 13.

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Die Arbeit „Untitled #224“ zeigt die Künstlerin in einem gegürteten, antikisierenden

Umhang. Sie sitzt, den Ellbogen auf eine Holzplatte gelehnt, in der Pose, die Cara-

vaggio in seinem Gemälde „Selbstporträt als kranker Bacchus“ von 1593 vorgegeben

hat. Der Hintergrund ist als dunkle Fläche angelegt. In der rechten Hand hat sie eine

Rebe mit Weintrauben. Die Schulter entblößt blickt sie den Betrachter an. Ihr Kopf

wird von Weinlaub geziert. Hier finden sich alle Merkmale des Tableau vivant, die

bereits bei Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun ermittelt wurden: die Kostümierung, die

Requisiten, die Schminke. Die Künstlerin übernimmt selbst den Akt der Darstellung;

sie setzt keine Schauspieler ein, das Bild ist eindeutig als Nachbild von Caravaggios

Vorbild zu erkennen.101

Abbildung 9: Cindy Sherman: Untitled #224, 1989, Fotografie, 66 x 52 cm

Abbildung 8: Caravaggio: Selbst-porträt als kranker Bacchus, 1593-1594, Öl auf Leinwand, 93 x 114 cm

Durch kleine Irritationen verweist sie den Betrachter auf ihre Anverwandlungen. Die

dunkel umrahmten Augen und Brauen führen ebenso die Maskerade vor wie die

dunklen Schatten, die den Verlauf der Muskeln auf dem Oberarm nachzeichnen. In

einer anderen Fotografie der Serie der „History Portraits“ sieht man deutlich den

101 Durch den Bezug auf das Tableau vivant lässt sich in Shermans Arbeit auch ein Bezug zur Perfor-mance-Art herstellen. Dazu: Goetz, Ingvild (Hrsg.): Jürgen Klauke, Cindy Sherman, Ostfildern, 1994.

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Perückenansatz (Untited #222)“; im „Untitled #197“ erscheint Cindy Shermans Nase

als nachmodelliertes, angeklebtes Körperfragment.102

Auf Shermans Verfahren bezieht sich der Japaner Yasumasa Morimura in seinen

Tableau vivant.103 Er

inszeniert opulente

Szenen, in denen er mal

als Frau, mal als Mann

auftritt. Mit Barett oder

Leibchen führt er A-

daptionen holländischer

Genreszenen des 17.

Jahrhunderts vor oder

inszeniert sich als Rembrandt oder Marcel Duchamp. In seiner Fotografie „To my

little Sister: for Cindy Sherman“ aus dem Jahr 1998 führt er das Rollenporträt so

weit, dass er sich selbst Shermans Fotografien einverleibt. Bis ins Detail rekon-

struierte er Szenerie,

Beleuchtung und Far-

bigkeit von Shermans

Fotografie „Centerfold

Unit #96 (1981)“. Er

schlüpft in das gleiche

Kostüm, legt es in die

gleichen Falten und

imitiert Shermans Ge-

sichtsausdruck. Lediglich die Augenform irritiert beim Betrachten und macht deut-

lich, dass es sich hier um eine Nachstellung handelt.104

Abbildung 10: Cindy Sherman: Centerfold Unit #96 (1981), Fotografie, 20 x 25 cm

Abbildung 11: Yasumasa Morimura: To my little Sister: for Cindy Sherman, 1998, Fotografie, 66 x 120 cm

102 Shermans Verbindung zu weiteren Künstlern, die in der Tradition des Tableau vivants stehen, finden sich in: Seipel, Wilfried (Hrsg.): Diskurse der Bilder – photokünstlerische Reprisen kunsthisto-rischer Werke, Wien 1993. 103 Weitere Tableau-vivant-Künstler sind: Frank Horvat, der sich auf Gemälde von Goya, Rembrandt und Renaissance-Meister bezieht oder Irene Andessner, die sich als Konstanze Mozart, Sofonisba Anguissola oder Marlene Dietrich inszeniert. Dazu: Kast, Raimund (Hrsg.): I am – Irene Andessner, Ostfildern-Ruit 2003. 104 Im Unterschied zum Fake werden hier von den Künstlern Signale in das Bild gesetzt, die den Bet-rachter die Nachahmung aufdecken lassen. Das Fake lässt sich nur durch den Kontext als Kunstwerk desavouieren. Wenn dies nicht gelingt, ist es lediglich eine Fälschung. Zu den Paradekünstlern der Appropriation gehören Elaine Sturtevant, Sherrie Levine und Richard Prince. Stefan Römer hat für

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C. II.2. Was ist eine fotografische Attitüde?

Die Attitüde ist eine Variante des Tableau vivant. Auch hier dienen den ausführen-

den Protagonisten die Werke der bildenden Kunst als Referenz. Im Unterschied zum

lebenden Bild werden jedoch nicht alle Einzelheiten der malerischen Vorlage adap-

tiert, sondern nur Posen, Gesten und Gebärden. In der Attitüde ist es weniger die

Kostümierung der Darstellenden als das Vorführen eines gestischen und mimischen

Repertoires.

Lady Hamilton, die junge Frau des englischen Gesandten in Neapel, hat mit ihren

Posen-Performances in den 80er-Jahren des 18. Jahrhunderts die Kunstform der Atti-

tüde begründet.105 In Caserta inszenierte sie sich vor einem gebildeten Publikum in

einer Serie von Stellungen und Gesten, die sich auf Skulpturen, Vasenmotive, Fres-

ken oder Gemälde von der Antike bis zum Barock bezogen. Der Zuschauer hatte das

dargestellte Motiv zu erraten, das heißt auch er musste – wie beim Tableau vivant –

den ursprünglichen Bildzusammenhang kennen, aus dem die Pose herausgelöst wor-

den war. Durch Goethes „Italienische Reise“ liegt ein Bericht über der Lady Hamil-

tons Attitüden vor:

„Er [Lord Hamilton] hat sie [Lady Hamilton] bei sich, eine Eng-länderin von etwa zwanzig Jahren. Sie ist sehr schön und wohlge-baut. Er hat ihr ein griechisches Gewand machen lassen, das die trefflich kleidet, dazu löst sie ihr Haar auf, nimmt ein paar Schals und macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden, Mienen etc., daß man zuletzt wirklich meint, man träume. Man schaut, was so viele Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch, ausschweifend, bußfer-tig, lockend, drohend, ängstlich, etc., eins folgt aufs andere und aus dem anderen. Sie weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln und macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält das Licht dazu und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand er-geben. Er findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile der sizili-anischen Münzen, ja den Belvederschen Apoll selbst.“106

Sturtevants und Levines Werke den Begriff „Fake“ geprägt. Römer, Stefan: Der Begriff des Fake, Berlin 1989, entstanden als Dissertation am Institut für Kunstgeschichte der Humboldt-Universität bei Professor Horst Bredekamp. 105 Ittershagen, Ulrike: Lady Hamiltons Attitüden, Mainz 1999, S. 12. 106 Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise, hrsg. von Andreas Beyer und Norbert Miller, München 1992, S. 257-258.

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Zur Attitüde gehört also, dass Haltungen, „Gebärden und Mienen“, in schnellem

Wechsel vorgeführt werden. Sowohl das gestische wie das mimische Repertoire wird

eingesetzt, um spezifische Typen darzustellen, die sich innerhalb einer Aufführung

abwechseln. Das Ziel der Vorführung ist nicht das genaue Nachstellen eines Vor-

bilds, sondern die konzentrierte Wiedergabe einer „Pathosformel“ im Sinne Aby

Warburgs.

Warburgs Pathosformeln, die er in seinem Bilderatlas „Mnemosyne“ zusammenge-

tragen hat, zeigen die Funktion vorgeprägter antiker Ausdrucksformeln bei der Dar-

stellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance.107 Warburgs

Atlas verbindet Gruppierungen von tradierten Gebärden des Leidens, des Helden-

tums, der Ekstase oder des Sieges in Abbildungen von Kunstwerken auf einzelnen

Tafeln. Diese Posen, Haltungen und Stellungen werden als „leidenschaftliche Ges-

ten“ mit der Attitüde lebendig. Ist die Pathosformel im Tableau vivant noch durch

das Requisit diszipliniert, wird sie jetzt pantomimisch. Sie ist – ihrem Kontext be-

raubt – gebärdenhafte Darstellung von Expressivität.108

Die Schals, die in den Tableaux vivants von Elisabeth-Louise Vigee-Lebrun der Kos-

tümierung galten, werden nun verwendet, um der Posen-Performance eine Drama-

turgie zu verleihen. Die Vorstellung eröffnete Emma Hamilton jeweils tief verschlei-

ert. Sie enthüllte sich – wie bei einem Denkmal üblich –, indem sie sich den Schal

von der Stirn zog und ihn schließlich in die Ausführung einer Pose integrierte. Lady

Hamilton schmückte sich zwar mit kostümhaftem Zubehör, ordnete dies jedoch dem

Ziel unter, das Gemüt des Betrachters anzurühren. Traurig, drohend, lockend oder

ängstlich stellte sich Lady Hamilton dar und bemühte durch ihr mimisches und gesti-

sches Körperspiel nicht nur die Referenz auf eine künstlerische Vorlage, sondern

auch auf einen Typus einer emotionalen, weiblichen Verfasstheit.109

107 Barta-Fliedl, Ilsebill / Glissmer-Brandi, Christoph / Sato, Naoki (Hrsg.): Rhetorik der Leidenschaft –zur Bildsprache der Kunst im Abendland, München 1999. 108 Die Attitüde soll zur emotionalen Anteilnahme anregen. Einen Bericht über die Reaktionen der Zuschauer liefert die Malerin Marianne Kraus, die 1791 einer Vorführung von Lady Hamilton bei-wohnte. „Ich schämte mich meiner starken Nerven, wo ich so Alles, Damens und Herren, weinen sah. (...) da sitzt also die holzige Kraus neben einer Angelika, die so laut schlukte, das sich steine hätten bewegen können. Der arme Rehberg sah aus wie ein Knabe, der düchtig schläge vom H. Schulmeister bekommt, H. Reifenstein weinde doch noch zierlich, man konnte die langsam herabrollenden andiki-schen Tränen zählen“. Zitiert nach Ittershagen, Ulrike: aaO., S. 62. 109 Diese Inszenierung der Weiblichkeit ist vor allem von Dagmar von Hoff diskutiert worden. Von Hoff, Dagmar: Ikonographie des Weiblichen – die Attitüde in der Goethe-Zeit am Beispiel von Ida Brun, in: Baumgart, Silvia: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993. S. 19-42; die Analyse der Wechselwirkung von Attitüde und weiblichen Rollenporträt findet sich bei Bettina

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Der in Rom ansässige deutsche Historienmaler Friedrich Rehberg hat in einer Serie

von zwölf Umrissstichen Lady Hamiltons Attitüden 1794 dokumentiert. Alle zwölf

Stiche zeigen verschiedene Haltungen von Lady Hamilton. Um den szenischen

Wechsel der Bilder darzustellen, hat Rehberg die Posen als Serie angelegt.

Das vierte Blatt der Stichserie zeigt Emma Hamilton als Sofonisbe. Sie posiert als

tragische Heldin, die den Tod einer Auslieferung in feindliche Hand vorzieht. Ihr

Haar ist gelöst. Mit aufwärts gewandtem Gesicht und erhobenen Augen, den Mund

leicht geöffnet, ist sie an eine Säule gelehnt. Der Kopf wird von der linken Hand ge-

stützt; in ihrer rechten hält sie eine Schale, in der sich das von ihrem Gatten gesandte

Gift befindet. Emma Hamilton orientiert sich in dieser Attitüde an der Typologie

schmerzvoller Verzweiflung, die durch die zahlreichen Bildfindungen Guido Renis

und Charles Le Bruns vorgegeben wurden. In seinen Figuren der Lukretia und Kleo-

patra hatte Reni die richtungsweisenden barocken Darstellungstypen des weiblichen

Heldentodes etabliert.110

Abbildung 12: Friedrich Rehberg: Zeichnungen getreu dem Abbild der Natur, 4 Umrißstiche von Lady Hamiltons Attitüden, Heilige Rosa, Kleopatra, Muse des Tanzes, Sofonisbe, 1794

Hamiltons Gesichtsausdruck, der geöffnete Mund, die nach oben gewandten Augen,

das offene Haar sowie die ausladende theatralische Gestik finden sich bei Charles Le

Bruns Darstellung der Maria Magdalena. Durch einen Stich von Gérard Edelinck war

dieses Gemälde weit verbreitet. Lady Hamilton war es durch den englischen Maler

George Romney bekannt, der sie in zahlreichen Sitzungen porträtierte.111

Baumgärtel: Die Attitüde und die Malerei – Paradox der stillen Bewegtheit in Synthese von Erfindung und Nachahmung, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 46, 1992, S. 21-42. 110 Ulrike Ittershagen hat nachgewiesen, das sich in der Sammlung von Lord Hamilton Gemälde die-ses Typus’ befanden. Ittershagen, Ulrike: aaO., S. 91. 111 Weitere Vorbilder für ihre Posen fanden sich in Lord Hamiltons Sammlung. So beispielsweise eine aus dem Schlaf erwachte Ariadne, die in der 1766 veröffentlichten Stichsammlung der „Pitture Anti-che“ veröffentlicht wurde. Ittershagen, Ulrike: aaO., S. 44.

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C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN

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Die Attitüde lebt als Inszenierungsformel in den zahlreichen Ateliers der Berufsfoto-

grafen weiter. Walter Benjamin findet sie in seiner kritischen Beschreibung der foto-

grafischen Praxis in der Porträtminiatur des 19. Jahrhunderts: Der Fotografierte fin-

det sich darin als „als Salontiroler, jodelnd, den Hut ge-

gen gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Mat-

rose, Standbein und Spielbein, wie es sich gehört, gegen

einen polierten Pfosten gelehnt“112. In der noch jungen

Bildkunst kann das fotografische Porträt im 19. Jahrhun-

dert nur durch den Bezug auf die Malerei bestehen. Wie

in Kapitel B.2. gezeigt wurde, müssen die Bilder des

geistlosen Apparates sich durch die Spuren des Genies

legitimieren – auch wenn diese Spuren staffagenhafte

Verweise und leere Posen sind. Im Unterschied zu den

Attitüden, die Mitte der 70er-Jahre inszeniert werden,

beziehen sich die Fotografen, die mit Postamenten, Balustraden und klassischen Po-

sen arbeiten, weder auf ein spezifisches Kunstwerk, noch verfolgen sie eine Überlis-

tungsstrategie. Die Fotografen sichern sich hier künstlerischen Anspruch durch

kunsthistorische Reminiszen-

zen.

Abbildung 13: Sandro Botticelli, Der Früh-ling, 1478, Tempera auf Holz, 203 x 314 cm (Detail)

Im 20. Jahrhundert trifft man

auf die Kunstform der Attitüde,

die unter feministischer Frage-

stellung behandelt wird. Wenn

Künstlerinnen wie Valie Ex-

port, Hannah Wilke oder Ulrike

Rosenbach auf die Kunstge-

schichte referieren, dann nicht

nur, um einen weiteren Blick auf das Medium zu ermöglichen, sondern um ge-

schlechtsspezifische Codierungen, den männlichen Blick, zu desavouieren. In ihrer

inszenierten Serie „Liebesperlen“ von 1976 übernimmt Valie Export Gesten von

Sandro Botticellis Gemälde „Der Frühling“. In den drei Fotografien hat sie in jeweils

Abbildung 14: Valie Export: Liebesperlen (nach Botticel-li, der Frühling), 1976, Fotografie, 153 x 76 cm

112 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter sei-ner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/Main 1994, S. 54.

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einer Pose die Kopf- und Armhaltung sowie das Standmotiv einer Figur nachgeahmt.

Es sind isolierte Attitüden, die als Serie ein Kompendium von Pathosformeln darstel-

len:

„Ich untersuche den Ausdruck bestimmter Körperhaltungen in seiner historischen Ausprägung. In den Gemälden der Vergan-genheit hat sich unbemerkt ein Archiv der Körperhaltungen nie-dergeschlagen, das für die Kenntnis der Gefühlszustände und My-thologien ihrer Zeit von großem Wert ist (...) Engramme leiden-schaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut (...) Indem ich diese Körperhaltungen nachzeichne und nachstelle und sie dann einfüge in die Umwelt unserer sozialen Prägung durch Ver-wendungen von Materialien aus dem heutigen Umkreis, versuche ich diesen demütigenden Blick zu entlarven.“113

Die Merkmale der Attitüde, wie sie Lady Hamilton eingeführt hat, zeigen sich hier

sehr deutlich:

1. Es wird eine isolierte Pose eines spezifischen Kunstwerks ausgewählt.

2. Diese Pose wird mit körperlichen Gesten und Stellungen nachgeahmt.

3. Diese Pose ist Teil einer Serie.

4. Es werden keine Kostüme verwendet.

5. Die Künstlerin ist zugleich die Protagonistin der Attitüde. Die Darstellung der

Pose wird keinem Schauspieler überlassen.

C. II.3.Was ist ein fotografisches Arrangement?

Nun soll Jeff Walls Fotografie „Picture for Women“ nochmals untersucht werden.

Lässt sich die Fotografie als Tableau vivant oder Attitüde charakterisieren?

Die Unterschiede zum Tableau vivant sind offensichtlich: Walls Protagonistin ist

keine Figur des 19. Jahrhunderts. Er verwendet weder Schminke, Requisiten oder

Staffagen. Die Frauenfigur ist keine verkleidete Grisette. Sie lässt sich stattdessen

durch Kleidung und Frisur als Zeitgenossin des Künstlers erkennen.114 Im Unter-

schied zur Attitüde übernimmt Wall mehr als die bloße Haltung von Manets Figur.

113 Valie Export in: Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: aaO., S. 125. 114 Sowohl Rainer Metzger als auch Birgit Jooss definieren Walls Arbeit dagegen als Tableau vivant. Metzger, Rainer: Das nachgestellte Bild – die Metaphorik des Tableau vivant in der zeitgenössischen Fotografie, in Artis, 10, 1990, S. 10-14, S. 13; Jooss, Birgit: aaO., Kapitel: Aus heutiger Sicht, S. 259-275, S. 269.

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Er reduziert die Vorlage nicht auf eine personale Geste, sondern überträgt auch Bild-

elemente, die zur Komposition von Manets Gemälde gehören.115 In Walls Fotografie

finden wir sowohl den horizontalen Streifen im Vordergrund, wie die Verschränkung

des Figurenpersonals in ein Kompositionsgerüst, die nackten Glühlampen, die sich

auf Manets einfache Kugellampen im Hintergrund beziehen sowie die Abend-, be-

ziehungsweise Nachtzeit, in der die Szenen angesiedelt sind. Wall führt ebenso wie

Manet ein verwirrendes Spiel mit einem Spiegel ein.

Am deutlichsten zeigt sich jedoch eine Differenz, die Walls Arbeit sowohl vom

Tableau vivant wie von der Attitüde trennt: Wall selbst ist keine Figur, die sich aus

dem Manet-Gemälde ableiten lässt. Sowohl im Tableau vivant wie in der Attitüde

fallen die Künstler mit den Darstellern des Bildzitats zusammen. Bei „Picture for

Women“ ist es jedoch nicht der Künstler selbst, sondern lediglich die Frau im Vor-

dergrund, die als Bildzitat eingesetzt wird. Wall steht außerhalb der Gemälde-

Referenz. Die Fotografie „Picture for Women“ zeigt zwar – wie bei Tableau und

Attitüde – ein Selbstporträt Jeff Walls, diese Selbstdarstellung lässt sich jedoch nicht

als Beziehung zu einem Vorbild rekonstruieren. Der Künstler führt sich vielmehr als

Arrangeur einer neuen Bildhandlung ein. Er arrangiert die Bildelemente, bleibt je-

doch außerhalb des Rollenspiels.

Wall arrangiert eine Bildeinheit, die als Tableau angelegt ist. Nicht nur die Komposi-

tion, die reine Flächengliederung, sondern vor allem die Verbindung der Einzelteile,

ist so angeordnet, dass sie zu einer geschlossenen inhaltlichen Darstellung führt.116

Während in der Attitüde und dem Tableau vivant die Rollen adaptiert werden, wer-

den sie bei Wall in einen neuen, festgelegten Handlungsraum gesetzt. Seine Fotogra-

fien erschöpfen sich nicht in der Referenz, sondern führen diese weiter.

Was sich bei „Picture for Women“ zeigt, gilt auch für die anderen Arbeiten, in denen

auf Malerei Bezug genommen wird. In Walls Fotografie „Storyteller“ wird die Refe- 115 Rolf Lauter ist darum zu widersprechen, wenn er Walls Figuren auf die Ausdrucksstudien von

Jahrhun-

hmus

l-

Charles Le Brun bezieht. Lauter, Rolf: Figur und Habitus, in: ders. (Hrsg.): aaO., S. 28. 116 Zur Komposition siehe Pächt, Otto: Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. derts, in: Oberhaidacher, Jörg / Rosenauer, Artur / Schikola, Gertraut (Hrsg.): Methodisches zur Kunsthistorischen Praxis, München 1977, S. 17-58. Auch: Kuhn, Rudolf: Komposition und Rhyt– Beiträge zur Neubegründung einer historischen Kompositionslehre, Berlin 1980; ders.: Erfindung und Komposition in der monumentalen zyklischen Historienmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2000. Hans Körner beschreibt die kunsttheoretische Geschichte des Begriffs von Aberti bis Poussin. Körner, Hans: Auf der Suche nach der „wahren Einheit“ – Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei vom mittleren 17. bis zum 19. Jahrhundert, München 1988. Besonders das Kapitel: „Von der „Komposition der Körper“ zur Bildkomposition, S. 12-69.

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renz von engagierten Schauspielern übernommen.117 Wall stellt sie als Arrangeur

einer Handlung zusammen, er paraphrasiert Posen, bestimmt das Kompositionsgefü-

ge, in das die Handlung verlagert wird und wählt Darsteller aus, die nach seiner An-

weisung agieren. Die Vorbilder der Gemälde schleichen sich ein. Er bezieht sich auf

Malerei als „kompositorische Anverwandlung“118.

Die Merkmale von Walls fotografischen Arrangements sind demnach:

1. Es wird eine malerische Komposition und / oder eine Pose paraphrasiert

2. Diese Paraphrase erfolgt ohne Kostümierung

3. Der Künstler ist nicht Teil der Paraphrase

4. Es entsteht eine neue Bildeinheit. Die Paraphrase stellt nicht nur sich selbst aus,

sondern wird in eine Bildhandlung integriert.

Alle drei Varianten – Tableau vivant, Attitüde und Arrangement – speisen sich durch

den Rekurs auf fotografiefremde Bildmedien und kultivieren den Kontrast von Male-

rei und Fotografie. Alle Kunstformen sind inszeniert, aber nur Jeff Walls Fotografien

sind arrangiert. Walls Fotografien zeigen sich als Arrangements vor der Kamera, bei

denen sowohl die Lichtführung, die Wahl des Schauplatzes, wie die Personen einer

kalkulierten Bildkomposition unterliegen. Wall inszeniert dabei eine neue Bildein-

heit, ist aber nicht Teil der kunsthistorischen Referenz.

C. III. Der Spiegel – oder: Wo befindet sich der Betrachter bei Jeff Wall?

Die Arrangierungsstrategie von Jeff Wall erfährt durch die Verwendung des Spiegels

in der Fotografie „Picture for Women“ eine weitere Pointe. Wall fügt eine zweite

Variante ein, um das Paradigma der Sichtbarkeit talbotscher Prägung zu überlisten.

Er gibt dem Betrachter den Hinweis, dass seine Bilder nicht nach den etablierten

Vorgaben fotografischer Sichtbarkeit verstanden werden sollen. William Henry Fox

117 Jeff Wall äußerste sich in einem Gespräch mit Jean-Francois Chevrier: „Wie du weißt, entstanden die meisten meiner Aufnahmen in Zusammenarbeit mit Schauspielern (...) Der rätselhafte Charakter meiner Bilder entsteht zum größten Teil aus dem Spiel der Darsteller. (...) Ich denke, eine fremde Person, also jemand, den ich nicht kenne – oder allgemeiner ausgedrückt, jemand, den wir nicht ken-nen – ist als solches eine Quelle des Rätselhaften, eine rätselhafte Figur. Wall, Jeff: Ein Maler des modernen Lebens – Gespräch zwischen Jeff Wall und Jean-Francois Chevrier, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S.168-185, S.169. 118 Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: aaO., S. 43.

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Talbot hatte seine Kalotypien als Fensterblicke beschrieben, als Ausblicke in eine

Welt, in welcher die Erfahrungen des Betrachters weitergeführt werden. Der Text,

der Talbots Ansicht des Pariser Boulevards begleitet und der im Kapitel B.I. vorge-

stellt wurde, hat gezeigt, dass der englische Fotopionier seine Fotografien als Ansich-

ten aus einem Fenster anfertigte, als Blick durch einen Fensterrahmen. Nun soll an-

hand des Spiegelmotivs bei Wall gezeigt werden, wie Talbots Paradigma unterlaufen

wird.

Zunächst gibt der erneute Vergleich von Manet und Wall Aufschluss über die Ansät-

ze beider Künstler. Ebenso wie Manets „Bar aux Folies-Bergère“ zeigt Wall die

Verwendung des Spiegels. Manets Grisette steht vor einer gerahmten Spiegelfläche,

die einen Großteil des Bildhintergrunds ausfüllt. Der Rahmen ist zwar in der unteren

Bildhälfte zu erkennen, dennoch wird fast alles, was der Betrachter sieht, durch die

Spiegelung vorgeführt. Der Balkon und die Vergnügungsgesellschaft liegen zwar

optisch vor ihm, faktisch jedoch in seinem Rücken. Der Bildraum, in welchen der

Betrachter blickt, ist gleichzeitig der Sehraum der Barfrau. Was wir sehen, sehen wir

gewissermaßen mit den Augen der Frau, die hinter dem Tresen steht. Manet sugge-

riert zwar, dass man sich nur umzuwenden bräuchte, um das Gespiegelte auch reali-

ter zu sehen. Doch da dieser Wechsel von der Fiktion zur Wirklichkeit nicht möglich

ist, bleibt der Betrachter auf jene heterogenen Mosaiksteinchen angewiesen, die er

durch den Blick der Barfrau zu sehen bekommt und aus denen er das, was sich hinter

ihm befindet, zusammensetzen muss.

Manets vervollständigt seine komplexe Blickregie, indem er eine Nebenszene ein-

fügt, die eine weitere Facette der Grisette deutlich macht. Sie erscheint im Spiegel als

Rückenfigur, ist in das Gespräch mit einem Mann in Frack und Zylinder vertieft und

ermöglicht es dem Betrachter, zwischen der Außenperspektive und der Innenper-

spektive der Figur zu springen. Die Welt kann einmal mit den Augen der Figur gese-

hen werden, ein anderes Mal wird die Grisette als Teil dieser Welt wahrgenom-

men.119

Manets Teilung von Innen- und Außenperspektive wird von Wall nicht übernommen.

Während sich der Betrachter bei Manet dem Bild wie einer tatsächlichen Bar nähert

und dort in ein Verhältnis von „ich“ und „du“ tritt, schließt Wall den Betrachter aus. 119 Zur weiteren Analyse des Gemäldes: Lüthy, Michael: Bild und Blick in der Malerei Manets, Berlin 2000. Die Rezeptionsgeschichte des Gemäldes wird in dem Sammelband von Bradford R. Collins zusammengefasst. Bradford R. Collins (Hrsg.): Twelve Views of Manet’s „Bar“, Princeton 1996.

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Wall hat die Fotografie zwar ebenfalls vor einem Spiegel inszeniert, dieser tritt je-

doch selbst nicht in Erscheinung. Der Spiegel verkleidet die gesamte Fläche, bildet

die vierte Wand des Raums und ist für den Betrachter nicht zu erkennen. Erst auf den

zweiten Blick verrät die Kamera, die der Fläche gegenübergestellt ist, dass es sich

um einen abgeschlossenen Spiegelraum handeln muss, denn ohne die große Spiegel-

fläche wäre die Kamera unmöglich Teil der Bildhandlung.120

Ein weiterer Vergleich wird zei-

gen, dass sich Wall mit Frage-

stellungen der Malerei beschäf-

tigt und das Spiegel-Motiv ein-

führt, um das Bild an seine

künstlerische Autorität zurück-

zubinden, die sich in Kapitel C.

II. 3. deutlich als Arrangierungs-

strategie der Szene ausgewiesen

hat. Der Künstler bildet die In-

stanz der Apparatüberlistung.

Als künstlerische Autorität hat

Wall die Möglichkeit, kalkulierte

Strategien anzuwenden, um im

Bild Anzeichen einer Fiktionali-

sierung zu geben. Erst durch den Autor wird die Fotografie zu einer Kunstform, die

sich dem Diktum des „Es ist so gewesen“121 entledigen kann.

Abbildung14: Diego Velázquez: Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 318 x 276 cm

Eine seiner berühmtesten Ausprägungen erfährt das Spiegel-Motiv in dem Gemälde

„Las Meninas“, das Diego Velázquez 1656 als Hofmaler des spanischen Königs mal-

te. Wall hat während einer Europa-Reise 1977 das Gemälde von Velázquez kennen-

120 Martina Weinhart untersucht Walls Fotografie „Picture for Women“ unter der Berücksichtigung des Spiegelarrangements, kommt jedoch zu einem falschen Ergebnis, weil sie die Fotografie als Er-weiterung des Betrachterraums darstellt. Sie unterstellt eine Dreieckskomposition, deren Hypotenuse bei den Bildfiguren liegt, und deren Spitze sich außerhalb der Fläche beim Betrachter befindet. Damit bezieht sie Albertis Sehpyramide auf Walls Fotografie. Weinhart, Martina: Selbstbildnis ohne Selbst – Dekonstruktion eines Genres in der zeitgenössischen Kunst, Berlin 2004. Besonders das Kapitel: Wege der Partizipation, S.179-222. 121 Das Zitat ist Roland Barthes´ Essay „Die helle Kammer“, entlehnt. Barthes, Roland: aaO., Frank-furt/Main 1985, S. 128.

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gelernt.122 Er führt Velázquez und dessen Gemälde „Las Meninas“ in seinem Aufsatz

„Frames of reference“ aus dem Jahr 2003 als Bezugspunkt an. Er studierte „tradi-

tional painters like Manet, Cezanne and Velazquez (...) My involvement with that art

as a young artist helped me connect what bothered me about photography with quali-

ties in other art forms that held valuable indications for aspects of photographic mak-

ing. A sculpture by Andre seemed to me to have affinities with Las Meninas“123.

Wie in Walls Fotografie spielt die Bildszene von „Las Meninas“ in einem abge-

schlossenen Raum. Die Infantin Margarita, der Hofmaler Velázquez, die Hoffräulein

und weiteres Bildpersonal sind in der „Pieza de la galería“ des Alcázar versammelt.

Die Infantin soll gemalt werden und sie betrachtet dafür ihre Erscheinung im Spiegel.

Noch bereitet sie sich vor, noch ist nicht alles so, wie es später auf dem Gemälde

erscheinen wird. Wir erblicken die Phase der Bildentstehung, in der sich noch alles

vorbereitet: Das Glas mit dem Getränk muss noch geleert werden, um anschließend

die korrekte Pose für das höfische Repräsentationsbild einzunehmen.

Die Infantin ist der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Blicke der vier Hauptper-

sonen sind auf sie gerichtet – unmittelbar oder durch den Blick in den Spiegel. Isabel

del Velasco, das Hoffräulein, das links neben der Infantin steht, ist ein wenig nach

vorne geneigt und blickt prüfend auf die Kleidung der Prinzessin. Sie nimmt bereits

die Armhaltung ein, die für die Prinzessin vorgesehen ist. Gleich wird sie sich der

Etikette fügen und die gleiche Haltung einnehmen wie das Hoffräulein. Mit eben

dieser Armhaltung hat Velázquez die Infantin 1655 gemalt.

Folgt man Foucault und seiner Erklärung des Gemäldes in der „Ordnung der Dinge“,

so befinden sich vor dem Gemälde der König und die Königin von Spanien, welche

die Ausführungen des Künstlers beobachten und die Stellvertreterrolle des Betrach-

ters einnehmen.124

Der kleine Spiegel an der Rückwand des Raumes zeigt – laut Foucault – die Reflek-

tion des Königspaares und ermöglicht es, die Wirklichkeit außerhalb des Gemäldes

in Beziehung zur dargestellten Szenerie zu setzen.

122 Er besuchte die Gemäldesammlung des Prado in Madrid. Lauter, Rolf: Licht und Schatten, in: ders. (Hrsg.): aaO., S. 20-22, S. 21. 123 Wall, Jeff: Frames of reference, in: Artforum, 9, 2003, S.1-23, S.18. 124 Foucault, Michel: Velázquez, Las Meninas – die Hoffräulein, in: [ohne Herausgeber]: Velázquez – Las Meninas, Frankfurt/Main 1999, S. 11-55; Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frank-furt/Main 1974, S. 30-45; Harris, Enriqueta: Velázquez, Oxford 1982; Eine Übersicht der verschiede-nen Interpretationen liefert: Greub, Thierry (Hrsg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen, Berlin 2001.

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Reinhard Brandt und Rainer Marx liefern jedoch eine andere Interpretation des Ge-

mäldes;125 sie zeigt evidente Parallelen zwischen Walls postmoderner Bildkonzepti-

on und dem Beginn der Metamalerei im 17. Jahrhundert.126 Dabei hat der Spiegel

nicht die Funktion, König und Königin in den Raum zu projizieren, sondern auf die

malerische Ausführung des Herrscherporträts zu verweisen. Es ist nach den Abmes-

sungen der „Pieza de la galería“ unmöglich, dass König und Königin der Gruppe um

die Infantin gegenüberstehen. Würden sich – wie es Foucault vorschlägt – die Köni-

gin und der König spiegeln, dann müssten auch die Leinwand, der Künstler und die

Gruppe sowie große Teile des Raums in der Reflektion erscheinen. Zudem wird im

Spiegelbild das Königspaar in unterschiedlicher malerischer Ausführung gezeigt.

Während der Oberkörper der Königin vollständig ausgeführt ist, zeigt sich das Brust-

bild des Königs als Skizze.127 Ein weiteres Argument gegen die Betrachterrolle der

Könige findet sich, wenn man die Frisur der Infantin betrachtet. Im Porträt, das Ve-

lázquez von ihr 1655 angefertigt hat, trägt Margarita den Scheitel auf der rechten

Seite. Das Gemälde „Las Meninas“ zeigt also eine Spiegelung der Prinzessin und

schließt aus, dass sich das Königspaar vor dem Bild befindet. Weder der Maler Ve-

lázquez noch die Infantin blicken auf vor dem Gemälde befindliche Betrachter.

Stattdessen lässt der Spiegel im Hintergrund den Ausschnitt eines bereits begonne-

nen Gemäldes erkennen.128 Es ist das Bildnis, in dem später auch die Prinzessin er-

scheinen wird, das Gemälde, das in der linken Bildhälfte rückseitig dargestellt wird.

Es zeigt das Porträt der Könige, das von Velázquez bereits auf der Leinwand als

Skizze ausgeführt wurde und nun durch die Darstellung der Infantin vollendet wird.

Der Maler hat es so positioniert, dass die im Umriss gemalten Könige in Brusthöhe

im Spiegel erscheinen.

125 Brandt, Reinhardt: Philosophie in Bildern – von Giorgione bis Magritte, Köln 2000, S. 283-311; Marx, Rainer: Foucaults Irrtum, in: Frankfurter Rundschau vom 24.4.1999. 126 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild – Beginn der Metamalerei, München 1998, Kapitel VIII. Bilder vom Maler/Bilder vom Malen, S. 224-298. 127 Ein Versuch, die Unstimmigkeiten zu klären, stammt von Ulrich Asemissen. Er macht jedoch aus dem Königspaar einen Spuk, der im Moment des Malens durch den Raum huscht. „Es ist bloß eine Erscheinung, ein höchst reizvoller bildhafter Reflex, dessen Herkunft unbestimmt und unbestimmbar bleibt“. Asemissen, Hermann Ulrich: Las Meninas von Diego Velázquez, in: Kassler Hefte für Wis-senschaft und Kunstpädagogik, 2, Kassel 1981, S. 30. Auch: Asemissen, Ulrich Hermann / Schweik-hart, Gunter: Malerei als Thema der Malerei, Berlin 1994. 128 Dazu auch Moya, Ramiro: El trazado regulador y la perspectiva en „Las Meninas„“ in: Revista de Arquitectura, 3, 1961, S. 3-11; Stoichita, Victor I.: Imago Regis – Teoría del arte y retrato real en Las Meninas de Velázquez, in: Mariás, Fernando (Hrsg.): Otras Meninas, Madrid 1995, S. 181-203; Brown, Jonathan: Velázquez – Maler und Höfling, München 1986.

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Diese Beobachtung ist für die strukturelle Eigenart des Gemäldes von großer Wich-

tigkeit, denn der Betrachter wird ausgeschlossen, und das Gemälde zeigt sich statt-

dessen als künstlerischer Innenraum. Es stellt sich nun die Frage, wie wir, die Be-

rachter des Innenraums, die Szene im Atelier sehen. Die Antwort liegt in der Logik

des gesamten Bildes: Das Bild wird von innen gesehen; es ist aus dem Blickwinkel

der Infantin entwickelt und zeigt, was Margarita vor Augen hat. Die Prinzessin er-

blickt sich im Spiegel, und gleichzeitig sieht sie den Hintergrund und die Figuren

neben sich. Der Betrachter ist eliminiert; würde er vor dem Bild stehen, würde er die

Rückseite einer Spiegelwand erblicken. Es gibt keinen externen Betrachter im Bild;

er wird vielmehr durch das Spiegelarrangement ersetzt. An seine Stelle tritt dasjeni-

ge, was aus dem Zentrum des Bildes gesehen wird. Das Gemälde ist ein selbstbezüg-

liches Arrangement, das in sich geschlossen ist und für den Betrachter nur durch die

malerische Fixierung der Innenperspektive wahrnehmbar ist. Es verschließt sich in

sich selbst, ist nur Binnenraum und dadurch weniger das Bild einer Wirklichkeit, als

ein auf sich selbst reflektierendes Kunststück. Trat der Betrachter im Gemälde Ma-

nets der Barfrau gegenüber, so ist er bei Velázquez gar nicht erst vorgesehen.

Wall bezieht sich auf diese Struktur, indem er den Kunstgriff des spanischen Malers

aufgreift. Im Gegensatz zur Bezugnahme auf Manet erfolgt die Referenz nicht in

motivischer Hinsicht, sondern auf einer bildstrukturellen Ebene. Die Bedeutung von

„Las Meninas“ als höfisches Repräsentationsbild klammert Wall aus.129 Er bezieht

sich nicht auf die Darstellung königlicher Macht, sondern auf den Spiegelmechanis-

mus, der dem Betrachter bewusst macht, dass es sich um ein Abbild mit „konstruier-

ter“ Perspektive ohne Außenbezug handelt.

Ebenso wie Velázquez kann Wall sein Modell nur von vorne darstellen, weil er, be-

ziehungsweise die Kamera, es nur von vorne sieht. Wenn die Fotografie nicht aus

dem Blickwinkel des Betrachters konzipiert wurde, wie es Talbot im „Pencil of Na-

ture“ vorgibt, kann sie nur auf eine künstlerische Wahrheit, auf die arrangierte Fikti- 129Erst seit dem 19. Jahrhundert trägt das Gemälde den Titel „Las Meninas“. In seiner Entstehungszeit hatte es den Namen „La familia des Felipe IV“. Es ist also ein Familienporträt, das die Infantin als zukünftige Königin in einem genealogischen Zusammenhang mit ihren Eltern präsentiert. Diese sind zwar durch die Spieglung als Reflektion anwesend, körperlich jedoch abwesend. Ihre „erscheinungs-hafte“ Präsenz wird in der Forschung als Verkörperung der übergeordneten Legitimität des Staates gewertet. „Las Meninas“ ist demnach ein Gemälde, das die Rechtssymbolik des Königtums repräsen-tiert. Dazu: Lüthy, Michael: Las Meninas und die Idee der Repräsentation, in: aaO. S. 194-200; zur unsterblichen, mystischen Seite des Königtums, dessen Ausläufern noch im Absolutismus spürbar sind: Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs – eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990.

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on verweisen; die eigengesetzliche Verschlossenheit der Fotografie verweist auf den

fiktionalen Anspruch, dem Walls Bild unterliegt. Er paraphrasiert den Fenstertopos

albertischer Prägung und führt ihn gleichzeitig ad absurdum. Die Fotografie ist ein in

sich geschlossenes, autonomes Gebilde, das „gänzlich es selbst ist“130, indem es die

Bildentstehung und die Bildbetrachtung darstellt. Der Spiegel ermöglicht dabei, dass

das Bild angesehen werden kann – nicht von außen, sondern aus der Bild-Perspektive

der Kamera, die mittig in die Fotografie gesetzt ist. Sie nimmt die Spiegelung auf

und produziert das Objekt, das später betrachtet werden kann. Wall hat dadurch die

Möglichkeit, einerseits dem Betrachter eine Abbildung vorzuführen, ihn aber gleich-

zeitig aus dem fiktiven Bildraum zurückzuweisen.

Die Spiegelung liefert noch weitere Besonderheiten: Im Gemälde und in der Fotogra-

fie wird der Produktionsvorgang dargestellt. Velázquez und Wall setzen sich auktori-

al ins Bild. Dabei gibt es keinen Zweifel, wer für das künstlerische Produkt die Ver-

antwortung trägt. Beide Künstler haben ihre Produktionsmittel in der Hand, Veláz-

quez Palette und Pinsel, Wall den Fernauslöser der Kamera. Die Fotografie entsteht,

indem der Künstler die Veranlassung dafür liefert. Dabei werden der Schöpfer des

Werks und sein Bild im Werk ebenso präsentiert wie das Herstellen und das Ergebnis

der Herstellung. Selbstporträt und Autorendarstellung fallen zusammen. Diese Ver-

vielfachung der Darstellungsebenen weist die Werke als metafiktional aus.131 Die

Bilder haben mehrere Lesarten, von denen die augenfälligste der Diskurs über das

Bildermachen ist. Beide fügen eine reflexive Bildebene ein, um dem Betrachter zu

zeigen, dass es sich um ein Kunstwerk handelt, das nach spezifischen Gesetzen her-

gestellt wurde.

Ein Gemälde so darzustellen, dass es wie der Reflex eines Spiegels erscheint, gehört

zu den Üblichkeiten der barocken Bildkultur. Der Spiegel ist dabei eine Chiffre der

Malerei, die mit ihren eigenen Mitteln vorgeführt werden soll. Wall bezieht sich auf

dieses metafiktionale Verfahren, um deutlich zu machen, dass es sich bei seinen Fo-

tografien um kalkulierte Arrangements handelt, deren Konzeption eine Autorschaft

zugrunde liegt. Die Selbstreferentialität seiner Fotografien besteht nicht darin, die

130 Brandt, Reinhard: aaO., S. 297. 131 Der Begriff der Metafiktion stammt ursprünglich aus der Literaturwissenschaft. In der vorliegen-den Arbeit wird er verwendet, um die auktorialen Verfahren von Velázquez und Wall zu benennen; er charakterisiert die ästhetische Selbstauskunft und das Anliegen des Künstlers, im Werk Hinweise auf seine Entstehung unterzubringen.

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medialen Eigenschaften zu visualisieren, sondern einen selbstreflexiven, illusionisti-

schen Innenraum darzustellen.

C. IV. Arrangement und Indexikalität

Die aufgeführten Merkmale sollen nun den Eigenschaften des Fotografischen gegen-

übergestellt werden, die anhand von William Henry Fox Talbots Texten erarbeitet

wurden. Das Fotografische zeichnet sich demnach durch die Selbstabbildung der

Natur aus, durch einen maschinellen Mechanismus, der in Gang gesetzt wird. Die Art

und Weise, mit der sich Wall ins Bild setzt, stellt diesem naturgesetzlichen Automa-

tismus eine künstlerische Autorität gegenüber. Wall kann diese Gesetzmäßigkeit

nicht auflösen, jedoch Hinweise für den Betrachter geben, das indexikalische Bild in

einem anderen Referenzrahmen wahrzunehmen. Wall stellt sich als Künstlerpersön-

lichkeit dar, die das indexikalische Verfahren einordnet, kommentiert und auslegt.

Durch die Transformation des Manet-Modells gelingt es Wall, die Technik des Me-

diums zu hinterfragen und neu zu bewerten. Durch sein Arrangierungs-Verfahren

verweist er nicht nur auf die indexikalische Qualität der Fotografie, sondern fügt

auch eine ikonische hinzu.

Die Paraphrase des Manet-Motivs ruft die bildliche Erinnerung des Betrachters auf.

Bildhafte Erinnerung funktioniert jedoch über Ähnlichkeiten, die das Vor- und

Nachbild durch Referenz in Verbindung bringen. Ähnlichkeit ist jedoch keine Eigen-

schaft des Index’, sondern des Ikons. „Ein Ikon ist ein Zeichen, insofern es einem

anderen Objekt ähnlich ist und eine Idee hervorruft, die – da sie sich selbst ähnelt –

ihrem Objekt ähnlich ist.“132, bestimmt der Semiotiker Charles S. Peirce das Ikon in

seinem „logische[n] Notizbuch“. Durch Ähnlichkeit wird keine physikalische Ver-

bindung konstruiert, die grundlegend für den Index ist. Ein ikonisierendes Zeichen

verweist auf den bezeichneten Gegenstand durch Übereinstimmung von bildhaften

Merkmalen. „Dabei werden natürlich Farbe, Form, Größe, Beschaffenheit des Be-

zeichneten im Zeichen anders sein können. Die Wachsfigur Heinrich VIII. im Panop-

tikum an der Reeperbahn ist so ein ikonisierendes Zeichen des berühmten englischen

Herrschers“133. Ebenso wie die Wachsfigur auf den englischen König verweist, be- 132 Charles S. Peirce – Semiotische Schriften, in: Kloesel, Christian / Pape, Helmut (Hrsg.), Frank-furt/Main 1986, S. 346. 133 Menne, Albert: Einführung in die Logik, Tübingen 1993, S. 12.

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zieht sich Wall auf Manets Darstellung. Walls Zeichen evoziert beim Betrachter den

bezeichneten Gegenstand durch die erinnerte Bildhaftigkeit. Der Künstler verweist

auf ein Vorbild, das von Manet als willkürliche Setzung geschaffen wurde und nun

als Arrangement in „Picture for Women“ aufgerufen wird.134

Die Sammellinse der Fotografie ermöglicht es zudem, ein Bild darzustellen, welches

perspektivische Verkürzungen aufweist. Durch große Objekte wird ein Vordergrund

suggeriert, durch kleine ein Hintergrund angedeutet. Die Fotografie kann dadurch –

wie es auch Talbot vorschlägt – als Ausblick durch ein Fenster gewertet werden. Der

Fensterblick zeigt demnach eine Wirklichkeit, die nicht ohne einen Betrachter ge-

dacht werden kann. Das Sehen durch ein Fenster funktioniert immer durch die Wei-

terführung der Betrachterrealität. Seine Verfasstheit wird in das Bild aufgenommen;

es ist die Verlängerung seiner raumzeitlichen Bedingungen. Durch den Spiegelme-

chanismus schließt Wall nun den Betrachter aus. Die Fotografie „Picture for Wo-

men“ kann nicht als Ausblick durch ein Fenster gelesen werden, weil das Bild sich

aus dem Blickwinkel der Kamera entwickelt. Zwar ist der Tisch im Hintergrund

kleiner als die Figuren im Vordergrund, doch letztlich macht der Spiegel deutlich,

dass die Fotografie aus einer „Innenperspektive“ entwickelt wurde. Die Pointe des

Bildes liegt darin, dass der Betrachter die Fotografie zwar als Gegenüber rezipieren

kann, ihm jedoch gleichzeitig bewusst gemacht wird, dass es ohne eine Bezugnahme

auf seine raum-zeitliche Verfasstheit entstanden ist. Das Hier-und-Jetzt, das kenn-

zeichnend für den physikalischen Abdruck ist, soll durch diesen Mechanismus über-

schritten werden.

Wall legt zwar Spuren, die auf die Entstehung qua Medium verweisen, liefert jedoch

eine Transgression der fotografischen Technik, um Bilder hervorzubringen.135 Mit

einer Kunsttheorie, die das Indexikalische zum alleinigen Inhalt der Fotografie

macht, können seine Arbeiten nicht bestimmt werden. Die Propaganda des indexika-

lischen Abdrucks verabsolutiert den Herstellungsvorgang als ästhetische Kategorie

und verkennt, dass Werke der inszenierten Fotografie nicht allein unter der Kategorie

des Index` subsumiert werden können. Walls Arbeiten sind Tableaus, in denen die

technische Gemachtheit der bildhaften Wirkung untergeordnet wird. Sie schildern 134 Auf die Überbietung von Indexikalität durch Ikonik verweist auch Ulrich Reißer. Reißer, Ulrich: Jeff Wall“, in: ders. (Hrsg.): Kunstepochen – 20. Jahrhundert, S. 290-292, S. 290f. 135 Die Bilder, die Wall erzeugt, haben keine Verwandtschaft mit der bildmäßigen Fotografie des 19. Jahrhunderts. Diesem Unterschied widmet sich das Kapitel „Der ausgeschlossene Betrachter - Grund-lagen einer optischen Kunst“, S. 104 der vorliegenden Arbeit.

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eine Szenerie, verweisen auf die Autorenschaft des Künstlers, erschöpfen sich aber

nicht in medialer Selbstbezüglichkeit. Die Fotografie „Picture for Women“ zeigt bei-

spielhaft, wie Wall die Kategorien der Indexikalität überschreitet. Indem er sich als

Autor einführt und auf das malerische Erbe von Manet referiert, propagiert er eine

„ikonische Wende“136, die durch die Verbindung zweier unterschiedlicher Medien

gewährleistet wird. Malerei trifft auf Fotografie; eine indexikalische Technik auf ein

ikonisches Verfahren. Und mehr noch: Wall unterläuft die Schlussfolgerung, die an

den Gebrauch des Mediums geknüpft ist. „Picture for Women“ ist zwar eine Fotogra-

fie – eine Garantie für ihre Dokumenthaftigkeit übernimmt sie deswegen nicht. Die

Arbeit ist in erster Linie ein arrangiertes Bild und erwirkt dadurch den Anspruch, als

Fiktion rezipiert zu werden. Während das Indexikalische jede künstlerische Fiktion

eliminiert, bietet die „ikonische Wende“ der inszenierten Fotografie die Möglichkeit,

als Kunstwerk in einem spezifischen Referenzrahmen wahrgenommen zu werden.

Walls Verfahren zeigt, dass die Fotografie – wie die klassischen Künste – in unter-

schiedlichen Kontexten und Arrangements verschiedene Funktionen annehmen kön-

nen. Ebenso wie die Zeichnung, welche sowohl wissenschaftliches Dokument als

auch Kunstwerk sein kann, kann die Fotografie fiktionalisierende Arrangements dar-

stellen, um dem Betrachter den Kunststatus zu signalisieren. In den etablierten Küns-

ten ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ein Medium sowohl an der Repräsentation

von Wirklichkeit wie an der von Einbildungskraft teilnehmen kann.

Die indexikalische Dominanz der Fotografie hatte dies bis Mitte der 70er-Jahre nicht

zugelassen. In der Ankaufspolitik der Museen schlägt sich diese Prägung deutlich

nieder: Das erste Bild von Cindy Sherman aus der Serie der „Untitled Film Stills“

wurde Mitte der 80er-Jahre an die Sammlung des Museum of Modern Art verkauft.

Obwohl das „Moma“ seit der Begründung durch Edward Steichen eine kaufkräftige

Fotoabteilung vorwies, wurde die Serie durch den Etat bezahlt, der für den Ankauf

von Gemälden und Skulpturen zuständig war.137 Ganz und gar der modernistischen

Fotografie verpflichtet, propagierte der damalige Leiter John Szarkowski ausschließ-

lich eine Fotokunst, welche sich den Gesetzen greenbergscher Prägung verpflichtete.

136 Dieser Ausdruck ist erstmals durch den amerikanischen Wissenschaftler Thomas Mitchell geprägt worden. Mitchell. Mitchell, W.J. Thomas: Picture Theory – Essays on verbal and visual Representa-tion, Chicago 1994. 137 Dazu: Grundberg, Andy: Kunst und Fotografie – Fotografie und Kunst – über die modernistische Membran, in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika, Zürich 1998, S. 43-52, S. 51.

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Fotografische Technik mit malerischem Anspruch zu verbinden, bedeutete für Szar-

kowski keine Möglichkeit, Fotografie als Kunstform zu etablieren.

Der einseitige, technisch-mediale Diskurs schlägt sich noch heute im Sprach-

gebrauch nieder. Der deutsche Begriff für das Medium macht es deutlich: Das Wort

„Fotografie“ bezeichnet sowohl die Technik der Bildherstellung wie ihr Er-

zeugnis138. Das bildnerische Werk hat die gleiche Bezeichnung wie sein Herstel-

lungsverfahren. Dem entspricht die Logik der enzyklopädischen Fotografiegeschich-

ten. Die bedeutendsten Nachschlagewerke der Fotografie wie der Sonderband „Ge-

schichte der Photographie“ der Propyläen Kunstgeschichte und Michel Frizots „Neue

Geschichte der Fotografie“ organisieren die Chronologie der Bilder als eine Abfolge

technischer Überbietungen.139 Seit dem 19. Jahrhundert dominiert diese Technikge-

schichte das Feld. Ihre Erzählung kanonisiert die Geschichte der Fotografie als Folge

immer besserer Apparaturen, als teleologische Reihe von Erfindern und Erfindungen.

„Als Gegenstand seiner Untersuchung und Betrachtung wählt der Fotohistoriker je-

ner Jahre den Apparat und nicht, was dieser hervorbringt, das Material, und nicht,

was die chemische Reaktion sichtbar macht“140.

Nachdem die Signale dargestellt wurden, die Wall einsetzt, um den Kunstcharakter

seiner Fotografien vorzuführen, folgt nun die Frage, in welcher Tradition sich Walls

Bilder befinden. In den Kapiteln D. E. und F. der vorliegenden Arbeit wird diese

Fragestellung ausführlich erläutert. An dieser Stelle nur soviel: In Bildgenese, Kom-

position und Auffassung von Handlung und Raum steht Wall in der malerischen

Tradition, die sich nördlich der Alpen entwickelt hat. Das Ausschließen eines exter-

nen Betrachters zeugt davon, die Technik des Abdrucks der Fotografie mit Strategien

des Eindrucks, der Malerei, zu verbinden. Doch bevor diese Argumentation entwi-

ckelt wird, muss ein begriffliches Vokabular gefunden werden, um Walls Fotogra-

138 Siehe auch dazu im Brockhaus den Eintrag zur Photographie: „Die Gesamtheit der Verfahren, Beschäftigung und Geräte zur Herstellung dauerhafter Abbildungen von beliebigen Objekten durch Einwirkung von Strahlung (...) auf Schichten, deren physikal. oder chem. Eigenschaften unter dieser Energieeinwirkung verändert werden; auch das dadurch erzeugte Bild (i. e. S. Lichtbild, Photo) selbst.“ Der große Brockhaus, Neunter Band, Wiesbaden 1980, S. 24. 139 Frizot, Michel (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998; Gernsheim, Helmut: Geschich-te der Photographie – die ersten hundert Jahre, Frankfurt/Main 1983. 140 Starl, Timm: Bilderatlas und Handbuch – zu einigen Aspekten der fotogeschichtlichen Darstellun-gen bei Josef Maria Eder und Hermann Krone, in: Hesse, Wolfgang / Starl, Timm (Hrsg.): Der Photo-pionier Hermann Krone – Photographie und Apparatur – Bildkultur und Phototechnik im 19. Jahrhun-dert, Marburg 1998, S. 215-224, S. 217.

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fien adäquat zu beschreiben – eine Kategorie, welche die Bildqualität und den

Kunstcharakter gleichermaßen berücksichtigt.

C.V. „Fictional narrative“ – Kategorie der inszenierten Fotografie Der amerikanische Kunstkritiker Douglas Crimp liefert in seinem Aufsatz „Pictures“

von 1979 die Begrifflichkeiten, durch die sich Walls Fotografien beschreiben las-

sen.141 „Pictures“ bezog sich auf eine gleichnamige Ausstellung, die Crimp in New

York 1977 besucht hatte. Im „Artists Space“, einer kleinen Produzentengalerie, wur-

den fünf Positionen zeitgenössischer Fotografie vorgestellt, Werke von Troy Braun-

tuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith.

1979 erschien Crimps Aufsatz in der Zeitschrift „October“, ging jedoch über die Re-

zension dieser Ausstellung weit hinaus.142 Crimp stellte eine Arbeit der Foto-

Künstlerin Cindy Sherman vor und lieferte durch seine Beschreibung des „Untitled

Filmstills #21“die entscheidende Formel.

Bereits die ersten Sätze seines Aufsatzes zeigen, dass Crimp beabsichtigt, die Vor-

aussetzungen der Concept- und Minimal-Art einer Revision zu unterziehen. Er rea-

giert auf Michael Frieds Aufsatz „Art and Objecthood“ von 1967, in dem die Mini-

mal-Art und ihre Werke in die Nähe des Theaters gerückt werden. In der Auseinan-

dersetzung mit dem modernistischen Werkbegriff greenbergscher Prägung definierte

Michael Fried die Kunst jenseits der traditionellen Gattungen. Eine theatralische

Kunst „lies between the arts“143. Die Ära der Einzelkünste, Malerei und Skulptur, sei

Vergangenheit, denn „Art degenerates“; eine Weiterentwicklung der einzelnen Gat-

tungen sei nach Fried nicht mehr zu erwarten: „The concept of the art itself ... [is]

meaningful, or wholly meaningful, only within the individual arts“. Der Rang eines

Kunstwerks zeige sich in der Berücksichtigung seiner medialen Eigenschaften. Gute

Malerei beschränke sich demnach auf die Zweidimensionalität, während Plastiken

und Skulpturen ihren Bestimmungen nach mit der Dreidimensionalität arbeiten sol- 141Crimp, Douglas: Pictures, in: October, 8, Spring 1979, S. 75-88. Als englischer Nachdruck liegt der Text vor in: Wallis, Brian / Pillips, Christopher / Yohn, Tim (Hrsg.): Art after Modernism – Rethink-ing Representation, New York 1984, S. 175-186. 142 Erst in der jüngeren Forschung haben Autoren den Text „Pictures“ in Zusammenhang mit der Fo-tografie gesehen. Ohne ihn weiter einzuordnen, nennt ihn Andy Grundberg in einem Abschnitt des Aufsatzes „Kunst und Fotografie – Fotografie und Kunst – über die modernistische Membran, in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): aaO., S. 44.; Dazu auch: Metzger, Rainer (Hrsg.): Kunstforum International, 162, Nov./Dez. 2002. 143 Alle Zitate von Michael Fried werden in Crimps Text aufgeführt. Crimp, Douglas: aaO., S. 175f.

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len. Um gegen Frieds Medienkritik zu argumentieren, stellt Crimp die neuen künstle-

rischen Aktivitäten dar. Er bemerkt: „the actual characteristics of the medium per se

cannot any longer tell us much about artist’s activity“144. Die Künstler, deren Arbei-

ten für Crimp eine neue Art der Kunst repräsentieren, stammen zwar aus der Ära der

„Presentness“, sie haben den Kategorien jedoch eine neue Ausrichtung gegeben und

arbeiten nun mit Bildern.

„Theatrical dimensions have been transformed and quite unex-pectedly reinvested in the pictorial image. If many of these artists can be said to have been apprenticed in the field of performance as is issued from minimalism, they have nevertheless begun to re-verse its priorities, making of the literal situation and duration of the performed event a tableau whose presence and temporality are utterly psychologized“145.

An die Stelle der Buchstäblichkeit („literal situation“) minimalistischer Materialien,

Intentionen und Verweise ist das Tableau getreten.

Jeff Wall beschreibt diesen Vorgang 2001 im Rückblick:

„In den siebziger Jahren habe ich mit Fotografie neu begonnen, in einer Arbeitsweise, die sich von der der sechziger Jahre voll-kommen unterscheidet (...) Mir war die „Fotokunst“ ästhetisch zu sehr in ihrem eigenen Diskurs befangen. Die Maßstäbe dafür wa-ren in den zwanziger und dreißiger Jahren festgelegt worden; das Wesentliche dabei war die Qualität des Abzugs und der dokumen-tarische Gehalt. Mehr oder weniger auf diese Weise sah meine Generation, um 1966, die Fotografie. Aus vielen Gründen schien mir diese Vorstellung angesichts der Möglichkeiten, die ich dem Medium zutraute, als höchst unangemessen. Diese Möglichkeiten waren in der damaligen Diskussion über Fotografie ungenügend umrissen. (...) Die Geschichte der Malerei gab dazu sehr viel mehr Anregung (...). Um innovativ gegen das Konzept der „künst-lerischen“ Fotografie zu arbeiten, musste ich Bildqualitäten, Su-jets und Techniken integrieren, die in jenem Konzept ausge-schlossen waren“146

Dieser Übergang lässt sich im fotografischen Werk von Wall deutlich nachzeichnen.

Ende der 60er-Jahre arbeitete er noch konzeptuell und gehörte zu der von Crimp be-

schriebenen Generation, deren künstlerische Erfahrungen durch die Buchstäblichkeit

144 Crimp, Douglas: aaO., S. 176. 145 Crimp, Douglas: aaO., S. 177. 146 Jeff Wall in: Ein Maler des modernen Lebens – Gespräch zwischen Jeff Wall und Jean-Francois Chevrier, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S. 173.

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der Concept-Art geprägt wurden. Zu seinen frühen Arbeiten gehört das „Landscape

Manual“ von 1969-70, das aus einem 50-seitigen Buch besteht. Es wurde in einer

Auflage von 400 Stück veröffentlicht und zeigt Schwarzweiß-Fotografien, die neben

einen Text montiert wurden. Sie dokumentieren eine Autofahrt, während der die Fo-

tografien entstanden sind. Im Gegensatz zu den späteren Inszenierungen arbeitet

Wall hier literal. Die Fotografien im „Landscape Manual“ besitzen keine Hinweise

auf einen fiktionalen Ge-

halt. Sie sind in dieser Ar-

beit nur das, was sie sind –

indexikalische Einprägun-

gen einer Spritztour. Deut-

lich zeigt sich hier der Ein-

fluss Dan Grahams. Dan

Grahams Arbeiten, denen

Wall 1981 einen langen

Essay gewidmet hat147,

zeigen die entscheidenden

Merkmale der Concept-Art: Sie markieren den Übergang vom Werk zum Text. Die

Abbildung Nr.16 stellt die Textarbeit „Homes for America“ von 1966 dar. Sie be-

steht aus dem Layout einer Doppelseite.

Abbildung 15: Jeff Wall: Landscape Manual, 1969-70, 50-seitiges Booklet

Text und Bild sind drei-

spaltig angeordnet und er-

schienen 1966/1967 in der

Dezember/Januar-Ausgabe

des „Arts Magazine“. Zwar

wurde Grahams Entwurf

verändert, einige seiner

Fotografien durch die von

Walker Evans ersetzt, das

Layout gekürzt; dennoch

vereinigt „Homes for Ame-

rica“ die Charakteristika einer Kunst, die für Jeff Wall am Anfang seiner künstleri-

Abbildung 16: Dan Graham: Homes for America, Doppel-seite in der Zeitschrift „Arts Magazine“, 1966/67

147 Wall, Jeff: Ein Entwurf zu „Dan Grahams Kammerspiel“, in: Stemmrich, Gregor: aaO., S. 47-187.

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schen Laufbahn verbindlich sind. Ebenso wie bei Graham ist Walls Text-Bild-

Kombination als Beitrag für das Printmedium konzipiert worden – bei Graham als

Zeitschriftenbeitrag, bei Wall als Booklet. Beide kultivieren die Aufwertung des All-

täglichen, Nebensächlichen und Banalen, indem die Vorstädte bei Graham und die

Straßenszenerien bei Wall sowohl als Motiv wie als Technik mit dem Dilettantismus

der Allerweltsknipserei fotografiert worden sind. Die Abzüge sind verschattet; sie

zeigen Ansichten, die während der Autofahrt aus der Frontscheibe gemacht wurden –

ohne Arrangement, Bestimmung des Standpunkts und Schauspieler. Durch den

schlechten Druck sind kaum noch Details zu erkennen. Gestalterische Komponiert-

heit und lichtbildnerische Delikatesse, welche die artifizielle Gemachtheit späterer

Arbeiten auszeichnen, gehören hier nicht zum Repertoire.

Wall thematisiert ebenso wie Graham den kalkulierten Dilettantismus der Herstel-

lung und stellt ihn in den Dienst einer weiteren Concept-Art-Kategorie.

Es ist das Entropische, das sich in den Fotografien beider Künstler ausdrückt. Von

Robert Smithson 1966 in einem Aufsatz der Zeitschrift „Artforum“ eingeführt, be-

zeichnet das Entropische die Konformität der amerikanischen Vorstädte und Land-

schaften, den Verlust regionaler Identität und den Prozess einer fortschreitenden op-

tischen Gleichschaltung. Der naturgesetzlich determinierte Verfall von Ordnung und

die Erosion der Landschaft kennzeichnen seiner Meinung nach die lebensweltliche

Wirklichkeit der Bürger, die in den USA leben.148 Die Landschaft hat in Walls Foto-

grafien keine individuelle Prägung. Sie ist totes Brachland, das bis dato unbebaut ist,

später jedoch von den vorstädtischen Seriensiedlungen einverleibt wird. Hier finden

sich noch keine tableauhaften Inszenierungen, sondern Fotografien, welche als Re-

portage die Region dokumentieren. Walls „Landscape Manual“ zeigt den Status, den

Fotografie im künstlerischen Umfeld der 60er-Jahre hatte: Sie dient den Künstlern

als Dokument. Bis Anfang der 60er-Jahre gibt es nur eine Kunst mit Fotografie, eine

Kunst als Fotografie tritt erst zehn Jahre später auf den Plan. Fotografische Abzüge

sind als Dokumente eindeutig an einen Zeitpunkt und eine Örtlichkeit gebunden.

Auch wenn im „Landscape Manual“ unklar bleibt, auf welcher Straße sich der Foto-

graf befindet, ist gesichert, dass die Dokumentation zu einem Zeitpunkt erfolgt ist,

den auch wir, die Betrachter hätten erleben können. Im „Landscape Manual“ arbeitet

148 Smithson, Robert: Entropy and the Monument, in: Holt, Nancy: The Writings of Robert Smithson, New York 1977, S. 41-116.

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Wall nicht mit der fiktionalisierten Zeit eines Kunstwerks, sondern mit der eingefro-

renen Zeit der Wirklichkeit. Ähnlich dem Schnappschuss, den der Tourist während

einer Reise anfertigt, oder der Aufnahme eines Angestellten des Straßenvermes-

sungsamts, der die Befestigung der Teerschicht dokumentiert. Das ändert sich Ende

der 70er-Jahre. Jeff Wall und Cindy Sherman inszenieren ihre ersten Posen, wozu

Douglas Crimp schreibt:

„The psychological of this work is not that of subject matter of this picture, however, but of the way those pictures are presented, staged; that is, it is a function of their structure. (...) The temporal-ity of these pictures is not then a function of the nature of the me-dium as in itself temporal, but of the manner in which the picture is presented“149.

Durch die Inszenierung hat sich die gesamte Struktur der Fotografie verändert. Nicht

mehr die mediale Beschaffenheit diktiert nun die Wirkung der Fotografie, sondern

„the manner in which the picture is presented“. Ihre Zeitlichkeit ist nicht mehr die

eines Dokuments. Die Parameter, die das indexikalische Bild ausgezeichnet haben,

die Referenzen zur Wirklichkeit, treten nun in den Hintergrund. Das Aufzeichnen der

fotografischen Bilder, das immer in einem realzeitlichen Zusammenhang steht, wird

überschritten.

„We do not know what is happening in these pictures, but we know for sure, that

something is happening, and that something is a fictional narrative. We would never

take these photographs for being anything but staged“150, beschreibt Crimp die Kunst

der inszenierten Fotografie. Sie ist „fictional narrative“ – eine Kategorie, die im letz-

ten Kapitel dieser Arbeit bei der Ästhetik der Schilderung wieder aufgegriffen wird.

„Fictional narrative“ ist eine Fotografie, die mit dem Dokumentcharakter spielt. Sie

bildet ab und entzieht sich gleichzeitig den Konsequenzen, welche der Abbildcharak-

ter hervorruft. Vor allem der Dokumentcharakter, der die fotografische Abbildung

als Konsequenz eines Hier-und-Jetzt ausweist, wie es im Rekurs auf Talbot beschrei-

ben wurde, wird durch die Inszenierung überschritten.

The „photograph is generally through to announce itself as a di-rect transcription of the real precisely in its being a spatiotemporal fragment; or, on the contrary, it may attempt to transcend both

149 Crimp, Douglas: aaO., S. 178. 150 Crimp, Douglas: aaO., S. 179.

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C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN

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space and time by contravening that very fragmentary qual-ity.[151] Sherman’s photographs do neither of these. Like ordinary snap-shots they appear to be fragments; unlike those snapshots their fragmentation is not that of the natural continuum“152.

Durch den Begriff „fictional narrative“ gibt Douglas Crimp uns eine Kategorie an die

Hand, mit der Walls Kunst benannt werden kann. Der Begriff markiert den Punkt

einer Neudefinition der Fotografie, die Mitte der 70er-Jahre beginnt. Es sind Zeit und

Raum, die in veränderter Weise präsentiert werden. Die Organisation der vorliegen-

den Arbeit knüpft an diese Einteilung an. Handlung und Tiefe werden, stellvertretend

für Zeit und Raum, als Merkmale der Schilderung untersucht. Nachdem die Analo-

gien zwischen der Malerei holländischer Prägung und Walls Fotografien aufgezeigt

worden sind, werden die Zeitstruktur und räumliche Wirkung dargestellt. Nicht mehr

die Medialität der Fotografie ist dabei bestimmend, sondern ihr Bildcharakter. „Pic-

ture for Women“ zeigt, dass Indexikalität als ästhetische Kategorie, wie sie von Ro-

salind Krauss gefordert wird, durch die Praxis inszenierter Fotografie überboten

wird.

151 Im Originaltext setzt Crimp hier eine Fußnote, um auf Edward Weston zu verweisen. Seine Foto-grafie gilt ihm als Kunst, die den fragmentarischen Charakter überschreitet. Westons neusachliche Fotografien arbeiten mit Großaufnahmen von Früchten und Gegenständen. Sie sind nicht „fictional narrative“. 152 Crimp, Douglas: aaO., S. 179.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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D. Der ausgeschlossene Betrachter – Grundlagen einer optischen Kunst

Das vorige Kapitel hat gezeigt, dass Ende der 70er-Jahre neue Strategien entwickelt

wurden, um Fotografie als Kunstform ohne dokumentarischen Abbildcharakter zu

etablieren. Jeff Wall bezieht sich auf Mechanismen von Velázquez und Manet und

macht dem Betrachter deutlich, dass seine Fotografien eine neue Lesart verlangen.

Diese Neubestimmung zeigte sich als Überschreitung der etablierten fotografiege-

schichtlichen Denkfiguren, die sich seit 1839, besonders durch die Veröffentlichung

des „Pencil of Nature“ durch William Henry Fox Talbot, gebildet hatten.

Es wurde dargestellt, dass Wall seine Fotografien arrangiert und durch das Spiegel-

motiv den Betrachter ausschließt. Seine Fotografien können nicht als Blick durch ein

Fenster gewertet werden. Sie gehören nicht zu einem Bildtypus, der sich als Schnitt

durch die Sehpyramide versteht und die raumzeitliche Betrachtererfahrung weiter-

führt. Die Darstellung eines Gegenstands an einem spezifischen Ort zu einem spezi-

fischen Zeitpunkt, wie es das indexikalische Bild zwangsläufig vorführt, steht diesem

Ausschluss des Betrachters gegenüber. Als Technik ist die Fotografie eine Aufzeich-

nung des je Gewesenen, als Arrangement unter Ausschluss des Betrachters ein ei-

genständiger künstlerischer „Innenraum“.

Dieser Ausschluss des Betrachters wird nun im Folgenden für eine Genealogie im

Sinne einer Tradition des Bildermachens von Bedeutung sein.153 Es gilt nun zu klä-

ren, welche Art von Bild-Kunst ähnlichen Zielsetzungen und Determinanten wie die

Fotografie Jeff Walls unterliegt. Wie muss diese Kunst ausgestattet sein, und was

qualifiziert sie, um als Bezugspunkt zu fungieren?

Es wird sich zeigen, dass Wall in einer malerischen Tradition steht, die sich in drei

Punkten mit seiner Fotografie trifft.

1. In der optischen Genese. Diese spezifische Art der Malerei wird in Analogie zum

Mechanismus der Augenfunktion entwickelt. Sie ist eine Kunst, die auf den Grund-

lagen der Optik beruht.

2. Im Gegenmodell zum Fensterblick der italienischen Malereikonzeption durch Le-

on Battista Alberti. Die Bildinhalte sind nicht auf einen Betrachter ausgerichtet.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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3. In der spezifischen Definition von Raum und Zeit. Diese Malerei besitzt eine au-

gentäuschende Wirkung. Im ersten Moment erscheint sie den Betrachter zu integrie-

ren, doch sowohl der Bildraum, wie die Bildzeit – siehe dazu Kapitel E – machen

deutlich, dass die Figuren auf sich bezogen sind und nicht für den Betrachter zu agie-

ren scheinen. Die Erschließung der Bildhandlung erfolgt für den Betrachter in räum-

licher Hinsicht durch einen Guckkastenraum, in zeitlicher Hinsicht durch die Schil-

derung.

Malerei wird in dieser Bildgattung als visuelle Kunst verstanden, deren Aufgabe

darin besteht, den Betrachter als Beobachter in die Bildwelt einerseits einzubeziehen,

andererseits die Bildrhetorik nicht auf ihn hin zu kalkulieren und ihn vielmehr auf

seine Rolle aus außenstehenden Beobachter zu beschränken. Dabei liegt beiden, so-

wohl der Malerei wie der Fotografie, eine Analogie im Bezug auf die Aufzeich-

nungsapparaturen zugrunde. Während der Fotograf mit einer optischen Linse seine

Inszenierung einfängt, folgt der Maler dem Vorbild des Auges als Sehinstrument.

Der Künstler stellt das Gemälde nicht als Reflex einer subjektiven Wahrnehmung

dar, sondern versucht die Konditionen eines anonymen Aufzeichnungsapparates zu

erforschen. Anschauliche Beispiele für diese Gattung der visuellen Kunst finden sich

in den Gemälden, die in Holland während des 17. Jahrhunderts entstehen. Sie bezeu-

gen das Bestreben der Künstler, analog dem Auge die Wirklichkeit auf die Bildtafel

zu bannen. Die holländischen Gemälde besitzen dabei ein Höchstmaß an Wirklich-

keitsbezug, ohne den Status des Kunstwerks zu verlieren. Hier etabliert sich eine

Kunstform, die ebenso wie Walls Fotografie „fiktional narrativ“ ist. Die Figuren

scheinen in diesen Bildräumen wie in Guckkästen ohne Bezug auf einen Beobachter

zu handeln; ihre Tätigkeiten sind nicht auf den Betrachter hin kalkuliert. Raum und

Bildzeitlichkeit dieser optischen Kunst unterliegen nicht den Gesetzen der Betrach-

terwelt.

153 Der Begriff des Bildermachens entstammt Walls eigener Diktion. In einem Interview mit Rolf Lauter, das er 2001 führte, benutzte Wall diesen Begriff, um seine Nähe zur holländischen Malerei zu verdeutlichen. Siehe dazu Seite 76 dieser Arbeit.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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D. I. Jeff Wall – Maler des modernen Lebens?

Hartnäckig hält sich in der Forschung zu Walls Fotografien die Aussage, seine Ar-

beiten seinen eine Weiterführung eines Bildtypus’, der sich in der Malerei des 19.

Jahrhunderts herausgebildet habe: „Die Verbindlichkeit, die Wall in der Geschichte

sucht, findet er in dem Baudelaireschen Programm der ,peinture de la vie moderne’

(...) nur so wird verständlich, daß Wall seine Kunst gleichzeitig als Erneuerung des

Konzepts der ,peinture de la vie moderne’ und als historische Konsequenz der Ent-

wicklung der Avantgarde begreift“154; „Jeff Wall ist ein Maler des modernen Le-

bens“155, Vertreter einer bourgeoisen Tradition der Kunst.156

Charles Baudelaires Text „Le Peintre de la vie moderne“ von 1865 beschreibt den

Schaffensprozess des Malers Constantin Guys. Baudelaire geht von einer besonderen

Neugierde des Malers gegenüber allen Erscheinungen der Wirklichkeit aus.157 „Man

denke sich einen Künstler, der sich geistig beständig im Zusand des Genesenden

befände, und man wird den Schlüssel zu Guys’ Charakter haben“158. Zudem zeichnet

sich der moderne Maler für Baudelaire durch die Leistung seiner Vorstellungskraft

aus. Guys „zeichnet aus dem Kopfe und nicht nach dem Modell (...). In der Tat

zeichnen alle guten, wahren Zeichner nach dem Bilder, das in ihrem Gehirn ge-

schrieben steht, und nicht nach der Natur“159. Es ist das sehnlichste Verlangen der

modernen Maler, „alle Mittel des Ausdrucks sich zu eigen zu machen, damit niemals

die Befehle des Geistes durch Verzögerung der Hand Störung und dann Veränderung

erfahren“160. Die Malerei des modernen Lebens ist also an die Schöpfungen der

künstlerischen Vorstellung und an die Ausführung dieser Vorstellung durch die

154 Stemmrich, Gregor: Vorwort, in: ders.: aaO., S. 7-31, S. 8. 155 Chevrier, Jean-Francois: Ein Maler des modernen Lebens, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S. 168-185. 156 Bonnet, Anne-Marie / Metzger, Rainer: Eine demokratische, eine bourgeoise Tradition der Kunst – ein Gespräch mit Jeff Wall, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 33-45. Dieser These folgt ebenso Kerry Brogher mit seinem Aufsatz „The Photographer of Modern Life“, in: ders.: (Hrsg.): Jeff Wall, Los Angeles 1997, S. 13-21. Auch in der jüngsten Publikation zu Walls Werk vertritt Peter Bürger die These, Wall rehabilitiere eine avantgardistische Praxis. Museum Moderner Kunst Wien (Hrsg.): Jeff Wall – Photographs, Wien 2003. 157 „Um also zu einer Würdigung Guys’ überzugehen, so merke man sich zunächst, daß als Aus-gangspunkt seines Genies die Curiositas betrachtet werden kann“. Baudelaire, Charles: Der Maler des modernen Lebens, in: Schumann, Henry (Hrsg.): Charles Baudelaire – der Künstler des modernen Lebens – Essays, „Salons“, intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 290-320, S. 295. 158 Baudelaire, Charles: aaO., S. 295. 159 Baudelaire, Charles: aaO., S. 304. 160 Baudelaire, Charles: aaO., S. 305.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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Hand des Künstlers gebunden. Beim Schaffensakt ist der Bezug zu der wahrgenom-

menen Wirklichkeit ein Erinnerungsprozess. Die Eindrücke, die im ästhetischen

Moment der unbefangenen Wahrnehmung gewonnen wurden, werden im künstleri-

schen Akt neu geordnet. In der Salonkritik von 1859, die der „schöpferischen Imagi-

nation“ gewidmet ist, beschreibt Baudelaire das Verhältnis von künstlerischer Vor-

stellung und Naturaneignung anschaulich als Verwendung eines Wörterbuchs.

„“Die Natur ist bloß ein Wörterbuch“ (...) Um recht zu begreifen, welcher ausgedehnte Sinn in dieser Wendung sich birgt, muß man sich vergegenwärtigen, welchen mannigfaltigen Gebrauch man gemeinhin vom Wörterbuche macht. Man sucht dort den Sinn der Wörter, ihr Werden und Entstehen (...) Doch nie hat jemand das Wörterbuch als eine Komposition im dichterischen Sinne des Wortes angesehen. Die Maler, die der Imagination folgen, suchen in ihrem Wörterbuche die Elemente, die ihrer Konzeption ent-sprechen; und indes sie diese mit einer gewissen Kunst ihren Zwecken anpassen, geben sie ihnen obendrein eine völlig neue Physiognomie. Die aber keine Imagination besitzen, schreiben aus dem Wörterbuch ab.“161

Für Baudelaire ist die Wirklichkeitsabbildung an das Eingreifen des künstlerischen

Bewusstseins gebunden.162 Die subjektive Deutung der Natur macht aus der Wahr-

nehmung erst das Kunstwerk – und gerade hier liegt eine Unvereinbarkeit mit der

Fotografie, wie sie Jeff Wall verwendet. Die Fotografie steht dieser Art der künstleri-

schen Imagination gegenüber. Erstens ist die Technik der Bildherstellung immer

vom Künstler getrennt, Geist und Hand treten auseinander, und zweitens ist die Fo-

tografie gerade an die Darstellung des Sichtbaren gebunden. Die „inneren Bilder“,

die nur der Vorstellungskraft entstammen – wie sie Baudelaire fordert – kann die

Fotografie nicht liefern. Dieses Unvermögen, künstlerische Imagination auszudrü-

cken, begründet Baudelaires Ablehnung der Fotografie:

„In diesen kläglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetre-ten, die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem Glauben zu bestärken und was etwa noch Göttliches im französi-schen Geiste zurückgeblieben sein mochte zugrunde zu richten

161 Baudelaire, Charles: aaO., S. 212f. 162 In seiner Kritik der Pariser Salon-Ausstellung von 1859 nimmt Baudelaire die Unterteilung der Maler in „réaliste“ und „imaginatifs“ vor. Der ersten Gruppe stellt die Wirklichkeit ohne den denken-den und fühlenden Menschen objektiv und unmittelbar dar, die Gruppe der „imaginatifs“ dagegen bildet die subjektiv durch das menschliche Bewusstsein wahrgenommene Wirklichkeit ab. Dazu: Schulze Stefan: Die Selbstreflektion der Kunst bei Baudelaire, Heidelberg 1999. Besonders das Kapi-tel: Baudelaires Betonung der Imagination in den Schriften zur Malerei, S. 245-259.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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(...) Auf dem Gebiet der Malerei und der Skulptur, vor allem im Frankreich (...) lautet heute das Credo der Leute von Welt: ,Ich glaube an die Natur und glaube einzig an die Natur’ (...) und so wäre denn die Industrie, die ein mit der Natur identisches Resultat uns geben würde, die absolute Kunst. Ein rächerischer Gott hat die Stimme dieser Menge gehört. Daguerre ward sein Messi-as“163.

D. II. Jeff Wall – Fotografie als Fensterblick?

Erst in der jüngeren Forschung wurden Zusammenhänge von Walls Fotografien mit

einer anderen Gattung von Malerei dargestellt. Im Jahr 2001 organisierte der Kurator

León Krempel eine Konfrontation von Walls Fotografien mit der Malerei des hollän-

dischen Barockkünstlers Pieter Janssens, um bisher unbeachtete malerische Bezüge

im Werk des Kanadiers offenzulegen. Er zeigte anlässlich der Kabinettausstellung

„Camera elinga – Pieter Janssens begegnet Jeff Wall“ im Frankfurter Städelmuseum

Janssens’ Werke „Interieur ohne Figuren“ und „Tischstilleben mit Glas, chinesischer

Schale und Früchten“ und stellte sie Walls Fotografien „Morning Cleaning“ und

„Swept“ gegenüber. „Der Reiz der Begegnung mit Jeff Wall liegt darin, daß dieser

eine Affinität zu der Alten Kunst bezeugt, die über das übliche Maß hinaus geht (...)

Während Janssens als ein ,wahrer Fotograf’ optische Phänomene studiert und dar-

über hinaus noch ein für seine Zeit verblüffendes Gespür für abstrakte Formen

hat“164, greift Wall die im 20. Jahrhundert unterbrochene Tradition der gegenständli-

chen Malerei wieder auf. „Die in der Ausstellung herausgestellten Ähnlichkeiten

zwischen Janssens und Wall verweisen auf Kontinuitäten in der Kunstgeschichte der

Neuzeit und Moderne, die oft übersehen werden“165. Obwohl Krempel die Darstel-

lung der Gemeinsamkeiten schuldig blieb, hatte er mit diesem zulässigen Vergleich

eine Verbindung hergestellt, die von Jeff Wall in einem Interview 2001 bestätigt

wurde. Auf die Frage des Kunstkritikers Rolf Lauter, was für ihn in Bezug auf die

holländische Malerei des 17. Jahrhunderts von Bedeutung sei, antwortete Jeff Wall:

163 Baudelaire, Charles: aaO., S. 205f. Zur Rezeption der Fotografie im 19. Jahrhundert auch: Schö-ning, Udo: Photographie und Literatur – diskursanalytische Bemerkungen zu einem Zusammenhang von Technik und Kunst in Frankreich um 1850, in: Briesemeister, Dietrich / Schönberger, Axel (Hrsg.): Ex nobile philologorum officio – Festschrift für Heinrich Bihler zu seinem 80. Geburtstag, Berlin 1998, S. 57-83. 164 Krempel, León: Einführung, in: ders. (Hrsg.): Camera elinga – Pieter Janssens begegnet Jeff Wall, Frankfurt/Main 2001, S. 7-22., S. 22. 165 Krempel, León: Einführung, in: aaO., S. 20.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

76

„Die besten dieser Gemälde sind Teil einer Tradition des Abbildens, des Bilderma-

chens, die ich als grundlegend für unseren Begriff von Kunst und künstlerischer

Qualität empfinde (...) Ich interessiere mich für die Wege, auf denen sie sich Fragen

des Abbildens nähern“166. Sein Interesse an holländischer Kunst verdeutlichte er

zudem im Winter 2002/2003 durch die Kuratierung einer Ausstellung, die in der

Manchester Art Gallery zu sehen war.167 Wall zeigte eine Auswahl seiner Land-

schaftsfotografien, denen er Gemälde der ständigen Sammlung der Galerie gegen-

überstellte. Er wählte die holländischen Landschaften des 17. Jahrhunderts und

knüpfte damit eine Verbindung, die bereits der US-Amerikanerin Charissa Terranova

in ihrer Rezension von Walls Ausstellung in der Marian Goodman Gallery in Paris

aufgefallen war: „And, the amazingly daunting pall of heavy blue that covers the sky

above brings to mind those skies so particular to the Dutch landscape, with its wet

geography and mercurial weather, and its tradition of landscape painting of the sev-

enteenth century“168.

Was sind nun die Eigenschaften,

die Walls Fotografien ausma-

chen und sie in die Nähe einer

spezifischen Gattung von Male-

rei stellen lassen? Betrachten

wir zunächst noch einmal Walls

Fotografie „Picture for Wo-

men“, um die entscheidenden

Hinweise für die Analyse zu

erhalten. Die Fotografie zeigt

eine Szene im Studio des Fotografen. Deutlich fallen die Protagonisten der Darstel-

lung ins Auge: Es sind Wall, sein Modell und die Kamera. Alle drei befinden sich im

Vordergrund und haben nahezu die gleiche Größe. Die Köpfe der Protagonisten so-

Abbildung 13: Jeff Wall: Picture for Women, 1979, Großdia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm

166 Jeff Wall im Interview mit Rolf Lauter, in: Krempel, León (Hrsg.): aaO., S. 28-29, S. 28. 167 Die Ausstellung wurde vom 6. Dezember 2002 bis zum 2. Februar 2003 in der Manchester Art Gallery gezeigt. 168 Terranova, Charissa N.: On the Hairy Idea of Beauty – Seven Works by Jeff Wall. Die Rezension erschien anlässlich Jeff Walls Ausstellung in der Marian Goodman Gallery in Paris, die vom 16. No-vember 2002 bis zum 4. Januar 2003 gezeigt wurde. Veröffentlicht wurde die Rezension unter: www.stretcher.org.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

77

wie das Gehäuse der Kamera befinden sich auf einer Höhe. Als Reihung sind sie im

Raum angeordnet. Das Tisch-Stillleben im Hintergrund kann zwar noch erahnt wer-

den, der Fokus ist jedoch auf den Vordergrund gerichtet und hebt diese Zone mit

besonderer Deutlichkeit hervor. Der Tiefenschärfebereich markiert den Standpunkt

der Figuren und definiert ihre Position. Weder agieren die Figuren, noch nutzen sie

die Dreidimensionalität der Bildtiefe. Sie erscheinen flach in den Raum gestellt und

erinnern eher an eindimensionale Schablonenfiguren aus Pappe oder Holz denn an

lebende Akteure. Ihre Gesichter zeigen keine expressive Mimik, die Körper sind in

sich geschlossen. Der Verzicht auf raumgreifende Gesten zeigt sich bei Wall, dessen

rechter Arm nicht in Erscheinung tritt. Lediglich seine linker Arm und die Hand, in

der er den Fernauslöser hält, werden gezeigt. Wall verzichtet darauf, durch Über-

schneidung der Figuren räumliche Tiefe und eine körperliche Interaktion des Bild-

personals darzustellen.

Die Figuren sind in ein Kompositionsgefüge aus Horizontalen und Vertikalen einge-

passt. Das Holzgesims, auf dem die Hände der Frau ruhen, bildet einen horizontalen

Streifen, der rechts und links über die Fotografie hinauszuführen scheint. Das Bild-

personal bildet senkrechte Kompositionslinien, die durch das Gestänge der Studio-

leuchten und durch die Verstrebungen der Fenster aufgenommen werden. Der Blick

des Betrachters wird blockiert und stattdessen die Geschlossenheit des Raumes dar-

gestellt. Die Fenster dienen nicht dazu, eine Tiefe vorzuführen; sie liefern keinen

Ausblick auf landschaftliche Weite. Im Gegenteil: Die Augen des Betrachters wer-

den von der Handlung, die sich in einer Art Guckkasten abspielt, auf den Vorder-

grund gelenkt.

Das Kompositionsgefüge zeigt jedoch noch weitere Merkmale: Die sich verkürzen-

den Linien, die von den weißen Wände ausgehen, welche die Figuren rechts und

links flankieren, treffen sich in der mittig in das Bild gesetzten Kamera. Dadurch

erzeugt Wall eine Irritation, die das Verständnis der Fotografie als Blick durch ein

Fenster konterkariert: Der Fluchtpunkt, auf den die räumlichen Verkürzungen zulau-

fen, wird durch die Kamera im Vordergrund verdeckt. An die Stelle, die als Flucht-

punkt im Hintergrund liegt, tritt das kompositorische Zentrum im Vordergrund. Der

optischen Gesetzmäßigkeit der Fotografie, die jedes Bild einer perspektivischen

Verkürzung unterwirft, stellt Jeff Wall die Position des Fotoapparates entgegen.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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Zudem arbeitet Wall der räumlichen Tiefe durch eine technische Gegebenheit der

Diafilmentwicklung entgegen. Da die Folien nur in einer handelsüblichen Größe zu

erhalten sind, muss er seine Dias aus zwei Teilen montieren. Alle großformatigen

Fotografien sind an einer Stelle zusammengesetzt. Dieser „Saum“ zeigt sich immer

als schwarze Linie, die von Wall an einer kompositorisch wichtigen Stelle in das

Bildgefüge gesetzt wird:

„ ,Picture for women’, on the other hand, was based theoretically on the seam, passing through the reflecting lens of the camera. In the system of representation exemplified by classical perspective, the vanishing point signifies both an irrationality (indivisibility) and an ideal of integration, wholeness and unification. The cam-era lens have often been identified with this signification through the structure of productive structural comparability of optical and geometrical perspective. The lens was meant to signify the ideally unified focal point of the structure of productive and erotic rela-tionship organized across the surface of yet another optical mechanism (...) the seam, or sature, or split to which the lens is subjected therefor functions not only as a structural factor but as a metaphoric key to the subject as a whole. I wanted to create struc-ture based simultaneously on unification and division across the web of signification established by the mechanisms used to make a picture“169

Der Saum ist in der Fotografie „Picture for Women“ ein „metaphoric key“. Er steht

der Ganzheit und der Betrachterintegration („wholeness and unification“), die durch

den zentralperspektivischen Raum entsteht, entgegen. Wall setzt der Einheit („unifi-

cation“) des Bildes die Teilung („division“) gegenüber. Er konterkariert die betrach-

terorientierte fotografische Darstellung sowohl durch den mittigen Schnitt, die deut-

liche Sichtbarmachung der materiellen Entstehung sowie durch das kompositorische

Arrangement. Der notwendigen optischen Verräumlichung der Fotografie stellt er die

Inszenierung der Bildszene an der Oberfläche des Bildraums gegenüber.

Das Gemälde „Kessel putzende Magd“ des Malers Gerard Dou von 1642 zeigt ein

ähnliches Verständnis des Bildraums. Wie in Walls Fotografie ist die Darstellung auf

wenig figürliches Personal beschränkt. Der Handlungsraum der Figur nimmt nur

wenige Zentimeter der Bildtiefe in Anspruch; raumgreifende Gebärden sind in die-

sem Bildraum nicht möglich. Die Erscheinungsrealität ist die einer seichten Nische.

Der Bildraum wird durch eine Brüstung – ähnlich der Holzplatte bei Wall – markiert.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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Wie bei „Picture for Women“ ist die Protagonistin deutlich im Vordergrund angesie-

delt; ein Fenster-Ausblick, der die umgebende Landschaft miteinbezieht und so den

Bildraum erweitern würde, findet sich nicht.

Walls Nähe zu einer malerischen Bildkultur

holländischer Prägung zeigt sich besonders

in seinen panoramatischen Landschaften. Die

Ausschnitthaftigkeit und Unabgeschlossen-

heit des Bildraums sind dabei ebenso kenn-

zeichnend wie die Weitläufigkeit der Bildan-

lage. Sie ermöglicht es, den Blick schweifen

zu lassen und stellt keine abgeschlossene

Bild-Totalität dar. In den Landschaftsdarstel-

lungen werden keine kompositorischen

Hilfsmittel zur Bilderschließung gegeben;

eine Hierarchie der einzelnen Bildgegenstän-

de, die auf eine betrachterorientierte Aneig-

nung des Bildinhalts verweisen würde, ist nicht zu finden. Die weitläufigen Ansich-

ten erscheinen nicht als kalkulierter Bühnenraum, sondern räumlich versetzbar, wie

das Segment einer Ansicht. Walls Fotografie „The Old Prison“ von 1987 zeigt das

Panorama einer flachen Landschaft. Sie ist als breites Querformat angelegt. Der Ho-

rizont ist tief eingezogen und bestimmt die Hälfte des Bildraums. Der breite, leicht

bewölkte Himmel nimmt das ausgeprägte Rechteck des Bildformats auf. Der Vor-

dergrund ist scharf gestellt, während der Hintergrund sich als streifenförmige Anlage

entwickelt. Eine winzige, vereinzelte Figur, die kaum in der Fülle der Bilddetails in

Erscheinung tritt, befindet sich auf dem Grünstreifen, links neben einer Häuserzeile.

Sie erlaubt es jedoch nicht, einen Maßstab für eine Zuordnung der Bildgegenstände

zu liefern. Eine Größenverhältnismäßigkeit, durch die der Betrachter sich in eine

Relation zur Bildhandlung stellen könnte, wird dadurch nicht vorgegeben. Die Figur

kann nicht als Identifikationsfigur für den Betrachter dienen. Kein Gegenstand stellt

sich in die Blickachse. Es gibt keine Elemente der Bildregie, die einen Gegenstand

mit besonderer Zeigefunktion hervorheben. Nichts gibt dem Blick des Betrachters

Abbildung 14: Gerard Dou: Kessel putzende Magd, 1642

169 Jeff Wall, in: McClintic, Miranda (Hrsg.): Directions 1981, Washington D.C. 1981, S. 30.

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Halt; kein Objekt beansprucht eine forcierte Aufmerksamkeit. Die Fotografie wird

vielmehr durch die Weite des Horizonts bestimmt.

Abbildung 17: Jeff Wall: The Old Prison, 1987, Großbilddia in Leuchtkasten, 70 x 229 cm

Hier zeigt sich Walls ausgeprägter Sinn dafür, dass das Bild eine Fläche ist – ähnlich

einer topographischen Geländeansicht, aber nicht wie ein Fenster. Vergleicht man

das Foto mit einer Zeichnung von Philips Koninck aus dem Jahr 1647, fallen weitere

Gemeinsamkeiten auf: Konincks „Flusslandschaft“ zeigt ebenso wie Walls Fotogra-

fie ein Panorama mit ein leerem „Vordergrundplateau“170. Der bewölkte Himmel ist

tief

im Gemälde angelegt,

das Bild ist zur rech-

ten und linken Seite

geöffnet. Der Bild-

raum wird wie in

Walls „The Old Pri-

son“ von einem strei-

fenförmigen flachen

Hintergrund abge-

schlossen. Durch die

Flächigkeit der Anlage und den gestreckten Verlauf der Landschaft kann die Frage,

wo der Betrachter angesiedelt ist, nicht beantwortet werden. Es gibt keine Sehens-

würdigkeit, auf die der Künstler mit Nachdruck hinweist. Stattdessen bestimmt die

Darstellung der Topographie, der weiten Ebene, das Bild. Ein Betrachterstandpunkt

Abbildung 18: Philips Koninck: Flusslandschaft mit hohem Ufer, lavierte Federzeichnung, 1647

170 Gerson, Horst: Philips Koninck – ein Beitrag zu Erforschung der holländischen Malerei des XVII. Jahrhunderts, Berlin 1980, S. 59.

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ist angesichts Walls panoramatischer Landschaft ebensowenig wie bei Koninck zu

definieren. Beide verzichten darauf, einen deutlichen Fluchtpunkt für die Orientie-

rung im Bild anzulegen. Ein kompositorischer Zusammenhalt, wie man ihn aus der

Malerei Italiens kennt, fehlt der Zeichnung wie der Fotografie. Der Betrachter wird

nicht mittels der Perspektive durch die Darstellung geführt. Beide Künstler verzich-

ten darauf, gestalterische Orientierungspunkte für einen schrittweisen Nachvollzug

des Raumes zu liefern und betonen die Flächigkeit des Bildträgers.

Diesen Aus-

schluss des Bet-

rachters führt

Wall in der Foto-

grafie „The Je-

wish Cemetery“

von 1987 weiter.

Die streifenför-

mige Anlage

wird hier beson-

ders durch die Bildelemente Horizont, Baumzone und Grünfläche hervorgehoben.

Die Fotografie besteht aus drei Bildhorizontalen, welche das Großbilddia in Flächen

unterteilen. Der räumliche Zug in das Bildinnere wird durch diese bildparallel ange-

ordneten Streifen unterlaufen. Die Baumreihe, welche den Mittelgrund markiert,

erscheint als Profil der Landschaft, als Silhouette, die das Bild unterteilt. Eine in die

Fläche gebreitete Landschaft wird dargestellt, für deren visuelle Aneignung kein

spezifischer Blickwinkel oder Abstand vorgesehen ist. Während der Himmel in „The

Old Prison“ die Hälfte des Bildraums eingenommen hat, bedeckt er hier zwei Drittel

der Fotografie.

Abbildung 19: Jeff Wall: Jewish Cemetery, Großbilddia in Leucht-kasten, 119 x 216 cm

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Wie in Jacob van Ruisdaels Gemälde „Ansicht von Naarden“ von 1647 wird die

Komposition durch Bildstreifen geprägt, die über die Grenzen der Leinwand hinaus-

zuführen scheinen. Ruisdael präsentiert seine Landschaft als ungerahmte Ansicht,

welche die Topographie der Stadt Naarden deutlich spüren lässt. Eine abgeschlosse-

ne Bildeinheit, die sich auf ein kompositorisches Zentrum ausrichtet, das sich deut-

lich von den anderen Bildgegenständen absetzt, sowie eine stufenweise Erschließung

des Geländes wird nicht ermöglicht.

Das heißt nicht,

dass Räum-

lichkeit aus den

Gemälden

zwangsläufig

ausgeschlossen

wird. Seit Pati-

nirs Einführung

des dreigrundi-

gen Bildsche-

mas besteht

auch für die holländischen Maler die Herausforderung darin, eine Naturansicht zu

präsentieren, in der zwischen Nähe und Ferne vermittelt wird.171 Diese Räumlichkeit

steht jedoch nicht im Dienst einer Landschaftsmalerei, die auf einen externen Bet-

rachter hin „berechnet“ ist, sondern bezieht sich auf eine Bildorganisation, die sich

aus zwei anderen Quellen speist: zum einen aus der topographischen Landvermes-

sung und Kartographie, zum anderen aus den Gesetzen einer spezifischen Optik, die

rahmenlose Ansichten liefert und das Bild mit den Abbildungen des monokularen

Sehens zusammenspannt, wie es in Kapitel DIV. dargestellt wird.172 Luft- oder

Farbperspektive, das Abnehmen des Deutlichkeitsgrads und das Verblauen der Farbe

Abbildung 20: Jacob van Ruisdael: Ansicht von Naarden, 1647, Öl auf Holz, 34,7 x 66,5 cm

171 Wyss, Beat: Peter Bruegels Landschaft mit Ikarussturz – ein Vexierbild des humanistischen Pes-simismus, Frankfurt/Main 1990. 172 Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung – holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, besonders das Kapitel: Kartographie und Malerei in Holland, S. 213-285.

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in der Ferne, liefern dabei zwar ein „Davor“ und „Dahinter“, richten diese Räum-

lichkeit jedoch nicht nach der Fenstermetapher Albertis aus.173

Als letztes Beispiel soll der Bezug zu holländischer Malerei durch das Genre deut-

lich gemacht werden. Abbildung 21 zeigt Walls Fotografie „An Octopus“, die 1990

entstanden ist. Der Verweis auf die holländische Stilllebenmalerei ist hier offensicht-

lich.174 Wall präsentiert das Arrangement eines Tintenfisches auf einem Tisch, der

vor eine Wand gestellt

wurde. Der Hintergrund

wird durch eine Mauer

gebildet, die den Blick

blockiert und ihn auf den

schmalen Handlungsstrei-

fen im Vordergrund zu-

rückweist. Der Bildraum

wird durch die Wand klar

definiert und führt jenen schmalen Streifen vor, jene oberflächliche Ereigniszone, die

bei „Picture for Women“ bereits vorgestellt wurde.

Abbildung 21: Jeff Wall: An Octopus, 1990, Großbilddia in Leuchtkasten, 182 x 229 cm

Fassen wir die Darstellungsanalogien noch einmal zusammen und schließen damit

die Beweisaufnahme ab: Auffällig ist die Betonung der Textur der Gegenstände, die

von Licht und Schatten modelliert werden. Die Protagonisten befinden sich im Vor-

dergrund der Bildräume und sind nicht auf einen eindeutigen Betrachterstandpunkt

ausgerichtet. Die Interieurs sind in geschlossenen Räumen organisiert, die an die

Struktur eines Guckkastens erinnern. Die Fotografien wecken die Schaulust des Be-

trachters, das visuelle Erkunden der Darstellung. Eine weitere Analogie zeigt sich in

der materiellen Gestaltung der Tableaus. Leinwand wie Großdia besitzen in diesem

Fall einen glatten Bildgrund, bei dem die Eigenschaften der Werkstoffe unterdrückt

werden. Keine stilistische Signatur, die sich in der Bearbeitung der Farbmaterie aus-

173 Martina Sitt hat darauf hingewiesen, dass der Fenster-Topos Albertis erst 1707 in den kunsttheore-tischen Schriften von Gerard de Lairesse relevant wird und demnach für Ruisdaels Landschaftsauffas-sung nicht von Bedeutung ist. Sitt, Martina: Die Wandlung in der theoretischen Auffassung des Land-schaftsraums, in: Dies. / Biesboer, Pieter (Hrsg.): Jacob van Ruisdael – die Revolution der Land-schaft, Zwolle 2002, S. 46-48. 174 Auch andere Arbeiten werden durch diesen stilllebenhaften Charakter ausgezeichnet. Dazu gehö-ren die Fotografien „Peas and Sauce“ von 1999, „Diagonal Composition“ von 1993 und „Diagonal Composition 2“ von 1998.

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drückt, lenkt von der Bildhandlung ab. Die Gegenstände werden in der Gegenstands-

farbigkeit in einem gedämpften Streulicht dargestellt. Kein Filter verändert bei Walls

Fotografien die Lokalfarbigkeit des Inventars, keine farbigen Schatten oder Erschei-

nungsfarben verfremden die Landschaften von Koninck oder Ruisdael. Rusidael trägt

die Farbe lasierend auf und benutzt keine pastose Farbspur und gestische Pinselfüh-

rung. Ebenso verzichtet Wall darauf, die Entwicklerflüssigkeit oder Beschichtung

des Trägerpapiers in Erscheinung treten zu lassen. Die Körnigkeit des Films wird

vollständig eliminiert, so dass sich der belichtete Film der Darstellung unterordnet.

Im Gegensatz zur Malerei Manets thematisiert Wall weder die Farbmaterie noch die

Gemachtheit des Werks, sondern stellt die Stofflichkeit der fotografischen Technik

in den Dienst einer fiktionalen Wirklichkeit, die sich zwar als augentäuschend realis-

tisch darstellt, gleichzeitig aber dem Anspruch auf Dokumenthaftigkeit verweigert.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Verwendung des Farbfilms.175 Während

die Schwarz-Weiß-Fotografie die abstrakten Strukturen der Objekte betont, ermög-

licht die Farbfotografie eine quasi realistische Wirkung, deren Effekt oben als „fikti-

onal narrativ“ kategorisiert wurde. Der Farbfilm gewährleistet dabei eine zweifache

Abgrenzung. Zum einen von einer Fotografie, die abstrakte Strukturen untersucht,

zum anderen von einer fotografischen Kunst, welche die Techniken des indexikali-

schen Abdrucks dezidiert zur Schau stellt. Nichts erinnert mehr an die neusachliche

Fotografie von Albert Renger-Patzsch, Karl Blossfeld oder der Bauhaus-Meister

Walter Peterhans und Laszlo Moholy-Nagy. Es findet sich kein Verweis auf den

Schwarz-Weiß-Druck der Tageszeitung, der noch die Bilder von Heiner Blum oder

Hans-Peter Feldmann bestimmte.176 Seine Fotografien zeigen nicht die Welt, die

eine anonyme Spur hinterlässt, sondern den Eindruck, den das Auge der Kamera

empfängt – und dieser zeigt sich nicht in Graustufen, sondern in mannigfachen Va-

leurs.

175 Bereits seine frühen inszenierten Fotografien sind mit Farbfilmen hergestellt worden. Das erste Großdia „Destroyed Room“ von 1978 zeigt einen verwüsteten Raum, in dem vielfarbige Stofffetzen verteilt sind.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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D. III. Exkurs: Leon Battista Albertis Konzeption der Malerei

Die aufgezählten Merkmale zeigen, dass ein außenstehender Betrachter sich nicht in

den Fotografien und Gemälden verorten kann. Die Fotografien liefern keinen Blick

durch ein Fenster, wie er seit der Renaissance für eine bestimmte Art der Malerei

südlich der Alpen gefordert wird. Leon Battista Albertis kunsttheoretischer Ver-

gleich von Malerei und Fensterblick, den er 1435 in seiner Schrift „Della Pittura“

eingeführt hat, lässt sich auf diese Kunst nicht anwenden.

Ein kurzer Exkurs soll nun Albertis Gemälde-Definition näher bestimmen, um vor

dieser Folie die Spezifik von Walls Fotografie deutlicher hervortreten zu lassen. Al-

betis Äußerungen zum Fenstertopos, zur Sehpyramide und die Darstellung der be-

trachterkalkulierten Malerei stehen dabei im Zentrum. Sie bilden den Referenzrah-

men für eine Kunst, die sich zwar ebenso wie die Malerei nördlich der Alpen auf

optische und geometrische Gesetze bezieht, diese jedoch mit einer anderen Zielset-

zung in ein kunsttheoretisches Modell einpasst.

Albertis „Erfindung des Gemäldes“ definiert das künstlerische Bild als eine Mo-

mentaufnahme der Welt.177 Diese Erfindung ist zwar eine konstruierte, illusionisti-

sche Projektion von Dreidimensionalität auf eine zweidimensionale Fläche, präsen-

tiert jedoch einen Ausblick, der auf einen Betrachter zugeschnitten ist und dessen

raumzeitliche Erfahrung weiterführt. „Prospectiva“, Perspektive im Sinne der Re-

naissance meint die Ermöglichung eines Durchblicks durch Beherrschung der Ver-

zerrungsregeln. Sie setzt ein Trapezoid, wenn der Betrachter ein Quadrat sehen soll,

ein Ovaloid, wenn ein Kreis oder Zylinder gemeint ist.178 Da das Gemälde durch die

Regeln der Perspektive illusionistisch wirken soll, kann es nur eine einzige und ge-

schlossene Ansicht darstellen, da ein Mensch in einem Augenblick nur ein Bild der

Welt sehen kann. Das Gemälde ist auf einen zentralen Punkt fokussiert und einheit-

lich nach einem Modulus, der den Maßen des betrachtenden Menschen proportional

176 Heiner Blum und Hans-Peter Feldmann verwenden für ihre Foto-Installationen vorgefundenes Bildmaterial, das aus Zeitschriften oder Zeitungen stammt. Dazu: Städtische Galerie Esslingen / Wie-hager, Renate (Hrsg.): 3. Internationale Foto-Triennale – Dicht am Leben, Ostfildern 1995. 177 Hubert Locher bezeichnet Albertis Malereitheorie als „Erfindung des Gemäldes“. Locher, Hubert: Leon Battista Albertis Erfindung des „Gemäldes“ aus dem Geist der Antike – der Traktat De Pictura, in: Forster, Kurt W. / Locher, Hubert (Hrsg.): Theorie der Praxis – Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1999, S. 75-107. 178 Boehm, Gottfried: Die Bilderfrage, in: ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 325-343, S. 337.

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entspricht, komponiert. Der Betrachter soll sich der gefühlserregenden Wirkung des

Bildes beziehungsweise des darstellenden Sujets hingeben, und zwar nicht nur als ob

das Gemälde eine Wirklichkeit wäre – vielmehr wird das Bild „im Akt der Betrach-

tung wirksame Realität“179.

Alberti, der sich in „Della Pittura“ als Maler ausgibt, beschreibt im ersten Buch sei-

ner Abhandlung den Entstehungsprozess eines Gemäldes:

„Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein recht-winkliges Viereck von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fenster, durch das ich betrachte, was gemalt werden soll; und darauf lege ich nach Belieben fest, von welcher Größe ich die Menschen in meinem Gemälde haben möchte.“180

Der Fensterblick basiert also auf der Vortäuschung einer wirklichen Welt. Er ist,

gemäß den optischen Erkenntnissen, die Alberti anführt, ein Schnitt durch die Sehpy-

ramide:

„Da wir nun sehen, dass es nur eine einzige Fläche ist, sei es eine Wand oder Tafel, auf der ein Maler sich um die Darstellung meh-rerer Flächen bemüht, die in der Pyramide enthalten sind, wird es ihm nützlich sein, diese Pyramide irgendwo zu durchschneiden, damit er durch seine Linie ähnliche Säume und Farben im Malen zum Ausdruck bringen kann. Wenn sich dies irgend so verhält, wie ich gesagt habe, sieht jeder, der ein Gemälde betrachtet, eine bestimmte Schnittfläche einer Pyramide. Daher wird das Gemälde nichts anderes sein als die Schnittfläche durch die Sehpyramide, die gemäß einem vorgegebenen Abstand, einem festgelegten Zentralstrahl und mit bestimmter Beleuchtung auf einer gegebe-nen Fläche mit Linien und Farben kunstgerecht dargestellt ist.“181

179 Locher, Hubert: aaO., S. 101. Dazu auch Gottfried Boehm: aaO., S. 336: „Unbestritten ist, daß sich die Malerei damals auf eine neue Weise der sichtbaren Welt öffnete. Ob sie deswegen perfekte Ab-bilder schaffen wollte? Wäre es um ein illusionsstiftendes Bild gegangen, das sich idealenfalls von der Realität, die es darstellte, gar nicht mehr unterscheiden ließe, das Bild würde sich mit der Errei-chung dieses Ziels selbst aufheben. Man müsste sagen: das Bild soll nicht sein, soll Realität sein, genauer: das Bild soll Realität werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, stellt man überra-schend fest, daß die vollendete Abbildbarkeit, d.h. der Illusionismus, mit der perfekten Ikonoklastik konvergiert. Mitten im gelungenen Bild nistet eine bildaufhebende Kraft“. 180 Alberti, Leon Battista: Della Pittura, in: Bätschmann, Oskar / Gianfreda, Sandra (Hrsg.): Leon Battista Alberti – über die Malkunst, Darmstadt 2002, S. 93. 181 Alberti, Leon Battista: aaO., S. 85.

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Der Schnitt durch die Sehpyramide ermöglicht es Alberti, das Gemälde als Analogie

zu einem Blick durch ein Fenster zu realisieren. Er stützt sich darin auf die geometri-

schen und optischen Gesetze Euklids, dessen Werke als Abschrift von Campana da

Novara in Albertis Besitz waren.182 Durch die Bezugnahme auf die ersten beiden

Axiome der Optik, auf die geradlinige Ausbreitung der Sehstrahlen und die Bünde-

lung der Sehstrahlen in einem Kegel kann Alberti die perspektivische Konstruktion

des Bildraums erzeugen und gleichzeitig den Bildraum an den Betrachter zurückbin-

den. Er gibt dafür folgende Handlungsanweisung: Zunächst ist eine viereckige Bild-

fläche von beliebiger Größe anzunehmen und darauf die Darstellung eines stehenden

Menschen festzulegen, der den Horizont bestimmt. Die Grundlinie dieses Rechtecks

wird in mehrere Abschnitte unterteilt, und „dann bringe ich innerhalb des Rechtecks,

wo es mir richtig erscheint, einen Punkt an, der den Ort einnimmt, auf welchen der

Zentrahlstrahl trifft, und den ich deshalb ,Zentralpunkt’ nenne“. Der Zentralstrahl,

der sich als „feiner Faden“ zwischen Auge und Fläche spannt, ermöglicht es dem

Betrachter, einen Gegenstand wahrzunehmen; für die Konstruktion des Gemäldes

liefert er den Bezugspunkt, nach dem sich alle Gegenstände im Bild perspektivisch

organisieren.183

Aus dieser Bestimmung leitet Alberti ab, was sowohl den Bildraum, wie die Bildzeit

des Gemäldes betrifft und im Kernbegriff seiner Gemäldekonzeption, in der „isto-

ria“, zusammengeführt wird. Albertis Leistung besteht darin, einen Begriff für die

Bilderzählung gefunden zu haben, der sich zwar aus den Gedanken der Rhetorik

speist, gleichzeitig jedoch diese auf die Malerei überträgt und dadurch die Mittel der

malerischen Darstellung erweitert.184 Die „istoria“ ist die bildliche Darstellung von

Vorgängen durch handelnde und leidende Figuren. Eine „istoria“ zeigt eine zusam-

menhängende Szene mit menschlichen Figuren in körperlicher und seelischer Bewe-

gung im perspektivisch korrekt konstruierten Raum. Gemälde ohne Handlung wie

182 Bätschmann, Oskar: aaO., S. 8. 183 Eine anschauliche Zeichnung dieses Verfahrens liefert Bätschmann, Oskar: aaO., S. 12. 184 In der Wahl des Begriffs „istoria“ knüpft Alberti an Dantes Ausführungen im Purgatorio der Gött-lichen Komödie an. Im zehnten Gesang verwendet Dante den Begriff, den er mit Reliefbildern gleichsetzt, die Beispiele der Demut bei Bußübungen darstellen. „Istoria“ hat also nicht nur eine rhe-torische Tradition, sondern wird seit dem 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit bildnerischen Wer-ken gebraucht. Jack M. Greenstein hat auf diesen Gebrauch hingewiesen: „Dante’s description (...) shows that the extension in meaning had a theoretical basis in the figuralness common to both historia and pictorial work“. Alberti on Historia – A Renaissance View of the Structure of Significance in Narrative Painting, in: Viator – Medieval and Renaissance Studies, 21, 1990, S. 272-299, S. 281.

Page 90: Dissertation

D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

88

Porträts, Landschaften oder Kultbilder werden von Alberti ausgeschlossen. Der

„istoria“ liegt stets ein literarischer Stoff zugrunde, der auf den Betrachter zuge-

schnitten ist und in Form und Inhalt der Betrachterrealität, dem Fensterblick und dem

Schnitt durch die Sehpyramide unterliegt.

Zunächst besteht die Malerei aus den drei Bestandteilen „Umschreibung“ (circum-

scrizione), „Komposition“ (composizione) und „Lichteinfall“ (ricevere di lumi)185.

Sie sind dem Produktionsvorgang zugeordnet und beschreiben das Werden des

Kunstwerks in seinen sukzessiven Seinsstufen. Die „istoria“, die sich mit dem Beg-

riff der „opera“ gleichsetzen lässt, ist dagegen das abgeschlossene Werk, das dem

Betrachter gegenübergestellt wird: „Das bedeutendste Werk des Malers ist der Vor-

gang“186 („Grandissima opera del pittore sarà l’istoria“).187

Die Aufgabe der „istoria“ besteht darin, das Gemüt des Betrachters zu erregen, denn

„jenen Vorgang wirst du loben und bewundern können, der seine Reize so schmuck-

reich und anmutig darbietet, daß Gelehrte wie Ungelehrte durch Vergnügen und Ge-

mütsbewegung zur Betrachtung festgehalten werden.188 Alberti gibt an dieser Stelle

die Nähe der Malerei zur Rhetorik, besonders zu Quintilians „Institutio oratoria“,

deutlich zu erkennen. Unter Hinzuziehung des „docere“ bilden „delectare“ und „mo-

vere“ jene drei Grade der Persuasion, welche die Rhetorik als officium oratoris

hat.189 Während das docere auf den Intellekt bezogen ist, können delectare und mo-

vere als diejenigen Bestandteile gelten, die sich an das Gemüt werden. In dieser Ein-

teilung ist bereits ein erster Anhaltspunkt gegeben, warum Alberti von der weiteren

Ausführung des docere absieht. Wenn nämlich das docere des Redners als Gegen-

stück der Dialektik verstanden wurde, und es folglich in enger Verwandtschaft mit

der Philosophie stand, konnte es aus diesem Grund nur bedingt eine breite Öffent-

lichkeit erreichen. Während in der philosophischen Untersuchung gebildete Men-

185 Bätschmann, Oskar: aaO., S. 113. 186 Bätschmann, Oskar aaO., S. 117 und S. 116. Bätschann übersetzt „istoria“ hier mit „Vorgang“. Ich schlage jedoch vor, „istoria“ als „Darstellung von Handlung“ zu verstehen. 187 Während Oskar Bätschmann die „istoria“ aus der „composizione“ entwickelt, unterscheidet Kris-tine Patz die beiden Begriffe. Sie ordnet Umschreibung, Lichteinfall und Komposition gemäß der Rhetorik der „ars“ zu, während „istoria“ dem Begriff des „opus“ nahestehe. Patz, Kristine: Zum Beg-riff der „Historia“ in L. B. Albertis „De Pictura“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 1, 1986, S. 269-287, S. 274. 188 „Sarà la storia, qual tu possa lodare e maravigliare, tale che con sue piacevolezze si porgerà sì ornata e grata, che ella terrá con diletto e movimento d’animo qualunque dotto o indotto la miri“. Bätschmann, Oskar: aaO., S. 128. 189 Patz, Kristine: aaO., S. 277.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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schen mit Gebildeten nach der Wahrheit suchen – so argumentiert Quintilian –, muss

der Redner seine Rede nach dem Urteil anderer einrichten, ja er muß dabei öfter vor

ganz Ungebildeten oder jedenfalls mit dieser Art von Wissenschaft Unkundigen re-

den. In Abgrenzung zur Philosophie stellen sich somit delectare und movere als das

eigentliche Aufgabenfeld der Rhetorik dar, auf das sich Alberti in der Definition der

„istoria“ für die Malerei stützt.190

Um das Gemüt des Betrachters zu bewegen, muss die „istoria“ mit entsprechenden

Merkmalen ausgestattet sein:

„Ferner wird ein Vorgang dann die Seele bewegen, wenn die dort gemalten Menschen ihre eigenen seelischen Bewegungen ganz deutlich zu erkennen geben. Aus der Natur, die wie nichts anders begierig ist als nach ähnlichen Dingen, kommt es, dass wir wei-nen mit den Weinenden, lachen mit den Lachenden und leiden mit den Leidenden. Diese seelische Bewegung aber erkennt man an den Bewegungen des Körpers (...) So müssen den Malern alle Bewegungen des Körpers sehr vertraut sein“.

Die dargestellten Personen müssen selbst von den Affekten innerlich erfasst sein; nur

dann können sie diese Affekte auch beim Betrachter hervorrufen. Diese Gemütsbe-

wegung wird durch Körperbewegung ausgedrückt und ermöglicht die Hinführung

des Betrachters zum Bildvorgang. Gestik und Mimik der handelnden Figuren sollen

der zu erzielenden Wirkung der Freude oder des Leidens entsprechen.

Zusammenfassend lassen sich folgende Unterschiede zwischen der oben vorgestell-

ten Malerei und Walls Fotografie feststellen:

1. Während Alberti in seiner Perspektivlehre fordert, den Bildraum auf den Betrach-

ter hin zu organisieren, können bei Wall keine Anhaltspunkte für eine Situierung

des Betrachters gefunden werden. In „Picture for Women“ wird der Betrachter

durch das Spiegelarrangement ausgeschlossen, in seinen Landschaftsdarstellungen

wählt Wall Orte, die sich durch Flächigkeit, Weite und eine streifenförmige Anla-

ge auszeichnen. Das Bildpersonal tritt in den Hintergrund und gibt dem Betrachter

keinen Maßstab an, durch den er sich in ein Verhältnis zum Bildinhalt stellen

kann. Es gibt keinen vorgegebenen Abstand von Betrachter und Bild. Ihm wird

kein Platz zugewiesen, von dem aus sich der Bildraum erschließt und der eine

Hierarchie in der Bildordnung festsetzt. 190 Auf weitere Bezüge von Alberti zur Rhetorik verweist Kristina Patz: aaO., S. 278ff.

Page 92: Dissertation

D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

90

2. Die Szenerien in Walls Fotografien zeichnen sich dadurch aus, dass sie hand-

lungsarm angelegt sind. Das Bildpersonal zeigt keine Affekte, die sich durch ex-

pressive Gestik und Mimik ausdrücken. In „Picture for Women“ werden lediglich

zwei Figuren vorgeführt, die in einem Raum stehen. Weder der Gesichtsausdruck

noch die Körperhaltung ermöglichen es dem Betrachter, auf eine innere Bewe-

gung der Figuren zu schließen. Eine Beteiligung des Betrachters am Bildgesche-

hen durch die Evokation von mitreißenden Gefühlen wird ausgeschlossen.

Handlung und Raum, deren Untersuchung die folgenden Kapitel gewidmet sind, ent-

sprechen also nicht der „istoria“. Während das Gemälde bei Alberti eine Einheit dar-

stellt, die dem Betrachter gegenübergestellt wird und als Einzelbild die Totalität der

Welt repräsentiert, bezieht sich Wall auf eine andere Definition dieser Bildelemente.

Der Schnitt durch die Sehpyramide, der als Fensterblick die Betrachtererfahrung von

Raum und Handlung

weiterführt, wird in

Walls Fotografien

unterbrochen.

Es stellt sich nun die

Frage, wie ein bet-

rachterloser Raum

angelegt ist, welche

Voraussetzungen er

besitzt und wie er

begründet wird? Eine

Illustration aus ei-

nem Handbuch, das

die Funktionsweise des Auges darstellt, bietet einen ersten Hinweis. Die Darstellung

entstammt den „Schat der Ongesontheyt“, einer medizinischen Schrift, die 1664 in

Amsterdam von Johan van Beverwyck veröffentlicht wurde.

Abbildung 21: Johan van Beverwyck: Illustration aus dem „Schat der Ongesontheyt“, Amsterdam 1664

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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In einer Camera obscura befinden sich zwei Herren, die ein Blatt halten, auf dem

sich die draußen befindliche Landschaft darstellt.191 Sie haben sich zu einer wissen-

schaftlichen Beobachtung versammelt und studieren das Bild, das durch eine Linse

auf das Blatt geworfen wird. Es zeigt die Merkmale, die uns in der Beschreibung der

Landschaftsdarstellungen von Wall, Koninck und Ruisdael bereits aufgefallen sind:

die Unabgeschlossenheit der Szene zum linken und rechten Bildrand hin sowie die

vordergründige Ereigniszone. Der Beschauer wird in keiner Weise berücksichtigt,

seine Anwesenheit hinterlässt keine Konsequenzen für die Komposition. Die flächige

Landschaftsauffassung, die weniger als gestalteter Tiefenraum erscheint, ist ebenso

vertreten wie die streifenförmige Anlage von Wasser und Himmel.

Bezeichnenderweise befindet sich die obige Darstellung der Camera obscura nicht in

einem Traktat über Malerei, sondern in einer medizinischen Schrift, welche die phy-

siologische Funktion des Auges erklärt. Sie illustriert dem Leser den Sehvorgang.

Das Auge empfängt das Bild der Landschaft, so wie es sich auf dem Blatt innerhalb

der Camera abbildet. Die Lichtzeichnung wird nicht von einer subjektiven Wahr-

nehmung beeinflusst, sondern stellt dasjenige dar, was durch die Strahlen transpor-

tiert wird. Das Bild, das durch die kreisförmige Öffnung auf das Blatt geworfen wird,

steht auf dem Kopf und zeigt, wie die Sehdaten auf die Netzhaut treffen, bevor sie

durch das menschliche Gehirn verarbeitet und geordnet werden. Van Beverwycks

Illustration verdeutlicht das Auftreffen des Lichts auf die Retina, ohne dass der Bet-

rachter, der eine Auswahl, einen Standpunkt oder einen Maßstab festlegt, in den Ent-

stehungsprozess eingreift. Indem van Beverwyck die Lichtbrechung innerhalb des

Kreisausschnitts darstellt, führt er den Sehvorgang eines einzelnen Auges vor. Nicht

das binokulare Sehen, das die Welt räumlich erfassbar macht, ist sein Untersu-

chungsgegenstand, sondern das einäugige, monokulare Sehen, das rahmenlose An-

sichten empfängt.

191 Damals gab es zwei Formen der Camera obscura: eine unbewegliche und eine bewegliche Appara-tur. Die unbewegliche war in der Wand oder im Fensterladen eines verdunkelten Raums installiert. Eine kleine Öffnung, die mit einer Linse ausgestattet war, warf das Bild der sonnenbeschienenen Dinge auf ein Papier im Inneren des Raumes. Die bewegliche Variante konnte als Zelt in freier Natur aufgebaut werden.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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Hier manifestieren sich die Gedanken Johannes Keplers, dessen Lehre Anfang des

17. Jahrhunderts starke Verbreitung in Holland fand. Sie dient uns im Folgenden als

Grundlage für eine optische Kunst, die als Keplersche Form des Bildermachens vor-

gestellt werden soll. Indem Kepler das menschliche Auge als einen mechanischen

Erzeuger von Bildern und Sehen als Bildherstellung definiert, liefert er das Modell

für eine Kunst, die das Sehen mit der Malerei zusammenspannt. Seine Forschungser-

gebnisse bilden das „Scharnier“ für Kunst und Wissenschaft, in deren Konsequenz

die Malerei des Nordens und ihre ästhetischen Kategorien zu sehen sind. Die Kepler-

sche Bildform liefert ebenso die Grundlage für den Vergleich von Malerei und Walls

Fotografie. Verbindendes Element ist die Keplersche Definition der optischen Bild-

herstellung, das ästhetische Paradigma für eine Kunst, deren Interesse an der Camera

obscura, dem Mikroskop oder Fernrohr als eine spezielle Art der Augen-Kunst zu

werten ist.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

93

D.IV. Das Sehen ohne Betrachter – die „keplersche Sehkultur“192

Die Optik erfährt im 17. Jahrhundert eine tiefgreifende Wandlung. Optische Appara-

turen werden mit Autorität und Wahrheitsanspruch versehen. Was zuvor als täu-

schend und verzerrend gewertet wurde, wird nun als Vehikel genutzt, um die Welt zu

erforschen, um Erkenntnis über die Gesetze der Natur zu erlangen.193 Linsen und

Teleskope ermöglichten es, in eine Welt einzudringen, die dem menschlichen Auge

zuvor verborgen geblieben war.194 Dies wirkt sich auch auf die Kunstproduktion aus.

Hatte die calvinistische Kunstkritik in Holland noch die zweifelhafte Vermittlung

von Informationen durch das Sehen kritisiert und das Gehör für die angemessene

Instanz der Erbauung und Erziehung vorgesehen, so wird nun die Camera obscura

eingesetzt, um die Gesetze der Optik zu studieren und neue Erkenntnisse in der Ma-

lerei zu erlangen.195 Das „Lob des Auges“ ebnet der Keplerschen Sehform die Ak-

zeptanz bei den Künstlern und macht sie zu einer Möglichkeit, den Anforderungen

einer zeitgemäßen Malerei zu entsprechen.

Johannes Kepler verwendet die Camera obscura, um astronomische Vorgänge zu

untersuchen. Sie dient ihm als wissenschaftliches Forschungsinstrument, das die Be-

obachtung von Sonnen- und Mondfinsternissen ermöglicht und die Grundsätze bestä-

tigt, die er in der Mathematik findet. Mit ihr kann er Beobachtungen dokumentieren

und Aussagen über die Strahlenbrechung des Lichts machen, die letztlich den Ko-

pernikanischen Heliozentrismus und die elliptischen Planetenbahnen bestätigen. Um

192 Der Begriff der „Keplerschen Sehkultur“ stammt aus Svetlana Alpers Schrift „Kunst als Beschrei-bung“. Sie zeigt anhand der „Keplerschen Sehkultur“ die spezifische Qualität einer optischen Malerei, die im 17. Jahrhundert in Holland entsteht und weist den Einfluss von Keplers Definition der mensch-lichen Augenfunktion auf die Malerei nach. 193 Svetlana Alpers verweist auf die Autobiografie von Constantijn Huygens aus dem Jahr 1629. Sie gipfelt in einer überschwenglichen Lobrede für Francis Bacon und Cornelis Drebbel. Drebbels Erfin-dung –ein Mikroskop – ermöglicht die Wahrnehmung einer vorher verborgenen Welt. „Denn in der Tat boten sich Objekte, die bis dahin unter die Atome gerechnet wurden, da sie sich dem menschli-chen Auge weithin entzogen, dem Betrachter auf einmal so deutlich dar, dass, wenn völlig unerfahre-ne Leute Dinge erblicken, die sie vorher nie gesehen haben, sie sich zunächst beklagen, dass sie nichts sähen, doch alsbald ausrufen, dass ihnen unglaubliche Dinge vor die Augen treten“. Alpers, aaO., S. 49. 194 Die winzigen Dinge, die früher für das Auge unsichtbar waren, konnten jetzt mit Hilfe von Gläsern beobachtet werden. „Und alles durch unsere Augen unterscheidend, als ob wir es mit Händen berühr-ten, wandeln wir durch eine bis jetzt unbekannte Welt von kleinen Kreaturen, als ob es ein neu ent-deckter Erdteil wäre“, schreibt Constantijn Huygens in seinem Dagwerck. Hier zitiert nach Alpers, Svetlana: aaO., S. 63. 195 Hierauf ist vielfach hingewiesen worden. Besonders: Jongh, Eddy De: Realisme en schijnrealisme in de Hollandse schilderkunst van de 17de eeuw“, in: Paleis voor schone Kunsten (Hrsg.): Rembrandt en zijn tijd, Brüssel 1971, S. 143-194, S. 148.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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die grundlegende Frage nach der Zahl, der Größe und der Bewegung der Planeten zu

beantworten, beschäftigt Kepler sich mit der Messgenauigkeit und Zuverlässigkeit

seiner Forschungsinstrumente. So beginnt seine Auseinandersetzung mit den Geset-

zen der Optik mit den Problemen, auf die er bei der Beobachtung einer Sonnenfins-

ternis trifft: Durch die atmosphärische Strahlenbrechung, die Refraktion, erscheinen

die Gestirne an einem Ort, den sie tatsächlich bereits verlassen haben.196 Der Mond-

durchmesser, der sich in seiner Lochkamera abbildete, erschien kleiner als bei ande-

ren Untersuchungen, obwohl er weder seine Größe noch seine Entfernung geändert

hatte. Die scheinbare Veränderung des Monddurchmessers, so argumentiert Kepler

in der 1604 veröffentlichten Schrift „Ad Vitellionem Paralipomena, quibus Astro-

nomiae Pars Optica traditur“, sei ein Problem der technischen Instrumente. Größe

und Form der gebrochenen Strahlenbündel stehen – so seine These – in einer Relati-

on mit der Öffnung der Camera. Die Abbildung, die sich in der Camera zeigt, ist also

abhängig von der Funktion des Beobachtungsmittels, und nur eine genaue Kenntnis

der Optik ermögliche es, gesicherte Aussagen über den Standpunkt der Himmelskör-

per zu machen und eine verfälschte Beobachtung von Sonne und Mond zu vermei-

den.

Keplers Untersuchung beschränkt sich jedoch nicht nur auf wissenschaftliche Be-

obachtungsmittel, sondern beschreibt auch das natürlichste aller Sehinstrumente: das

menschliche Auge. Die Täuschungen, denen das Auge unterliegt, analysiert er im

fünften Kapitel seiner Schrift; sie geben Anlass, den Modus visionis, die Art und

Weise der Augenfunktion, darzustellen. Dass die menschliche Wahrnehmung keine

messgenauen Ergebnisse liefert, bedeutet für Kepler nicht, die Qualität des optischen

Sehapparates insgesamt zu verurteilen. Es ist vielmehr die Aufgabe, durch eine Leh-

re die Ursachen der Irrtümer zu untersuchen und so eine angemessene Würdigung

der Sehapparatur zu liefern. Er beschreibt das Sehen, wie es durch die Formung eines

Netzhautbildes ermöglicht wird. Es kommt durch ein Bild des Gegenstands zustande,

das sich auf der konkav gekrümmten Netzhautfläche bildet. Das Licht wird durch die

Pupillenöffnung gebrochen. Zusammenzug und Weitung der Pupille ermöglichen es,

einen nahen Gegenstand zu fokussieren oder in die Ferne zu blicken.

196 Uns begegnet dieses Phänomen beim Sonnenuntergang: Während die Sonne mit ihrem unteren Rand den Horizont zu berühren scheint, ist sie tatsächlich bereits untergegangen.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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Soweit findet man nichts Ungewöhnliches in seinen Ausführungen. Bedeutsam sind

jedoch Keplers Vergleiche und Metaphern, mit denen er das Auge beschreibt:

„Visio igitur fit per picturam rei visibilis ad album retinae et cauum parietem“197. [Das Sehen geschieht also durch Abbildung eines sichtbaren Gegens-tandes auf die weiße gewölbte Wand der Netzhaut.]198

Sehen ist das Herstellen von Bildern. Der Eindruck, der auf der Netzhaut entsteht, ist

Pictura, ein Eindruck, der durch die Sehnerven empfangen wird.199 Kepler formuliert

damit zum ersten Mal in der Geschichte der Theorie des Sehens eine Verbindung

zwischen optischen Sehdaten und einem Bild, das eine vom Beobachter unabhängige

Existenz hat und durch die Sammlung aller Lichtstrahlen in einem Brennpunkt auf

einer Fläche zustande kommt. Das Netzhautbild ist ein Gemälde des gesehenen Ge-

genstandes, das – wäre es möglich – herausgenommen und ans Licht gebracht, be-

trachtet werden könnte.200 Um diese Neuerung möglich zu machen, bedurfte es einer

klaren Unterscheidung zwischen der Welt außerhalb des Auges und der Pictura, dem

Bild, das auf die Netzhaut geworfen wird. Während frühere Sehtheorien davon aus-

gegangen waren, dass die äußerlichen Sehbilder in das Auge eindringen, fügt Kepler

dem Sehvorgang eine neue Differenzierung hinzu und etabliert mit dem Pictura-

Begriff eine weitere Instanz. Im Unterschied zu den Sehbildern, den „Imagines re-

rum“ der Außenwelt, sind die Picturae die Bilder, die von den Sehnerven erzeugt

werden. Er kann dadurch den Sehvorgang, welcher seit der Antike Fragen aufgewor-

fen hat, endgültig auflösen. Das Auge empfängt Strahlen, die sowohl senkrecht wie

schräg einfallen. Von jedem Gegenstand, so schreibt er im zweiten Lehrsatz seiner

„Paralipomena“, gehen unendlich viele Linien an Lichtstrahlen aus. In einer punkt-

weisen Auflösung treffen diese Linien auf das Gesichtsfeld. Sie werden, nachdem

die Hornhaut durchquert wurde, auf die Kristall-Linsenoberfläche geworfen. Jeder

sichtbare Punkt erzeugt einen Lichtkegel; die Summe unendlich vieler Lichtkegel 197 Kepler, Johannes: Ad Vitellionem Paralipomena Quibus Astronomiae pars optica traditur, in: ders.: Johannes Kepler – Gesammelte Werke, hrsg. von Franz Hammer, München 1939, Bd.2, S. 153. 198 Die folgenden Übersetzungen aus Keplers Schrift stammen von der Verfasserin. 199 An einer weiteren Stelle spricht er von „Nam ut pictura, ita visio“. Das Sehen gleicht einem Bild. Kepler, Johannes: aaO., S. 186. 200 „Visio igitur fit per picturam rei visivilis ad album retionae et canuum perietem (...) ut ne minutis-sima quidem puncta negligantur; adeoque quanta est subtilitas visus in qudlibet homine, tanta sit et subtilitas huius picturae intra eius oculus.“ Das Sehen geschieht also durch das Gemälde des gesehe-nen Gegenstandes (....) so dass, falls es möglich wäre, dass sich das Gemälde auf der herausgenom-

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bündelt und durchdringt sich in der Pupille, wo rechts und links sowie oben und un-

ten vertauscht werden. Die Strahlung wird an die folgende hyperbolische Kristall-

flüssigkeit weitergeleitet. Die Picturae der Gegenstände werden also nicht durch ein

Medium, das Sehpneuma, transportiert, wie es die materialistischen Ansätze lehrten,

oder durch Sehstrahlen, die vom Auge ausgesendet werden, aufgenommen.201

Die Picturae gehören weder in den Bereich der Außenwelt, noch verweisen sie auf

eine menschliche Interpretation. Sie sind sowohl von den Gegenständen als auch von

dem Bewusstsein des Betrachters abgelöst. Will man diesen Bildern nacheifern, ent-

stehen Gemälde, die sich durch spezielle Eigenschaften auszeichnen: Sie wirken in-

different und distanziert, unpersönlich und unnahbar. Jede affekthafte Anspielung

der Handelnden, welche das Betrachter-Urteil beeinflussen könnte, wird vermieden.

Statt dessen wird die Objektivität mit Nachdruck ins Bild gesetzt. Der Betrachter

fühlt sich eigentümlich von den Geschehnissen ausgeschlossen und wird dennoch

von der Darstellung in ihren Bann gezogen. Sein Gesichtssinn wird angesprochen,

nicht seine Empfindungen.

Um die Picturae herstellen zu können, arbeitet das Auge wie eine Seh-Maschine.

„Atque hoc machinamento videtur natura obstinuisse, ut plus quam hemisphaerum cerneremus202. [Und mit dieser Maschine scheint die Natur darauf aus zu sein, dass wir mehr als eine Halbkugel sehen.]

Es ist nicht das Auge, das an ein Bewusstsein gekoppelt ist, sondern der leblose, ein-

zelne Sehapparat, dem Kepler in seiner Lehre Aufmerksamkeit schenkt. Seine Lei-

stung war es, das physikalische Problem der Entstehung von Netzhautbildern von

den psychologischen Problemen der Wahrnehmung zu trennen und das Sehen nicht

als perspektivische Organisation eines Betrachterraums zu untersuchen, sondern es

zu „entanthropomorphisieren“203. Die Illustrationen, die er seiner Optik angefügt hat,

belegen Keplers Interesse am isolierten Blick.204 21 Darstellungen zeigen das Auge,

seine Muskeln, die Linse, den Verlauf des Sehnervs sowie Längsschnitte und Quer- menen und ans Licht gebrachten Netzhaut erhalten könnte, ein Mensch mit scharfem Gesichtssinn diese Zeichnung des Gesichtsfelds erkennen würde. Kepler, Johannes: aaO., S. 153. 201 David Lindberg zeichnet die Geschichte der Sehtheorie von der Antike bis Kepler nach. Lindberg, David C.: Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt/Main 1987. 202 Kepler, Johannes: aaO., S. 157. 203 Alpers, Svetlana: aaO., S. 94.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

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ansichten, jedoch ohne sie mit einem möglichen Besitzer in Verbindung zu bringen.

Im Zentrum von Keplers Untersuchung steht nicht die anatomische Funktion, die wir

in Descartes’ „La Dioptrique“ von 1637 finden, sondern das einzelne Auge.

Dieses Verständnis des isolierten

Blicks begegnet uns nicht nur in

Keplers wissenschaftlichen Stu-

dien, sondern auch in der holländi-

schen Malerei. In einer Zeichnung

des Malers Jacques de Gheyn er-

scheint das isolierte Sehen als Mo-

tiv. Das Blatt wird auf die Mitte

des 17. Jahrhunderts datiert und

zeigt eine unvollendete Skizze.

Eine sitzende Frau wird von zwei

Weinreben eingerahmt; sie ist

nicht vollständig ausgeführt, ihr

Körper wird nur bis zur Hüfte ge-

zeigt. Spiralförmige Ranken, Re-

ben mit Trauben und feinkerbige

Blätter sind detailliert auf das Pa-

pier gezeichnet. In der unteren Hälfte sehen wir einen reifenden Kürbis. Das Blatt

zeigt keinen einheitlichen Entwurf. Während das Gesicht der Frauenfigur mit Rötel

gezeichnet wurde, sind die Weinreben durch eine Federzeichnung entstanden. Und

dennoch besitzt die Zeichnung ein wertvolles Detail: Obwohl de Gheyn die einzel-

nen Skizzen nacheinander anfertigte, hat er zwei vereinzelte Augen von der Überma-

lung ausgespart. Rechts, etwas verborgen über der unteren Rebe und am rechten

Rand des Blattes, erkennt man zwei Augen – isoliert voneinander auf das Blatt ge-

zeichnet. Nicht das Augenpaar, das noch an einen Träger erinnern könnte, sondern

jedes Auge einzeln, weit voneinander entfernt, wird dargestellt. „Das ist das Signum

des aufmerksamen Auges, das dieses Blatt gezeichnet hat“205, kommentiert Svetlana

Alpers die Zeichnung. Es ist die Manifestation der künstlerischen Wahrnehmungsap-

Abbildung 22: Jacques de Gheyn, Skizze, um 1750, Feder- und Rötelzeichnung

204 Kepler, Johannes: aaO., S. 159.

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paratur und Verweis auf die Entstehung von Malerei analog der Aufzeichnung durch

Netzhaut und Linse. Die selbstverständliche Binokularität menschlicher Wahrneh-

mung ist außer Kraft gesetzt und dem Mechanismus eines Fotoobjektivs angepasst.

In Walls Fotografie

„Picture for Wo-

men“ wird der opti-

sche Aufzeichnungs-

apparat durch die

Kamera repräsen-

tiert. Wo in de

Gheyns Skizzenblatt

das vereinzelte Auge

zu sehen war, be-

gegnet uns bei Wall

eine Plattenkamera mit auffallend großem Objektiv. Sie befindet sich in der Bildmit-

te und wird durch zwei senkrechte Achsen, die von den Metallstangen zweier Studio-

leuchten stammen, eingerahmt. Rechts und links flankieren Wall und sein Modell die

Kamera. Sie ist auf ein Stativ montiert und befindet sich annähernd auf gleicher Hö-

he mit den zwei Hauptfiguren. Freistehend markiert die Kamera das Zentrum des

Bildes und erscheint als eine weitere Protagonistin der Szene. Sie ist als dritte Figur

ins Bild gesetzt. Das dreibeinige Stativ bildet dabei den „Körper“, während die Bild-

aufzeichnung durch das „zyklopische Einauge“ des Objektivs gewährleistet wird.

Das Objektiv erscheint als herausgelöster Teil des Körpers und entspricht damit der

Isolierung des einzelnen Auges, die für die Kunst des Nordens kennzeichnend war.

Hier trifft sich das holländische Verständnis von der Bildherstellung als autorenlo-

sem Registrieren mit der technischen Ausgangssituation Walls. Die Wirkung von

Walls Fotografien basiert also auf einem Verständnis, das der Bildkultur der nordi-

schen Malerei entspricht.

Abbildung 23: Jeff Wall: Picture for Women, 1979, Großbilddia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm

Die Fotografie hält auf einer emulsionierten Schicht das fest, was das Auge auf die

Netzhaut bannt. Die Seherfahrung des vereinzelten Auges, die kennzeichnend für die

Keplersche Bildform ist, wird bei Wall wie bei de Gheyn als Bildmotiv eingeführt.

205 Alpers, Svetlana: aaO., S. 171.

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D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST

99

Diese Analogie der Bildherstellung findet sich bei Wall auch in theoretischer Hin-

sicht. Als er nach seinem Bezug auf die Fotografietheorie, speziell nach seiner Hal-

tung gegenüber Susan Sontag, gefragt wurde, äußerte er sich über die „Natur“ der

Kameratechnik:

„Mich überrascht eigentlich, dass das Feld der Fotografietheorie so offen ist im Augenblick. Faktisch ist die Fotografie zu kom-plex, um Gegenstand einer Theorie zu sein. Es ist vermutlich un-möglich, überhaupt eine Theorie der Fotografie zu entwickeln. Dazu ist die Fotografie dem zu nah, was wir mit den Augen se-hen. (...) Die Fotografie ist, weil sie mit Naturgesetzen arbeitet, mit ihren dem Verstehen sich entziehenden Eigenschaften nicht konventionell.“206

In seinem Aufsatz „Zeichen der Gleichgültigkeit“ von 1998 beschreibt er die Fähig-

keit der Fotografie, das Bild der Sichtbarkeit analog der Augenerfahrung zu liefern:

Die Fotografie „kann nicht die Negation von Erfahrung bieten, sondern muss weiterhin die Erfahrung der Abbildung, des Bildes bereithalten. Der fundamentale Schock, den die Fotografie ausge-löst hat, könnte möglicherweise der sein, daß sie eine Abbildung zur Verfügung gestellt hat, die eher so erfahren wurde, wie man die sichtbare Welt erfährt und wie man es nie zuvor gekonnt hat. Eine Fotografie zeigt daher einen Gegenstand mit den Mitteln, mit denen man zeigt, was Erfahrung ist; in diesem Sinne hält sie eine „Erfahrung der Erfahrung“ bereit, und sie definiert dies als Bedeutung der Abbildung.“207

Die Fotografie liefert die bildgewordene Erfahrung des Sehens. Das fotografische

Bild ist die „Erfahrung der Erfahrung“ und bildet dadurch ein Korrelat zur holländi-

schen Malerei, die das Ziel verfolgt, das Sehen vorzuführen. Nicht die neusachliche

„Bauchnabelperspektive“, die im Kapitel B.II.1 über das fotografische Paradigma

vorgestellt wurde, ist für Jeff Wall verbindlich, sondern eine Abbildung, die auf die

optische Fähigkeit des Sehens bezogen wird. Die Kamera ist eine Sehmaschine und

liefert nicht die Negation der Wahrnehmung oder die Erweiterung der menschlichen

Seherfahrung, sondern fixiert dasjenige, was das menschliche Auge optisch wahr-

206 Wall, Jeff, in: Weiß, Hermann (Hrsg.): Fabrications, Frankfurt/Main 1999, S. 201. 207 Wall, Jeff: Zeichen der Gleichgültigkeit - Aspekte der Fotografie in und als konzeptuelle Kunst, in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika - aktuelle Perspektiven der zeitgenössischen Foto-grafie, Zürich 1998, S. 73-91, S. 90.

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nimmt. Der fotografische Apparat ist eine Sehmaschine, die dem Betrachter zeigt,

wie sein Auge als Aufzeichnungsapparatur funktioniert.

Die Keplersche Bildform ist nicht nur auf die optischen Qualitäten eines Auges be-

schränkt, sondern befasst sich auch mit der materiellen Entstehung des Augenbildes.

In späteren Werken setzt Kepler die Verbindung von Malerei und Netzhautbild fort.

In den „Dioptrice“ von 1611 erklärt er im 45. Kapitel, dass die Netzhaut von farbigen

Strahlen sichtbarer Dinge bemalt worden sei: „Jam vero penicilli omnes omnium

punctorum in lente velut (...)“208. [Nun aber sind alle Pinsel, alle Punkte gleichsam in der

Linse]. Penicilli, Pinsel, wie sie Künstler benutzen, malen die Gegenstände der äuße-

ren Welt auf die undurchsichtige Haut des Augenhintergrundes. „Retiformis tunica

pingitur a radiis coloratis rerum visibilium“209. [Die netzförmige Hülle wird von gefärb-

ten Strahlen unsichtbarer Gegenstände bemalt] Er beschreibt Bilder, die auf die Retina

gemalt werden. Sie werden nicht etwa umrisshaft gezeichnet, sondern mit der Fülle

der Erscheinungen dargestellt. Es sind die bunten Phänomene der Welt, die abgebil-

det werden, Lichtmalerei, die sich farbig darstellt.

Hier zeigt sich eine Verbindung

von Keplerscher Bildform und

Fotografie, die bis in die Ära der

Straight Photography der 20er-

Jahre zu finden ist. Gegnern sowie

Befürwortern dient diese Verbin-

dung als Argument, Pictura und

das Bild, das der Fotoapparat er-

zeugt, als Lichtmalerei zu titulie-

ren. Die Strahlen bilden sich auf beiden Bildträgern quasi von selbst ab, ohne Ein-

fluss des Künstlers, so als sei das Licht der verantwortliche Akteur der Entstehung.

Lichtmalerei ist das Bild, welches das kameraähnliche, passive Auge empfängt. Der

englische Karikaturist George Cruikshank greift den Topos in seiner Zeichnung „Sun

Abbildung 24: George Cruikshank: Illustration, Sun Drawing, 1841

208 Kepler, Johannes: Dioptrice, in: Hammer, Franz (Hrsg.): Johannes Kepler – Gesammelte Werke, Bd. 4, München 1939, S. 368. 209Kepler, Johannes: aaO., S. 372.

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Drawing“ von 1841 auf. Mond und Erde stehen der Sonne Modell, die sich als Male-

rin an der Staffelei versucht.

Die Bildtitel macht deutlich: Es handelt sich bei der Lichtbildnerei um eine neue Art

der Porträtkunst, um ein fotografisches Phänomen.

Doch die Gleichsetzung von Netzhautbildern und fotografischem Verfahren kann

nicht ohne weitere Differenzierungen vorgenommen werden. Es lässt sich zwar die

Nähe der Fotografie zur Keplerschen Bildform herstellen und eine Ähnlichkeit der

medialen Entstehung konstatieren. Als Fiktionalisierungsstrategie, welche den do-

kumentarischen Gehalt der Abbildung in Frage stellt, kann diese Analogie aber nicht

gewertet werden. Erst das kalkulierte Konzept der Malerei, das uns im Kapitel D. mit

dem Begriff des „Aspect“ begegnen wird, bietet die ästhetischen Ressourcen, aus

denen eine fiktional narrative Kunst schöpft.

Betrachtet man die Illustration van Beverwycks sowie Konincks und Walls Land-

schaften, wird deutlich, dass die kompositorischen Übereinstimmungen auf ihrer

gemeinsamen Wurzel als Augen-Kunst beruhen. Die Illustration, die anfangs in die

Diskussion eingeführt wurde, hat sich als eine Art häusliche Inszenierung der Ent-

stehung des Keplerschen Bildes und zugleich als Modell für die holländische

Abbildung 26: Philips Koninck: Flusslandschaf mit ohem Ufer, 1647, Öl auf Leinwand, 96,5 x h

115 7 cmAbbildung 25: Johan van Beverwyck: Illustration aus dem „Schat de Onge-sontheyt, Amsterdam 1664

Abbildung 27: Jeff Wall: Jewish Cemetery, Großbilddia in Leuchtkasten, 1987, 119 x 216 cm

Malerei gezeigt. Wie Walls und Konincks Darstellung ist van Beverwycks Land-

schaft ungerichtet und offen. Alle drei untersuchen die bewusstseinslose Produktion

der Bildträger, so wie sie Kepler in seiner Streitschrift gegen den Astronomen Vitel-

lio formuliert.

„Quomodo idolum seu pictura haec spiritibus visoriis, qui resident in retina et in neruo, coniungatur, et utrum per spiritus

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intro in cerebri cauernas ad animae seu facultatis visoriae tribunal sistatur, an facultas visoria, ceu quaestor ab Anima datus, e cerebri praetorio foras in ipsum neruum visorium et retinam, ceu an inferiora subsellia descendens, idolo huic procedat obuiam, hoc inquam Physicis relinquo disputandum“210 [Wie das Bild oder dieses Gemälde durch Sehkräfte, die in der Netz-haut und im Sehnerv sitzen, verbunden wird, ob es durch einen Luft-hauch hinein in das Gehirn vor das Tribunal der Seele oder das Seh-vermögen geschickt wird oder ob das Sehvermögen, wie ein von der Psyche gegebener Untersuchungsrichter aus dem Sitz des Gehirns heraus auf den Sehnerv selbst und die Netzhaut hinabsteigt – dies, so behaupte ich, überlasse ich den Naturwissenschaftlern zur Erörte-rung]

Es ist die Aufgabe der Naturwissenschaftler, zu untersuchen, wie das Netzhautbild

durch das Gehirn interpretiert wird. Ob das Sehvermögen wie ein von der Seele aus-

gesandter Untersuchungsrichter (Quaestor) sich von der Ratsversammlung des Ge-

hirns aus aufmacht, um dieses Bild zu interpretieren, gehört nicht in den Umkreis

seiner Untersuchung. Sehen bedeutet für Kepler, sich bewusst zu werden, dass die

Netzhaut Reize empfängt. Er demonstriert dies durch seine wissenschaftlichen

Nachweise. Dabei wird das Sehen als totalisierendes, kumulatives Vermögen defi-

niert.

Das Auge kann alles sehen – jedoch mit einer Ausnahme: Kepler geht ebenso wie

später Descartes davon aus, dass das Auge sich nicht selbst sehen kann. Beide setz-

ten dagegen, dass der Wissenschaftler das Auge im „allgemeinen denken“211 kann,

also sein Funktionieren beobachtet und mittels Modellen und Illustrationen die Spur

des Sehens liefert.

Die Keplersche Bildform ist an der Grenze zwischen Natur und Kunst angesiedelt.

Sie wird durch den Astronomen mathematisch definiert und in den Gemälden der

Holländer malerisch umgesetzt. Die Definition seines unpersönlichen Seh-Eindrucks,

der auf die Darstellung der reinen Seh-Daten reduziert wird, schlägt sich in der Dar-

stellungsform der Kunst nieder. Die Gemeinsamkeit von Van Beverwycks Illustrati-

on und Konincks Landschaft zeigt sich in der Art des Sichtbarmachens, in der Weise,

die gewählt wird, um den Bildinhalt zu präsentieren. Die malerische Konsequenz der

210 Kepler, Johannes: Ad Vitellionem Paralipomena Quibus Astronomiae pars optica traditur, in: Hammer, Franz (Hrsg.): Johannes Kepler – Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1941, S. 151f 211 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild – vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, S. 177.

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Keplerschen Bildform liegt in der Rekonstruktion des unvoreingenommenen Sehein-

drucks. Ziel ist es, das Sehen zu sehen, oder wie Wall es formuliert: eine Erfahrung

der Erfahrung. Dieses Ziel ist ein Paradoxon, denn die Produktion von Netzhautbil-

dern ist unmöglich. Bereits die Entscheidung, einen Seheindruck festzuhalten, ist ein

kalkuliertes Konzept, dem ein bewusster Beschluss vorausgeht. Wie in der „Ecriture

automatique“ der Surrealisten das Unbewusste zum Thema der Malerei wird, findet

sich bei der Kunst des Nordens der Versuch, einen kontrollierten Kontrollverlust

darzustellen – nur unter anderen Vorzeichen. Während die „Ecriture automatique“

die Spur einer unzensierten Seelenkunst legt, hat die Kunst des Nordens die Aufga-

be, das optische Pictura-Bild darzustellen. Doch gerade hierin, in der Konstruktion

einer bewussten Bewusstlosigkeit, fußt eine Ästhetik, die als beispielhaft für eine

Kunst des Eindrucks steht. Diese Strategie macht die Werke der holländischen

Künstler zu einer geeigneten Referenz für Jeff Wall.

Das bedeutet keinen Widerspruch zur Autorschaft des Künstlers. Wäre an der Bild-

herstellung kein Künstler beteiligt, der den Gegenstand gemäß seiner Vorstellung

eines autorenlosen Registrierens auswählen und gestalten würde, wären die Werke

dokumentarische Abbilder der physiologischen Bildproduktion. Ihr Platz wäre dann

nicht im Stedelijk Museum, sondern in einer Ausstellung zu anatomischer oder phy-

siologischer Wissenschaftsgeschichte. Stattdessen markieren sie den Grat zwischen

Malerei und Naturwissenschaft und sind zwischen dem reinen Seheindruck und der

kontrollierten Fiktion angesiedelt. Hierin liegt der spezifische Status der Gemälde

begründet. Er macht den Weg für künstlerische Kategorien frei, die sich weniger an

den rhetorischen und erzählerischen Modi orientieren als an der Darstellung der

Sichtbarkeit. Dies bleibt nicht ohne Folgen für den Betrachter: Beim Anblick von

Gemälden, die sich der Kunst des Eindrucks verschrieben haben, ist es unmöglich,

eine Geschichte nachzuerzählen, denn die „istoria“ löst sich in der Sichtbarmachung

der Gegenstände auf.

Keplers Augenmodell ist eine Form der Sichtbarmachung, die dem italienischen

Fenster-Blick, der von Alberti geprägt wurde, gegenübersteht.212 Während auf der

212 Albertis Diktum, dass die Malerei die Welt so repräsentiere, als sehe man sie durch ein Fenster, findet sich nicht nur in Italien, sondern auch in Dürers Darstellung eines Zeichners bei der Arbeit. In Dürers „Unterweysung der Messung“ von 1538 wird die Anfertigung der Aktzeichnung gezeigt. Ein weibliches Modell befindet sich auf einem Tisch, der ein gerastertes Velum besitzt, hinter dem sich

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einen Seite die Welt durch ein gerahmtes Fenster wahrgenommen wird, dem wir un-

ser Auge zuwenden, tritt auf der anderen Seite das Bild an die Stelle des Auges. Un-

ser Standpunkt bleibt dadurch ungeklärt, und es stellt sich ein Höchstmaß an visuel-

ler Beteiligung für den Betrachter ein.213 Die Gemälde besitzen einen Bildstatus, der

einerseits aus einer Auseinandersetzung mit optischen Beobachtungen resultiert, an-

dererseits eine künstlerische Gemachtheit besitzt. Der Blick wird sehr nahe an das

Bildgeschehen gezoomt, so dass die rahmenlosen Ansichten unmittelbar vor dem

Betrachter stehen. Hieraus entwickelt sich die Faszination, die der Betrachter emp-

findet, wenn er die Werke der Künstler des Nordens erblickt. Für Jeff Walls Arran-

gements bietet sich durch den Rekurs auf die holländische Kunst die Möglichkeit der

Fiktion. Seine Arbeit verweist auf die Zugehörigkeit zu einem alternativen Darstel-

lungsmodus, der nicht mit der Erfindung der Perspektive im 15. Jahrhundert in Ita-

lien assoziiert werden kann.

Eine Zwischenbemerkung zur Präzisierung ist hier jedoch notwendig: Allein der Be-

zug auf die Optik macht nicht den Unterschied der italienischen und holländischen

Malereikonzeptionen aus. In der Forschung ist besonders Vermeers „Ansicht von

Delft“ oftmals mit den Abbildungen der Camera obscura in Verbindung gebracht

worden. Die winzigen Farbpigmente, welche die Schiffe in der „Ansicht von Delft“

beschreiben, wurden als Äquivalente jener diffusen Lichtkreise gelesen, die beim

Bild der Camera obscura um die unscharf eingestellten Lichter gebildet werden.214

Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Vermeer mit den Funktionen der Camera

vertraut war und von ihnen Gebrauch gemacht hat.215 Durch die Benutzung von opti-

schen, bildgebenden Verfahren ist bereits eine Parallele zwischen Walls Fotografien

und der holländischen Kunst zu ziehen. Es wird sich jedoch in der Darstellung der

Bildhandlung und des Bildraums noch zeigen, dass beide mehr verbindet als die

Verwendung optischer Reproduktionsgeräte. Die Sehkultur, der beide angehören,

erschöpft sich nicht in der technischen Ausgangssituation. Allein der Gebrauch opti-

der Zeichner befindet. Das Aktmodell wird durch einen genau definierten Abstand gezeichnet. Der Raster-Blick definiert den Ausschnitt. 213 Michael Fried hat in seiner Studie „Absorption and Theatricality – Painting and the Age of the Beholder“, einige Beispiele dieser Strategie in der französischen Kunst bei Chardin gefunden. Auf deutsch in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985, S. 154-182. 214 Fink, Daniel: Vermeer’s Use of the Camera obscura – A Comparative Study, in: The Art Bulletin, 53, 1971, S. 493-505. 215 Hockney, David: Geheimes Wissen – verlorene Techniken der Alten Meister wieder entdeckt, München 2001.

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scher Geräte kann keine notwendige Bedingung für eine „Kunst des Eindrucks“ lie-

fern. Er verweist zwar auf ein grundlegendes Interesse der Künstler an wissenschaft-

lichen Geräten, erklärt jedoch nicht das kulturelle Milieu und die Bewertung, in die

diese künstlerische Praxis eingebettet ist. Schließlich waren die Linse und die damit

verbundenen Abbildungstechniken seit der Antike bekannt und in Gebrauch. Aristo-

teles berichtet von den optischen Prinzipien der Camera bei der Beobachtung einer

Sonnenfinsternis. Er stellt fest, dass die Sonnenstrahlen, die durch die Löcher eines

Siebes auf den Boden projiziert werden, je nach Größe der Löcher an Schärfe gewin-

nen oder verlieren. Damit ist die Beziehung von der Größe der Öffnung und der

Bildschärfe benannt, die bei Fotoapparaten durch die Blende reguliert wird.216

Auch die Italiener experimentierten mit Linsen. Leonardo da Vinci beschäftigt sich

in seinen Aufzeichnungen des „Codex Atlanticus“ mit der Camera; Giambattista

Della Porta thematisiert sie in der „Magia naturalis“, Daniele Barbaro in der Schrift

„La Practica della Perspettiva“. Doch die Künstler des Südens kommen unter der

Verwendung der Camera obscura zu vollständig anderen Bildlösungen als Jan Ver-

meer, Gerard Dou und Jacques de Gheyn. Obwohl die Praxis der Camera obscura

auch im Süden bekannt war, findet man dort keine Gemälde, die als Anschauungs-

beispiele für die Vorstellung eines autorenlosen Sehens fungieren, und somit der

„Kunst des Eindrucks“ zugehören. Die italienische Kunst entstammt anderen ideen-

geschichtlichen Voraussetzungen. Allein die Untersuchung optischer Gesetze bietet

nicht die Grundlage eines Vergleichs.217

Bedeutsam ist für die vorliegende Studie also weniger der tatsächliche Gebrauch der

Camera obscura als das Vertrauen und die Bewertung, welche die Camera-Bilder im

Holland des 17. Jahrhunderts erfuhren; denn die Ursache für die spezifische Qualität

der holländischen Kunst kann nicht in einem technischen Verfahren gefunden wer-

den, sondern muss in einer Veränderung der ästhetischen Voraussetzungen gesucht

werden. Wenn Künstler die Technik der Camera nutzten, dann aus einem Interesse

an optischen Vorgängen und deren Konsequenzen für ihre Malerei – und gerade dar-

216 Die Erfindung der Camera obscura als Dunkelkammer, ausgestattet mit einer kleinen Lichtöff-nung, geht auf Al-Hazan zurück. In den Schriften des arabischen Gelehrten, der im 10. Jahrhundert das Phänomen der Sonnenfinsternis studierte, hat man die frühesten Beschreibungen einer Camera obscura gefunden. Einen chronologischen Überblick über die technische Entwicklung der Camera liefert Helmut Gernsheim im ersten Teil der Geschichte der Photographie – die ersten hundert Jahre, Frankfurt/Main 1983. 217 Dazu: Edgerton, Samuel Y.: Die Entdeckung der Perspektive, München 2002.

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in liegt ihre Verwandtschaft mit Jeff Wall. Vermeers Bild ist somit nicht eine Kopie

nach einer Darstellung der Camera obscura, sondern vielmehr eine Reflexion über

die Möglichkeiten der Malerei, über die Berührungspunkte zwischen gesehener und

gemalter Welt, denn die Verwendung der Camera obscura bietet für das Problem, das

durch das Wesen der Malerei aufgegeben ist, letztlich keine Lösung.218 Nur der Be-

zugsrahmen, in dem eine Praxis angesiedelt ist, lässt Rückschlüsse auf die Intention

der Verwendung zu.

Seit der der Diskussion um die Kunstwürdigkeit der Fotografie, die in den 70er-

Jahren begann, kreisen die Fragen um die malerischen Vorläufer der Technik. Dabei

haben sich zwei Lager herausgebildet: Die einen vergleichen die Malerei mit der

Fotografie, um im Anschluss deren Kunstwürdigkeit abzulehnen219, die anderen pos-

tulieren eine Ähnlichkeit von Malerei und Fotografie, um sie zu nobilitieren. So un-

terschiedlich die Standpunkte in ihrer Konsequenz sind, so ähnlich ist ihr Argumen-

tationsmuster. Beiden ist gemeinsam, dass nicht die Kunst nördlich der Alpen, son-

dern Albertis Bildtypus zum Vergleich herangezogen wird.

218 Auf die Verbindung von holländischer Malerei und der Technik der Camera obscura hat bereits Sir Josuah Reynolds verwiesen. Die Effekte der Malerei – besonders der Jan van der Heydens – kommen „in ihrer Wirkung der Natur, wie sie durch die Camera obscura gesehen wird“ nahe, schreibt er in seiner Reise nach Flandern und Holland. Zit. nach. Alpers, Svetlana: Kunst der Beschreibung – hol-ländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, S. 84. Ebenso bezieht sich der Kunsthistoriker Eugéne Formentin auf die Camera, wenn er von Ruisdaels Landschaften spricht „Sein Auge hat die Eigentümlichkeit der Camera obscura, es verkleinert, schwächt das Licht und bewahrt den Dingen das genaue Verhältnis ihrer Formen und Farben“. Fromentin, Eugène: Die Alten Meister (Belgien - Hol-land), Weimar 1907, S. 101. „Für die holländischen Künstler, denen es um eine Erkundung der sie umgebenden Welt ging, bedeutete die Camera obscura ein einzigartiges Mittel, um beurteilen zu kön-nen, wie ein wahrhaft natürliches Gemälde auszusehen hätte“, schreibt Arthur Wheelock. History of Photography, 2., New York 1977, S. 101; Ebenso: Ders.: Perspective, Optics and Delft Artists around 1650 – outstanding Dissertations in the Fine Arts, New York 1977. Im Falle Vermeers ist alles, ange-fangen vom Bildaufbau bis zur Wiedergabe der Objekte und dem Gebrauch der Farbe von der For-schung auf die Camera obscura zurückgeführt worden. Bereits 1891 verbindet Joseph Pennell das Größenverhältnis der beiden Figuren in Vermeers Gemälde „Soldat und lachendes Mädchen“ mit dem Hinweis, dass Vermeer optische Apparaturen benutzt habe. Pennell, Joseph: Photography as hin-drance and help to art, in: The Journal of the Camera Club, Vol.V, London 1891, S. 75. Heinrich Schwarz versucht in seinem Aufsatz „Vermeer and the Camera obscura“ nachzuweisen, dass Vermeer sich bei der „Ansicht von Delft“ der Camera immobilis bediente. Schwarz, Heinrich: Art and Photog-raphy – forerunners and influences, New York 1985, S. 119-131, S. 127. Ähnlich argumentieren Charles Seymour und Kenneth Clark. Seymour, Charles: Dark Chamber and Light-Filled Room – Vermeer and the Camera obscura, in: The Art Bulletin, 46, 1964, S. 323-331; Clark, Kenneth: Land-scape into Art, New York 1976. 219 Scruton, Roger: Photography and Representation, in: Critical Inquiry, 7, Autuum 1980, S. 577-603; Sontag, Susan: The Image-World, in: Hardwick, Elisabeth (Hrsg.): A Susan Sontag Reader, New York 1982, S. 349-367.

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Peter Galassi war einer der ersten amerikanischen Kritiker, der zu der Schlussfolge-

rung gelangte, dass die Fotografie nicht nur zur Gattung der Malerei gehöre, sondern

dass ohne die ästhetischen Vorentscheidungen der Malerei Fotografie nicht zu den-

ken sei. Galassis Ausstellung „Before Photography“, die 1981 vom New Yorker Mu-

seum of Modern Art präsentiert wurde, zeigte Gemäldestudien und Landschaften –

fragmentarische, scheinbar unkomponierte Wiedergaben der gesehenen Natur ebenso

wie holländische Innenräume protestantischer Kirchen, die im 17. Jahrhundert ent-

standen waren. Galassis Bildauswahl war überzeugend. Sie bekräftigte die Annahme,

dass eine Spielart der Fotografie auch Parallelen zur impressionistischen Kunst auf-

weise. Die Schlussfolgerung, die er im Katalog nachfolgen ließ, zeigte jedoch ein

völlig gewandeltes Verständnis. Er beschreibt eine Illustration aus Albertis „de Pic-

tura“ und begründet damit die Erfindung der Fotografie als Ableger des linearper-

spektivischen Bildes.220 Der Widerspruch von Ausstellung und Katalogtext zeigt die

Suche, der Fotografie eine Geschichte zu geben. Sie mündete bei Galassi in der Au-

torität der italienischen Kunst, auf die sich die Autoren bis heute berufen.

Sowohl für das Werk von Jeff Wall wie für die Arbeiten anderer Fotografen, die sich

der arrangierten Kunst widmen, wird die italienische Kunst als vorbildlich herange-

zogen.221 Erst die Ausstellungen „Malerei ohne Malerei“, die im Frühjahr 2002 im

Museum der Bildenden Künste in Leipzig gezeigt wurde, hat versucht, das Maleri-

sche in Fotografien, DVDs und Videos jenseits der Festschreibung auf italienische

Malereimodi darzustellen. Sie zeigte neben den „Blind Windows“ von Jeff Wall un-

ter anderem Fotografien von Tom Hunter, Jeremy Blake, Jörg Sasse sowie Videos

von Bill Viola, Marijke van Warmerdam und Peter Friedl. Die Arbeiten wurden – so

220 Galassi bezieht sich in seiner Argumentation ebenso auf Piero della Francesca wie auf Ucello als Vorläufer fotografischer Bilder. 221 Heinz Buddemeier hat auf zwei Entstehungsgeschichten der Fotografie verwiesen. Zum einen sieht er sie in der Logik der Verwissenschaftlichung, die bei Leonardo beginnt, zum anderen entwickelt er die Fotografie aus der Panorama- und Spektakelkultur. Buddemeier, Heinz: Das Foto – Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines neuen Urteils, Hamburg 1981; Buddemeier, Heinz: Panorama - Diarama - Photographie – Entstehung und Einwirkung neuer Medien im 19.Jahrhundert, München 1970. Christine Walter reiht die Fotografien von Jeff Wall ebenso in die Renaissancekultur ein. In ihrer Magisterarbeit „Bildkonzept und Darstellungstechnik bei Jeff Wall unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive“, die 1997 am kunsthistorischen Institut in München entstand, wird der Tiefenraum mit italienischen Piazza-Darstellungen in Verbindung gebracht. Im Katalog zur Aus-stellung „Ansicht – Aussicht – Einsicht“, die im Jahr 2000 in Leipzig gezeigt wurde, parallelisiert Monika Steinhauser die inszenierten Architekturfotografien von Andreas Gursky, Thomas Ruff und Candida Höfer mit Architekturbildern von Piero della Francesco, römischen Ansichten von Giovanni Paolo Pannini oder Francesco Guardi; Steinhauser, Monika (Hrsg.): Ansicht–Aussicht–Einsicht, Leipzig 2000.

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macht das Vorwort deutlich – zusammengestellt, um mit den Wölfflinschen Grund-

begriffen neue Wege einer kunsthistorischen Zuordnung zu finden. Die Zuweisung

einer spezifischen Bildlichkeit der malerischen Fotografie konnte jedoch auch hier

nicht gefunden werden.222 Die besondere Wirkung von Walls Tableaus blieb dadurch

ungeklärt.

Er zeigt „scheinbar unbedeutende, aber doch eigentümlich inszenierte Szenen“223.

Die Spannung, die Walls Bilder

auszeichnet, besteht in ihrem

Verhältnis zu einer malerischen

Sehkultur nordischer Prägung –

ein Merkmal, das er in der Be-

schreibung seiner Arbeit betont.

Wall weist die Kunst der Hollän-

der zwar nicht dezidiert als Vor-

bild aus, beschreibt jedoch genau

die ästhetischen Qualitäten, die

für diese Kunst kennzeichnend

sind: „Das ständige Spiel zwischen journalistischem und dichterischem Schreiben,

(...), ist für mich ein grundlegendes Modell dafür, wie die Fotografie funktioniert.

(...) Deshalb akzeptiere ich nicht, dem Foto subjektive Qualitäten anzudichten, nur

weil sich das fotografische Material manipulieren lässt“224. Die Fotografie soll kei-

nen künstlerischen Stil oder eine spezielle Manier erkennen lassen. Künstler zu sein

und Fotografien zu arrangieren, bedeutet nicht, subjektive Empfindungsqualitäten zu

transportieren. Nicht der genialische Visionär ist vorbildlich, sondern der Künstler,

der die Spur des Keplerschen Bildes verfolgt. Wall formuliert eine Forderung, die

bereits der Holländer Philip Angels 1642 in seinem „Lof der Schilder-Const“ postu-

Abbildung 28: Jeff Wall: The blind Window No.1, 2000, Großbilddia in Leuchtkasten, 199 x 133 cm

222 Luckow, Dirk/Schmidt, Hans-Werner (Hrsg.): Malerei ohne Malerei, Leipzig 2002. Ebenso sei auf die Ausstellung „Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei“, die im Jahr 2000 im Kunstverein Marienbad zu sehen war, hingewiesen. Ohne die Fotografien in ein festgelegtes, italie-nisch-inspiriertes Raster zu ordnen, wurden hier malerische Tendenzen von Jeff Wall, Walter Nie-dermayr, Jörg Sasse, und Heidi Specker versammelt. Berg, Stephan / Hirner, René / Schulz, Bernd (Hrsg.): Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei, Ostfildern 2000. 223 Dazu: die Dissertation von Annette Geiger: Urbild und fotografischer Blick – Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, die 2001 am Stuttgarter Institut für Kunstgeschichte bei Professor Wyss entstand. S. 185.

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lierte: „Sullen wy het soo maecken dat yder een kann sein om dat het op sodanige

maniere gemaerct is, dat het van die, of die Meester zy? Neen geensins.“225 [Sollen

wir es so machen, dass jedermann sehen kann, dass ein Werk in einer bestimmten Manier

gemacht wurde, und dass es von diesem oder jenem Meister ist? Nein keinesfalls.]226 Nicht

der Stil, die Manier, die Handschrift einer Malerpersönlichkeit steht im Vordergrund,

sondern eine Haltung, die nach Bildern jenseits subjektiver Seelenlandschaften sucht.

Durch ihre Verbindung zur Keplerschen Art und Weise des Bildermachens offenba-

ren sich ähnliche Zielsetzungen in der Kunst der Holländer und der Fotografie Walls.

Es ist eine Kunst, die zwischen dem objektiven Blick des Reporters und dem künstle-

rischen Schöpfertum angesiedelt ist: „Reportage ist nur dann interessant, wenn sie in

einen fiktiven Kontext gestellt wird, aber Fiktion ist nur interessant, wenn sie durch

einen dokumentarischen Charakter aufgewertet wird“227, betont Wall, wenn er davon

spricht, seine Motive nicht zu planen, sondern sie zu finden.228 Eine Analogie zwi-

schen holländischer Malerei und Walls Fotografie ist also nicht nur in der Gestal-

tung, sondern auch in der Wirkung der Kunstwerke zu verzeichnen. Sie macht den

„pictorial impact“229 seiner Kunst aus und ist wesentlicher Bestandteil ihrer artifi-

ziellen Erscheinung. Beiden Darstellungsmodi ist gemeinsam, dass sie an der

Schwelle von gesehener und reflektierter Welt angesiedelt sind. Wall kommentiert:

„Die neue Welt, die sich mir eröffnete, stand offensichtlich in Beziehung zu dem,

was die Malerei schon vollbracht hatte – eine Verschmelzung von Reportage und

Vorstellungswelt“230. Das Fotografische, wie es Jeff Wall skizziert, ist also nicht

eine Eigenschaft einer technischen Entwicklung und Reproduktion, sondern bezieht

sich auf eine künstlerische Fragestellung, die für Malerei wie für Fotografie verbind-

lich ist: Wie kann ein „Bild des Sehens“ geschaffen werden?

224 „Judd plus Flavin plus ein Foto.“ Jeff Wall im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International, 44, 1999, S. 230-245, S. 240. 225 Angels, Philips: Lof der Schilder-Const, Leiden 1642, S. 53. 226 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 227 Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art Los Angeles, Brogher, Kerry (Hrsg.): Jeff Wall, Los Angeles 1997, S. 25. 228 Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents. In: aaO., S. 99. 229 Wallace Ian, in: Institute of Contemporary Arts London (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, Lon-don 1984, S. 1. 230 Wall zitiert nach: Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte – Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/Main, S .93.

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D.V. Der Aspekt – Topos der Kunsttheorie Während im vorangegangenen Kapitel die keplersche Sehform als Ausgangspunkt

meiner Untersuchung beschrieben wurde, soll nun die kunsttheoretische Karriere

dieses Modus beleuchtet werden – schließlich war Kepler Naturwissenschaftler und

kein Künstler. Die Karriere seiner Sehform schlägt sich in einem Begriff nieder, der

aus kunsttheoretischer Perspektive die Besonderheit und das Wesen dieses Konzepts

beschreibt. Es ist der Schlüsselbegriff „Aspekt“, der sich als Topos in der Rezeption

von Keplers optischen Versuchen findet und bald das Genre wechselt, um als Kate-

gorie in der Kunstliteratur in Erscheinung zu treten.

Der „Aspekt“ markiert den Gegenpol zu einer Lehre, die sich für ein projizierendes

Auge ausspricht. Er findet sich in der Kunsttheorie verschiedener Epochen und be-

zeugt eine Verwandtschaft unterschiedlicher malerischer Ausprägungen. Allen ge-

mein ist, dass sie um ein passives Malerauge ringen, das sich vom entwerfenden

Blick absetzt. John Constable und die Impressionisten propagieren dieses empfan-

gende Sehen ebenso wie John Ruskin, der mit seiner „Science of Aspects“ einer Äs-

thetik der Erscheinung das Wort redet. Sie alle formulieren eine Malerei, die für eine

Keplersche Art des Bildermachens eintritt und eine Kunst fordert, die als Prothese

für diesen Blick fungieren soll. Für die Klassifikation der Werke von Jeff Wall erhal-

ten wir dadurch ein Zweifaches: Zum einen werden Walls Fotografien in den Kon-

text einer malerischen Entwicklung eingereiht, welche die Reichweite der „Kunst des

Eindrucks“ vorführt, zum anderen wird erneut deutlich, dass Wall weniger dem Me-

dium verpflichtet ist, als seinen malerischen Verwandten. Die Geschichte der Male-

rei, die sich als Veranschaulichung des Sehens versteht, folgt einer eigenen ästheti-

schen Logik; einer Folgerichtigkeit, in der sich auch die Werke von Jeff Wall einrei-

hen lassen.

Uns begegnet der „Aspekt“ in einem Brief, den Henry Wotton an Francis Bacon

schrieb. 1620 hatte Wotton, der als englischer Botschafter in Den Haag lebte, Kepler

in Linz besucht. Als er seine Verwunderung über die Zeichnung einer Landschaft,

die er in Keplers Arbeitszimmer bemerkt hatte, äußert, berichtet Kepler über den

Entstehungsprozess der Zeichnung. Durch Wottons Beschreibung erfahren wir, wie

Kepler seine mobile Camera obscura eingesetzt hat, und erhalten gleichzeitig den

Schlüsselbegriff dieses Kapitels.

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„He hath a little black tent (of what stuff is not much importing) which he can suddenly set up, where he will in a field, and it is convertible (like a windmill) to all quarters at pleasure, capable of not much more than one man, as I conceive, and perhaps at no great ease; exactly close and dark save at one hole, about an inch and a half in the diameter, to which he applies a long perspective trunk, with a convex glass fitted to the said hole and the concave taken out at the other end, which extendeth to about the middle of this erected tent, through which the visible radiations of all the objects without are intromitted, falling upon a paper (...); and so he traceth them with his pen in their natural appearance, turning his little tent round by degrees, till he hath designed the whole as-pect of the field“.231

Kepler hat ein kleines schwarzes Zelt, das im Freien schnell aufgebaut werden kann

und sich in alle Richtungen wie eine Windmühle drehen lässt. Es ist vollkommen

abgeschlossen und dunkel und besitzt eine kleine Öffnung, durch die die Strahlen auf

ein Stück Papier fallen. Anschließend zeichnet er die Erscheinung nach und dreht

sein kleines Zelt solange herum, bis er den gesamten Anblick, den „aspect“ der

Landschaft gezeichnet hat.

Die Gesamtansicht setzt sich durch eine sukzessive Addition von Teilansichten zu-

sammen, die in ihrer „natural appearance“ durch die Öffnung tritt. Sie sind

ausschnitthaft und flach, ohne tiefenräumliche Ausdehnung. Setzen wir nun den Lo-

cus Classicus der Kunstliteratur daneben. Nicolas Poussin schrieb im Frühjahr 1642

an Philippe de Noyers, um die Qualität seiner Malerei gegen die Vorwürfe seiner

Gegner zu verteidigen. Der Brief ist Teil von gelehrten Schriften, die Poussin einem

ausgewählten Leserkreis zukommen ließ – meist seinem französischen Auftraggeber

Paul des Chantelou. In der Großen Galerie des Louvre sollen seine Werke frühere

Dekorationen ersetzen. Er ist ebenso wie Annibale Caracci und Domenichino von

Neidern und Intrigen umgeben. Ein richtiges Urteil könne sich de Noyer jedoch nur

bilden, wenn er die Gemälde von Poussin in angemessener Weise betrachten werde:

Man muss wissen, „daß es zwei Arten gibt, einen Gegenstand zu betrachten: einmal ihn einfach anzuschauen, und einen anderen, ihn mit Aufmerksamkeit zu betrachten. Einfach zu sehen ist nichts anderes, als im Auge die Form und Ähnlichkeit der gese-

231 Smith, Logan Pearshall (Hrsg.): The Life and Letters of Sir Henry Wotton, Bd. 2. Oxford, 1966, S. 206. Die kursive Schreibweise des „aspects“ stammt von der Verfasserin.

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henen Dinge zu empfangen. Aber einen Gegenstand zu sehen, indem man ihn betrachtet, heißt – jenseits der einfachen und na-türlichen Aufnahme der Form durch das Auge – mit einem be-sonderen Verfahren die Mittel zu suchen, um dasselbe Objekt gut zu erkennen: So kann man sagen, daß die einfache Ansicht [le Aspect] ein natürlicher Vorgang ist und jener, den ich Durch-sicht [le Prospect] nenne, ein Amt des Verstandes, das von drei Dingen abhängt, nämlich vom Auge, vom Sehstrahl und von der Entfernung des Auges zum Gegenstand. Und es ist diese Kennt-nis, von der zu wünschen wäre, daß diejenigen, die sich einmischen, um ihr Urteil abzugeben, in ihr gut unterrichtet würden“.232

Der „Aspect“ bietet sich dem Auge als natürlicher Vorgang, während der Prospekt

ein „Amt des Verstandes“ ist. Er wird durch den Sehstrahl geliefert, der in der Per-

spektivtheorie durch die Sehpyramide gebildet wird.233 Um einen „Prospekt“, eine

Durchsicht, den Blick durch ein Fenster, zu erhalten, muss sich der Betrachter in

einem genau definierten Abstand vor dem Gemälde aufhalten. Während das Auge

durch den „Aspekt“ die Form passiv empfängt, ist der Betrachter aktiver Bestandteil

der Bildentstehung. Mit dem Begriff „Prospekt“ beschreibt Poussin das Sehen, das

auf intellektuellen Nachvollzug ausgerichtet ist, mit „Aspect“ eine „natürliche Auf-

nahme“ [Operation naturelle], die dem entspricht, was Kepler als „Pictura“, als Netz-

hautbild beschrieben hat. Der „Aspect“ ist das quasi maschinelle Aufzeichnen des

Auges, der Eindruck, den der Künstler von den Erscheinungen der Welt erhält, um

ihn sofort auf dem Gemälde festzuhalten.234

In der Kunsttheorie der Impressionisten wird dieser Eindruck zur maßgeblichen In-

stanz für die Bildgenese. Hier finden wir eine weitere Spielart der Keplerschen Seh-

form. Sie zeigt sich nicht nur im stilbildenden Begriff, der diese Kunst kennzeichnet

– sie ist eine Kunst der Impression –, sondern auch in der malerischen Praxis, die der

232 Bruhn, Matthias: Nicolas Poussin – Bilder und Briefe, Berlin 2000, S. 200f. 233 Carl Goldstein hat Poussins Prospekt-Lehre auf die Perspektivkonstruktionen von Vignola und den „due regole della prospettiva“ zurückgeführt. Einen weiteren Einfluss übte das Manuskript von Mat-teo Zaccolini aus, das Poussin gekannt haben muss. Goldstein, Carl: The Meaning of Poussins Letter to De Noyers, in: The Burlington Magazin, Vol. CVIII, Nr. 754-765, Jan-Dez.1966, S. 233-239. 234 Der fotografische Blick, der sich in den Beobachtungsverfahren und Abbildungstechniken zeigt, ist der Versuch, subjektive Einflussnahme soweit als möglich zu unterbinden. Er findet sich auch in den Gemälden von Jean-Baptiste Chardin und als Topos in den Salonkritiken Denis Diderots. Char-dins Zitate aus dem Repertoire der holländischen Kunst sind nicht zu übersehen und verdeutlichen, dass ihm weniger an einer Weiterentwicklung bestimmter Motive gelegen war, als die Form, die Vi-sualisierbarkeit von Stillleben und Genre zu thematisieren. Seine Motive überraschen weniger, als sie visuell faszinieren. Dazu: Annette Geigers Dissertation: Urbild und fotografischer Blick - Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2001.

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Autorität des Auges untersteht. Der reine Seheindruck gelangt zur Bildwürdigkeit, so

dass das impressionistische Gemälde die unmittelbare Fixierung jener visuellen Spur

sein will, die das Motiv auf der Netzhaut des Künstlers hinterlassen hat.

Hier gelangen wir an ein Problem, das bereits bei den Holländern und der Verwen-

dung der Camera obscura deutlich wurde und für den Kunst-Charakter von Jeff

Walls Arbeiten maßgeblich ist. Genauso wenig wie die holländischen Maler Camera-

obscura-Bilder herstellen, arbeiten die Impressionisten fotografisch. Anhand ihrer

Malerei lässt sich deutlich zeigen, worin der Unterschied zwischen einem konzeptu-

ellen Gebrauch des Mediums und einer Fotografie als „Dienstleistung“ besteht.

Fotografien werden von den Impressionisten als Paradigma dokumentarischer Ab-

bildbarkeit, nicht als eigenständiges Werk, wie in den 70er-Jahren, gebraucht. Foto-

grafische, ausschnitthafte Ansichten, die weniger komponiert als zufällig vorgefun-

den erscheinen, dienen ebenso als Inspiration, wie die Alltäglichkeit einer fotogra-

fierten Straßenszene. Edouard Manets „Hafen von Bordeaux“ aus dem Jahr 1871

bezieht sich auf eine Hafendarstellung von Adolphe Braun. Wie die Abbildungen 29

und 30 zeigen, arbeitete Edgar Degas an einem Frauenporträt nach einer Fotografie

von Adolphe-Eugène Disderi; Pierre Bonnard und Gustave Moreau benutzen ebenso

fotografische Vorlagen wie später Fernand Khnopff, Edouard Vuillard, Alphonse

Mucha, Edvard Munch und Pablo Picasso.235 Eine genaue Untersuchung des fotogra-

fischen Ausgangsmaterials offenbart, dass alle gesicherten Vorlagen für die Maler

des Impressionismus fotografische Indices sind.

Sie erfüllen die Funktion, die ihnen qua Dokumentationsmittel zusteht. Sie fungie-

ren, um die Erinnerung einer Reise zu konservieren, um einen historischen Straßen-

verlauf zu dokumentieren oder anstelle der Skizze eine spontane Bildidee festzuhal-

235 Weitere Beispiele liefern Paul Gauguin und Henri Rousseau. Gauguin bezieht sich in dem Gemäl-de „Frau mit Farn“ auf die Fotografie einer Südsee-Insulanerin, Rousseau gewinnt in dem Gemälde „Der Wagen von Père Juniet“ Inspirationen von einer 1906 entstandenen Aufnahme. Erika Billeter hat wichtige Beispiele der fotografisch-malerischen Wechselbeziehung zusammengetragen. Billeter, Erika: Das Selbstporträt im Zeitalter der Photographie – Maler und Photographen im Dialog mit sich selbst, Bern 1985. Ebenso: Schwarz, Heinrich: Art and Photography – Forerunners and Influences, New York 1949; Coke, van Deren: The painter and the photograph – from Delacroix to Warhol, 1966; Stelzer, Otto: Kunst und Photographie – Kontakte, Wirkungen, Einflüsse, München 1966; Schmoll gen. Einsenwerth, Jan A.: Malerei nach Fotografie – von der Camera obscura bis zur Pop Art, München 1971; Baldassari, Anne: Picasso und die Photographie – Der schwarze Spiegel, Mün-chen 1997; Kosinski, Dorothy: The Artist and the Camera, New Haven 2000.

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ten.236 Die Fotografien nehmen bei den Impressionisten die Rolle ein, die bisher das

Modell ausgefüllt hatte. Die Künstler isolieren aus dem fotografischen Material eine

Pose, eine Geste oder Haltung und übertragen diese später in das Gemälde.

Abbildung 32: Adolphe-Eugéne Disderi: Porträtfotografie, um 1870

Abbildung 33: Edgar Degas: Frau-enporträt, 1872, Öl auf Leinwand, 90 x 57 cm

Die Fotografie hat nicht den Status eines ebenbürtigen Kunstwerks und stellt die

Malerei somit nicht vor die Aufgabe der Legitimation. Die Fotografien stehen im

Dienst der Mimesis, der sich die bildende Kunst seit dem 18. Jahrhundert mehr und

mehr zu verweigern beginnt und die im 19. Jahrhundert bereits ihre Gültigkeit verlo-

ren hat.237 Die Erfindung der Fotografie kann somit sicherlich als Phänomen gewer-

tet werden, das seine Spuren in der bildenden Kunst hinterlassen hat; für eine Krise

der Malerei kann sie jedoch nicht zur Verantwortung gezogen werden, denn die Im-

pressionisten interessiert an der Fotografie, was sie für ihre Auseinandersetzung mit

den Fragen der Malerei leistet. Hätte die Erfindung des Index’, die Fixierbarkeit des

236 Die Beispiele, die Kirk Varnedoe von Edgar Degas, Gustave Cailletbotte und Edouard Manet anführt, untermauern diese These. Dazu: Varnedoe, Krik: The Artifice of Candor – Impressionism and Photography Reconsidered, in: Art in America, 1, 1980, S. 66-78. 237 Carsten Zelle hat die ästhetische Kategorie des Schönen untersucht und festgestellt, dass seit dem 18. Jahrhundert die Ästhetik einen „Bruch mit sich selbst“ vollzogen hat. Dieser Bruch drückt sich in einem Gegendiskurs zur klassischen Schönheitslehre aus. In dieser Konsequenz werden die Aufgaben der Malerei neu bestimmt; Abbildungsqualitäten treten in den Hintergrund. Zelle, Carsten: Die dop-pelte Ästhetik der Moderne – Revision des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart 1995, S. 7ff.

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optischen Eindrucks, die Lösung aller malerischen Probleme bedeutet, dann hätten

die Impressionisten nicht zu Pinsel und Leinwand gegriffen, sondern zu Linse und

Fotopapier, denn ihnen stand die Fotografie, die 1839 für die Öffentlichkeit zugäng-

lich war, bereits zur Verfügung.238

Es ist darum nicht verwunderlich, dass Paul Signac die Geschichte des Neoimpressi-

onismus in seinem Buch „D’Eugène Delacroix au néo-impressionisme“ als maleri-

sche Entwicklung von Eugéne Delacroix über John Constable bis zu John Ruskin

und Georges Seurat beschreibt, ohne auf die Erfindung der Fotografie einzugehen. In

einem zusammenfassenden Aufsatz in der deutschen Zeitschrift „Pan“, die seinen

Artikel 1898 veröffentlichte, betont Signac die Notwendigkeit des Netzhautbildes für

die Malerei: „Die Mischung stets reiner Elemente auf unserer Netzhaut“239 ist das

Vorbild für die Technik der Farbzerlegung, der sich die Impressionisten verschieben

haben. Ästhetisch wird diese Bestimmung – nach Signac – von John Ruskin aufge-

griffen. Ruskins Lehre gilt als Legitimation und historische Rückbindung für den

Impressionismus. Beide verbindet das Interesse an einer Malerei, die sich gemäß der

Keplerschen Bildform am Auge orientiert.

In der Theorie des englischen Schriftstellers, Malers und Kunsttheoretikers John

Ruskin treffen wir erneut auf den Begriff des „Aspects“, der sich hier bereits als äs-

thetische Kategorie etabliert hat. Seine „Science of Aspects“ liefert der Malerei des

Netzhautbildes einen anschaulichen Begriff und erweitert sie zu einer Wahrneh-

mungsgrundlage der Naturphänomene. Ruskin stellt die „Science of Aspects“, die

Wissenschaft der Erscheinungen, den „Science of Facts“, der naturwissenschaftli-

chen Sichtweise, dem Experiment mit der Natur in seiner Schrift „Modern Painters“

gegenüber.

„Es gibt genauso gut eine Wissenschaft von den Erscheinungen der Dinge, wie eine ‚Natur‘-Wissenschaft existiert. Und es ist ge-nauso wichtig, herauszuarbeiten, welche Wirkungen die Dinge auf das Auge oder das Herz machen, wie festzustellen aus wel-

238 Peter Bürger schreibt in seiner „Theorie der Avantgarde“: „Mit dem Aufkommen der Fotografie und der damit gegebenen Möglichkeit der exakten Wiedergabe von Wirklichkeit auf mechanischem Wege, verkümmert die Abbildfunktion der bildenden Kunst“. Dem naheliegenden Schluss, die Abs-traktion der Malerei leite sich aus der Erfindung der Fotografie ab, ist jedoch nicht zuzustimmen. Die Aufgabe der Malerei überstieg immer den Auftrag, Wirklichkeit abzubilden. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974, S. 41f. 239 Ein Nachdruck von Paul Signacs Aufsatz „Neoimpressionismus“ findet sich im Ausstellungskata-log „Farben des Lichts“. Franz, Erich: Farben des Lichts – Paul Signac und der Beginn der Moderne von Matisse bis Mondrian, Ostfildern-Ruit, 1996, S. 377-398, hier: S. 384.

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chen Atomen oder Schwingungen der Materie sie bestehen.“240, schreibt er 1842.

Dem „bemühten Blick“241, der sich in bewusster Kontemplation in die Erscheinun-

gen versenkt, eröffnet sich die Bewegung, Gestaltvielfalt und Nuancierung der Na-

tur.242 Um zu dieser Verfasstheit zu gelangen, vor aller künstlerischen Absicht, be-

darf es einer eigenen Wissenschaft, der „Science of Aspects“. Nicht der einzelne

Gegenstand, der seziert werden kann, sondern die unfassbare Fülle von Naturer-

scheinungen liegt Ruskins Ästhetik zugrunde. Er plädiert für eine Naturerforschung

ohne System, eine Naturbeobachtung, die ohne zu klassifizieren die Erscheinungs-

formen der Landschaft erlebt. Wahr ist alle Apperzeption, die sich Natur aneignet

und ihre Vielgestaltigkeit und Veränderbarkeit aufnimmt.243 Die Bäume haben un-

endlich viele Blätter, die Blätter unendlich viele Zacken und Adern, kein Blatt

gleicht dem anderen. Unendlich sind die Vielfalt der Tonigkeit einer Landschaft und

die Verlaufsformen von Wellen – und damit nicht in naturwissenschaftlichen Einzel-

versuchen erfahrbar, in individuellen, partikularen Wahrheiten, sondern nur als Ge-

samtheit der Phänomene.

Um die „Science of Aspects“ zu praktizieren, bedarf es einer „Unschuld des Auges“,

eines ursprünglichen Sehens, das nur die Sehdaten ohne nachfolgende Ordnung auf-

nimmt. 1857 formuliert Ruskin dieses Postulat in seiner Zeichenlehre „The Elements

of Drawing“. Dort heißt es:

„Alles, was wir an der Welt um uns herum wahrnehmen, bietet sich dem Auge dar als eine Zusammenstellung verschiedenfarbi-ger Flecken (...). Die ganze Wirkungskraft der Malerei im Tech-nischen beruht auf unserer Fähigkeit, jenen Zustand zurückzuge-winnen, den man Unschuld des Auges nennen könnte, d.i. eine Art von kindlicher Sehweise, die die farbigen Flecken als solche wahrnimmt, ohne Wissen von ihrer Bedeutung – so wie ein Blin-der sie sehen würde, wenn ihm mit einem Mal die Sehkraft zu-rückgegeben wird.“244

240 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: John Ruskin – Leben und Werk, München 1983, S. 76 241 Kemp, Wolfgang: aaO., S. 76. 242 Die Idee der Plenitudo, der göttlichen Mannigfaltigkeit der Welt, reicht bis zu Platon zurück, den Ruskin viel gelesen hat. Sie erscheint bei den englischen Neuplatonikern des 18. Jahrhunderts, bei-spielsweise Richard Hooker, und ist fortan in der europäischen Geistesgeschichte präsent. Dazu: Kemp, Wolfgang: aaO., S. 70ff. 243 Ruskins Ästhetik basiert auf der Verteidigung der Malerei William Turners, der in seine Land-schaften Wolken, Bäume – kurz Naturerscheinungen idealtypisch dargestellt hat. 244 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: aaO., S. 113.

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Die Aufgabe der Malerei besteht darin, dem Betrachter das Erlebnis eines vorzivili-

sierten Sehens zu ermöglichen, das sich an den optischen Gegebenheiten der Wahr-

nehmung orientiert. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, der Physik, Botanik

und Optik bieten eine Möglichkeit, sich gegen die Ziele der akademischen Malerei

abzugrenzen, denn ideale, klassische Künstler malten nicht „wie wir sahen, sondern

was nach ihrer Meinung nach ein hübsches Bild gab“.245 So finden wir auch in

Ruskins Schriften Zeugnisse einer wissenschaftlichen Tätigkeit. Er untersucht die

Lichtbrechung und die Reflexion von Gegenständen im Wasser, die Ablenkung, Ein-

und Ausfallswinkel der Lichtstrahlen sowie die Spiegelungen von Objekten.246 Die

Ergebnisse hält er in Notizbüchern fest, um die Umsetzung in den malerischen Zeug-

nissen zu überprüfen. „Der ganze Wert ihres [der Kunst] Zeugnisses beruht (...) auf

der Wahrhaftigkeit des einen Wortes, das vorangegangen ist: Vidi – ich habe

gesehen“247. Entsprechend scharf fällt seine Kritik an der etablierten Kunstwahr-

nehmung aus: „Man fragt einen Kunstkenner, der ganz Europa abgelaufen hat, wie

das Blatt der Ulme geformt sei. Kaum einer wird es wissen, und doch jede Land-

schaft redselig kritisieren (...)“248, merkt er bereits als 24-Jähriger an.

Möglicherweise hat Ruskin an eine Zeichnung von John Constable gedacht, als er

diese Zeilen niederschrieb. Im Gegensatz zu den Kritikern gehört der Künstler

Constable zum Kennerkreis der Naturphänomene. Seine Studien zeigen eine genaue

Beobachtung der Erscheinung, so wie es Ruskin gefordert hat. Die Spiegelungen des

Lichts auf der nassen Vegetation, die vorüberziehenden Wolken, die feine Struktur

der Grashalme, jedes Detail der Landschaft wird in seiner Malerei aufgezeichnet, so

dass Constable dem Vorwurf einer mangelnden Beobachtungsgabe nicht ausgesetzt

werden kann. Constable zeigt in seiner Zeichnung „Elm tree“ von 1821 den Aus-

schnitt einer Ulme. Der Baum wird nicht in der Gesamtheit seiner Größe dargestellt,

sondern auf den Schaft mit schuppiger Rinde reduziert. Jede Einzelheit der Baumrin-

de wurde sorgfältig studiert und für bildwürdig erklärt. Doch über den weiteren

Wuchs des Baumes erhalten wir keine Auskunft. Der Baum nimmt prononciert die

245 Ruskin, John: Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung – Moderne Maler, Leipzig 1902, S. 91. Zur Verbindung von Ruskins Kunsttheorie und der Entwicklungsgeschichte der Fotografie siehe auch Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit, in: ders.. Die aufgehobene Zeit – Die Erfindung der Photographie durch Henry Fox Talbot, Berlin 1988, S. 39-60. 246 Kemp, Wolfgang:, aaO., S. 82. 247 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: aaO., S. 112. 248 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: aaO., S. 73.

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Mittelachse des Bildes ein. Constable

zeigt eine rahmenlose Ansicht, die auf

eine Komposition mit flankierendem

Beiwerk verzichtet. Hier finden sich die

Merkmale eines malerischen Stils wie-

der, welcher der Keplerschen Sehform

entstammt: die Detailgenauigkeit der

Darstellung, die „offene“ Komposition,

die Positionierung des Bildgegenstands

im Vordergrund, die Zurückweisung

einer ausgedehnten Tiefenräumlichkeit

und der Verzicht darauf, den Bildge-

genstand aus der Fenster-Sicht darzustellen.

Abbildung 31: John Constable, Elm Tree, 1821

Das Bild zeigt nur einen Ausschnitt,

einen Aspekt der Gesamtansicht des

Baumes. Constable macht dem Be-

trachter bewusst, dass sich der Baum

über das willkürliche Rechteck des

Blattes erstreckt und er nur dasjenige

zu Papier gebracht hat, das im Be-

reich seines Gesichtfelds in Erschei-

nung getreten ist, dass die Zeichnung

keinen vollständigen – möglicherwei-

se – idealen Entwurf einer Ulme vorführt, sondern nur eine Teilansicht aufzeichnet.

Nüchtern, bloß registrierend, ohne die Gesamtheit erfassen zu wollen, hat der Maler

den Gegenstand ins Bild gesetzt. Die Nahsichtigkeit gewährt dem Auge des Künst-

lers, nur soviel aufzuzeichnen, wie es seine physiologische Beschaffenheit erlaubt.

Die „Science of Aspects“, die sich in der Summe einzelner Teilansichten ausdrückt,

wie sie Ruskin propagiert, wird hier vorweggenommen.

Abbildung 32: Jeff Wall: Clipped Branches - East Cordova St., 1999, Großbilddia in Leuchtkasten, 85, 3 x 102,5 cm

Stellen wir Constables „Elm tree“ einer Fotografie von Wall zur Seite, wird deutlich,

dass beiden Ansichten Ähnlichkeiten in der stilistischen Auffassung des Bildgegen-

standes zugrunde liegen. Walls Fotografie „Clipped Branches, East Cordova St.,

Vancouver“ von 1999 beschränkt sich ebenfalls darauf, den rauhen Stamm eines

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Baumes zu zeigen. Constables Ulme befindet sich in einem Park, Walls Baum inmit-

ten eines asphaltierten Trottoirs, doch bei beiden erhalten wir keine Auskunft über

die weitere Beschaffenheit des Baumes; lediglich die Textur der rauhen Rinde wird

uns vorgeführt. In den beiden begrenzten Ansichten finden wir Keplers Einzeler-

scheinung wieder, die er in seiner mobilen Camera-Apparatur erzeugte. Constable

und Wall lösen aus dem „Prospekt“ der Erscheinung den „Aspekt“ des Eindrucks.

Der Zeichnung sowie der Fotografie gelingt dadurch, dem linearperspektivischen

Raum, der auf die Erschließung einer Gesamtansicht ausgelegt ist, eine Alternative

gegenüberzustellen, die sich in der arrangierten Komposition ausdrückt. Hier liegt

nicht das Modell des binokularen, anthropomorphen Sehens zugrunde, das dem

menschlichen Streben zugeordnet wird, Ursache, Wirkung und Abgeschlossenheit zu

liefern, sondern das vereinzelte Auge, das als Sehmaschine einen Gegenstand suk-

zessive abtastet und die Einzelteile nach optischen Gesetzen abbildet – ohne Inter-

pretation des Seheindrucks.

Für die Fragestellung nach Walls Fiktionalisierungsstrategien lässt sich nun Folgen-

des feststellen: Die Kunst des Eindrucks, der auch Walls Fotografien zugerechnet

werden, folgt einer künstlerischen, ästhetischen und malerischen Logik, die im 17.

Jahrhundert in der holländischen Malerei zu finden ist und sich im 19. Jahrhundert

durch die Impressionisten ausprägt.249 Sie findet ihren Niederschlag in einer Kunst-

theorie, die sich auf den Begriff des Aspekts bezieht und formuliert die Ziele einer

Malerei, die den schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Vorstellung dieser Wirk-

lichkeit darstellen will. Für diese Kunst gilt, was Gottfried Boehm für Cézanne for-

muliert hat: „Prima vista sehen wir Dinge oder Sachverhalte, keine Sehdaten. Es be-

darf einer höchst künstlerischen Einstellung, um dergleichen überhaupt zu gewahren.

Sehdaten kann jeder nur sehend an sich selbst beobachten.“250

Die Strategie, die bei Keplers Bildform ihren Anfang nimmt, ist letztlich für einen

Ablösungsprozess von einer rhetorischen Organisation des Bildes verantwortlich. Sie

steht am Anfang einer Kunst, die Malerei unter ihrer spezifischen Qualität in den

249 Die Beziehung der Holländer zu den Impressionisten ist nicht als lineare Folge zu verstehen. Der Vergleich beruht auf malerischen Grundbegriffen, die im Sinne der Wölfflinschen Lehre in verschie-denen Epochen auftreten können. Unter dieser Voraussetzung sind auch die Äußerungen von Piet Swillens zu verstehen, der im Bezug auf die aufgesetzten Lichter in Vermeers Gemälden von einem „impressionistic realism“ spricht. Swillens, Piet T.A.: Johannes Vermeer – Painter oft Delft, Utrecht 1950, S. 178. 250 Boehm, Gottfried: Paul Cézanne – Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt/Main 1988, S. 31.

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Vordergrund stellt und als visuelles Ereignis dem Betrachter gegenübertritt. Diese

künstlerische Strategie versucht nachzuspüren, wie die Sehinformation auf die Netz-

haut trifft. So, wie es der Holländer Samuel van Hoogstraten gefordert hat: dass „die

sichtbare Welt sich selbst in einer besonderen Weise darbietet“251.

Der Fotografie als Medium kann per se keine künstlerische Qualität zugesprochen

werden. Nur der Gebrauch, der sich in einer Arbeit ausdrückt, kann auf eine künstle-

rische Strategie verweisen. So zeichnen sich die Fotografien von Wall durch Merk-

male aus, die Wiedererkennbarkeit gewährleisten und die Werke für den Betrachter

beim ersten Anblick in die Nähe der Kunst rücken. Seine Strategie ist dabei von ei-

nem künstlerischen Stil zu unterscheiden. Stil ist nach der Vorstellung subjektiver

Schöpfungskraft die Kategorie, welche Kunst erzeugt und sich in Malerei als typi-

sche Gemachtheit ausdrückt. Die Keplersche Form des Bildermachens lehnt jegli-

chen Ausdruck einer subjektiven Künstlermanier ab. Das Streben, Bilder als Wahr-

nehmungsprothese zu entwickeln, ist das Verbindliche, was alle Kunstwerke, die

sich dem Eindruck verschrieben haben, eint und Wiedererkennbarkeit gewährleistet.

Mit Walls Werken tritt zum ersten Mal in der Geschichte der Fotografie eine Kunst

auf den Plan, welche nicht nur den Gebrauch der Fotografie in ein künstlerisches

Umfeld verlagert – das wurde innerhalb der Fotografiegeschichte oftmals prakti-

ziert252 –, sondern malerische Strategien, Kompositionselemente und Darstellungs-

weisen von Raum und Fläche innerhalb der Fotografie so anwendet, dass sich die

Eigenschaften des Mediums mit den Zielen einer speziellen Ausprägung der Malerei

in Übereinstimmung bringen lassen können: maschinelles Aufzeichnen und kalku-

liertes Kunstkonzept. Mit den Prinzipien der Malerei zu operieren, hatte bereits die

bildmäßige Fotografie der Piktorialisten und des Fin de Siècle versucht. Doch ihre

Kunst unterscheidet sich von den Werken, die in der Tradition der Keplerschen Seh-

form stehen, an einem zentralen Punkt: Der Piktorialismus bezieht sich nicht auf ein

autorenloses, entanthropomorphisiertes Sehen. Die Künstler arbeiten zwar mit Retu-

schen und Inszenierungen und versuchen ebenfalls das Medium von seiner wissen-

schaftlichen und dokumentarischen Aufgabe zu befreien und es für die bildende

Kunst fruchtbar zu machen, trennen jedoch das Registrieren des Bildapparates nicht

251 Hoogstraten, Samuel van: Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – Anders de zichtbae-re Werelt, Rotterdam 1678, S. 33. Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 252 Beispiele liefern die Collagen von Hannah Höch, Marcel Duchamp und Christian Boltanski.

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von der subjektiven Wahrnehmung.253 Die bildmäßige Fotografie des 19. Jahrhun-

derts versteht den künstlerischen Einsatz des Mediums als Stimulans für subjektive

Empfindungen, in deren Dienst Unschärfe als Stilmittel eingesetzt werden.254

Walls Werke sind also nicht mit den Erzeugnissen der Piktorialisten zu vergleichen,

sondern stehen im Umkreis einer spezifischen künstlerischen Haltung, die mit dem

Topos des „Aspekts“ nachgezeichnet wurde.255 Der formalen Gestaltung – der Flä-

chigkeit und den Teilansichten – entspricht die Reduktion des Bildgeschehens. Die

Handlung der Bilderzählung ist meist stillgelegt, die Figuren erscheinen in ihrer Tä-

tigkeit versunken und werden vollkommen absorbiert.

253 Neben diesem Unterschied sind die Themen, denen sich Künstler wie Oscar Gustave Rejlander und Henry Peach Robinson widmen, mythologischen oder allegorischen Ursprungs und haben nichts mit den genrehaften Szenen oder Landschaften gemein, die wir bei den Holländern und Jeff Wall finden. 254 Die Fotografien von Heinrich Kühn geben dafür ein Beispiel. Kühn benutzt die Weichzeichnung als programmatische Verfahrensweise, um eine individuelle Empfindung und Erlebniswahrheit zu vermitteln. Es geht „die Besinnung der bildmäßigen, der künstlerischen Photographie dahin, den erlebten Eindruck als das von einer Persönlichkeit subjektiv Empfundene durch eine kräfteverteilen-de, die Vielgestaltigkeit ordnende Vereinfachung in eine klare und deshalb eindrucksvolle Form zu fassen“, beschreibt Heinrich Kühn die Fotografie in seinem Beitrag zur Frage der weichzeichnenden Objektive. In: Photographische Rundschau und Mitteilungen, 61, 1924, S. 193. 255 Dennoch gehört es zu einem wissenschaftlichen Allgemeinplatz, die inszenierte Fotografie der 80er-Jahre durch den Ansatz des 19. Jahrhunderts zu erklären. Christine Walter widmet den piktoria-listischen Bildformen einen Exkurs, da die „Fotografen des Piktorialismus dennoch großen Einfluss auf das Werk zeitgenössischer Fotokünstler haben“. Walter, Christine: Bilder erzählen – Positionen inszenierter Fotografie, Weimar 2002, S. 63ff; Die Magisterarbeit, Positionen inszenierender Photo-graphie – historische und zeitgenössische Entwicklung, die am Stuttgarter Institut für Kunstgeschichte 1997 von Ulrike Weipert angefertigt wurde, stellt die fiktional narrative Fotografie ebenfalls in die Tradition der Piktorialisten.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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E. Erzählung oder Schilderung?

Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, dass Walls Fotografien gestalterische Analogien

zur Malerei des Nordens aufweisen. Durch die „Feineinstellung“ der Untersuchung

soll nun der spezifische Status seiner Kunst untersucht werden. Es stellt sich die Fra-

ge nach weiteren Charakteristika, um ein engmaschiges Raster für die Einordnung

seiner Werke zu erstellen. Sind Walls Fotografien erzählerisch, anekdotisch, zeitlich

organisiert, oder werden sie durch die Arbeit an einem großen Zyklus zusammen-

gehalten? Während die grobe Zuordnung in die keplersche Sehkultur es ermöglichte,

der Debatte um Fotografie zwischen Malerei und technischer Dokumentation eine

neue Perspektive zu liefern, werden nun die innerbildlichen Konsequenzen beleuch-

tet. Walls Großdias sind als Tableaus angelegt. Sie stehen in der Tradition der auto-

nomen Tafelbilder; jede einzelne Bildeinheit wird als abgeschlossenes Werk behan-

delt. Keine seiner Arbeiten besitzt seriellen oder zyklischen Charakter und unter-

scheidet sich dadurch von den sequentiellen oder seriellen Arbeiten der indexikali-

schen Kunst, die ich oben in Rekurs auf Rosalind Krauss’ Fotografietheorie näher

bestimmt hatte. Wenig Personal findet sich in den Bildern, in überschaubaren Grup-

pen haben sich die Protagonisten zusammengefunden. Meist sind es Personenkons-

tellationen von zwei bis maximal vier Personen. Sie sitzen auf einer Wiese, sind mit

der Lektüre eines Buches beschäftigt oder spazieren eine Straße entlang. Allen Dar-

stellungen ist eine zeitlich organisierte Handlung in einem spezifischen Raum ge-

meinsam.

Raum und Zeit sind seit der modernen Zeitphilosophie und ihrem Vordenker Imma-

nuel Kant Bedingungen für Möglichkeiten, die Gegenständlichkeit von Gegenstän-

den zu bestimmen. Zeit ist dabei kein externer Gegenstand oder eine Eigenschaft wie

Farbe, Härte oder Geruch, die wissenschaftlich untersucht werden können. Zeit ist

ein konstitutives Anordnungsschema der sinnlichen Wahrnehmung, das selbst zwar

nich wahrnehmbar ist, jedoch für das menschliche Erkennen und den Gegenstands-

bezug notwendig ist. In der aktuellen Debatte der Zeitphilosophie werden zwei para-

digmatische Argumentationsmodelle diskutiert: Zum einen das kantische Verständ-

Page 125: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

123

nis zum anderen Martin Heideggers Zeitphilosophie, die er in „Sein und Zeit“ formu-

lierte.256

Zeit und Raum, die in diesem Kapitel untersucht werden, stellen sich jedoch als

Möglichkeiten einer malerischen Darstellung von Handlung dar. Nicht der moderne

Zeitbegriff oder die zeitliche Wahrnehmung der Bildwerke ist im Folgenden verbind-

lich – schließlich werden Werke der bildenden Kunst in aufeinanderfolgenden Au-

genbewegungen wahrgenommen und somit in einem zeitlichen Nacheinander rezi-

piert.257 Es stellt sich vielmehr die Frage, wie die Wirkung der Wallschen Tableaus

erklärt werden kann – erscheinen die Menschen, die in seinen Fotografien auftreten,

doch seltsam entrückt, einem zeitlichen Verlauf enthoben. Eine Antwort liefert der

Rückgriff auf die vormoderne Kunsttheorie, die in diesem Kapitel referiert werden

soll. Es stellt sich dabei heraus, dass Wall nicht auf einen Zeitbegriff, wie er sich in

der Moderne herausgebildet hat, Bezug nimmt, sondern auf einen malereitheoreti-

schen Begriff von Zeit, wie wir ihn in den Traktaten der Holländer finden.258 Samuel

van Hoogstraten gebraucht den Begriff „tijd“, um seinen Schülern eine angemessene

Darstellungsform zu erklären. Er thematisiert Zeit als die malerische Organisation

von Handlung.259 Zeitlichkeit wird in der vormodernen, holländischen Kunst nicht

256 Zur Einordnung der Zeittheorien von Kant und Heidegger in die Diskussion des modernen Zeit-denkens siehe Janich, Peter: Die Konstitution der Zeit durch Reden und Handeln, in: Ars Semeiotica, 19, 1996, S. 133-147; Sandbothe, Mike: Die Verzeitlichung der Zeit – Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt 1998; Beuthan, Ralf / Sandbothe, Mike: Zeit – Kant, Hegel bis heute 19./20. Jahrhundert, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004. 257 Ernst Gombrich bemerkt dazu: „Auch das Lesen eines Bildes ist ein Prozeß, der in der Zeit vor sich geht, und zwar braucht er sehr viel Zeit“. Gombrich, Ernst: Bild und Auge, Stuttgart 1984, S. 43. Der Bereich, in dem wir scharf sehen, umfasst 2 Grad. Diese Beschränkung des Sehwinkels wird dadurch kompensiert, dass der Blick ruckartig von einem Fixationspunkt zum nächsten springt. Dazu: Monty, Richard A. / Senders, John W. (Hrsg.): Eye Movements and Psychological Processes, New York 1976, S. 323-345. 258 Seit 1800 begegnet uns Zeit in verschiedenen Erscheinungsweisen in der bildenden Kunst. Sie ist nicht mehr nur an die Darstellung von Handlung gebunden, sondern zeigt sich als Produktionszeit, Rezeptionszeit oder als ikonografisches Motiv. Als Produktionszeit zeigt sie sich in Gemälden der Impressionisten, in Pollocks Malerei oder einer verfallenden Dieter-Krieg-Skulptur sowie in der Dau-er einer Performance. Als Motiv erscheint Zeit in der Moderne als Thematisierung von Transitorik, beispielsweise in den naturwissenschaftlichen Studien Goethes. Dort wird versucht, das meteorologi-sche Phänomen zu fassen, das Ephemere und den transitorischen Übergangscharakter der Wolken zu thematisieren. Dazu: Haus, Andreas / Hofmann, Franck / Söll, Änne (Hrsg.): Material im Prozess – Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2001. 259 Van Hoogstraten thematisiert in seinem Malereitraktat Zeit im Sinne einer Schilderung von Hand-lung. In den Büchern, die der Muse Clio und der Muse Erato gewidmet sind, spricht er von den Er-fordernissen der Historie. Er nennt dabei eine inhaltliche Wahrhaftigkeit der Darstellung, die Wah-rung des Dekorums sowie die Bevorzugung erhabener Motive, um bei dem Betrachter innere Be-wegtheit zu erzeugen. Czech, Hans-Jörg: Im Geleit der Musen – Studien zu Samuel van Hoogstratens

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

124

als Thema, sondern vielmehr als akzidentielle Konsequenz, die sich aus der Darstel-

lung entwickelt, verstanden. Es wird keinerlei Bezug auf einen tatsächlichen Zeit-

fluss genommen, wie er sich in der Erfahrung des Betrachters manifestiert, sondern

innerhalb rhetorisch-poetologischer Kategorien der Schilderung oder Erzählung von

„Istoria“ diskutiert. Im Folgenden soll dieses Verständnis als ikonische Zeit themati-

siert werden. Sie zeigt sich in der innerbildlichen Darstellung, in den dargestellten

Bewegungs- und Kompositionsformen sowie in den Handlungszusammenhängen.

Ikonische Zeit ist unabhängig von der Wahrnehmung des Betrachters, sie existiert

allein auf dem Tableau und ist das Ergebnis einer künstlerischen Setzung, einer ma-

lerischen Organisation der Bildhandlung. Sie stellt eine bildimmanente Struktur dar,

an der sich die Bewegungen des Bildpersonals und Vorgänge des Gemäldes aufzei-

gen lassen. Ikonische Zeit zeigt sich entweder als Erzählung oder Schilderung, stellt

sich jedoch nicht mit den künstlerischen Mitteln der Faktur oder bearbeiteten Ober-

fläche dar.260 Ikonische Zeit ist ein ästhetisches Phänomen, eine künstlerische Be-

antwortung der Frage, wie Malerei eine Handlung anschaulich machen kann. Die

Untersuchung der ikonischen Zeit ist in den Gemälden, die für die Analyse herange-

zogen werden, weniger als Motiv greifbar, denn als Gegenstand der Darstellung, der

in seiner Zeitlichkeit geschildert wird.261 Anders als bei der seriellen Reihung oder

der technischen, medialen Umsetzung von Zeitlichkeit finden wir die ikonische Zeit

in den Szenerien; sie zeigt sich als Schilderung von Handlungsabläufen. Sie ist dabei

keine ikonografische Größe – wie etwa im Vanitas-Stillleben – sondern wird als

kunsthistorische Kategorie, welche die folgerichtige Bilderzählung untersucht, ver-

standen. Ikonische Zeit begegnet uns in der vormodernen Malerei als Handlung.

Während in der akademisch-italienischen Tradition eine Abfolge von Momenten

dargestellt wird, schildern die Künstler des Nordens stillgelegte Augenblicke. Sie

verzichten darauf, die Szene in einer phasenlogischen Abfolge von Ereignissen dar-

zustellen und lösen den Augenblick aus seiner zeitlichen Folge. Das Resultat ist eine

Malereitraktat Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – Anders de zichtbaere Werelt (Rot-terdam 1678), Münster 2002, S. 69-115ff. 260 2003 ist zu diesem Thema die Magisterarbeit „Vom bewegten Motiv zum verzeitlichten Medium – Verzeitlichungstendenzen in der europäischen Landschaftsmalerei zwischen 1780 - 1860“ von Sylwia Chomentowska am Stuttgarter Institut für Kunstgeschichte entstanden. 261 Der ikonischen Bildzeit und ihrer Untersuchung in der Kunstgeschichte widmet sich Lorenz Ditt-mann mit seinem Aufsatz „Der folgerichtige Bildaufbau – eine wissenschaftsgeschichtliche Skizze“. In: Hülsen-Esch, Andrea / Körner, Hans / Reuter, Guido (Hrsg.): Bilderzählungen – Zeitlichkeit im Bild, Köln 2003, S. 1-23.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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Kunst, die einerseits äußerst realistisch wirkt, andererseits nicht an die Erfahrungen

des Betrachters anzuknüpfen scheint. Dieser Effekt, der auch bei den Werken von

Jeff Wall zu konstatieren ist, soll im Folgenden dargestellt werden.

Es ist das Ziel, eine „Ikonographie des Augenblicks“262 für die holländische Malerei

zu entwickeln und somit die Eigentümlichkeit der Wallschen Kunst näher zu

bestimmen. Denn gerade in Walls Bezugnahme auf die vormoderne Strategie, Hand-

lung zu schildern, zeigt sich der fiktionale Charakter seiner Fotografien. Zeit und

Raum werden als die Formkategorien Handlung und Tiefe, also als Darstellungsprin-

zipien verstanden, deren Untersuchung die jeweiligen Eigenschaften von Erzählung

und Schilderung begreifen lässt. Diese Modi durchdringen sich und bilden gemein-

sam einen Chronotopos. Der Chronotopos, ein von dem Literaturwissenschaftler

Michail Bachtin geprägter Begriff, bezeichnet eine Verschmelzung räumlicher und

zeitlicher Merkmale.263 Im Chronotopos verbinden sich räumliche und zeitliche Ei-

genschaften zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen, zu einer Erzählung, wie wir

es in der Analyse der italienischen und französisch-akademischen Kunst kennenler-

nen werden, oder zu einer Schilderung, wie sie die Holländer und Wall entwickeln.

Ziel wird es im Folgenden sein, malerische Formulierungen von Chronotopoi vorzu-

stellen. Der Chronotopos für die Kunst des Nordens und die Fotografien von Jeff

Wall ist die Schilderung, während der Chronotopos für die italienische Kunst und

ihre akademischen Nachfahren die Erzählung ist.

E.I. Handlung – Dauer oder Moment?

Die Protagonisten in den Fotografien von Jeff Wall begegnen uns, während sie mit

der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten beschäftigt sind. Ein Mann lauscht an einer

Tür, wischt den Boden eines Raums, schließt einen Schrank auf oder spaziert eine

Straße entlang. Es sind scheinbare Schnappschüsse, die einen Zeitpunkt eines Ver-

laufs „einfrieren“ oder einen fruchtbaren Moment innerhalb einer Geschichte isolie-

ren und die Zufälligkeit einer Situation vorführen. Wie in Kapitel B.I. bis B.IV. ge-

262 Dazu: Thomsen, Christian W. / Holländer, Hans (Hrsg.): Augenblick und Zeitpunkt – Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984. Besonders: Hollän-der, Hans: Zur Zeit-Perspektive in der Malerei, in: aaO., S. 175-197. 263 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman – Untersuchungen zur historischen Poetik, Frank-furt/Main 1989, S. 8.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

126

zeigt wurde, basieren Walls Fotografien jedoch auf einer kalkulierten, oftmals ge-

probten Inszenierung, so dass eine Schnappschuss-Ästhetik für sein Werk ausge-

schlossen werden kann.264 Wie, wenn nicht mit der Zeitstruktur eines Schnappschus-

ses, können die Handlungen des Bildpersonals in ihrer spezifischen Struktur also

beschrieben werden?

Abbildung 33: Jeff Wall: Volunteer, 1996, Schwarz-Weiß-Fotografie, 207 x 274

cm

Walls Fotografie „Volunteer“ von 1996 zeigt einen Mann, der den Boden eines Ge-

meinschaftsraumes reinigt – vielleicht in einer sozialen Einrichtung. In der Ecke be-

findet sich eine provisorische Küchenzeile, Stühle stehen vor einer Wand mit Fotota-

pete, alltägliche Gegenstände wie Zeitungen, Plüsch-Spielzeug oder Geschirr sind zu

sehen. Der Mann ist ganz auf die Verrichtung der Tätigkeit konzentriert. Er blickt

auf den Boden und verfolgt die Bewegung des Reinigungsgeräts. Seine Augen schei-

nen fast geschlossen, sein Körper bewegungslos zu sein. Er zeichnet sich durch eine

augenblickliche Unbewegtheit aus. Wie lange er sich schon in diesem Raum befin-

det, und wann er seine Tätigkeit vollenden wird, kann genauso wenig gesagt werden,

wie dasjenige, was er zuvor getan hat oder danach tun wird. Die Situation scheint 264 Darum ist Rolf Lauters Vergleich von Walls Fotografien mit den Werken von Beat Streuli falsch. In seinem Essay über die „Identitäten des Selbst und des Anderen“ vergleicht er die „zum Stillstand verdammten und fixierten Personen“ mit den Protagonisten des Schweizer Künstlers. Streuli fotogra-fiert jedoch keine inszenierten Szenen, sondern Menschen, die sich unbeobachtet in öffentlichen, städtischen Räumen bewegen. Lauters, Rolf, in: ders. (Hrsg.) Figures and Places, München 2002, S.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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einem zeitlichen Verlauf enthoben zu sein. Wall schildert keinen Zeitpunkt, der aus

einer Reihe von Momenten isoliert wird, sondern hebt den zeitlichen Verlauf einer

Handlung durch künstlerische Mittel auf. Die Handlungen seiner Protagonisten sind

dabei nicht in einen temporalen Verlauf integriert, sondern dehnen sich zu einem

Moment von undefinierbarer Dauer.

Diese Strategie zeigt sich auch

in der Inszenierung von Hand-

lung in holländischen Gemäl-

den. Vergleicht man „Volun-

teer“ mit einem Gemälde von

Jan Vermeer, bemerkt man eine

ähnliche Struktur der zeitlichen

Organisation: Beide Künstler

schildern eine alltägliche Hand-

lung, die sich durch ein re-

gungsloses Verharren auszeich-

net. Vermeer Gemälde „Die

Milchmagd“ von 1660 zeigt

eine schlichte Genreszene, die

von einer jungen Frau dominiert wird. Sie gießt Milch aus einem Krug in eine

Schüssel, die vor ihr auf dem Tisch steht. Auf diesem Tisch befinden sich weiterhin

ein Korb mit Brot, ein Krug und einige Backwaren. Auf den ersten Blick scheint das

Gemälde lediglich eine Genreszene, angesiedelt in einem Wirtschaftsraum, zu illust-

rieren. Doch wie bei Walls „Volunteer“ stellen sich Schwierigkeiten ein, wenn man

die vorgeführte Handlung nachzuerzählen versucht. Die Vorlagen erlauben es nicht,

eine Geschichte zu spinnen, die sich nach einer Logik von Ursachen und Wirkung

entwickelt. Haltung und Gesichtsausdruck der Milchmagd sind durch Neutralität

geprägt. Wie bei Walls „Volunteer“ sind ihre Augenlider gesenkt. Die Protagonistin

blickt regungslos auf die fließende Milch und nimmt keinen Kontakt zum Betrachter

auf. Ihre gesamte Erscheinung, das heißt sowohl die innere wie die äußere Haltung,

ist auf die Tätigkeit fixiert.

Abbildung 34: Jan Vermeer: Die Milchmagd, um 1658, Öl auf Leinwand, 45,5 x 40,6 cm

25; Zu Streuli: Städtische Galerie Esslingen, Damsch-Wiehager, Renate (Hrsg.): „Dicht am Leben –

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

128

Die Milchkanne wird von der Magd leicht gekippt, so dass die Milch an der unteren

ausgebuchteten Kante in einem schmalen Strahl in den Tontopf fließt. Im ersten

Moment wird dadurch ein zeitliches Moment assoziiert – buchstäblich ein Zerfließen

von Zeit, eine Abfolge mehrerer Momente. Auf den zweiten Blick erscheint der

Milchstrahl jedoch eigentümlich statisch. Es bleibt dabei unklar, wie viel Milch noch

in der Kanne ist oder ob der Topf bereits gefüllt ist. Der Blick in den Krug wird

durch eine große runde Öffnung freigegeben. Gleichzeitig bleibt der Betrachter je-

doch im Unklaren, wie viel Flüssigkeit sich noch in ihm befindet. Weder der Zweck

der Handlung noch die Konsequenzen werden von Vermeer geschildert. Der Künst-

ler beschränkt sich darauf, den Anblick des Fließens darzustellen.

Das einförmige, „stehende“ Fließen der Milch wird durch die kompositorische Anla-

ge des Gemäldes verstärkt. Sowohl die Bilddetails wie das gesamte Gefüge basieren

auf einer statischen Komposition. Der ruhige, geradlinige Verlauf des Milchstrahls

wird in der vorderen, hell aufleuchtenden Falte der Tischdecke wiederholt. Sie endet,

angeschnitten, am Bildrand in der linken Hälfte des Vordergrunds. Der Hintergrund

ist durch einen starken Hell-Dunkel-Kontrast von Wand und Kleidung gekennzeich-

net. Die Milchmagd ist zur lichtdurchfluteten Seite plastisch modelliert, während

ihre rechte Körperhälfte mit dem hellen Flächenwert der Wand kontrastiert wird.

Hier begegnet uns eine collagenartige Wirkung, welche auch die Männerfigur von

Walls „Volunteer“ auszeichnet. Die scharfe Kontur beider Personen hebt sich flächig

vom Hintergrund ab; sie sind nicht in den Tiefenraum einbezogen, sondern erschei-

nen als applizierte Bildmotive. Während Wall diese Wirkung durch Studioleuchten

erzeugt, welche die Szene von rechts oben beleuchten, entwickelt Vermeer diesen

Effekt durch einen feinen weißen Strich, der entlang der Schulter und des Rückens

verläuft.265 Keine ausladende Gestik lenkt den Betrachter von der Beobachtung der

Figuren ab, wenige ikonographische Anspielungen zerstreuen die intensive Betrach-

tung der Tableaus.266 Ikonische Zeit als Verlauf wird ausgeschaltet. Eine Handlung,

Close to Life“, Ostfildern-Ruit 1995. 265 Wheelock, Arthur: Vermeer & the Art of Painting, New Haven, London 1995, S. 65. 266 Der Vermeer-Forscher Arthur Weelock konnte durch Röntgenaufnahmen nachweisen, dass das Gemälde ursprünglich mit einer Landkarte auf der Rückwand der Kammer versehen war. Für die endgültige Fassung hat Vermeer jedoch das ikonographische Repertoire auf ein Minimum begrenzt. Der Fußwärmer, der sich auf dem Boden hinter der Magd befindet, ist von ihm in Verbindung mit der Emblem-Literatur gedeutet worden. Bei Roemer Visschers Buch „Sinnepoppen“ von 1614 findet sich der Fußwärmer („Mignon de Dames“) als Verweis auf Liebe. Die kleinen Cupido-Figuren auf dem Boden-Fries der Kachel unterstützen diese These. Dazu: Wheelock, Arthur: aaO., S. 69f und S. 110.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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die sich auf den ersten Blick als ein Moment zeigt, der in eine Kette von abfolgenden

Ereignissen eingepasst ist, wird mittels künstlerischer Mittel überwunden.

Auch andere Werke

von Wall weisen diese

zeitliche Handlungs-

struktur auf. Wall hat

in der Fotografie „In-

somnia“ von 1994

eine Küche als Schau-

platz gewählt. Wir

blicken in einen Bild-

raum, der im Hinter-

grund durch einen

hellgrünen Einbau

abgeschlossen wird und im Vordergrund einen über Eck gestellten Tisch mit einem

Stuhl zeigt. Rechts befindet sich ein Kühlschrank, links steht ein Herd. Unter dem

Tisch liegt regungslos ein Mann. Er trägt eine Sporthose und ein gestreiftes Hemd.

Der Mann hat sich auf die Seite gedreht, den Arm unter dem Kopf angewinkelt und

blickt aus dem Bild. Die Pose, die an einen Schlafenden erinnert, erscheint in diesem

Interieur ungewöhnlich, würde der Titel nicht auf den Zustand der Bildfigur verwei-

sen: Wall zeigt eine Mann, der keinen Schlaf findet. Seine Augen sind zwar geöffnet

sind, doch er verharrt in der liegenden Pose. Die Gedanken des Schlaflosen folgen

ebenso wenig wie bei Vermeers „Lautenspielerin“ von 1664 dem, was seine Augen

wahrnehmen. Während die Lautenspielerin aus dem Fenster zu blicken scheint267,

sind die Augen des Mannes auf das gerichtet, was sich vor seinem Gesichtsfeld ab-

spielt.

Abbildung 35: Jeff Wall: Insomnia, 1994, Großbilddia in Leuchtkas-ten, 173 x 214 cm

Doch beide zeigen keinerlei Reaktion auf die visuelle Wahrnehmung, sondern sind

damit beschäftigt, sich auf das zu konzentrieren, was dem Betrachter verborgen

bleibt. Bei der Lautenspielerin sind es die Töne des Musikinstruments, das sie gerade

267 In der kunsthistorischen Literatur ist der Blick aus dem Fenster als Beobachtung der Straße gedeu-tet worden. Die Lautenspielerin erwartet eine Reaktion auf ihr Spiel. Sie hat jedoch die Noten auf dem Tisch noch nicht aufgeschlagen, sondern ist damit beschäftigt, die Saiten des Instruments zu stimmen. Walsh, John / Sonnenburg, Hubert von: Vermeer, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, 4, 1973.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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stimmt, bei „Insomnia“ sind es die Gedanken, die den Protagonisten der Szene be-

schäftigen.

Beide sind auf sich und ihre Tätigkei-

ten bezogen, sie treten durch ihre

Blicke nicht mit ihrer Umgebung in

Kontakt. In Stille und Zurückgezo-

genheit befinden sie sich in reduzier-

ten Interieurs, die keinen Hinweis

darauf geben, zu welcher Tageszeit

sich die Szenen abspielen. Das Ta-

geslicht dringt zwar bei Vermeer

durch die Scheibe, letztlich bleibt

eine genaue Bestimmung des Zeit-

punkts unmöglich. Der Innenraum

und die Gegenstände werden nicht in

der Erscheinungsfarbe des flüchtigen,

verstreichenden Momentes dargestellt, sondern in einem diffusen Streulicht, das den

Raum gleichmäßig erhellt. Es ist nicht das Arretieren eines verstreichenden Augen-

blicks, sondern die Darstellung einer unbestimmten Dauer. Bei Wall ist das Tages-

licht vollständig ausgeschlossen. Obwohl der Raum ein Fenster besitzt, verhindert

die gegenüberliegende Wand das Eindringen des natürlichen Lichtes. Der Titel legt

nahe, dass es Nacht ist, eine elektrische Lampe spiegelt sich im Küchenfenster. Doch

die Lichtregie der Szene verweist auf zusätzliche Strahler, die dem Raum den ge-

wünschten Lichteffekt geben. Ihr Schein spiegelt sich in den Wölbungen der Kü-

chenschränke. Der Betrachter wird damit über die tatsächlichen, natürlichen Licht-

verhältnisse im Unklaren gelassen. Die Szene spielt sich nicht in einem Zeitraum ab,

der sich an der Betrachter-Erfahrung orientiert, sondern in einen zeitlosen Kunst-

raum. Auffälliges Merkmal dieser Kunsträume ist die räumliche Enge, in der sich die

Personen befinden. Die zeitliche Verdichtung der Handlung findet in der räumlichen

Dimensioniertheit ihre Entsprechung. Die Möbel bilden dabei ein Kompositionsge-

füge, in das die Figuren eingepasst sind. Die starke Nahsicht zeigt einen fokussierten

Raumausschnitt. Dieser begrenzte Raum verhindert eine ausladende Gestik und breit

angelegte Erzählformen. In diesen eng dimensionierten, verstellten Kammern können

Abbildung 36: Jan Vermeer: Die Lautenspie-lerin, um 1664, Öl auf Leinwand, 51,4 x 45,7 cm

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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sich keine ausladenden Handlungszusammenhänge entwickeln. Wall zeigt diese

Verkürzung des Handlungsraums in der Pose des liegenden Mannes. Sein Körper

erstreckt sich fast über die gesamte Bilddiagonale, so dass er von den Gegenständen,

die sich in der Küche befinden – besonders durch den Tisch – eingerahmt wird.

Vermeer verfolgt diese Strategie bei der Lautenspielerin, indem er weit auseinander

liegende Gegenstände durch ein direktes Nebeneinander in die Fläche bannt. Der

Löwenkopf des Stuhls im Vordergrund erscheint dicht neben der Schulter der jungen

Frau. Ebenso wird der Knauf der Kartenstange im Hintergrund sehr nah an die

Schulter gerückt. Der Raum zwischen dem Tisch und der Rückwand besitzt dabei so

wenig Ausdehnung, dass man sich fragen muss, wie die Frau mit der Laute dahinter

Platz findet. Die Ausarbeitung des Stuhls vor der Wand und die Verkürzung der Bo-

denplatten verraten jedoch Vermeers Kenntnis der räumlichen Gesetze und zeigen,

dass der Künstler in diesem Gemälde mit der Verunklärung perspektivischer Regeln

arbeitet, um das räumliche Arrangement mit der zeitlichen Darstellung zu kombinie-

ren. Der Betrachter wird Zeuge einer Szene, die keinem definierten Verlauf folgt.

Bei Vermeers „Brieflesende[m] Mädchen am offenen Fenster“ wird die Situation aus

einem narrativen Zusammenhang gelöst. Vor einem geöffneten Fenster sehen wir

eine junge Frau, die mit der Lektüre eines Briefes beschäftigt ist.268 Wieder ist der

Gesichtsausdruck der Protagonistin durch die geschlossenen Augen gekennzeichnet,

und ihr Körper wird von einer Rahmung aus Möbeln, Teppichen und Vorhängen

umschlossen. Wir können nicht in die Sphäre der Briefleserin eintauchen. Selbst die

Spiegelung in der Fensterscheibe offenbart keine weitere Ansicht der jungen Frau,

sondern verdoppelt nur den Ausdruck zurückgezogener Versunkenheit. Uns bleibt

verwehrt, den Inhalt des Briefes zu erfahren, denn Vermeer schildert das inhaltliche

Zentrum der Handlung als Vakuum. Die Ereignisse und Vorgänge, von denen der

268 Das Briefmotiv kommt bereits Anfang des 17. Jahrhunderts in der holländischen Malerei vor. Während zuvor das soziale Ereignis im Vordergrund stand, werden Mitte des 17. Jahrhunderts Frauen und Männer allein in einem Innenraum beim Lesen oder Schreiben von Briefen gemalt. Die konzent-rierte Versunkenheit der Briefschreiber wird beispielsweise von Gabriel Metsu und Vermeer themati-siert.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

132

Brief handelt, bleiben für uns unsicht-

bar; keine Zeile des Schriftstücks kann

vom Betrachter entziffert werden. In-

dem Vermeer den Betrachter von der

Handlung ausschließt und ihm die An-

teilnahme am Bildgeschehen verwehrt,

verweist die Bilderzählung auf sich

selbst zurück.269 In Stille und Zurück-

gezogenheit wird eine sehr privat an-

mutende Umgebung geschildert, in

welche der Betrachterblick eindringt.

An der rechten Bildseite fällt ein zu-

rückgezogener Vorhang auf, der weni-

ger zur Intensivierung der privaten

Atmosphäre eingesetzt wird, sondern

als Trompe-l’oeil den Eindruck erwecken soll, vor dem Gemälde angebracht zu sein.

Die Vorhangstange verläuft zwar am oberen Bildrand des Gemäldes, scheint jedoch

über die Begrenzung des Bildgeviertes hinauszugehen.270 Der Vorhang, der von

Vermeer nachträglich in die Komposition eingefügt wurde, markiert die Grenze zwi-

schen dem Betrachterraum und dem Bildraum.271 Die komplexe Doppeldeutigkeit

der Augentäuschung – schließlich ist auch der Vorhang gemalt – soll im Moment

nicht weiter verfolgt werden; sie wird während der Analyse des Guckkasten-Motivs

in Kapitel E.V. weitere Perspektiven der illusionistischen Malerei aufzeigen. Vorerst

gilt es festzuhalten, dass Vermeer durch diese Augentäuschung zwei voneinander

getrennte Sphären des Gemäldes vorführt: einerseits die spezifische Situation inner-

halb des Gemäldes, andererseits die Betrachtersituation außerhalb des Bildes.272

Abbildung 37: Jan Vermeer: Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657, Öl auf Leinwand, 83 x 64,5 cm

269 Dazu: Alpers, Svetlana: aaO., S. 321-342. 270 Im Holland des 17. Jahrhunderts waren Bild-Vorhänge üblich. Sie dienten dazu, die Gemälde vor Licht und Schmutz zu schützen oder sie nur an ausgewählten Tagen zu zeigen. Netta, Irene, aaO., S. 120. 271 Röntgenaufnahmen haben auf dem Gemälde in der rechten Tischhälfte einen Römer sichtbar ge-macht. Der Vorhang war somit nicht von Anfang an Teil des Gemäldes. Meyer-Meintschel, Annalie-se: Die Briefleserin von Jan Vermeer van Delft – zum Inhalt und zur Geschichte des Bildes, in: Jahr-buch der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, 11, 1978/79, S. 91-99, S. 95. 272 Die Verfasstheit des beobachtenden Betrachters wird in Kapitel E näher untersucht werden. Sie ähnelt dem voyeuristischen Blick eines Guckkastenbetrachters.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

133

Beide folgen einer eigenen Logik von Raum und Zeit. Vermeer erschafft dadurch

eine eigenständige Bildrealität, die nur scheinbar der Alltäglichkeit des gegebenen

Sujets und den damit verbundenen zeitlichen Modalitäten entspricht. Er zeigt einen

abgetrennten Kunst-Raum, der auch ohne den Betrachterblick existiert.

Auf diesen Effekt bezog

sich Wall während der

Präsentation seiner ersten

Einzelausstellung in Van-

couver 1978. Dort zeigte

er das Groß-Dia „The

Destroyed Room“ im

Erdgeschoss der Nova

Art Gallery.273 Er instal-

lierte die Fotografie in

gleicher Höhe mit dem

Schaufenster, so dass die

Flaneure vom Bürgersteig

aus in den erleuchteten

Innenraum blicken konnten. Die Fotografie wurde von zurückgezogenen Vorhängen

flankiert, die den Blick auf das Kunstwerk freigaben. „Illuminated at night it also had

the effect of implying an illusory space within“274, beschrieb ein Besucher den Ein-

druck der Inszenierung und formulierte so die fiktionale Wirkung des Raumgefüges.

Wall kommentiert: „The picture was planned in reference to the patterns of meaning

identified with the window display and movie and theater sets, and intended to ar-

ticulate disturbing social imagery in terms of the fascinating generated by beautiful

objects or commodities positioned within those carefully regulated modes of repre-

sentation“.275 Die Inszenierung verweist auf die Trennung von Betrachter-Realität

Abbildung 38: Jeff Wall: Ausstellungsansicht, Nova Art Gallery, Vancou-ver 1978

273 „The Destroyed Room“ ist Walls erste Fotoarbeit, die mit fiktionalen Arrangements spielt. Das Tableau zeigt einen verwüsteten Innenraum, der von einer Frau bewohnt wurde. Wahllos sind Kleider aufeinandergetürmt, Schubladen aufgerissen, Matratzen aufgeschlitzt. Das Großdia zeichnet sich, obwohl es die Spuren des zuvor stattgefundenen Zerstörungsaktes zeigt, durch seine Handlungslosig-keit aus. Unbewegt, wie in einem Stillleben sind die Dinge angeordnet. 274 Wallace, Ian, in: Institut for contemporary Arts, London (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, Lon-don 1984, S. 26. 275 Jeff Wall in: Hirshhorn Museum and Sculpture Garden / Smithsonian Institution (Hrsg.): Direc-tions 1981, S. 30 - 31, S. 30.

Page 136: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

134

und eigengesetzlicher Fiktionalität des Kunstwerks. Das Bildjetzt unterliegt bei Wall

keinem Zeitfluss. Der „illusory space“ besitzt eine autonome Zeitstruktur, die sich

als Stilllegung von Handlung ausweist. Der Vorhang verhält sich zu der Fotografie

wie der Rahmen zum Bild: Während der Rahmen an unserer Welt Teil hat, zeigt das

Bild eine Öffnung in eine andere Wirklichkeit.

Wall und Vermeer schildern gedehnte Momente und verfolgen das Ziel, das Bildge-

schehen zeitlichen Abläufen zu entziehen, es aus narrativen, textuellen Gesamtzu-

sammenhängen zu lösen und stattdessen die Autonomie des Bildes zu stärken.276 Sie

wählen keine Höhepunkte einer Handlung aus, um eine kausale Folge darzustellen

und die Bildzeit in einem Vorher und Nachher zu definieren. Der dargestellte Mo-

ment lässt nicht auf einen Verlauf schließen, auf eine Handlung, aus der er resultiert,

sondern zeichnet sich vielmehr durch das Ausschalten von Handlung aus. Die Zeit-

struktur der Werke erinnert daher eher an ein Stillleben und nicht an die Erzählung

einer Geschichte. Eine Nacherzählung mit zeitlicher Folge ist zudem bei den darge-

stellten Szenen unmöglich. Das Bildgeschehen verweist immer wieder auf sich zu-

rück und stellt sich durch Ruhe und anschauliche Intensität dem Betrachter dar. Der

gegenwärtige Augenblick öffnet sich keinem Davor und Danach. Ikonische Zeit er-

scheint in einer stetigen, unveränderbaren Dauer. Sie zeigt sich als Dehnung eines

Einzelmoments, welcher der epischen oder dramatischen Erzählung von Handlung

gegenüberstehen. Als „stehendes Bild“ 277, dessen Bildzeit dem gedehnten Moment

unterliegt, lässt sich Walls Fotografie wie folgt beschreiben:

1. Er verzichtet darauf, eine Bildhandlung vorzuführen, die als Isolierung eines En-

zelmoments aus einer Kette und Perpetuierung von Augenblicken besteht.

2. Die Bildhandlung besitzt keinen Beginn. Sie markiert weder einen Mittelteil oder

eine Schlusssequenz und setzt somit die Zuweisung eines „Vorher“ oder „Nach-

her“ außer Kraft.

3. Die Fotografie unterliegt daher keiner Bildzeit, die eine zielgerichtete Handlungs-

richtung vorgibt und auf den kausalen Gesetzen von Ursache und Wirkung beruht.

4. Die Bildhandlung entzieht sich dadurch einem betrachterorientierten temporalen

Verlauf. 276 Den Begriff des „gedehnten Moments“ verdankt die Autorin der Textkritik von Professor Reinhard Steiner vom kunsthistorischen Institut der Universität Stuttgart.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

135

E.II. Exkurs: Malerei als Erzählung

Um Walls ästhetische Kategorien einzugrenzen, sollen seine Fotografien nun mit

Gemälden kontrastiert werden, welche die Darstellung einer Erzählung behandeln.

Es ist die Errungenschaft der italienischen Kunst, die Möglichkeiten einer maleri-

schen Erzählung ausgelotet zu haben. Im Zentrum dieser Kunst liegt der Text; von

ihm empfangen die Künstler und Theoretiker ihre Direktiven. Von dort aus werden

die Aufgaben und Ziele der Malerei bestimmt – und das in zweifacher Weise: Nicht

nur, dass sich die Ikonographie der profanen und religiösen Historie auf eine beleg-

bare Textstelle bezieht und so die „zweifelhafte“ Augenkunst nobilitiert, auch das

Figurenarrangement und die Bildperspektive werden für einen Betrachter ausge-

wählt, der sich in der Aneignung von Texten geschult hat. Der zentrale Begriff der

Malerei ist die „Storia“, das Motiv einer bildnerischen Handlung. Die „Storia“ ist die

Komposition eines Vorgangs, die bildliche Darstellung von Vorgängen durch han-

delnde und gefühls-ergriffene Figuren. Zu einer Storia wirken Komposition und Er-

findung zusammen. Beide schaffen ein Gemälde, das eine zusammenhängende Szene

mit menschlichen Figuren in körperlicher und seelischer Bewegung in einem Raum

zeigt.278 Diese Erzählung ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Handlung in einem

sukzessiven Ablauf dargestellt wird. Sie kann – buchstäblich – gelesen werden. Ihre

Organisation ist also an den lesenden Nachvollzug der Darstellung gebunden. Sie

definiert einen Moment oder eine Abfolge von Zeitpunkten und ist durch die klare

Scheidung von Vorausgegangenem und Nachfolgendem gekennzeichnet. Eine ikoni-

sche Erzählung ist ohne die Kriterien der Konsekution und Kausalität nicht zu den-

ken. Das Erzählte ist dabei eine zeitlich organisierte Handlungssequenz, in der min-

destens eine Figur einen dynamischen Situationswechsel erlebt.279 Ihr wesentliches

Moment ist die zeitliche Abfolge von Geschehnissen.280 Die ikonische Erzählung

277 Jeff Wall benutzt diesen Ausdruck in einem Interview. Ein Maler des modernen Lebens – Ge-spräch zwischen Jeff Wall und Jean-Francois Chevrier, in: Lauter, Rolf: aaO., S. 175. 278 Prinz, Wolfram: Die Storia oder die Kunst des Erzählens in der italienschen Malerei und Plastik des späten Mittelalters und der Frührenaissance 1260 - 1460, Mainz 2000. 279 Stempel, Wolf-Dieter: Erzählung, Beschreibung und historischer Diskurs, in: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 325-346. 280 Die Standard-Lexika der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte bezeichnen sowohl die schriftliche wie die visuelle Darstellungsform als Erzählung.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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wird durch das punktuelle Aufzählen verschiedener Stadien bestimmt, die insgesamt

eine abgeschlossene Handlung darstellen. Trotz visueller Simultanität soll die Vor-

stellung von verschiedenen nacheinander ablaufenden Phasen zu einem Gesamter-

eignis erreicht werden. Der Betrachter wird dabei zum sukzessiven Begreifen des

Dargestellten angeleitet. Durch die Zentralperspektive und den Rekurs auf rhetori-

sche Strategien der Darstellung haben die italienischen Künstler Möglichkeiten ent-

wickelt, um eine phasenlogische Handlung darzustellen.

In der Malerei begegnen uns zwei Arten der Erzählung: zum einen das epische be-

ziehungsweise prosaische Erzählen, das eine Handlung in der Abfolge nacheinander

folgender Momente beschreibt, zum anderen das dramatische Erzählen, das sich auf

die Darstellung eines Augenblicks beschränkt.

E.II.1. Das epische Erzählen

Episches Erzählen zeigt sich im mittelalterlichen Zyklus und im autonomen Tafelbild

der Neuzeit. Während im Zyklus die übergeordnete Teleologie – meist die christliche

Heilsgeschichte – die Einzelszenen verbindet, beginnen sich in der italienischen

Kunst um 1300 neue Formen des bildnerischen Erzählens zu etablieren.281 Die Bil-

derzählung wird nicht aus unselbständigen Einzelteilen zusammensetzt, sondern ent-

steht durch die Aufwertung singulärer Szenen.282 Nicht der Beziehungssinn der Ein-

zelteile innerhalb eines komplexen Bildsystems, sondern die Binnenstruktur des Bil-

des wird zum Hauptanliegen. Wesentlichen Anteil besitzt dabei die Erforschung der

räumlichen Tiefe, die durch Giottos dynamisierte Handlungsräume vorbereitet wird.

Der dreidimensionale Bildraum ermöglicht später die perspektivisch organisierte

Erzählung des Renaissancebildes. Kastenartige Anlagen, Treppen, verschiedene Ge-

schosse, Fenster, Türen und Vorplätze konstruieren Räume, die das Bildgeschehen

dem Betrachter vermitteln. Durch Giottos Fresken der Arenakapelle werden Grund-

281 Die Strukturen des mittelalterlichen Erzählens zeigen sich in Sequenzen, Folgen und Typologien. Diese drei Momente hat Wolfgang Kemp für „das Fenster des verlorenen Sohns“ in Chartres, in Bourges und anhand des Marburger Teppichs ausgearbeitet. Kemp, Wolfgang: Sermo Corporeus – die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987. 282 Felix Thürlemann verweist auf die Wichtigkeit der Nebenszenen. Er setzt die Nebenszenen in Bezug zur Gesamthandlung. Thürlemann, Felix: Geschichtsdarstellung als Geschichtsdeutung, in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Der Text des Bildes – Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzäh-lung, München 1989, S. 89-108.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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figurationen und Erzählarchitekturen gefunden, die im 15. Jahrhundert als Tiefen-

räume etabliert werden.283

Die Bilderzählung ent-

steht durch die Beziehung

des Bildpersonals inner-

halb einer Handlung, die

ihr Korrelat in der Zuwei-

sung eines bestimmten

Raums findet. Damit

markieren die Erzählun-

gen in Giottos Fresken

den Übergang vom zu-

sammengesetzten Zyklus

zum selbständigen Tafel-

bild.284

Abbildung 39: Giotto: Erweckung des Lazarus, 1304, Fresko, Arenakapelle in Padua

Die Zeitstruktur der „Erweckung des Lazarus“ in der Arenakapelle liefert ein frühes

Zeugnis der narrativen Kunst Italiens. Die Binnenhandlung wird durch eine klare

Unterscheidung von vorgängigen, gegenwärtigen und nachfolgenden Szenen be-

stimmt. Giottos „Erweckung des Lazarus“ zeigt die malerische Übersetzung der bib-

lischen Textstelle aus dem Johannesevangelium. In der linken Bildhälfte ist der seg-

nende Christus zu sehen, dem eine Gruppe gegenüber steht. Sie flankiert den in Bin-

den gehüllten Lazarus, der nach seiner Erweckung aus dem Grab gestiegen ist. Vor

Christus knien Maria und Martha. Giotto hat sich auf die Darstellung von vier präg-

nanten Zeitpunkten des 11. Kapitels beschränkt. Er verbindet das Moment des Wun-

ders mit dem sich darum spannenden Handlungszusammenhang und setzt bei Marias

Klage um den verstorbenen Lazarus ein. Damit bezieht er sich auf die Worte Jesu in

den Versen 43 bis 45: „Hebet den Stein ab!“, „Lazarus komm heraus!“ und „Löset

283 Der Erzählraum wird durch Räume und durch die Beziehungen zwischen diesen konstituiert. Ent-weder durch die Beziehung von Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum oder zwischen Bildraum und Betrachterraum. Kemp unterscheidet zwischen Handlungsöffnungen und Schauöffnun-gen der Fresken. Die ersteren regeln die bildinterne Kommunikation, die letzteren die Kommunikati-on zwischen Betrachter und Bildhandlung. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler – zur Bilderzäh-lung seit Giotto, München 1996, S. 29f. 284 Dazu: Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler – Zur Bilderzählung seit Giotto, München1996.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

138

die Binden und lasset ihn gehen“285. Die Bilddarstellung zeigt ungleichzeitige Sze-

nen, die simultan auf dem Fresko erscheinen und zu einer abgeschlossenen Erzäh-

lung verbunden werden. Wir sehen Christus, wie er die Worte an Lazarus richtet, wie

der Grabstein weggetragen wird, wie Lazarus – aus dem Grab entstiegen – die Bin-

den gelöst werden. Zuletzt zeigt Giotto die Reaktion der Juden auf das Wunder, das

mit Erstaunen und Entsetzen wahrgenommen wird. Hier gewinnt die Gliederung ei-

ner zeitlichen Folge, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint, ein an-

schauliches Beispiel. Die Komposition, die sich an der Leserichtung von links nach

rechts orientiert, stellt eine abgeschlossene Geschichte dar.286 Der besondere Charak-

ter des Bildaufbaus liegt darin, dass in diesem „die prägnante szenisch sinntragende

Konstellation nicht als ein absolut gesetzter zeitlicher Ausschnitt, sondern als Ereig-

nis in der Zeit visualisiert wird“287. Das Ereignis bezieht sich sowohl inhaltlich wie

strukturell auf die epische Textvorlage und reiht verschiedene Momente mit Anfang

und Ende aneinander. Im Gegensatz zur dramatischen Bilderzählung stellt Giotto

nicht einen einzelnen Augenblick, sondern einen Verlauf von Einzelmomenten dar.

285 Die Bibel nach der Übersetzung von Martin Luther, Johannes 11, 39-44. 286 Imdahl verweist auf die Stellung der Zwischenfigur im Fresko. Durch ihre Geste fungiert sie als Verbindung der einzelnen Momente: „Es ist evident, dass diese Figur in einem formalen, bildrhythmi-schen Sinne zwischen Christus und Lazarus vermittelt, darüberhinaus ist ihre doppelseitige Gebärde auch von narrativer Bedeutung.“ Imdahl, Max: Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos, in: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): aaO., S. 166. Zur Leserich-tung in der Malerei: Badt, Kurt: Modell und Maler bei Jan Vermeer – Probleme der Interpretation, Köln 1961, S. 38f. Der Bildteil links unten wird als Kompositionsanfang ausgebildet, die Bildmitte dient der Entwicklung des Themas, während der Bildteil rechts den Schluss markiert. 287 Imdahl, Max: aaO. S. 173.

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139

D.II.2. Das dramatische Erzählen

Das dramatische Erzählen, das sich durch die Rezeption der aristotelischen Poetik

bei Tizian entwickelt, bildet eine Variante der malerischen Narration. Es zeigt eine

affekt-rhetorische Fundierung des Gemäldes, die in der Kunsttheorie von Alberti und

Ludovico Dolce ihre Entsprechung findet. Während in der epischen Erzählung die

Momentabfolge den Verlauf einer Handlung verbindet, ist es in der dramatischen

Erzählung der affekthafte Einzelmoment, der in seinem entscheidenden Höhepunkt

gezeigt wird. Tizians Gemälde des „Martyrium des Petrus Martyr“, das heute nur

noch als Stich von Martino Rota erhalten ist, verdeutlicht den venezianischen

Malereidiskurs und die Inventio der

dramatischen Storia. 1530 wird das

Altarblatt von der Scuola di San

Pietro Martire in Auftrag gegeben.

Es zeigt die Märtyrerszene, in der

Petrus von einem Räuber

niedergestreckt wird. Tizian

verlagert die Szenerie an einen

Waldrand. Der Scherge holt zum

entscheidenden Schlag gegen Petrus

aus; die Randfigur, Fra Domenico

ergreift voller Schrecken die Flucht.

Sein Gesicht drückt Furcht und

Entsetzen aus, denn er hat die

heilsbringende Botschaft des

Martyriums noch nicht erkannt.

Währenddessen reißt der Himmel

auf. Engel schweben mit einer Märtyrer-Palme zwischen den Ästen der Bäume

Petrus entgegen, der am Boden liegt und das Schauspiel am Himmel erblickt. Die

Bewusstheit, mit der Petrus der Bedeutung des Martyriums gewahr wird, visualisiert

Tizian durch seinen erkennenden Blick und den Zeige-Gestus auf die himmlische

Erscheinung. Petrus erkennt die Sendung der Engel, durch die die Annahme seines

Blutopfers durch Christus indiziert wird. Nicht der Augenblick des Todes, sondern

Abbildung 40: Tizian, Martyrium des Petrus Martyr, 1530, Öl auf Leinwand

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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der sinnträchtige Moment davor, in dem der Gemarterte der himmlischen

Erscheinung gewahr wird und erkennt, dass sein Opfer angenommen wird,

verdeutlicht Tizian und unterstützt diesen Eindruck, indem er den Märtyrer zeigt, wie

er mit dem Zeigefinger der linken Hand das „Credo“ in den Sand zu schreiben

beginnt.288 Bezeichnender Weise bleibt das Martyriumswerkzeug, das Schwert, bis

auf ein ornamentales Detail des Knaufs verdeckt und lenkt nicht von der

„poetischen“ Organisation der Bildhandlung ab.

Es ist die „Storia“, die den verbildlichten Moment mit dem dramatischen Höhepunkt

der Handlung vereint. Der transitorische Charakter des Gemäldes wird deutlich, und

der Handlungsmoment wird genau bestimmbar. Der Ausschnitt markiert zugleich

den Höhepunkt und die Folge der Legende, denn Tizian beschränkt sich nicht nur auf

die Darstellung der gegenwärtigen Szene, sondern zeigt dem Betrachter durch die

Erkenntnis des Märtyrers auch das „Danach“ der Legende. Dem Betrachter wird

deutlich, was auf diesen Zeitpunkt folgt: die Aufnahme Petrus’ in den Kreis der

Heiligen.

Tizians erste monumentale Storia ermöglicht durch die Struktur der Handlung die

Emphase des Augenblicks. Sie ist synchron angelegt und visualisiert einen

Ausschnitt aus einer diachronen Handlung, die nicht nur das Potential hat, dem

Betrachter durch die wirkungsmächtigen Bilder die ganze Storia vor Augen zu

führen, sondern auch ihm durch die Intensität der gezeigten Handlungsmomente die

Geschichte emotional näher zu bringen. Albertis Forderung, die an die Übernahme

der rhetorischen und poetischen Topoi durch die Malerei geknüpft ist, findet in

Tizians Gemälde ihre Entsprechung289: „Der Zweck der Malerei aber sei, dass der

Künstler sich dadurch viel mehr Gunst, Wohlwollen und Ruhm als Reichthümer

erwerbe. Jene Maler werden dies erreichen, deren Werke nicht bloß die Augen,

sondern auch das Gemüth des Beschauers ergreifen“290. Emotion kann nur durch die

288 Partricia Meilmann schlägt den Schreibegestus oder die priesterliche Geste vor, die auf die Liturgiereform zu Beginn des 16. Jahrhunderts verweist. Meilmann, Patricia: Titian’s „Saint Peter Martyr Altarpiece“ and the Development of Altar Painting in Renaissance Venice, Ann Arbour 1989, S. 273ff. 289 Dazu: Warncke, Carsten-Peter: Sprechende Bilder – sichtbare Worte – Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, S. 25.; ebenso: Mühlmann, Heiner: Ästhetische Theorie der Renaissance – Leon Battista Alberti, Bonn 1981. 290 Alberti, Leon Battista: Della Pittura, in: Janitschek, Albert (Hrsg.): Albertis Schrift Della Pittura, München 1981, S. 80.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

141

lebendige Handlung ausgedrückt werden; beide beleben den Erzählstoff und wirken

auf den Betrachter.

So relevant zwar Albertis Ausführungen über die Rolle und Bedeutung der Affekte,

der Invention und des Decorums waren, so wenig Anregung bot seine Schrift für das

malerische Problem der zeitlichen Handlungsorganisation.291 Schließlich hatte sich

die ästhetische Forderung nach der Einheit von Zeit und Raum, in der das Gemälde

als eine Bühne aufgefasst wird, auf der alle handelnden Personen in einer logischen

Beziehung zum visualisierten Augenblick stehen, noch nicht durchgesetzt.292 Dies

ändert sich mit Tizians Bildlösung, die sich vor der Folie der aristotelischen Poetik

charakterisieren lässt293: Die Forderung nach einem totalen Umschwung der

Handlung, der sich in Aristoteles’ Peripetie-Konzeption ausdrückt, liefert dem Maler

den idealen Referenzpunkt für die Lösungen des genuin bildlichen Problems der

Simultaneität.294 Tizian setzt genau jene Peripetie ins Bild, die nach Aristoteles die

größte Wirkung auf den Betrachter ausübt.295 Er verbindet den dramatischen

Wechsel mit der Erkenntnis der dargestellten Figur, ohne den Moment des Todes

darzustellen, und verlagert den weiteren Verlauf des Martyriums in die

Vorstellungswelt des Betrachters. Durch die aristotelische „anagnorisis ek

peripeteias“, die Wirkung, die mit Erkenntnis verbunden ist, macht Tizian aus einer

Legende einen Stoff, dem der Anspruch auf kathartische Wirkung sicher ist. Durch

291 Valeska von Rosen belegt diese Beobachtung durch Albertis Beschreibung des Gemäldes „Opferung der Iphigenie“. Alberti erwähnt mit keinem Wort – im Gegensatz zu Ludovico Dolce – welcher Moment der Handlung verbindlich ist, sondern interessiert sich allein für die Darstellung der Affekte. Von Rosen liefert eine schlüssige Argumentation, die den Einfluss der aristotelischen Poetik auf den venezianischen Malereidiskurs darstellt. Rosen, Valeska von: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in den Werken Tizians – Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Berlin 2001, S. 177, besonders das Kapitel „Eine wirkungsmächtig geformte Handlung: Die Erzählstrategie des „Martyrium des Petrus Martyr“, S. 141-203. 292 Rosen, Valeska von: aaO., S. 170. 293 In ihren Analysen der Erzählstrategien in Raffaels römischen Historienbildern machten bereits Kurt Badt und Rudolf Preimesberger das aristotelische Peripetie-Konzept für die Malerei fruchtbar. Badt, Kurt: Raphaels „Incendio del Borgo“, in: Journal of the Warburg and Courtrauld Institutes, 22,1959, S. 35-59; Preimesberger, Rudolf: Tragische Motive in Raffaels Transfiguration, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 50, 1987; S. 88-115 294 „Der Umschlag tritt mit einer gewissen Plötzlichkeit ein, dieses Merkmal, das von Aristoteles nicht eigens hervorgehoben wird, ergibt sich sozusagen aus der Sache selbst“, schreibt Manfred Fuhrmann in der Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 30. Im Übrigen hat das Adjektiv „peripetes“ auch die Bedeutung des „plötzlich Hereinbrechenden“. 295 Bereits 1481 erschien in Venedig die lateinische Übersetzung des arabischen Kommentars zur Poetik von Averroes. Anfang der 80er-Jahre begannen Ermolao Barbaro und Angelo Poliziano das Studium des griechischen Originaltextes im Zuge ihres Unternehmens, den Corpus der aristotelischen Schriften zu übersetzen und zu kommentieren, so dass 1491 Gregorio Comanini in seiner Kunsttheorie auf die Einhaltung der Einheit von Handlung und Ort aufmerksam machte und damit Parallelen von Malerei und Drama benannte.

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diese Zuspitzung stellt Tizian das Martyrium besonders wirkungsvoll dar und kann

gleichzeitig dessen Glaubensinhalt anschaulich machen. Er formt die „Legende

dichterisch, indem er sie um das Mögliche und Wahrscheinliche erweitert“.296 Hans

Körner hat in seiner Studie zur Kompositionstheorie gezeigt, wie gut sich die

aristotelische Forderung nach der Einheit der Handlung auf die Malerei übertragen

ließ, ohne dass das von Alberti gelegte theoretische Fundament aufgegeben werden

musste. 297

D.II.3. Der fruchtbare Moment

Das zentrale Problem der Malerei, eine linear fortlaufende Handlung darzustellen,

wird von Tizian durch die Wahl eines punktuellen Zeitausschnitts gelöst. Dieser

Kunstgriff, der es dem Betrachter ermöglicht, das Vorausgegangene und Folgende

eines Geschehens zu imaginieren, begegnet uns in Lessings „fruchtbarem Moment“

wieder. In seiner Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“

formuliert Lessing eine normative Ästhetik, welche die medienspezifischen

Gegebenheiten der Malerei, Plastik und Poesie berücksichtigt: „Die Malerei kann in

ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung

nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende

und Folgende am begreiflichsten wird“298, schreibt Lessing im 14. Kapitel, in dem er

die „Raumkunst“ der Malerei von der „Zeitkunst“ der Dichtung unterscheidet. Doch

was beim ersten Lesen als nahtlose Rezeption der venezianischen Malereitheorie

erscheint, weist bei näherer Untersuchung grundlegende Unterschiede auf. Während

im 16. Jahrhundert keine prinzipielle Differenzierung zwischen Dichtkunst und

Malerei vorgenommen wurde299 und die Horazische Sentenz „Ut pictura poesis“ zum

296 Das Tertium Comperationis für eine Verbindung der antiken Tragödientheorie mit der Malerei ist das Mimesis-Konzept. Dichtung ist für Aristoteles die Mimesis von Handlungen bzw. handelnder Personen. Dazu: Rosen, Valeska von: aaO., S. 167. 297 Körner, Hans: Auf der Suche nach der wahren Einheit – Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und der Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert, München 1988. 298 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 2001, S. 115. 299 Dass Alberti bei der Entwicklung seines Historienbild-Konzeptes die Poetik des Aristoteles heranzieht, meint Pierluigi Lanza. Lanza, Pierluigi: Leon Battista Alberti – Filosofia e teoria dell´arte, Mailand 1994, S. 124f. Die Entwicklung und letztliche Ausdifferenzierung der Künste legt Paul Oskar Kristeller dar. Für die Entwicklung der Ästhetik aus den Kategorien der Poetik ist Gethmann-Sieferts Einführung hilfreich. Gethmann-Sieferts, Annemarie: Einführung in die Ästhetik, München 1995.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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geflügelten Wort für eine Konvertierbarkeit des einen in das andere Medium

geworden war, beginnt bei Lessing diese Überzeugung an Kraft zu verlieren.300 Die

Aufmerksamkeit verlagert sich auf eine Bestimmung der Unterschiede, die Dichtung

und Malerei voneinander trennen. Nicht mehr das Verhältnis der Künste zueinander,

sondern die Autonomie der Kunstarten ist nun das Ziel.

Die Diskussion, die mit einem kurzen Traktat Shaftesburys in England einsetzt und

in Frankreich einen reichen Niederschlag vor allem in der kritischen Reflexion über

Poesie und Malerei bei Abbé Du Bos findet, wird in Deutschland durch Lessing

ausführlich, wenn auch mit gewisser Verzögerung rezipiert.301 Er hat den Vergleich

der Kunstgattungen zu einem System ausgebaut und seine Überlegungen im

„Laokoon“ 1766 publiziert. So lässt sich Lessings Schrift als Schlusspunkt einer

längeren Sequenz verstehen, die den Ansatz einer vergleichenden Medientheorie

liefert.302 Poesie und Malerei streben darin nach Illusionismus. Beide – so macht

Lessing bereits in den ersten Zeilen der Vorrede klar – „stellen uns abwesende Dinge

als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen und beider

Täuschung gefällt“303. Sie unterscheiden sich jedoch in der Art der Zeichen, mittels

derer die Täuschung vollzogen wird. Während die Malerei Figuren und Farbe im

Raum benötigt, artikuliert die Dichtkunst Töne in der Zeit.

Anders als in der Sprache, die als Zeichensystem grundsätzlich über den narrativen

Modus verfügt und bei der die Beschränkung auf das Narrative ein ästhetisches

Gebot darstellt, kann die Malerei nur Körper in einem Nebeneinander im Raum

darstellen. Dennoch ist ihr das Moment der Zeitlichkeit nicht vollständig versperrt:

Denn „alle Körper existieren nicht allein in einem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblick ihrer Dauer [...] in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden, und kann die Ursache einer folgenden, und

300 Auch wenn sich in den Renaissance-Poetiken diese Konvertierbarkeit herausgebildet hat und die Rede von der Verwandtschaft der Künste bis in die Zeit des Barock vorherrschend ist, so existiert parallel dazu auch immer der Gegentopos vom Paragone, dem Wettstreit der Künste. Dazu: Buch, Hans Christoph: Ut pictura poesis – Die Beschreibungskunst und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972, S. 10-25. 301 Dazu Stierle, Karlheinz: Das bequeme Verhältnis – Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums, in: Gebauer, Gunter: Das Laokoon-Projekt – Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23-58. 302 Vor allem Herder hat mit seiner vehementen Kritik entscheidend dazu beigetragen, dass die Diskussion in andere Bahnen gelenkt wurde. 303 Lessing, Gotthold Ephraim: aaO., Vorrede, S. 3.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

144

sonach gleichsam das Centrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper“304.

Der Darstellung von Handlung innerhalb der Malerei ist demnach ein Verhältnis von

Ursache und Wirkung eingeschrieben. Der fruchtbare Moment, der „nicht fruchtbar

genug gewählet werden kann“305 markiert einen einzelnen Realzeit-Moment, der

durch die Einbildungskraft des Betrachters zu einer Bildhandlung mit Gesamtheit

synthetisiert wird. Denn Handlung wird von Lessing teleologisch gedacht und zielt

darauf ab, in ihrer Gesamtheit begriffen zu werden.306 Dieser Vorstellung entspricht

die fotografisch gelungene Schnappschuss-Aufnahme, die einen einzelnen Zeitpunkt

isoliert und dem Betrachter anzeigt, was nach der Versiegelung dieses fotografischen

Momentes zu erwarten ist. Man findet diesen „fruchtbaren Moment“ in der

kriegsberichterstattenden Dokumentarfotografie, in Robert Capas Bildern, die

während des spanischen Bürgerkriegs entstehen, oder bei Eddie Adams’ Vietnam-

Berichterstattung. Sowohl der „Tod eines Milizionärs“ wie die Exekution des

vietnamesischen Rebellen erhalten ihre schockierende Eindrücklichkeit, indem eine

Momentaufnahme den dramatischen Höhepunkt darstellt und dem Betrachter die

Vollendung der Szene überlassen wird.307

Was bedeutet dies nun für die Bilderzählung? Welches Verständnis von Zeit

unterlegt Lessing seiner Augenblicksemphase? Dem ästhetischen Kunstgriff des

fruchtbaren Moments liegt die Annahme zugrunde, dass jede Bewegung in eine

Unendlichkeit korrelierbarer Zeit- und Raumpunkte aufgelöst werden kann; zum

Stillstand gebracht werden kann sie nur dadurch, dass die Dauer auf den untersten

Grenzwert eines unendlich kurzen Augenblicks reduziert wird.

304 Lessing, Gotthold Ephraim: aaO., S. 114. 305 Lessing, Gotthold Ephraim: aaO., S. 23. 306 Lessing hat den Begriff der Handlung in der kleinen Schrift „Vom Wesen der Fabel“ präzisiert. Er setzt ihn von der Begebenheit ab und schreibt: „Eine Handlung nenne ich eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen“, fehlt einer Folge von Veränderungen diese Zielgerichtetheit, so „fehlt ihr das, was sie eigentlich zu einer Handlung macht und kann richtig zu sprechen, keine Handlung, sondern muß eine Begebenheit heißen“. Lessing, Gotthold Ephraim:Vom Wesen der Fabel, in: Lachmann, Karl / Muncker, Franz (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessing – Sämtliche Schriften, Stuttgart 1883, S. 430. 307 Dieser Effekt ist auch in anderen Medien zu finden. Wenn die Zuschauer eines Hitchcock-Filmes alle im gleichen Augenblick den Atem anhalten, so verhalten sie sich, wie Lessing es von ihnen erwartet hätte. Denn Spannung wird durch einen Zustand erzeugt, in dem der Betrachter die Handlung nach und nach in einer bestimmten Reihenfolge erfährt und dadurch das Bevorstehende in angst- oder lustvoller Erwartung antizipiert.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

145

Folglich kann die Malerei, deren Figuren in einem augenfälligen Sinn unbeweglich

sind, von einem Bewegungsgeschehen nie etwas anderes darstellen als den

scheinbaren Stillstand eines einzigen Augenblicks.308 Dieser Gedanke geht von der

grundlegenden Prämisse aus, dass es sich bei der Malerei um ein natürliches

Zeichensystem handelt, bei dem zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine

strukturelle Ähnlichkeitsrelation zu bestehen habe und Zeit in einem Korrelat zum

Erfahrungswert des Betrachters steht. Für die Bilderzählung hat dies zur

Konsequenz, dass nicht mehr die textabhängige Darstellung den Verlauf vorgibt, die

sich an den „Spielregeln“ der Poetik oder Rhetorik orientiert, sondern die Erfahrung

der Realzeit. Nur wenn der technische Kunstgriff und die Darstellungsmittel selber

transparent bleiben, das heißt wenn die Handlungszeit sich dem Erleben des

Betrachters angleicht, wird die ästhetische Täuschung gewährleistet. Das spezifisch

Neue an Lessings Malereitheorie ist, dass er die Kategorie der Zeit einführt und das

Bild-Jetzt der Wahrnehmungsgegenwart des Betrachters entsprechend definiert, ohne

der Malerei und Plastik eine poetologische Ästhetik, wie es bei Tizian der Fall war,

zugrunde zu legen. Der fruchtbare Augenblick ist dabei ein diskreter Zeitpunkt, der

aus der perlenschnurartigen Anordnung herausgenommen wird, auf die Logik der

linearen Reihung zurückweist und in Kausalität und Konsekution eingebunden ist.

Ikonische Zeit wird somit immer als Verlauf gedacht.

Für die aufgeführten Gattungen malerischer Erzählung gilt, dass sie sich an einem

zeitlichen Verlauf orientieren, der sich in Sukzessionen darstellt. Entweder werden

alle Momente dieser Sukzession vorgeführt oder nur einer, der in der

Einbildungskraft des Betrachters die Handlung vollendet. Vergleicht man nun die

ermittelten Parameter der erzählenden Malerei mit den Werken Vermeers und Walls,

wird deutlich, dass beide Künstler sich weder auf eine literarische Vorlage beziehen,

noch eine narrative Folge darstellen. Sie praktizieren eine Kunst, deren Eigenschaft

den französischen Kritiker Theophile Bürger-Thoré Mitte des 19. Jahrhunderts dazu

veranlasste, Vermeer als „Sphinx“309 in der Kunstgeschichte zu bezeichnen. Die

308 „Die Schnelligkeit ist eine Erscheinung zugleich im Raume, als in der Zeit. Sie ist das Product von der Länge des ersteren und der Kürze des letzteren“ schreibt Lessing in den Paralipomena. Zitiert nach Giuliani, Luca: Laokoon in der Höhle des Polyphem, in: Poetica, 28, 1996, S. 1-47, hier: S. 41. Lessing steht damit in der Tradition der Bewegungstheorie des 18. Jahrhunderts. Dazu Friedrich Kaulbach, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, S. 872 - 875. 309 Bürger-Thoré, Theophile: Van der Meer de Delft, in: Gazette des Beaux-Arts, 21, 1866, S. 297-330.

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146

Faszination von Vermeers Kunst liegt weniger im Sujet als in der Hermetik. Seine

Gemälde berichten nicht von bedeutungsvollen Ereignissen der Weltgeschichte, die

in Historienbildern ihren Platz haben, sondern beziehen sich auf einen

Darstellungsmodus, der erst Mitte des 17. Jahrhunderts seine breitere Entfaltung

findet. Das holländische Interieur beginnt sich zwischen 1620 und 1630

herauszubilden und erfährt ab 1640 eine Veränderung, an der sich auch Vermeer

beteiligt: Aus den vielfigurigen Gesellschaften werden kleine Gruppen von wenigen,

maximal vier, Personen. Dabei wird der Augenblick seiner zeitlichen

Veränderbarkeit entzogen – die Protagonisten verharren in der Bewegungslosigkeit.

Zeit erscheint hier als dauernde Wiederholung der Gegenwart. Es handelt sich um

eine Schilderung, ein Aggregat, ein Eindampfen der Darstellung. Weder sind die

Gemälde momentane Erscheinungsbilder, die einen flüchtigen Augenblick bannen,

noch ist die Zeitstruktur ablaufend und vergänglich. Statt dessen wird der Betrachter

mit einer Permanenz des Geschehens konfrontiert.

Diese Arretierung des Augenblicks, die so kennzeichnend für Vermeers Malerei ist,

bildet auch für die zweite Generation der metafiktionalen Fotografen die geeignete

Vorlage. Der 1965 geborene Engländer Tom Hunter rekurriert in der Arbeit „Woman

reading“ auf Vermeers „Brieflesende Frau“ von 1662. Er verzichtet ebenfalls darauf,

eine narrative Abfolge darzustellen. Das Bildjetzt besitzt keine zeitlichen oder

inhaltlichen Perspektiven. Wir werden Zeugen einer Szene, deren Bildpersonal nicht

für den Betrachter, sondern „für sich“ agiert. Weder wird uns der Text des Briefs

vermittelt, noch können wir auf andere Weise an seinem Inhalt partizipieren. Er ist

allein an die Protagonistin der Szene adressiert, die in diesem versunkenen Moment

unabhängig vom Betrachter existiert. Es scheint so, als würde sich die Szene auch

ohne den Zuschauer ereignen. Die „durative Präsenz“310, welche die Handlung

kennzeichnet, ist dabei nicht der Zeitlichkeit enthoben, sie spielt sich nicht in einer

absurden Verkehrung von Ursache und Wirkung ab, sondern verweist auf eine

andere Definition von Bildzeit. Gerade durch den Vergleich mit den oben erwähnten

310 Perpeet, Wilhelm: Von der Zeitlosigkeit der Kunst, in: Jahrbuch für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 1, 1951, S. 1-28. „Von der Zeitlosigkeit der Kunst zu sprechen hat nur Sinn, wenn dem Begriff der Zeitlosigkeit auch ein zeittranszendierender Bedeutungsgehalt korrespondiert“. Perpeet lehnt den Begriff der Zeitlosigkeit bezogen auf ein Kunstwerk ab. Perpeet, Wilhelm: aaO., S. 14.

Page 149: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

147

narrativen Organisationen von Handlungsabläufen kann die Dehnung der Handlung

als Dauer beschrieben werden.

Hunter, Wall und Vermeer wählen Tätigkeiten, die ein Minimum an

Bewegungsabläufen zeigen. Ihre Bilder und Fotografien erzählen nicht, sondern

schildern ein Geschehen in seiner Zuständlichkeit. Nicht die erzählerische

Anspielung steht hier im Vordergrund, sondern deren visuelle Realisierung. Bereits

in der frühen niederländischen Kunst macht sich diese Eigenart bemerkbar. „An

herkömmlichen Maßstäben gemessen, ist die Welt des reifen Jan van Eyck statisch“,

so beschreibt Erwin Panofsky die „Arnolfinihochzeit“ in seiner Studie über die

Niederländer.311 Dagobert Frey spricht in Bezug auf Vermeers Milchmagd von

einem schleichenden Ablauf der Zeit, der durch die Gleichförmigkeit der Handlung

erzeugt wird und den Eindruck von Dauer bewirkt.312

Abbildung 41: Tom Hunter: Woman Reading, 2000, Fotografie

Abbildung 42: Jan Vermeer: Brieflesende Frau, 1662, Öl auf Leinwand

311 Panofsky, Erwin: Early Netherlandish Painting, Cambridge/Massachussets, 1953, Bd1, S. 182. 312 Frey, Dagobert: Das Zeitproblem in der Bildkunst, in: Frey, Gerhard (Hrsg.): Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 212-235. Heinrich Theissig bezieht sich in seiner Studie „Die Zeit im Bild“ ebenfalls auf Vermeers „Milchmagd“. Er nimmt das Gemälde zum Anlass, um auf die Zwitterhaftigkeit der Zeitlichkeit in Malerei zu verweisen. Das Herausströmen der Milch signalisiert einen Ablauf. Gleichzeitig ist der Milchkrug bis heute nicht geleert, da das Werk seinem Wesen nach unveränderlich ist. Eine eindeutige Bestimmung des Zeitbegriffs bleibt jedoch aus. Theissig, Heinrich: Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987; siehe auch die Rezension des Buchs von Petra Wilhely, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 33/2, 1988, S. 306-313.

Page 150: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

148

Lorenz Dittmann stellt für Vermeers „Junge Frau mit Perlenhalsband“ fest:

„Vermeers Kunst macht dagegen ausdrücklicher als alle vorangegangenen den Augenblick sichtbar. (...) In moralisierender Auslegung ist das Werk ein Sinnbild von Eitelkeit und Vergänglichkeit, ein Vanitas-Bild, und der Augenblick ein Sinnbild der Flüchtigkeit, Vergänglichkeit von Zeit. Aber die gelassene Ruhe des Vermeerschen Bildes weiß nichts von solcher Flüchtigkeit. Augenblick ist hier kein bloßer Moment, kein Zeitpunkt, sondern in sich zu einer rhythmischen Gestalt gegliedert (...). Ihren Blick wendet die Frau dem einfallenden Licht entgegen, aber zugleich in die Dunkelheit des Spiegels.“313

Das Charakteristikum dieser Kunst ist, dass sie nicht wie ein aufgeschlagenes Buch

gelesen oder wie ein Theaterstück nachvollzogen werden soll. Die

Sinnzusammenhänge der holländischen Malerei werden in einer anderen Weise

vermittelt. Während der Betrachter eine Erzählung liest, wird er bei Vermeer auf das

Sehen reduziert. Svetlana Alpers hat dafür den Begriff der Beschreibung geprägt.314

Alpers findet die Bedeutung der Gemälde in der Oberfläche der Kunstwerke. Die

Bedeutung ist weder abwesend, noch ist sie jenseits der Werke – in Texten – zu

finden. Stattdessen zeigt sie sich in der handwerklichen Gestaltung der Objekte, in

der Gestaltung des Sichtbaren. Was in der Malerei repräsentiert wird, zeichnet sich

durch ein Ineinanderfallen von Vorstellung und Darstellung aus. Die Bilder der

Malerei sind ebenso Teil einer Kulturproduktion wie das Fernrohr, das Mikroskop

und die Camera obscura; sie sind Teil einer empirischen Erforschung der Welt und

erheben dadurch Wahrheitsanspruch.

Ein weiterer Blick auf die Gemälde von Vermeer und die Fotografien von Jeff Wall

zeigt jedoch, dass der Begriff der Beschreibung die Spezifik der ikonischen Zeit

nicht erfasst.

Der Begriff der Beschreibung – Svetlana Alpers gebraucht das englische describing –

bezeichnet einen Vorgang, der in einem zeitlichen Nacheinander geschieht. Er

bezieht sich buchstäblich auf das Nacheinander eines schriftlichen Verfassens von

313 Dittmann, Lorenz: Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 112-114. 314 Irene Netta bezieht sich in ihrer Analyse der Zeitstruktur der Vermeerschen Gemälde auf Alpers’ Untersuchung. Unter Beschreibung versteht sie jedoch weniger die detaillierte Stofflichkeit der Gegenstände als die innerbildliche Organisatioin von Handlung, die Stilllegung der motivischen Situation und die Emotionslosigkeit der Mimik. Netta, Irene: Das Phänomen der Zeit bei Jan Vermeer

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

149

Texten oder den mündlichen Vortrag. Der Modus, in dem eine Beschreibung

angeeignet wird, ist entweder ein lesender oder hörender; in beiden Fällen ist er

jedoch auf eine Abfolge hin angelegt. Der Begriff der Beschreibung entzieht sich

zwar dem Rekurs auf rhetorische Produktions- und Wirkungsästhetik innerhalb der

holländischen Malerei, löst aber nicht die Frage nach der spezifischen zeitlichen

Organisation der Handlung und den spezifischen malerischen Effekten, die innerhalb

dieser Werke erzeugt werden. Es wird zwar die Vermittlung einer Geschichte ohne

poetische Fundierung dargestellt, die Fiktionalität der Darstellung bleibt dennoch

unberücksichtigt.

Eine weitere Dimension der Beschreibung findet sich in der Descriptio oder

Ekphrasis. Sie bildet eine literarische Gattung, die bildende Kunst zum Anlass

nimmt, um Prosa oder Poesie zu verfassen. Das Problem der Ekphrasis kreist um die

bildschöpferischen Fähigkeiten der Sprache. Der Zuhörer soll quasi zum Zuschauer

gemacht und dabei die Zeigefähigkeit der Sprache ausgelotet werden. Die

Möglichkeiten der Ekphrasis, die sich aus der Rhetorik entwickelt haben, umfassen

dabei die Beherrschung verschiedener Darstellungshöhen, die Erzeugung

emotionaler Wirkungen, Persuasion und die Vergegenwärtigung eines Sachverhalts

durch Klarheit, Deutlichkeit und Anschaulichkeit. Ekphrasen „wollen aufzeigen und

nicht abschildern“315. Sie lenken den Blick des Betrachters auf Kontraste, in denen

sich punktuell ein Gesamteindruck manifestieren lässt. In der Ekphrasis nähert sich

Literatur der Malerei aus dem Blickwinkel der geschriebenen oder gesprochenen

Sprache an.

Da in der Ekphrasis die Wirkungen der Malerei in das Medium der Sprache

übertragen werden, ist ihre Tradition hier nicht weiter zu verfolgen. Lediglich der

Beginn der Ekphrasis mit der Beschreibung des Schildes des Achill von Homer in

der

„Odyssee“ wird uns weiter beschäftigen, denn diese Beschreibung wird in der

holländischen Kunstliteratur bearbeitet werden. Der Ursprungsmythos bildet einen

zentralen Topos innerhalb der Malereitheorie und bestimmt den Status der Malerei

van Delft – eine Analyse der innerbildlichen Zeitstrukturen seiner ein- und mehrfigurigen Interieur-Bilder, Hildesheim 1996, S. 114. 315 Boehm, Gottfried: Einleitung – Wege der Beschreibung, in: Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.) Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung – Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 35.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

150

als Schilderung. Die Schilderung einer Handlung impliziert ebenfalls einen zeitlichen

Ablauf. Im Gegensatz zur Beschreibung entstammt der Begriff jedoch einer

malerischen Tradition. Er ist damit auf Simultaneität, Dauer und Verweilen

ausgerichtet und charakterisiert die Darstellung einer Handlung aus malerischer,

textunabhängiger Perspektive.

E.III. Malerei als Schilderung

Um die Parameter von Walls Arbeit darzustellen, soll nun die bildimmanente

Tradition genauer justiert werden, denn ihre Struktur – die der Schilderung – erzeugt

die fiktionale Wirkung der Fotografien. Der holländische Bildbegriff hat seine

Voraussetzungen in der Schilderung. Sie bestimmt das spezielle Arrangement der

Bildzeit und liefert das Vokablular, um Walls Fotografie zu beschreiben.

E.III.1. Der Schild des Achill als Ursprung der Malerei

Wie erklärt sich diese „Ästhetik der Dauer“, die sich in holländischen Gemälden

findet? Was unterscheidet sie von einer Kunst als Erzählung und was qualifiziert sie,

für die postmoderne Fotografie als Bezugspunkt zu fungieren? Die Antwort auf diese

Frage liegt in dem Begriff, der sich in den Niederlanden für Malerei gebildet hat.

Malerei ist „Schilderij“, der Maler ist der „Schilder“, malerische Qualität wird als

„schilderachtig“ beschrieben. Die Autoren der kunsttheoretischen Traktate sprechen

von der „Hooge Schoole der Schilderkonst“ oder widmen sich dieser im „Schilder-

Boeck“. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts werden im niederdeutschen

Dialektgefüge und in der holländischen Hochsprache der Schild des Ritters, das

bemalte Wirtshausschild und die Tafel des Malers mit demselben Wort

bezeichnet.316 Dabei ist der Schild die Grundlage einer speziellen Ausprägung von

Malerei – nicht nur etymologisch, sondern auch in seiner Funktion und

316 Emmens, Jan .A.: Rembrandt en de regels van de Kunst, Amsterdam 1979, besonders S. 152 - 68; De Pauw-de Veen, Lydia: bijdragen tot de studie van de wordenschat in verband met de schilderkunst in de 17de eeuw, Ghent 1957; Dies.: De begrippen „schilder“, „schilderij“ en „schilderen“ in den zeventiende eeuw, Brüssel 1969.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

151

Beschaffenheit.317 Er begegnet uns als Topos, in der Organisation der Gilde-Künstler

und in den Gemälden selber und verweist dadurch auf das Selbstverständnis der

Künstler des Nordens. Die Praxis und Wahrnehmung der „schilderachtigen“ Malerei

orientiert sich an den ursprünglichen Eigenschaften des Mediums. Dabei werden die

Kategorien anderer Künste weniger nachgeahmt, als die mediale Unabhängigkeit der

Malerei hervorgehoben. Ihre Kategorien leiten sich nicht aus der textähnlichen

Lesbarkeit ab, sondern basieren auf der simultanen malerischen Gestaltung von

Handlung, deren Konsequenz die Ausschaltung von nacheinander folgenden

Ereignissen ist. Malerei als Schilderij besitzt einen eigenen Modus, der die

Detailgenauigkeit betont, die Gegenstände durch die Reflektion von Licht modelliert,

die Oberfläche und Ausschnitthaftigkeit herausstellt und Handlung aus logischer

Folge isoliert.

Der erste Kunsttheoretiker des Nordens, der das Wort „schilderachtig“ verwendet, ist

Karel van Mander. In seinem Schilder-Boeck, das 1604 als erstes kunsttheoretisches

Traktat innerhalb der Niederlande publiziert wird, gebraucht er den Begriff neun

Mal. Seine Schrift, die großen Einfluss auf die Malerei ausübte, wurde in 18 der

größten niederländischen Bibliotheken des 16. und 17. Jahrhunderts aufgeführt.318

Im Gegensatz zum holländischen Begriff „pittoresk“, der sich durch die Rezeption

der venezianischen, nicht-akademischen Kunst entwickelte, bezeichnet

„schilderachtig“ sowohl eine malerische Kategorie als auch die Verfassung der

Künstler.319 Der Begriff erscheint in zwei Ausprägungen: In der ersten bedeutet er

„in der Art der Maler“, er beschreibt die Eigenschaften des Künstlers. Van Mander

betont, dass Maler mit einer noblen Gesinnung ausgestattet sind und mit sittsamer

Bescheidenheit das Gemüt des Betrachters ansprechen. Malerei soll bescheiden und

ohne Neid ausgeführt werden. Neben diesen Ratschlägen, die an Künstler in der

317 Eine Verbindung von Wappenschild und Malerei lässt auch der Begriff „Tableau“ zu. Gemälde wurden in den Inventaren ebenso als Tableau bezeichnet wie die Wappenschilde der Ritterorden. 318 Hahn, Andreas: „...dat zy de aanschouwers schynen te willen aanspreken“ – Untersuchungen zur Rolle des Betrachters in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, München 1996, S. 48. 319 Der Begriff „pittoresco“ findet sich zuerst bei Vasari in der Beschreibung verschiedener malerischer Techniken. Doch erst Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt er in den Traktaten an Bedeutung zu gewinnen. Bezeichnenderweise ist er in den ersten beiden Ausgaben (1611 und 1623) der florentinischen „Accademia della Crusca“ nicht zu verzeichnen, sondern wird mit Nachdruck erst bei Marco Boschini verwendet. Der Venezianer spricht 1660 vom „pittoresco“ als Ausdruck gestischer und pastoser Malweise; das „Pittoresco“ wird seitdem in Verbindung mit „Colore“ verwendet. Bakker, Boudewijn: Schilderachtig – Discussions of a seventeenth-century term and concept, in: Simiolus,24, 1995, S. 148.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

152

Ausbildung adressiert sind, kann sich bei van Mander der Begriff auch auf die

Ausführung der Gemälde beziehen.

Er verwendet ihn bei den Malern Cornelis Cornelisz und Cornelis Molenaer.

Cornelisz hatte ein Stillleben angefertigt, dessen „bloemen soo wel en schilderachtig

waren ghedaen“320, dass er nach seiner Fertigstellung das Gemälde nicht verkaufen

wollte – bei den Gemälden von Cornelis Molenaer notiert van Mander, dass er nie

zuvor „fraeyer en schilderachtiger“321 Landschaften gesehen hatte. In beiden Fällen

lobt er also die „schilderachtig“ Qualitäten der Malerei und setzt sie in Beziehung zu

Darstellungen der Natur. Bei Cornelisz mit dem Stillleben, bei Molenaer mit der

Landschaft, also mit zwei Gattungen, die in der Hierarchie der Malerei auf den

unteren Stufe rangieren. Malerische Gestaltung wird also mit Kunst assoziiert, deren

Stoff nicht von der Historie stammt, sondern Gegenstände des Alltags und der

lebensweltlichen Wirklichkeit darstellt. Nicht die Organisation für einen

intellektuellen Nachvollzug steht im Vordergrund, sondern die Darstellung von

Landschaft und Stillleben „naer het leven“. Der Auftrag, den die Landschaft oder das

Stillleben erfüllen sollen, unterscheidet sich von der Historienmalerei und lässt die

Relevanz anderer Kategorien zu, die nicht in Abhängigkeit von Texten dargestellt

werden.

Neben den gattungsspezifischen Ausführungen führt van Mander einen

richtungsweisenden Topos an, der dem Status der Schilderij eine neue Perspektive

hinzufügt. Er beschreibt in der Vorrede zu seinen Viten der Maler den Ursprung der

Malerei. Nach dem er das 15-teilige Gedicht „de Grondt“ mit lehrreichen

Anweisungen für angehende Maler vorgetragen hat, beginnt er die Geschichte der

Malerei zu entwickeln und setzt bei den „antycke doorluchtighe Schilders“322 ein.

Deren Darstellung „so wel Zwecken“323 dienen soll. Van Mander zitiert dabei

verschiedene Textstellen der „Ilias“ von Homer. Ziel ist es, darzulegen, was „al

historie op den Schilden geschildert“324 wurde. Er beginnt im 5. Buch der „Ilias“.

Dort tritt Minerva auf, die mit dem Harnisch des Jupiters gewappnet ist und den

Schild mit der Darstellung der Gorgonen trägt. Sodann führt van Mander den Schild

320 Ein Reprint von van Manders Viten findet sich in Miedema, Hessel (Hrsg.): The lives of the illustrious Netherlandish and German painters, Doornspijk 1984, S. 428. 321 Miedema, Hessel: aaO., S. 429. 322 Untertitel der Vorrede von Mander, Karel van: Het Schilder-Boeck, Amsterdam 1618, o.S.. 323 Mander, Karel van: aaO., o.S.. 324 Mander, Karel van: aaO., o.S..

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

153

Agamemnons an, um daraufhin ausführlich die Gestalt des Schildes von Achill zu

beschreiben: Patroklos ist tot durch die Hände Hektors. Auf jene Nachricht stimmt

Achill mit denen, die bei ihm im Zelt sind, die Totenklage an, die bis zu seiner

Mutter Thetis in die Tiefe des Meeres klingt. Achill wird den Tod des Patroklos

rächen und im Kampf sterben. Doch zuvor muss er den nächsten Morgen abwarten,

um von seiner Mutter eine neue von Vulkan geschmiedete Rüstung zu bekommen,

deren Schild in der Beschreibung van Manders die größte Aufmerksamkeit gewidmet

ist. Er beginnt ihn – nach dem Vorbild Homers – ausführlich „vor den Augen“ des

Lesers darzustellen.

Achills Schild zeigt den Himmel mit Sonne, Vollmond und Sternbildern, das Meer

und die Erde, auf der zwei Städte zu sehen sind. Die eine befindet sich im Frieden, in

der anderen herrscht Krieg. Dazu kommen bukolische Szenen, Darstellungen der

Wein- und Getreideernte und der Tanz von jungen Männern und Mädchen, unter

denen ein Sänger die Saiten schlägt. Van Mander lobt die „vercieringhen van

Inventien“325, die Darstellung der Wiese, des Himmels, der See, der Städte und lobt

die „historien (...) van wonder affecten“, so dass das „beste Schild van der werelt (...)

hadde die dingen al uyt te beelden“326. Die Beschreibung nimmt ein Viertel der

gesamten Vorrede ein, der Schild des Achill allein 85 Zeilen, er bildet das

Hauptthema der Vorrede.

Van Mander versucht, die Malerei in diesem Kapitel als eine der Artes liberales zu

etablieren.327 Er führt den Schildtopos in der Vorrede ein, die dem Kapitel als

richtungsweisende Zusammenfassung vorangestellt ist. Diese Zusammenfassung hat

die Funktion, auf die Kernfrage des Schilder-Boeck hinzuweisen und muss daher als

programmatische Vorbemerkung zu den Viten der italienischen, niederländischen

und deutschen Maler verstanden werden. Der Schildtopos wird dabei als Teil eines

Geschichtsmodells verwendet, das durch die Viten weiterentwickelt wird. Das

Schilder-Boeck, das als Konkurrenzprojekt zu Vasaris Vitensammlung angelegt ist,

325 Mander, Karel van: aaO., o.S.. 326 Mander, Karel van: aaO., o.S.. 327 Bakker notiert dazu: It can hardly be a coincidence that van Mander presents the schilderachtig decoration of Achilles’ shield as the earliest known painting (...) It is difficult to think of a better way of buttressing his argument that painting should be given the status of a liberal art. In: Simiolus, 24, 1995, S. 151.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

154

soll ihn – im Sinne einer Aemulatio – in einem literarischen Wettstreit übertreffen.328

Dabei ist die Entwicklung der Malerei durch Blüte und Verfall gekennzeichnet und

endet mit einer „Translatio studii“ der italienischen Kunst an den Norden. Nachdem

die Malerei in der Renaissance in Florenz zu neuer Blüte gelangt ist, verbreitet sie

sich und tritt ihre Statthalterschaft an den Norden ab. Italien ist lediglich eine

Durchgangsstation.329 Die nordischen Maler sollen die Kunst zu neuer Größe führen

und ihre Überlegenheit gegenüber der Kunst des Südens sichern. Diese neue Blüte

steht jedoch in der Tradition einer antiken Malerei, die sich rühmen kann, bereits bei

Homers Schild des Achill angelegt gewesen zu sein.

Die Qualität der Malerei, ihr Selbstverständnis und ihre Aufgabe werden durch van

Manders Argumentation deutlich. Der Schildtopos steht für die Versetzung einer

dreidimensionalen Szene in die zweidimensionale Flächigkeit des Gemäldes und

führt die Mittel der Raumkunst vor. Der Nachvollzug der Geschichte geschieht nicht

in der Folge einer Erzählung, sondern in der simultanen Schilderung. Malerei ist hier

dem Text vorgängig. Die Beschreibung, die in einer zeitlichen Abfolge steht,

orientiert sich an den medialen Gesetzen der Malerei. Bezeichnenderweise gewährt

van Mander der Landschaft auf dem Schild des Achill viel Raum. Er widmet sich der

profanen Szenerie, die keine mythische Handlung vorführt. Weder der Schild, der die

Fratze der Gorgonen zeigt, noch der Schild des Agamemnon werden in dieser

Ausführlichkeit erwähnt.

Van Manders Argument für die Nobilitierung der Malerei basiert auf einer medialen

Analogie zwischen dem Schild aus dem Epos Homers und der zeitgenössischen

Kunst, die weniger als Zeitkunst, denn als Raumkunst wahrgenommen wird. Die

Konsequenz für eine Kunst, die in dieser Tradition steht, ist die Stilllegung von

Handlung zugunsten einer Gleichzeitigkeit von sinnlichen Eindrücken. Die

Strukturen der Schilderung finden sich auch in van Manders Text. Seine Ekphrasis

dient zum einen der Wertschätzung der Malerei, zum anderen wird der Schild für den

Leser visualisiert. Van Mander greift dabei auf Homers Beschreibung zurück,

328 Dazu Müller, Jürgen: Concordia Pragensis – Karel van Manders Kunsttheorie im Schilder-Boeck, München 1993, S. 24. 329 Der Translatio-Gedanke ist das strukturgebende Element von van Manders Kunsttheorie. Er greift auf diesen Gedanken immer wieder zurück: „Schließlich ist die Malkunst (...) eine sehr alte Kunst. Es scheint, als ob sie ursprünglich mit allen anderen Künsten (...) aus Chaldäa über Ägypten nach Griechenland, von dort nach Rom und so bis hierher gekommen ist und verbreitet wurde“, übersetzt Jürgen Müller van Manders Vorrede. Müller, Jürgen: aaO., S. 37.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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skizziert die Landschaft und lobt die Darstellung der Städte, ohne auf die Entstehung

des Schildes einzugehen. Nicht die Verbindung von Entstehung und Beschreibung

sind für van Mander von Bedeutung, sondern das Verweilen in der Beschreibung

einer malerischen Schilderung. Im Gegensatz zu Lessing, der in der

Schildbeschreibung den „Homerischen Kunstgriff“ sieht, aus der „langweiligen

Malerei eines Körpers das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen“, steht für

van Mander der Nachvollzug der Schilderij im Vordergrund. Während Homer den

Entstehungsprozess des geschmiedeten Schildes in die Konsekution des Verses

überführt, konzentriert sich van Mander lediglich auf eine Wiedergabe der

Darstellung. Er beschreibt ein Bild.

Der Verlauf des Textes wird stillgestellt. Er führt damit ein literarisches Stilmittel

ein, das durch die Ausschaltung von Handlungsabläufen auf eine andere mediale

Beschaffenheit, auf die des Bildes, rekurriert. Wie in der „Ilias“ von Homer, der 130

Hexameter verwendet, um dem Leser Achill und seine Rüstung vor Augen zu führen,

gebraucht van Mander die Beschreibung, um Abläufe auszuschalten.330 Ebenso wie

im 18. Gesang der „Ilias“ wird Handlung durch die Imagination eines Bildes

stillgelegt. Bei Homer erscheint ein Bild inmitten eines sprachlichen Vollzugs. Seine

Ekphrasis markiert nicht nur den Beginn einer literarischen Gattung, sondern

schildert das Geschehen aus der Perspektive der Raumkunst, denn er beschreibt ein

Bild, das auf einem Rundschild angebracht wurde.331 Die Ekphrasis bewirkt

Verlebendigung und gesteigerte Evidenz, stellt die Zeit still und schafft Gegenwart

im Gefüge der sprachlichen Tempi und ihrer verfließenden Sukzession.332

Die Karriere der literarischen Schilderung, die Anleihen von der Malerei nimmt,

zeigt sich sowohl in der Literaturgeschichte wie in der Gegenwartsliteratur.

Wir finden sie in der Poesie und Dichtungstheorie von Johann Jacob Bodmer und

Johann Jacob Breitinger im 18. Jahrhundert333 und in der jüngeren Literatur, welche

330 Erika Simon bezieht das Nacheinander der Beschreibung auf den Entstehungsprozess. Damit hat Homer die Gattungsgrenze zwischen Poesie und Bildender Kunst virtuos aufgehoben. Simon, Erika: Der Schild des Achilleus, in: Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung – Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 123-141. 331 Dazu: Simon, Erika: aaO., S. 135f. 332 Boehm, Gottfried: Einleitung – Wege der Beschreibung, in: Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.): aaO., S. 13. 333 Pfotenhauer, Helmut: Die nicht mehr abbildenden Bilder – zur Verräumlichung der Zeit in der Prosaliteratur um 1800, in: Poetica, 28, 1996, S. 324-355; Besonders: Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder – zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur, München 2002,

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

156

die fiktive Bildbeschreibung in Romanen und Novellen als Stilmittel aufgreift.334

Dort wird sie als sprachliches Äquivalent der malerischen Schilderung eingesetzt; sie

charakterisiert einen Text, der so geschrieben ist, wie ihn ein Maler darstellen würde.

E.III.2. Der Maler als neuer Phidias

Neben der

Kunsttheorie gibt

die malerische

Praxis des

Nordens über die

Schilderij

Auskunft. Avant

le lettre stellt van

Eyck in dem

Madonnengemäld

e für den

Kanoniker van

der Paele von 1436 die Entstehung des Tafelbildes als Schild dar und bestätigt die

Analogie von Ritter-Schild und Künstler-Schild.335 Die thronende Madonna wird

links vom heiligen Donatian, rechts von van de Paele als Stifterfigur und dem

Heiligen Georg flankiert. Sie spiegelt sich in dessen goldglänzender Rüstung in

mehrfacher Wiederholung. Doch nicht nur die Figuren, die der Betrachter auf dem

Gemälde wahrnimmt, treten auf der Rüstung Georgs in Erscheinung, sondern auch

van Eyck selber, der sich vor dem Gemälde befindet. Auf dem Schild, das der

Abbildung 43: Jan van Eyck: Van der Paele Altar, Tempera auf Holz, 1436

Kapitel 3.2.: Die Ordnung der Repräsentation – Bodmer/Breitingers „Die Discourse der Mahlern“, S. 142-165. 334 Die Untersuchung von Bildbeschreibungen – besonders von Fotografien – in literarischen Texten ist in den letzten Jahren forciert betrieben worden. Eine Auswahl: Erwin Koppen: Literatur und Photographie – über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung, Stuttgart 1987; Zetzsche, Jürgen: Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen – zum Werk von Uwe Johnson und Jürgen Becker, Heidelberg 1994; Krauss, Rolf H.: Photographie und Literatur – zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 2000. 335 Preimesberger, Rudolf: Zu Jan van Eycks Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, LIV, 1991, S. 459-489

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

157

Heilige um seine linke Schulter geschnallt hat, zeigt sich das Selbstporträt des

Künstlers. Auf der spiegelnden Innenseite erscheint zwischen den stark verzerrten

Reflexionen das winzige Spiegelbild zweier Männer, von denen der vordere einen

roten Chaperon und ebensolche Strümpfe trägt. Die räumliche Lage deutet an, dass

die beiden Männer ungefähr vor der Mittelachse stehen und jene Betrachterposition

einnehmen, die van Eyck bereits in der „Arnolfinihochzeit“ von 1434 eingeführt hat.

Dass in der „Arnolfinihochzeit“ mit der Spiegelung eine Signatur in das Werk

gesetzt wurde, deutet die Inschrift, die sich auf dem Spiegel befindet, unzweifelhaft

an.336

Der Schluss liegt nahe, dass es auch hier er selbst ist, der vor dem eigenen Bild

stehend, die Wirklichkeit des Im-Bild-Gezeigten bestätigt. Der Maler, der auf dem

kleinen Schild gespiegelt wird, ist zugleich der

Schöpfer des großen Schildes. Die Spiegelung auf

dem Schild des heiligen Georg nimmt die Rolle einer

Visitenkarte für den Berufsstand des malenden

Künstlers ein. Wie in der Darstellung von van

Manders Schildertopos begegnet dem Betrachter hier

eine Anspielung auf eine malereitheoretische, antike

Legende. Van Eyck hat sich in kühner Allusion auf

das Selbstbildnis des Phidias bezogen, das in der Vita

des Perikles genannt wird. Plutarchs Schrift, die im

15. Jahrhundert in lateinisch gelesen wurde, berichtet,

dass Phidias auf dem Schild der von ihm geschaffenen

Athena Parthenos sich selbst und Perikles dargestellt

habe.337 Der Bildhauer Phidias, der seit Plinius auch

als antiker Maler gesehen werden kann, hatte seine künstlerische Signatur in Form

einer Miniatur-Malerei auf dem Schild verewigt.338 Diese Begebenheit wird von

Abbildung 44: Jan van Eyck: Van der Paele Altar, Detail mit Spiegelung des Künstler auf dem Schild des heiligen Georg

336 Die Spiegelmetapher soll hier nicht weiter untersucht werden. Belting äußert sich in seiner Analyse von van Eycks Gemälden, die er auf den Begriff des Speculum und der Speculatio von Nicolaus von Kues zurückführt. Dazu: Belting, Hans / Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes – das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 75. 337 Preisshofen, Felix: Phidias-Daedalus auf dem Schild der Athena Parthenos, in: Jahrbuch des deutschen Archäologischen Instituts, 89, 1974, S. 50-69, S. 50f. 338 Plinius berichtet in der Naturalis Historia davon, dass Phidias seine künstlerische Laufbahn als Maler begonnen hat. König, R. (Hrsg.): Plinius – Naturalis Historia XXXV, §54, München 1978, S. 48f.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

158

Dion Chrysostomos erweitert, indem er hinzufügt, dass dies in versteckter Form

geschehen sei. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter in der konkaven

Wölbung des Schildes das Selbstporträt van Eycks. Die Legende, die von den

Kommentatoren als Künstlerlist und Künstlerstolz gewertet wurde339, verweist

gleichzeitig auf die schöpferischen Fähigkeiten van Eycks und seines Berufsstands,

dessen Status durch den Rekurs auf die antike Schild-Legende nobilitiert wird. Van

Eyck ist der Erfinder einer gelungenen Fiktion, die nicht textuell, sondern nur visuell

wahrgenommen werden soll.

Für die weitere Argumentation sind nun die medialen Möglichkeiten der Schilder-

Kunst interessant. Malerei, die ihren Ursprung aus der Gestaltung von Schildern

bezieht, verweist nicht auf eine Lesart, die in der Erschließung von Texten geübt ist,

sondern auf eine genuin malerische Aneignung. Wappen- oder Kampfschilde, die im

16. und 17. Jahrhundert nördlich der Alpen enstehen, sind anders organisiert als

textabhängige Gemälde. Diese Funktion wirkt sich auf die Gestaltung aus, die sich

von der erzählenden Malerei und ihrer Orientierung an der Satzfolge eines Buchs

unterscheidet. Die Anordnung der Szenerie muss nicht zwangsläufig von links nach

rechts erfolgen, sondern kann konzentrisch angelegt sein. Die Komposition kann

somit als Addition simultaner Einzelszenen arrangiert werden und sich auf die

Darstellung weniger Figuren beschränken, da die Handlung nicht in epischer Breite

ausgeführt werden muss – so wie es das Bildkonzept bei Wall vorlegt. Der

Bildaufbau von „Picture for Women“, „Insomnia“ und „Volunteer“ sowie Vermeers

Gemälde haben gezeigt, dass die Künstler nicht nach Leserichtung von links nach

rechts komponieren, sondern die Figuren in das Zentrum der Darstellung bringen.

Keine ergänzenden Nebenszenen lenken von den zentralen Bildfiguren ab, so dass

die Geschehnisse auch kompositorisch zusammengezogen werden.

E.III.3. Die Tradition des Handwerks

Als letztes Argument für eine „Ästhetik der Dauer“ im Gegensatz zu einer gelehrten

Ästhetik der Erzählung soll nun die handwerkliche Tradition der holländischen

Malerei untersucht werden. Durch den Status, die Organisation und das

339 Cicero hat in den „Tusculanae Disputationes“ die Phidias-Legende als das Streben der Maler nach Ruhm beschrieben, denn auch die Handwerker wünschten, dass nach ihrem Tod ihr Name geehrt

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

159

Selbstverständnis der holländischen Gilde-Künstler zeigen sich zum einen Parallelen

zur Fotografen-Ausbildung, zum anderen kann die Kunstfertigkeit der meisterhaften

Oberflächendarstellung charakterisiert werden.

In der Niederländer-Forschung wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die

Maler eher mit den Handwerkern identifizierten als mit den literarisch gebildeten

Eliten der italienischen Kunst.340 Der handwerkliche Aspekt der Kunst wird im

Gegensatz zu den akademischen Ausbildungen betont.341 Technische Gemachtheit,

Könnerschaft und die Beherrschung eines illusionistischen Realismus’ stehen im

Norden in der Tradition der kunstvollen Ausführung durch die Meister. Während die

Gründung der italienischen Akademie sich bereits im 16. Jahrhundert vollzogen

hatte, sind die Holländer bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in Gilden organisiert,

deren Mitglieder sich aus unterschiedlichen Sparten zusammensetzen. „All

diejenigen, die ihr Brot verdienen mit der Malkunst, sei es mit feinen Pinseln oder in

Öl oder Wasserfarben, Glasmacher, Glasverkäufer, Töpfer, Draperiemacher,

Besticker, Metallstecher, Bildhauer in Holz oder Stein, Schwertscheidenmacher,

Kunstdrucker, Buchverkäufer, Druck- und Gemäldeverkäufer“, werden in der Gilde-

Liste des heiligen Lukas in Delft aufgeführt.342 Neben den Malern finden sich hier

also vor allem Kunsthandwerker der unterschiedlichsten Sparten, deren

Gemeinsamkeit sich im Gilde-Zeichen widerspiegelt: Hier begegnet uns der

Schildertopos als Logo einer Berufsgruppe wieder. Der Schild ist das Signum der

Gilde-Künstler von Haarlem und wird als großes Schild, das drei kleine Schilde

umfasst, dargestellt. Der „Schilder“ ist derjenige, der mit handwerklicher Perfektion

seine Werke ausführt, mit hochrangiger realistischer Wiedergabe der Oberflächen

würde. 340 Priece, John L.: Culture and Society in the Dutch Republic During the 17th Century, New York 1974. 341 Svetlana Alpers untermauert diese These mit dem Hinweis auf Francis Bacons Systematik des Wissens. Im Anhang des „Novum Organum“ von 1620, im „Parasceve“, befasst sich Bacon mit der Natur. Er rechnet die Kunstfertigkeiten des Menschen zu denen der Natur. Die Künste finden sich in diesem System nicht bei den „Artes mechanicae“, sondern bei nichtmechanischen, praktischen Tätigkeiten. Musik, Kochen, Backen, Wollherstellung, Weben, Färben und Gärtnerei bilden eine Einheit von Fertigkeiten, die ohne mathematische Basis in der Beobachtung der Natur gründen. Die Malerei ist im Parasceve als Handwerk vermerkt. Alpers, aaO., S. 189f. 342 Die Delfter Gilde folgte ebenso wie die Gilden in Rotterdam, Leiden und Utrecht den Bestimmungen, die in Amsterdam 1579 formuliert wurden: „Maler, Glasmacher, Bildschnitzer, Figurenschnitzer, Bortenmacher, Tapisserieweber, Lehmwerker und alle anderen, die mit Pinsel und Farbe umgehen können“. Dazu Norrth, Michael: Kunst und Kommerz im Goldenden Zeitalter – zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1992, besonders das Kapitel: „Rekrutierung und soziale Stellung der Kunstmaler“, S. 77-100; auch: Alpers, aaO., S. 203.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

160

und technischem Know-How. Die Seiden Terborchs, die Teppiche Gerrit Dous, die

detaillierte Wiedergabe des Brots bei Vermeers „Milchmagd“ zeugen von der

Zurschaustellung dieser Darstellungskunst.

Mit Ausnahme weniger Berufsgruppen blieb die Lukas-Gilde in Delft, der auch

Vermeer zugehörte, von 1550 bis 1750 unverändert.343 Lediglich innerhalb der

Gilden vollzog sich eine Differenzierung der Berufsgruppen, die sich in einer

Spezialisierung der verschieden Gattungen zeigte. Während der italienische

Künstleringenieur durch die Beschäftigung mit Mathematik und Optik eine

Nobilitierung der Malerei betrieb, um sich vom Handwerk abzuspalten, wurden bei

den niederländischen Künstlern innerhalb der Gilde Hierarchien gebildet, in der sich

der Maler an der

obersten Position unter den Handwerkern verstand.344 So bildet sich Mitte des 17.

Jahrhunderts eine begriffliche Differenzierung von Kladschilder (Grobmaler) und

Fijnschilder heraus, die jedoch nicht auf einen neuen Status der Malerei verweist,

sondern unterschiedliches Format und Ausführung betrifft. Nicht die qualitativen

Unterschiede, sondern lediglich verschiedene Anwendungsbereiche von

Wirtshausschildern und Gemälden werden benannt. Der vermehrte Gebrauch der

unterschiedlichen Begriffe in der Jahrhundertmitte reflektiert zwar ein Bewusstsein

von Differenzierung in Sachen Oberflächen-Gestaltung, die Verbindung der edlen

Goldschmiedearbeit mit dem Gemälde durch Zurschaustellung von Virtuosität und

Darstellungskunst wird dabei jedoch nicht in Frage gestellt. Auch die Entlohnung der

Künstler gibt ein anschauliches Zeugnis. Die Kosten der Gemälde wurden häufig in

der Relation zur Ausarbeitung berechnet. Die Arbeitszeit orientierte sich an der

Realisierung und nicht an dem Entwurf eines Gemäldes; Künstler änderten ihre

Berufe, wenn sie Aussicht auf weitere Verdienstmöglichkeiten hatten. Der

Porträtmaler Ferdinand Bol gab die Malerei auf, weil er eine gute Heiratspartie

gemacht hatte; Meindert Hobbema hat nach seiner Ernennung zum städtischen

Eichmeister keine Gemälde mehr angefertigt.

343 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts gibt es auch in den Niederlanden Künstlergruppen, die sich von den Gilden distanzieren. Einerseits beginnt die akademisch-italienisch geprägte Kunst, sich gegen die Kunst mit Handwerkertradition abzusetzen und fordert die Durchsetzung neuer künstlerischer Lehrvorstellungen – so die Den Haager Pictura-Gruppe – andererseits separieren sich Künstlergruppen aus marktpolitischen Gründen von den Zünften.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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Ebenso agierten die Fotografen Anfang des 19. Jahrhunderts. In Preußen herrschte ab

1810 völlige Gewerbefreiheit, so dass sich jedermann als Fotograf niederlassen

konnte, wo immer er ein Geschäft vermutete. Während sich die Erforschung der

fotografischen Technik im 18. Jahrhundert noch in kleinen Wissenschaftszirkeln

abspielte, in denen unterschiedliche Forschergruppen mit chemischen Versuchen und

optischen Apparaturen experimentierten, wurde das fotografische Verfahren im 19.

Jahrhundert einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Durch den Verkauf des

fotografischen Patentes von Louis Jacques Mandé Daguerre an den französischen

Staat konnte sich jedermann in öffentlichen Vorträgen die Arbeitsweise der

Apparaturen erklären lassen und die fotografische Technik erlernen. Der Besuch

wurde mit einem Diplom belohnt, mit dem man nachweisen konnte, dass man

Daguerres Schüler war. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Ausbildung zum

Fotografen institutionalisiert. Durch die Nachfrage nach unterschiedlichen Techniken

und den verschiedensten Aufgabenstellungen verlangte die Klientel nach

ausgebildeten Handwerkern und Technikern, die meist als „Lehrlinge“ in den

Ateliers versierter Fotografen ausgebildet wurden.345 Diese Lehrpraxis findet sich

noch heute in den mehrjährigen Praktika, die viele Abiturienten vor einem Studium

bei einem Fotografen absolvieren.

Neben der praktischen Lehre bildeten sich Mitte des Jahrhunderts Institutionen, in

denen das Wissen um die fotografischen Verfahren weitergegeben und ein mediales

beziehungsweise künstlerisches Selbstverständnis entwickelt wurde. Zum einen sind

es Amateurvereine346 und Berufsverbände, die mit Zeitschriften an die Öffentlichkeit

treten – die „Deutsche Photographen-Zeitung“, die „Photographische Chronik“, die

„Photographische[n] Nachrichten“ oder „Das Atelier des Photographen“ sind die

344 Die Beschäftigung mit Astronomie, Mathematik und Optik hatte zur Aufgabe, die Teilhabe an den Wissenschaften zu ermöglichen. Dazu: Kristeller, Paul Oskar: Das moderne System der Künste, in: ders.: Humanismus und Renaissance II, München 1971, S. 164-206. 345 In Deutschland ist es Hermann Krone, der als erster den Versuch machte, die Ausbildung zum Fotografen zu institutionalisieren. Er eröffnete 1853 in Dresden ein fotografisches Atelier, dem eine eigene Lehranstalt angeschlossen war. Krone hat dieses Privat-Institut bis 1869 geführt. Ab 1870 war er Dozent für Fotografie am Polytechnikum in Dresden. Krone war der erste staatlich angestellte Lehrer für Fotografie in Deutschland. 346 Die ersten offiziellen Vereine gründeten sich 1851 und 1854 in Frankreich. Es entstehen die „Société Hèliographique de Paris“ und die „Société Photographique de France“. Wenn auch anfangs ohne Statuten und festem Programm, findet sich hier bereits ein Modell, nach dem nahezu alle späteren Vereinsgründungen erfolgen sollten. Dazu: Hoerner, Ludwig: Allgemeiner Deutscher Photographen-Verein – Gründung und Werdegang, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 13,1984, S. 3-11, besonders S. 4.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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Mitteilungsorgane der Berufsfotografen, die in Weimar, Halle und Berlin erscheinen.

Zum anderen sind es die Technischen Hochschulen, die Fotografen als Dozenten in

die Lehre mit einbeziehen. An den Technischen Hochschulen, die oftmals aus den

Kunstgewerbeschulen hervorgegangen waren, wurden fotochemische Laboratorien

eingerichtet, in denen die Studenten begleitend zu den Hauptstudiengängen

Fotokurse belegen konnten.

Die Amateurfotografen hatten sich um 1900 so weit mit der Produktion von Kunst

im akademischen Sinne identifiziert, dass sie den Begriff des Berufsfotografen als

negative Folie für ihr soziales Selbstverständnis einführten. Daraufhin wurde in den

meisten Vereinigungen die prekäre Situation der Fotografie als Berufsinhalt klar.347

Die Amateure waren technisch wie gestalterisch den Berufsfotografen überlegen,

und die Salonkunst nahm die Fotografie in ihre Hallen auf. Die Zugehörigkeit des

Berufsstandes regelte man im Jahr 1900 daher für die deutschen Fotografen im Reich

einheitlich: Alle Fotografen wurden in den Handwerkskammern

zusammengeschlossen. 1902 bildeten sich die ersten fotografischen Innungen. 1904

gründete man den „Centralverband des Deutschen Photographen-Handwerks“; „seit

1904 ist die Fotografie in den deutschsprachigen Ländern ein Handwerk“348.

Dennoch blieb der Status des Fotografen zwischen Künstler, Handwerker und

Techniker problematisch. Die Gründung von fotografischen Gesellschaften nach dem

Ersten Weltkrieg zeigt, dass das „Stigma des technischen Machwerks“349 durch die

„kreative Kraft“ der Autoren-Fotografen überwunden werden sollte und

repräsentative Institutionen als Identifikationsmodelle für die Fotografen immer noch

fehlten. Wenn man nicht den Akademien angehören wollte, musste man sich in

eigener Regie organisieren. Eine Alternative zu den akademischen Lehranstalten

boten Vereinigungen aus privater Initiative. Durch Produzenten, Industrielle und

Händler, die sich etwa in der „Gesellschaft der Photographen“, die noch heute

347Sachsse, Rolf: Ausbildungswege zur Fotografie, München 1981, S. 13f. 348Sachsse, Rolf: aaO., S. 13. 349Kräussel, Lothar: Fotografie zwischen Kunsthandwerk und Kunsthandwerk – die Geschichte und Entwicklung der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner seit 1919, Stuttgart 1992, S. 5. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigt die Gründung der „Gesellschaft Deutscher Lichtbildner“ das problematische Selbstverständnis der Berufsfotografen auf: Die Gesellschaft, die 1919 ins Leben gerufen wurde, verfolgte den Zweck, die Berufsarbeit des Fotografen, der nun als Lichtbildner apostrophiert wurde, zu veredeln. Dazu auch: Sachsse, Rolf: Die Arbeit des Fotografen – Marginalien zum beruflichen Selbstverständnis deutscher Fotografen 1920-1950, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 4, 1982, S. 55-61, hier: S. 56f.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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existiert, zusammenschlossen, wurde das Berufsbild geprägt. In der Nachfolge der

Technischen Hochschule findet sich die Ausbildung zum Diplom-Designer an den

Fachhochschulen. Die Ausbildung gemäß der Fotoschulen spiegelt sich in den

Bundesfachschulen, die mit einer Gesellen- oder Meisterprüfung abgeschlossen

werden. Erst Anfang der 70er- Jahre werden auch an den Kunstakademien

Professuren an Fotografen vergeben.350 In Deutschland wurde an der Kunstakademie

in Düsseldorf 1976 der Lehrstuhl mit dem Fotografen Bernd Becher besetzt. Dieser

Lehrstuhl bildet die Grundlage für eine künstlerische Fotografie, die mit den Becher-

Schülern internationale Erfolge feiert.

Die Sozial- und Institutionalisierungsgeschichte der Fotografie zeigt die Nähe zum

Kunstgewerbe auf. Der Status, der ihr zugesprochen wird, ähnelt demjenigen, der für

holländische Maler innerhalb der Gilden bestimmend war. Die Schilderij befindet

sich ebenso wie die Fotografie in der Nähe des Kunstgewerbes; die technische und

handwerkliche Könnerschaft wird bei beiden vorausgesetzt und mitgedacht.

Gleichzeitig sind beide Medien durch eine Distanz zu den Akademien und etablierten

Universitäten und Colleges gekennzeichnet. Das ist kein Mangel – ganz im

Gegenteil: Gerade dadurch qualifiziert sich die holländische Malerei und kann mit

den Mitteln der Fotografie von Jeff Wall fortgesetzt werden. Der kunstferne Status

des Mediums knüpft nicht an den etablierten akademischen Konnotationen an und

bietet Wall zu Beginn seiner Karriere die Möglichkeit, sich von einer Kunsttheorie

abzusetzen, die sich in Nordamerika etabliert hatte. Der titanische Schöpfergeist des

„abstract expressionism“, der in der Tradition der klassischen Moderne stand, zielte

auf die Schaffung eines Werkes, das sich durch die subjektive Geste auszeichnet und

auf einen individuellen Bilderkosmos bezieht. Wall lehnte diese Haltung ab. Er

knüpfte an die Fotografie die Hoffung, „daß sie wirklich über die ‚bürgerliche Kunst‘

hinausgehen würde – Pollock beispielsweise kam einem immer mehr wie

‚bürgerliche Kunst‘ vor“351, erklärt er 1989 in einem Interview.

350 Das Bauhaus in Dessau besitzt eine Sonderstellung. Hier wurde durch die Lehrer Lazlo Moholy-Nagy und Walter Peterhans die Fotografie vertreten. Es ist jedoch nicht außer Acht zu lassen, dass alle Bauhauskunst – gemäß Gropius’ Manifest – im Handwerk verwurzelt sein sollte und die Institution 1919 aus der Kunstgewerbeschule hervorging. Der Lehrplan von 1931 führt in der zweiten und dritten Stufe die Fotoabteilung auf. Hier sollte „der Übergang vom technischen Experimentieren zum freien Arbeiten unter Berücksichtigung der speziellen Anforderungen der Reklame und Reportage“ erlernt werden. Dazu: Fricke, Roswitha (Hrsg.): Bauhaus Fotografie, Düsseldorf 1982. 351 Jeff Wall im Interview mit Serge Guilbaut, in: Stemmrich, Gregor: aaO., S. 193.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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Die Nähe zum Handwerk ist also kein Qualitätskriterium; sie beschreibt keine gute

oder schlechte Kunst, sondern offenbart ihre Ziele und Aufgaben. In einer Kunst, in

der die sichtbare Ausarbeitung, die Delikatesse im Umgang mit Farbe und stofflicher

Beschaffenheit, im Vordergrund steht, ist qualitätvolle Malerei weniger von der

rhetorischen Persuasion als von malerischer Meisterschaft abhängig. Nicht der Text

diktiert die Mittel, sondern die Malerei gibt die Möglichkeiten der Kunst vor. Die

Schilderij des Nordens ist nicht darauf ausgerichtet, von Betrachtern gelesen zu

werden, sie ist keine Illustration von schriftlichen oder mündlichen Erzählungen,

sondern soll angesehen werden. Das soll ihren Wert nicht schmälern, denn wie

Svetlana Alpers gezeigt hat, wird die Erforschung der Welt im Norden gerade durch

die empirische Aneignung von Wissen vollzogen. In der Schilderij finden wir die

kompositorischen und gestalterischen Vorentscheidungen, die eine spezifische

Gattung der bildenden Kunst betreffen.

Ihr Selbstverständnis begründet den ästhetischen Wert und die

Fiktionalisierungsstrategien, die von den Gegenwartskünstlern aufgegriffen und in

unterschiedlichen Medien verarbeitet werden. Die Stilllegung von Handlung, die

weder dem fruchtbaren Moment noch dem Schnappschuss entstammt, zeigt sich in

einem Begriff von Handlung, der sich nicht an der Wahrnehmung des Betrachters

orientiert. Dieser gedehnte Moment bildet eine Kategorie der Bildzeitlichkeit, die in

der Kunst Vermeers ihren Ausdruck findet und es ermöglicht, vermeintliche

Wahrheitslieferanten wie Fotografie oder Video als künstlerische Fiktionen

erscheinen zu lassen.

Die Darstellung von Dauer in der Malerei Vermeers oder den Fotografien Jeff Walls

liefert eine Grunddimension ästhetischer Wahrnehmung. Sie liefert dem Blick, der

mit interesseloser Aufmerksamkeit die Szenerie verfolgt, eine schildernde

Darbietung – und gerade darin wird ihre Ästhetik deutlich. Zum einen wird eine

realistische Welt, die mit den Sehgewohnheiten des Betrachters übereinstimmt,

geliefert: Weder die Stofflichkeit der Farbe noch perspektivische Absurditäten stören

den Blick. Andererseits erscheint sie dem Verlauf von Zeit und Handlung enthoben.

Sie repräsentieren eine Welt, die wir nur visuell nachvollziehen können, die unserer

zwar ähnlich ist, sich ihren Maßstäben aber gleichzeitig entzieht.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

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Die Geschichten bieten sich nur unserem Auge dar, sie können weder verstanden

noch missverstanden werden. Ihre Qualität liegt gerade im Ausbleiben und in der

Erleichterung von Sinn.

Die „Ästhetik der Dauer“ führt eine Verknappung vor, die nicht diskursiv

nachvollzogen werden soll, sondern als Scheidung der Sinne vom Sinn praktiziert

wird. Die oben beschriebene Dauer liefert den Rahmen für eine Kontemplation als

ästhetische Praxis. Da bisher kein Begriff gefunden wurde, welcher dieser

Darbietung einen autonomen Platz innerhalb der Künste weist, soll hierfür der

Begriff „Schilderung“ dienen.352 Im Folgenden sollen zwei Positionen

zeitgenössischer Künstler und ihre malerischen Mechanismen der Schilderung sowie

die Karriere einer „Ästhetik des gedehnten Moments“ vorgeführt werden.

E.IV. Die Stilllegung der Handlung als Strategie zeitgenössischer Künstler

Während das Schweizer Künstlerduo Theresa Hubbard und Alexander Birchler

Menschen in öden, verlassenen Zimmern auf Fotografien bannt, arbeitet Ute

Friederike Jürß mit Videos. Sie greift auf das ästhetische Phänomen der Dauer

zurück, um den Film, der qua Medium nicht ohne eine zeitliche Abfolge zu denken

ist, in ein fiktionales Arrangement zu überführen. Dies geschieht in zweifacher

Weise: Einerseits werden Inszenierungen, die auf Pressefotografien zurückgehen, als

Arrangements deutlich, andererseits unterläuft sie die Authentizität des Videofilms

durch eine „malerische Brechung“, die sich dem oben dargelegten Stilmittel der

Dauer bedient. Durch den Kontrast zweier Klassen, der Zeit- und der Raumkunst,

wird das bewegte Bild aus dem dokumentarischen Kontext gelöst und in die Nähe

352 Das begriffliche Fassen erzählerischer Malerei ist immer wieder in der Abhängigkeit vom gesprochenen oder geschriebenen Text beschrieben worden. Das ikonische Erzählen kann sich nur durch die Folie des textlichen Erzählens behaupten. Selbst Wolfgang Kemp, der die Bilderzählung intensiv untersucht hat und sie als kunsthistorischen Sachverhalt in die Forschung eingeführt hat, schreibt im Vorwort einer Aufsatzsammlung „Der Text des Bildes“: „Für die nachfolgenden Analysen werden wir von einer Konzeption ausgehen, die dem bildnerischen Werk einen autonomen Status und zwar den Status eines Textes zuspricht, das heißt, wir postulieren, für das bildnerische Werk – im folgenden Bildtext genannt – grundsätzlich die gleiche Autonomie als primärer Erzeuger von Bedeutung wie für den Sprachtext“. Kemp zitiert hier einen Autor der Aufsatzsammlung. Kemp, Wolfgang: Der Text des Bildes – Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung, München 1989, S. 7.

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der Fiktionalität, der Kunst, gerückt. Jürß konfrontiert die Dauer der Schilderung mit

den technischen Voraussetzungen des Films.

E.IV.1. Ute Friederike Jürß – „You Never know the whole Story“

Jürß’ Videoarbeit „You never know the whole Story“ aus dem Jahr 2000 besteht aus

drei Projektionen, die jeweils eine Wand des Ausstellungsraumes einnehmen. Die

Einzelbilder werden durch monumentale Inszenierungen bestimmt, in denen das

Bildpersonal in reduzierten Gruppen auftritt. Überlebensgroß wird eine

dunkelhaarige Zivilistin ins Bild gesetzt, die mit einem Kopftuch bekleidet ist. Neben

ihr stehen zwei vermummte Männer – der eine in Tarnkleidung und mit einer

Maschinenpistole bewaffnet, der andere ist durch die Dunkelheit der Szene nur

schemenhaft zu erkennen. Allen Bildern ist gemein, dass sie an die Berichterstattung

des Bildjournalismus’ erinnern. Es scheint sich um Begebenheiten von öffentlichem

Interesse zu handeln. Ob es sich in den Abbildungen um Aufnahmen von politischen

Krisengebieten oder Momente eines persönlichen Schicksals handelt, bleibt jedoch

unklar.

Ute Friederike Jürß stellt in ihrer Arbeit Pressefotografien der „New York Times“

nach. In ihren Schwarz-Weiß-Videos, welche die Erscheinung von Zeitungsbildern

nachahmen, inszeniert

sich die Künstlerin

selbst. Dabei bedient

sie sich einer

professionellen

Maskenbildnerin und

verwandelt sich in

jede der auf den

Zeitungsfotografien

abgebildeten Figuren.

Sie eignet sich das

Aussehen, den

Gesichtsausdruck und die jeweilige Pose an und filmt sich in einer Blue-Box, deren

blauer Studiohintergrund es ermöglicht, Personen so aufzunehmen, dass in der

Abbildung 45: Ute Friederike Jürß: You never know the whole Story, 2000 Video mit Endlosschleife

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Nachbearbeitung eine nahezu spurlose Montage des unterschiedlich produzierten

Videomaterials gelingt. Mit Hilfe der Bearbeitungssoftware „Inferno“, die auch in

Filmen wie „Matrix“ oder „Mission Impossible“ verwendet wird, fügt sie

anschließend die Bildteile zusammen.

Die Figuren sind minutenlang unbewegt. Ab und zu nimmt der Betrachter einen

Wimpernschlag oder ein fast unmerkliches Zittern der Hand wahr. Die

monumentalen Brustbilder werden für eine Sekunde aus ihrer Unbewegtheit gerissen

und dem Betrachter wird erst in diesem Moment klar, dass er keiner Fotografie,

sondern einer Videopojektion gegenübersteht. 353 Die Bewegungen folgen keiner

spezifischen Logik. Eine zeitliche Einordnung der Handlung schlägt fehl. Der

Betrachter kann keine Geschichte, die sich auf ein inhaltliches Ziel entwickelt,

erkennen. Jürß bezieht sich auf eine „Ästhetik der Dauer“, indem sie die Videos zwar

als zeitlich organisierte Bilderfolge darstellt, diese jedoch aus einem Handlungsfluss

der Bildszenerie isoliert. Die Zeit, die verstreicht, ist diejenige, die das Video

benötigt, um die gespeicherte Information auf die Ausstellungswand zu projizieren.

Sie verweist lediglich auf das mediale Ausgangsmaterial, den filmischen Vortrag.

Jürß thematisiert den Stillstand in seiner medialen Brechung. Das Innehalten der

Personen tritt aus dem Ablauf des Mediums. Die fotografische Aufnahme und das

filmische Bild führen sich gegenseitig ad absurdum. Was für den Film ein typisches

Merkmal ist – die Bewegung – wird hier künstlich unterdrückt, indem die Figuren so

regungslos wie möglich vor der Kamera posieren. Wir erleben die Darstellung eines

Stillstandes und nicht, wie im filmischen Medium sonst, die Darstellung der

Bewegung. Jürß sprengt die Grenzen der Gattung und schafft dadurch Fiktion. Für

die ikonische Bildzeit hat das zur Konsequenz, dass dadurch die Handlung als

permanente Dauer erscheint. Es sind bewegte Standbilder, deren dokumentarische

Bildrhetorik durch die Inszenierung gebrochen wird. Wie Jeff Wall bestimmt Ute

Friederike Jürß die Ausstattung, Kostüme und Requisiten, verändert und manipuliert

das Ergebnis durch Nachbearbeitung. Wie die Akteure in Walls Aufnahmen verharrt

sie in den Videobildern auf der Schwelle zwischen Handlung und Innehalten. „In

ihrem demonstrativen Innehalten schwanken die Figuren zwischen Handlung und

353 Die technisch machbare Sichtbarkeit einer extrem gedrosselten Geschwindigkeit, die vom Künstler Douglas Gordon anstrebt wird, ist hier nicht gemeint. Gordon hatte 1998 Alfred Hitchcocks „Psycho“ auf eine Abspieldauer von 24 Stunden gedehnt und auf eine Leinwand projiziert.

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Versunkenheit“354; ein belehrender oder erfreuender Sinn wird in dieser Inszenierung

nicht geliefert. Sie befinden sich in einem Schwebezustand zwischen Erwartung und

Erstarrung. Die Künstlerin überführt das dokumentarische Pressematerial in eine

paradoxe Inszenierung, in ein ästhetisches Niemandsland.

E.IV.2. Theresa Hubbard/Alexander Birchler – „Gregor’s Room“

Die Amerikanerin Teresa Hubbard und der Schweizer Alexander Birchler arbeiten

seit 1990 zusammen. Sie produzieren Videos und großformatige Fotografien, welche

die Lebenswelt eines fiktionalen Charakters darstellen. In den fast lebensgroßen

Fotografien der Serie „Gregor’s Room“ von 1999 findet sich der Betrachter in einem

verstaubten,

kleinbürgerlichen

Ambiente wieder. Der

Hauptakteur Gregor

sitzt verlassen und

gedankenverloren auf

dem Bett, auf einem

Stuhl oder inspiziert

den Raum mit einer

Taschenlampe.

Es ist das Zimmer, in

dem nach Kafkas

Erzählung „Die

Verwandlung“ der Handelsvertreter Gregor Samsa nach und nach zu einem Insekt

mutiert. Doch das Künstlerduo bezieht sich weniger auf den Plot der Geschichte als

auf die atmosphärische Schilderung des Zimmers. „Sein Zimmer, ein richtiges nur

etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten

Wänden“355. Minutiös wurde eine Kulisse gebaut, Kostüme und Requisiten

abgestimmt und Darsteller ausgewählt, um dem literarischen Schauplatz

Abbildung 46: Theresa Hubbard/Alexander Birchler: Gregor’s Room, 1999, Fotografie

354 Frohne, Ursula: Reality Bytes – Medienbilder zwischen Fakt und „Fake“, in: Museum Neuer Kunst (Hrsg.): Ute Friederike Jürß – You never know the whole Story, Karlsruhe 2000, S. 11-51, hier: S. 25. 355 Raabe, Paul: Franz Kafka – Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/Main 1987, S. 56.

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beziehungsweise seinen atmosphärischen Konnotationen so nahe als möglich zu

kommen.

Gregor sitzt auf dem Bett, hinter ihm liegt die geöffnete Aktentasche. Kein Gegen-

stand des Raumes verweist auf die Befindlichkeit seines Bewohners. Eine

gewöhnliche Blümchentapete und ein ordentlich gemachtes Bett unterstreichen die

Anonymität des Zimmers, die sich in der Indifferenz von „Gregors“ Gesicht

widerspiegelt. Seine Augen sind verschattet, sein Gesicht ausdruckslos. Vielleicht

lauscht er den Geräuschen, welche durch den kleinen Spalt zwischen Tür und

Rahmen dringen, vielleicht hört er auf die Worte seiner Mutter. Wir wissen es nicht;

wir können nur konstatieren, dass es sich um eine Schilderung eines Zustandes von

undefinierbarer Dauer handelt. Hier begegnet uns die Aufhebung von Zeit durch

einen kalkulierten Stillstand. Die Artifizialität der Fotografien wird durch eine

„Ästhetik des Stillstands“ erzeugt, welche die Bildhandlung stoppt und jedes

Geschehen suspendiert. „Hubbard und Birchler geht es um diesen ‚toten Punkt‘, den

Augenblick des Nicht-Mehr wie des Noch-Nicht“356. Dabei bezieht sich das

Künstlerduo auf Kafkas Erzählung – jedoch nicht, um diese zu illustrieren, sondern

um den Fotografien eine fiktionale Handlung zu Grunde zu legen. Während sich

Wall auf die Bildercodes von Malerei bezieht und Ute Friederike Jürß auf

Pressematerial Bezug nimmt, ist es bei Hubbard/Birchler die Verwendung einer

literarischen Erzählung, welche die Fotografie als Dokument der Wirklichkeit

aushebelt.357 Dieses Konzept findet in der formalen Gestaltung seine Entsprechung,

in einer unbestimmten Handlung, die aus dem Erzählfluss ausgeschlossen wird.

Die Protagonisten werden bei Tätigkeiten beobachtet, denen kein Ereigniswert

zukommt. Selbstversunken, „absorbiert“ verfolgen sie ihre Tätigkeit, so dass der

Betrachter zu der Überzeugung gelangen muss, der Realität beizuwohnen.358

356 Schenk-Sorge, Jutta: Teresa Hubbard und Alexander Birchler, in: Kunstforum International, Band 147, Nov. 1999, S. 362. 357 Wall bezieht sich in ähnlicher Weise in seiner Documenta-Artbeit „Invisible Man“ auf eine literarische Vorlage. „Invisible Man“ ist der Titel eines Romans von Ralph Ellisons. 358 Diese Nicht-Handlungen hat der Theoretiker Michael Fried in Bezug auf Chardin „Absorption“ genannt. Siehe Fußnote Nr. 76

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E.V. Tiefe – Guckkasten oder Raumbühne? Während wir zuvor die ikonische Zeit, ihre Merkmale und Wirkungen untersucht

haben, soll nun die Analyse des Bildraumes in den Arbeiten von Jeff Wall im Vor-

dergrund stehen. Neben den Landschaftsdarstellungen bilden Interieurs einen

Hauptblock seiner Arbeit und bestimmen seit Ende der 70er-Jahre sein künstleri-

sches Schaffen. Die Interieurs werden von Wall mit wenig Personal ausgestattet;

meist sind es nur zwei, maximal drei Protagonisten, die beiläufigen Tätigkeiten

nachgehen. Wie oben gezeigt wurde, sind sie oftmals in ihrer Tätigkeit versunken

und gehen keinen Kontakt mit der Außenwelt ein. Dieser Abgeschlossenheit ent-

spricht eine immer wiederkehrende Auffassung von Raum. Die Großdias zeichnen

sich durch eine Bildinszenierung aus, die sich in zweifacher Weise charakterisieren

lässt und den Ausgangspunkt bildet, von dem aus im Folgenden die fiktionale Wir-

kung von Walls Fotografien erneut beleuchtet wird: Zum einen wird der Blick nahe

an das Bildgeschehen herangeführt, so dass sich der Eindruck einer

Türschwellensituation einstellt. Zum anderen sind die Interieurs so angelegt, dass

der Betrachter sukzessive die Raumfolge erkunden kann. Nicht der Fenstertopos,

wie ihn die italienische Kunst vorsieht, ist für dieses ästhetische Arrangement

vorbildlich, sondern das Türmotiv nördlicher Prägung. Wir blicken in einen Raum

und werden von den Künstlern auf unsere Position an der Türschwelle verwiesen.

Der synkopierende Blick ermöglicht die Erschließung eines Bildraums, in dem der

Betrachter nicht vorgesehen ist.

Die Verbindung beider Momente ist nur scheinbar ein Paradox, denn Wall orien-

tiert sich an den Raumlösungen des holländischen Guckkastens. Dort wird der Be-

trachterblick durch Gucklöcher zwar in die Szenerie einbezogen, gleichzeitig je-

doch auf seine Position als Voyeur verwiesen. Als außenstehender Beobachter lie-

fert der Guckkastenstil und -effekt weniger eine Anweisung für einen gelehrten

Nachvollzug einer Handlung als die Offerte eines ästhetischen Schauspiels. Ein

Schauspiel, dessen stilistisches Repertoire sowohl für die Wirkung der holländi-

schen Interieurmalerei als auch für Walls Fotografien kennzeichnend ist. Diesem

spezifischen Raumgefüge korrespondiert eine spezifische Zeitstruktur, die unter

E.I. erläutert wurde. Beide bilden den Chronotopos der Schilderung, der sich im

Gegensatz zur Erzählung in den Werken Walls und der holländischen Künstler

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durch die Guckkastensituation manifestiert. Der Guckkasten, wie er im Holland des

17. Jahrhunderts erfunden und gebraucht wurde, gibt uns nach der folgenden Unter-

suchung Merkmale an die Hand, welche die genetische Verwandtschaft zwischen

der Malerei der Holländer und der Fotografie Walls um eine weitere Perspektive

bereichern und seine Strategien der Fiktionalisierung deutlich klassifizierbar ma-

chen lassen.

E.V.1. Der Blick ins Innere – Türschwellen- statt Fenstersicht

Walls Großdia „Odradek, Táboritska 8, Prague, 18 July 1994“ von 1994 zeigt ein

junges Mädchen, während es die letzen Stufen einer Treppe im Untergeschoss eines

Wohnhauses hinuntersteigt. Die staubige Treppe wird von einem Geländer abge-

schlossen, dessen schmiedeeiserne Balustrade beschädigt ist. Fleckiger Putz be-

deckt die Wände. Der Betrachter befindet sich an der Türschwelle, die zum Trep-

penhaus des Ge-

bäudes führt. Er

steht dem Mäd-

chen gegenüber

und überblickt das

verschachtelte

Arrangement der

Gänge und Ni-

schen.

Die räumliche

Disposition des

Treppenhauses

wird durch drei Achsen, welche in die Tiefe führen, gegliedert. Die erste Raumach-

se wird durch den Treppenlauf gebildet, die zweite liegt zwischen dem Lauf und

einem massiven Pfeiler, während die dritte die linke Bildhälfte dominiert; sie mar-

kiert einen Gang, der zu einem Türrahmen führt. Ob die Tür geöffnet ist, kann man

nicht erkennen, sie liegt in der Dunkelheit. Neben den Raumachsen erscheinen auf

der Fotografie Türen und Fenster. Eine kleine Tür deutet den Zugang zum Keller

Abbildung 47: Jeff Wall: Odradek Táboritska 8, Prague, 18 July 1994, 1994 Großbilddia in Leuchtkasten, 298 x 229 cm

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an, während eine weitere sich in der rechten Bildhälfte befindet. Sie nimmt fast die

gesamte Höhe des Tableaus ein und wirkt gegenüber der Größe des Mädchens mo-

numental. Ein massiger Pfeiler, weiß gestrichen mit ocker abgesetztem Sockel, be-

stimmt die Komposition. Er fungiert als blickteilendes Element und definiert die

räumliche Tiefe des Ganges.

Dieses Kompositionselement bestimmt auch andere Fotografien Walls. Es zeigt

sich in dem Großdia „Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelo-

na“ von 1995. Hier findet sich die blickteilende Senkrechte als Pfeiler, der das

Tableau durchschneidet und in zwei asymmetrische Flächen teilt. Der Raum wird

rechts durch ein spiegelndes Fenster abgeschlossen. Links markiert eine Onyxwand

zusammen mit den Stühlen und einem Teppichstreifen eine Zone. Da der Blick

sowohl auf die Onyxwand als auch auf die Glasscheibe freigegeben wird, scheint

das Foto unterschiedliche Ansichten zu vereinigen und aus verschiedenen

Betrachterstandpunkten montiert worden zu sein.359

Abbildung 48: Jeff Wall, Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, 1999, Großbild-dia in Leuchtkasten, 187 x 356 cm

Beide Fotografien Walls besitzen im Vordergrund einen schmalen Streifen, der

schräg angeschnittene Bodenplatten zeigt. 359 Vergleicht man Walls Fotografie mit Abbildungen, die für die Presse 1929 während der Welt-ausstellung fotografiert wurden, so fällt auf, dass letztere nicht auf Vielansichtigkeit angelegt sind.

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Die Zone im Vordergrund erscheint dabei von einer leicht erhöhten Position aus

fotografiert worden zu sein, während der restliche Bildbereich, besonders die De-

cke des Pavillons aus der Untersicht zu sehen ist. Das Tableau erscheint dadurch

seltsam zusammengesetzt. Der Raum wird nicht von einer klar definierten Position

aus dargestellt, sondern als Aggregat unterschiedlicher Teilansichten, die nur durch

einen synkopierenden, wandernden Blick erfasst werden können. Sowohl die blick-

teilende Pfeilerkonstruktion als auch die Weitwinkelfunktion des Kameraobjektivs

unterstützen diesen Eindruck der Bildmontage.

Der Vergleich von „Odradek“ und „Morning Cleaning“ mit einem Gemälde des

holländischen Künstlers Nicolaes Maes von 1657 verdeutlicht ein ähnliches Inte-

resse an räumlichen Dispositionen. Auch bei Maes begegnet uns das Pfeilermotiv.

„Die lauschende Magd“ steht auf der letzten Stufe einer Treppe und hat sich an den

Schaft eines Pfei-

lers gelehnt. Von

ihm gehen zwei

Arkaden aus,

welche die Rah-

mung für weitere

Räume bilden.

Rechts öffnet

sich das Bild in

einen überwölb-

ten Gang, in dem

sich ein Paar und

ein weiteres

Zimmer befinden. Links bildet – wie bei Walls „Odradek“ – die Treppe eine Ver-

bindung zu einem weiteren Raum. Der Blick des Betrachters wird in ein verschach-

teltes Gefüge von Zimmern geführt, die nicht nur in einer Enfilade hintereinander

angeordnet sind, sondern sich auch nach rechts und links öffnen. Es sind räumliche

Aggregate, die das Auge des Betrachters zu einer abwechslungsreichen Bewegung

Abbildung 49: Nicolas Maes: die lauschende Magd, 1657, Öl auf Leinwand

Der Pavillon wird nicht mit einem Weitwinkelobjektiv abgelichtet, sondern als Raum mit eindeuti-gem Kamera- und Betrachterstandpunkt definiert.

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durch die sich kreuzenden Gänge, Ansichten und Raumöffnungen einladen.360 Da-

bei zeigt sowohl das holländische Gemälde wie die Fotografien Walls die Eigenart,

den Ausblick aus Fenstern und Türen auf eine Landschaft zu verstellen. Entweder

wird der Durchblick durch eine Spiegelung verhindert, durch den Seifenschaum des

Putzmittels verunklärt oder durch die rahmenden Granitplatten gebremst – ein Phä-

nomen, das bereits kennzeichnend für die dunklen Fenster der Raumschachtel von

„Picture for Women“ war. Der Blick wird stattdessen an der Oberfläche der Wände

entlang geführt und kann das räumliche Gefüge des Interieurs nicht verlassen.

Diese Strategie hat Wall in der Fotografie „Swept“ aufs Äußerste ausgereizt. Der

Blick, der sich an Albertis Fenstertopos orientiert, wird hier nicht nur verunklärt,

sondern unmöglich

gemacht. Fenster

sind mit Brettern

vernagelt, innen

überdecken Holz-

latten die Rahmen.

In der Fotografie

„Swept“ sehen wir

in einen abge-

schlossenen

Raumkasten, in

dem Handlung

nicht wie durch ein Fenster oder auf einer Bühne dargeboten wird, sondern Tiefen-

räumlichkeit durch eine Türsituation definiert wird. Der holzfarbene Türrahmen,

der den Rand der rechten Bildhälfte darstellt, beschreibt die Position des Betrach-

ters. Sie ähnelt der des Großdias „Odradek“, in der sich der Beobachter an der Tür-

schwelle wiederfindet. Zwar deutet ein Schattenwurf, der die rechte Ecke des Rau-

mes ausfüllt, eine weitere Öffnung an, lässt diese jedoch nicht erkennen – nicht das

Fenster, sondern der Blick durch die Tür sind für dieses Raumarrangement verbind-

Abbildung 50: Jeff Wall: Swept, 1995, Großbilddia in Leuchtkas-ten, 249 x 191 cm

360 Dieses Phänomen zeigt sich auch in Zeichnungen und Gemälden Pieter Saenredams. Seine „In-nenansicht der Burenkriche“ von 1636 wird durch einen Pfeiler im Vordergrund beherrscht. Der Pfeiler bildet das Scharnier zweier Ansichten. Um die Zeichnung zu erfassen, muss man jede An-sicht einzeln betrachten. Es ist unmöglich, die rechte und linke gleichzeitig zu sehen. Dieses additi-

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lich. Dies unterstreichen auch die Maße der Fotografien. Mit einer Höhe von 249

beziehungsweise 191 Zentimetern besitzen die Bildkästen „Odradek“ und „Swept“

eine Größe, die eher der Erfahrung einer Türschwelle als einer Fenstersituation

entsprechen.

Die verschachtelte Raumanlage wird bei allen Gemälden und Interieur-Fotografien

entweder durch einen schmalen Streifen oder einen Rahmen im Vordergrund einge-

leitet. Dabei wird das Geschehen sehr nahe an den Bildvordergrund geholt und er-

zeugt eine Absorption des Blicks. Dieser Zoom-Effekt, der im Holland des 17.

Jahrhunderts durch eine spezifische Auffassung von Perspektive entwickelt wurde,

bezieht seinen Reiz aus einem „voyeuristic viewing“361, welches sowohl für die

Guckkästen als auch die zeitgleiche Malerei charakteristisch ist. Der Zoom-Effekt

offenbart dem Betrachter eine Szenerie und ermöglicht ein Höchstmaß an visueller

Teilnahme; er wird zum heimlichen Augenzeugen, der die Geschehnisse – unbe-

merkt durch die Protagonisten – von

der Türschwelle aus beobachten kann.

Abbildung 11: Rogier van der Weyden: Johannesaltar, 1450, Öl auf Holz, 77 x 48 cm

Die Malerei des Nordens hat bis zum

17. Jahrhundert bereits ein reiches Re-

pertoire an Bildlösungen zusammenge-

tragen, in der diese Schwellensituation

des Betrachters thematisiert wird. Die

verschachtelten Räume, die Walls und

Maes’ Bilder auszeichnen, haben ihre

Vorläufer in den diaphanen Bild-

Architekturen der spätmittelalterlichen

Malerei. Es ist die Kunst Rogier van

der Weydens, in der die Verwendung

der Tür und des Portals als architekto-

nisches Raumelement in die Interieur-

Malerei eingeführt wird. Der linke

ve Verfahren zeigt sich sowohl in der „Innenansicht der Kirche St. Bavo in Haarlem“ von 1636 wie in der „Innenansicht der Kirche St. Laurens in Alkmaar“ von 1636. 361 Brusati, Celeste: Artifice and Illusion – The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chi-cago 1995, S. 207.

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Flügel des Johannesaltars von 1450 zeigt im Vordergrund Maria mit dem Johan-

nesknaben und Zacharias, den Mann der Elisabeth. Beide Figuren befinden sich vor

einem Steinportal, das den Ausblick in eine Kammer freigibt. Der Rahmen im Vor-

dergrund, der von Erwin Panofsky als „diaphragm arch“362 bezeichnet wurde, mar-

kiert eine Raumzone. Eine Tür in der linken Bildhälfte erweitert die bürgerliche

Kammer um ein weiteres Zimmer. Hier werden die Lösungen, die für die Blüte des

Motivs im 17. Jahrhundert einen unerschöpflichen Vorrat bilden, vorbereitet; denn

die Raumarrangements der flämischen Malerei gelten in der Zeit des 17. Jahrhun-

derts als klassisch; sie können als exemplarische Trouvaillen verwendet werden

und fungieren als autorisierte Bezugsgrößen. Im Unterschied zur späteren Interi-

eurmalerei wird das Rahmenmotiv hier jedoch weniger als Betrachterstimulans,

denn als inhaltliche Scheidung zweier Sphären benutzt. Im Gegensatz zur genrehaf-

ten Kammer ist bei van der Weyden die Zone im Vordergrund als Kirchenportal

ausgewiesen. Ihr ist die religiösen Thematik vorbehalten, während im Hintergrund

sich das Genre abspielt. Das „reine Interieur“, in der das Türmotiv als ästhetische

Grenze vorgeführt wird, hat sich hier noch nicht etabliert. Es ist eine Erfindung des

17. Jahrhunderts, das für diese Bildgattung den Begriff „Doorkijkje“ gefunden hat.

Der „Durchblick“, so lässt sich der Begriff „Doorkijkje“ übersetzen, wird erst im

17. Jahrhundert zum eigenständigen Gemälde. Das „Doorkijkje“ wird durch die

spezielle Betrachtersituation an der Türschwelle charakterisiert, die wir in Maes’

und Walls Werken bereits analysiert haben und findet seine kunsttheoretische Ko-

dierung in den Traktaten von Philip Angel und Isaeck van Aelst. Angel liefert mit

seiner Schrift „Lof der Schilderkunst“ von 1642 eine wichtige Quelle zum Ver-

ständnis der holländischen Kunst. Es sind weniger die schriftlichen Anweisungen,

die auf den Türtopos verweisen, als die Personifikationen der Malerei, die dem

Traktat vorangestellt sind. Die Titelseite von Angels „Lof der Schilder-Konst“ zeigt

Pictura als Pallas Athene auf einem Postament. In der rechten Hand trägt sie Pinsel,

Palette und einen Malstock, mit der linken Hand hält sie ein „Doorkijkje“, das

durch einen überwölbten Säulengang gebildet wird und die typische Verschachte-

lung der Räume zeigt.

362 Panofsky, Erwin: Early Netherlandish Painting, Cambridge/Massachusetts 1953, Bd.1, S. 184.

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Auf der rechten Seite des Arkadengangs findet sich eine Säule, die den Rahmen für

die Komposition definiert – wie in Walls Fotografie „Swept“ liefert sie den An-

schnitt der Raumenfilade. Unvermittelt führen beide Künstler in das Bild ein und

zeigen eine menschenleere Architektur, die sich in räumlicher Weite erstreckt.

Stellen wir nun das Titelblatt der „Perspective par Samuel Marolys“ von Isaeck van

Aelst der Personifikation der Malerei des „Lof der Schilderkonst“ gegenüber, so

offenbart sich eine weitere Dimension der holländischen Perspektivkunst: Pictura

befindet sich neben der Personifikation der Geometrie auf einem Sockel. Wie bei

Angels trägt sie die Insignien der Malerei, Palette, Pinsel und ein Gemälde mit dem

charakteristischen verschachtelten Raumarrangement – soweit nichts Ungewöhnli-

ches. Der Sockel, auf dem sich Pictura befindet, zeigt jedoch ein rechteckiges Pa-

Abbildung 53: Isaeck van Aelst: Perspecti-ve par Samuel Malo-rys, Illustration der Pictura

Abbildung 52: Philip Angel: Lof der Schil-derkonst, Amsterdam 1642, Frontispiz mit Illustration der Pictura

neel mit einer Zeichnung. Es ist die „Construzione legittima“, die perspektivische

Rasterkonstruktion mit ausgewiesenem Augenpunkt, welche die Grundlage für die

Fenstersicht Albertis bildet. Das italienische Fensterschema wird hier dem hollän-

dischen Türtopos gegenübergestellt, die albertianische Theorie der malerischen

Praxis des Nordens. Picturas Attribut ist ein eigenständiges Gemälde, die Zeich-

nung auf dem Sockel ist die Illustration einer Theorie. Während die Zeichnung das

theoretische Fundament liefert, zeigt das „Doorkijkje“ die Praxis der Künstler. Wie

bei van Mander scheint van Aelst das Motiv des Wettstreits der Kulturregionen, die

„Translatio studii“ des Südens und Nordens aufgegriffen zu haben. Die Fenster-

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rahmung ist zwar neben die Türrahmung gestellt, aber diese ist es, die das neue

Attribut und die Autorität der neuen, holländischen Malerei begründet.

Diese malereitheoretische Fundstelle macht den Unterschied zwischen der Kunst

des Nordens und der Malerei des Südens besonders deutlich: Es ist der Blick in

einen Illusionsraum, der im Gegensatz zum Fenstertypus italienischer Prägung,

Raumöffnungen als Orte der Handlung anbietet, die man durch eine Türöffnung

wahrnimmt. Fenster und Türen präsentieren sich zwar beide als Hiatus in der

Wandoberfläche, unterscheiden sich jedoch in der Art und Weise der Durchbre-

chung. Während das Fenster die Wand durchstößt, vermittelt die Türschwelle den

Blick in einen weiteren Raum. Das Fenster öffnet das Innere nach außen, die Tür

definiert den Blick von außen nach innen. Und mehr noch: Nicht nur die Augenbe-

wegung von Außen nach Innen, sondern auch der Blick von einem Interieur ins

andere verleiht der Malerei ihre charakteristische Konnotation. Es geht um die Tür

in einer Wand zwischen zwei Räumen oder Kammern. Die Grenze, die sie darstellt,

ist von einer gänzlich anderen Art als die des Fensters, welche den Ausblick auf die

außenstehende Wirklichkeit rahmt.

Zu den Meistern der „Doorkijkjes“ gehören Nicolas Maes, Jan Steen, Pieter de

Hooch, Emanuel de Witte, Jan Vermeer und Samuel van Hoogstraten. Die Kunst

des Dodrechter Malers und Theoretikers van Hoogstraten ist für die weitere Unter-

suchung von besonderer Wichtigkeit, denn in seinem Werk treffen sich sowohl das

Türmotiv wie der synkopierende Blick, der das „Abtasten“ einer Schilderung er-

möglicht. Dieser Blick gewährleistet das Zusammensetzen der Bilder, die scheinbar

aus unterschiedlichen Ansichten montiert wurden und eine sich verändernde Au-

genbewegung verlangen – so wie es in der Weitwinkelaufnahme von Walls „Mor-

ning Cleaning“ durch die asymmetrischen Raumachsen und den teilenden Pfeiler

vorgegeben wurde. Das schrittweise Erfassen der Bildhandlung und das Türmotiv,

das die Fotografien „Odradek“ und „Morning Cleaning“ verbindet, findet seine

frühe Vorformulierung in van Hoogstratens Guckkästen. Sein Guckkasten wird im

Folgenden als Modell vorgestellt, um die Sehkultur und die visuellen Modalitäten

zu verdeutlichen, denen auch Walls Werk unterliegt.

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Von den sechs Guckkästen, die

noch vorhanden sind, liefert der

Londoner „Perspektikas“ aus

dem Jahr 1666 die Möglichkeit,

illusionistische Malerei in ihrer

Beziehung zum Auge zu verste-

hen. Van Hoogstratens hölzerner

Guckkasten ist auf einem Posta-

ment angebracht und zeigt die

Innenansicht eines Interieurs. Die

Längsseite ist heute mit einer

durchsichtigen Folie versehen;

ursprünglich diente die vordere

Kastenöffnung nur der Belich-

tung der Innenraumszenerie und

war mit transparentem Papier beklebt. Der Kasten ist 58 Zentimeter hoch und 64

Zentimeter breit. An den schmalen Seiten ist jeweils ein Guckloch angebracht, wel-

ches das Beobachten der Szenerie ermöglicht. Das Innere ist an fünf Seiten bemalt.

Im Vordergrund sehen wir einen zentralen Innenraum mit rautenförmig verlegten

schwarzen und weißen Kacheln. Wir sehen einen Stuhl mit rotem Bezug. Neben

den Türrahmen kann man Gemälde, Landkarten und Spiegel erkennen. An einer

Garderobe hängen Mäntel, ein Degen und ein Hut. Außerdem befinden sich weitere

Stühle im Raum. Von diesem zentralen Eingangsbereich fächern sich mehrere

Zimmer auf, so dass der Betrachter insgesamt in neun weitere Räume blicken kann.

Man sieht durch Rahmen, Fenster oder offen stehende Türen und erblickt ein viel-

gestaltiges Raumgefüge vor sich, das abwechslungsreiche Ansichten bereithält.

Auffallend ist die Asymmetrie der Raumgliederung. Die Durchblicke werden durch

Wände gebildet, die den Bildausschnitt in zwei ungleiche Hälften teilen, so dass

sich die Schilderung nicht auf einen Blick zu einer Gesamtansicht synthetisieren

lässt. Hier begegnet uns die Raumkonstellation wieder, die wir im Kapitel D.II. in

den Gemälden und Fotografien beschrieben haben: eine Addition von Blickpunk-

ten, deren zusammenhängende Schilderung durch eine wechselnde Augenbewe-

gung gewährleistet wird.

Abbildung 54: Samuel van Hoogstraten: Guck-kasten, 1666, 58 x 64 cm

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Obwohl Fenster dargestellt werden und Türen geöffnet sind, ist es nur sehr be-

grenzt möglich, die Außenwelt des „Dutch interior“363 im Guckkasten wahrzuneh-

men. Entweder ist das Fenster durch eine angrenzende Mauer verbaut oder der

Blick aus einem Türrahmen angeschnitten. Offenbar liegt der Reiz nicht in der Ges-

taltung einer weitläufigen Tiefe, sondern in der Augentäuschung der verschachtel-

ten Innenräume. Dem Betrachter wird eine Abfolge von rahmenlosen Ansichten

offeriert, die nacheinander angeschaut werden können. Der Betrachter folgt ihnen

durch ein sukzessives Sehen. Seine Konzentration wird dabei durch spielerische

Irritationen forciert: Ist das gerahmte Objekt nun ein Spiegel, eine weitere Rauman-

sicht oder lediglich ein Schatten?

Hier fehlt, anders als bei Gemälden, jeder Maßstab für die Regulierung des opti-

schen Eindrucks. Das isolierte Auge kann durch das Guckloch einen deutlich aus-

gewiesenen Gesichtskreis wahr-

nehmen. Die Teilnahme des Be-

trachters am Bildgeschehen wird

durch ein intensives Beobachten

gewährleistet – ähnlich dem Blick

durch ein Schlüsselloch. Dank des

heute noch erhaltenen Postaments

kann man die Höhe der Gucklö-

cher genau bestimmen. Tatsäch-

lich befinden sie sich auf der Höhe

der Schlüssellöcher von alt-

holländischen Türen.364 Die Be-

obachtersituation, die uns oben in

der Beschreibung des Maes-

Gemäldes begegnete, kann somit als voyeuristischer Blick tituliert werden, der von

den Gegenständen und räumlichen Verschachtelungen affiziert wird.

Abbildung 55: Samuel van Hoogstraten: Guck-kasten, 1666, Detail

Der Guckkasten ist sicherlich keine Erfindung der Holländer. Wir kennen Hinweise

von Vasari, dass Alberti Gemälde herstellte, die in Kästen angeschaut werden

363 Brusati, Celeste: aaO., S. 103. 364 Schneede, Uwe M.: De wonderlijke Perspectifkas, in: Artis – Zeitschrift für alte und neue Kunst,1966, 7, S. 25-28.

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konnten und Berichte von Carlo Ridolfi über die Methode des Modell-Theaters von

Tintotetto. Diese Guckkästen unterscheiden sich jedoch in Funktion und Gebrauch

von denjenigen holländischer Provenienz. Tintoretto fertigte Figürchen an, um ihre

Licht- und Schattenwirkung in entsprechenden Kammern aus Holz oder Karton zu

studieren. Seine Kasten-Szenerien wurden von außen beleuchtet und konnten durch

Öffnungen beobachtet werden.

Im 17. Jahrhundert wird diese Tradition der Modellbühne in Frankreich von Nico-

las Poussin weitergeführt, der in seiner zweiteiligen „Grande Machine“ Wachsfigu-

ren von 15 Zentimetern Höhe arrangierte. In Pose und Draperie aus Papier oder

Tuch komponierte er die Figuren als Vorlage für seine späteren Historiengemäl-

de.365 Zuerst entstand die Zeichnung nach dem Modell-Theater, daraufhin wurde

die Malerei geschaffen. Der erste Teil der Grande Machine, Architekturminiaturen

und Landschaften, fungierte als Träger für Figürchen, der zweite Teil bestand aus

einer fünfseitigen Kiste, die über die Bühne mit dem Figurenpersonal und die Ar-

chitektur gekippt wurde.366 Öffnungen ermöglichten die Inszenierung verschiede-

ner Lichtwirkungen und die Beobachtung perspektivischer Verkürzungen. Der

französisch-akademische Guckkasten hatte zur Aufgabe, die Gesetze der Perspekti-

ve zu veranschaulichen sowie das Studium des Faltenwurfs und der Beleuchtung zu

ermöglichen. Als Modellbühne diente er zudem der Vermittlung zwischen Zeich-

nung und Gemälde. Hier konnten Malerei und Zeichnung so ineinander greifen,

dass die Disposition, das Zwischenergebnis, das der Ausführung des Gemälde vor-

angestellt war, als Vorgang gegenseitiger Korrektur zwischen Zeichnung und Mo-

dellansicht entwickelt werden konnte. Für die Bildgenese, in welcher der Aspekt

durch den vernünftigen „Prospect“ geläutert wird, kann die Modellstudie somit zur

Verkörperung des Urteilvermögens werden.367 Sie ist als diskursiver Akt angelegt

und liefert die rationalen Vorentscheidungen für die späteren Ausführungen in Öl.

365 Anthony Blunt hat anhand der Zeichnungen Poussins die Funktion des Modelltheaters beschrie-ben: Dem Maler diente die Modellszene zur Erfassung und Überprüfung der Komposition. Blunt führt dafür vier Zeichnungen der „Taufe“ von 1646 an. Blunt, Anthony: The Drawings of Nicolas Poussin, London 1979. 366 Oskar Bätschmann hat die Modellbühne von Poussin aufgrund von Berichten Le Bond de La Tour und Roger de Piles rekonstruiert. Bätschmann, Oskar: Dialektik der Malerei von Nicolas Pous-sin, Zürich 1982, S. 36-38; über den Gebrauch von Wachsfiguren und Modellszenen im 16. Jahr-hundert informiert Julius von Schlosser: Aus der Bilderwerkstatt der Renaissance, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 31, 1913, S. 111-118. 367 Vergleiche: Kapitel C.II..

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Der Gegensatz von italienischen und französisch-akademischen Perspektivkästen

zur Guckkasten-Malerei holländischer Provenienz zeigt sich in Funktion und

Gebrauch. Während der Guckkasten für Poussin lediglich als Studienobjekt und

Vorstufe zur Bildfindung diente, ist der holländische Guckkasten ein eigenständi-

ges Werk. Er wird nicht als Hilfsmittel eingesetzt, sondern besitzt eigene ästheti-

sche Parameter, die mit denen der Malerei vergleichbar sind. Während Poussin Fi-

guren in den Kästen arrangiert, zeigt der holländische Guckkasten an allen Schau-

seiten Malerei. Für ihn gilt, was bereits für die Malerei gesagt wurde: Jeder Darstel-

lung eines Innenraums liegt die Vorstellung eines Zimmers zugrunde, dessen vierte

Wand entfernt worden ist. Die fehlende Wand wird schließlich durch die Oberflä-

che des Bildes ersetzt. Die Türen und Durchbrüche stellen dabei einen Hiatus in-

nerhalb der Welt der „Kultur“368 dar – ohne Verweis auf die Außenwelt. Dieser

Unterschied ist für den Status der Malerei entscheidend. Er macht den Guckkasten

in der holländischen Kultur zu einem eigenständigen „Sehstück“, zur Malerei, wel-

che die Kunstfertigkeit des Malers vorführt.

E.V.2. Sukzessive Blickbewegung und Distanzpunktverfahren

Kehren wir zu den Augenbewegungen des Betrachters zurück. Worauf bezieht sich

van Hoogstraten? Welche ästhetischen Vorentscheidungen führen zu einem derarti-

gen Raumarrangement? Welche Parameter liegen dieser Wirkung zugrunde und

welche Konsequenzen bedeuten sie für den genetischen Status der Kunst?

Jede der fünf Kastenflächen ist als separate Tafel mit eigener Perspektive angelegt,

die nur durch ein Nacheinander erfasst werden kann. Samuel van Hoogstraten

nimmt in seinem Buch „Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – An-

ders de Zichtbaere Werelt“ zwei Mal auf diesen synthetisierenden Blick Bezug.

Das rund 400 Seiten starke Malereitraktat erschien 1678 in Rotterdam und umfasst

eine Einführung in die Grundlagen der Malerei. 19 Stiche illustrieren die Kapitel,

die jeweils einer der neun Musen gewidmet sind.369

368 Stoichita, Victor I.: aaO., S. 63. 369 Hans-Jörg Czech hat van Hoogstratens Traktat historisch-systematisch analysiert. Sowohl die Entstehungsbedingungen wie die Verschränkung von formaler Gestaltung und Inhalt werden be-schrieben. Dadurch wird deutlich, dass Hoogstratens Traktat das Modell einer systematischen Lehr-

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Van Hoogstraten beschreibt die visuelle Wahrnehmung, deren Verständnis den

Malern das Zeichnen von Objekten erleichtern soll. Damit die Schüler die Gesetze

der Malerei lernen, müssen sie die Grundlagen des Sehvorgangs verstehen:

„Eerstelijk hebben wy arn te merken, dat wy met onze oogen rondom ons zien, en desweegen geen rechte linie kann getrogen worden, die op alle plaetsens onze oogen eeven nah is; maer wel een kromme, als en omtrek van een kring, waer van het middel-punt in ons oog is“370

[Wir müssen zuerst anmerken, dass wir unseren Blick rundherum schweifen lassen und darum keine gerade Linie zwischen uns und den Gegenständen gezogen werden kann, die immer den gleichen Abstand hat; sie ähnelt eher dem Umriss eines Kreises, dessen Mittelpunkt un-ser Auge ist.371]

Wenn wir den Blick schweifen lassen, wird unser Augenpaar in eine kreisförmige

Bewegung versetzt. Es befindet sich im Mittelpunkt eines sphärischen Feldes und

erschließt das begrenzte Gesichtsfeld in einer schrittweisen Bewegung. Die Objekte

werden dabei in unterschiedlichen Abständen und in einem „kromme[n]“, „als en

omtrek van een kring“ wahrgenommen, in einer ringförmigen Anlage, wie sie in

Holland Anfang des 17. Jahrhunderts in einem Perspektivdiagramm von Jan Vre-

deman de Vries dargestellt wurde. Jan Vredeman de Vries, der wohl einflussreichs-

te Theoretiker im Holland des 17. Jahrhunderts hat seinen Traktaten über perspek-

tivische Bildkonstruktionen zahlreiche Illustrationen beigefügt.372 In seiner Schrift

„Perspectiva“ von 1604 zeigt er zwei Figuren, welche die Grundlagen seiner Geo-

metrie verdeutlichen.

anstalt darstellt. Jedes Musenbuch verkörpert eine Schulklasse, in der ein fest umrissener Ausbil-dungsabschnitt absolviert wird. Czech, Hans-Jörg: Im Geleit der Musen – Studien zu Samuel van Hoogstratens Malereitraktat Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – Anders de zicht-baere Werelt (Rotterdam 1678), Münster 2002. 370 Hoogstraten, van: aaO., S. 34. 371 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 372 Brusati verweist darauf, dass Vredeman sich auf die frühe Perspektiv-Literatur des flämischen Naturwissenschaftlers Jean Pélerin bezieht. Pélerins „De Artificiali Perspectiva“ von 1504 war das erste Traktat, das in gedruckter Form erschien. Er beschreibt darin das Auge als ein bewegliches Brennglas, das Licht empfängt und in einer konvexen Linse bündelt. Der Maler solle diesen opti-schen Gesetzen folgen und sie in seinen Gemälden umsetzen. Dazu: Brusati, Celeste: Artifice and Illusion – The Art and Writung of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, S. 186. Dazu auch: Kemp, Martin: Science of Art – Optical Themes in Western Art from Brunelleschi to Seurat, New Haven 1990, S. 64-68.

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Abbildung 56 zeigt ein Quad-

rat aaaa, dessen perspektivi-

sche Verkürzung durch vier

Distanzpunkte, die an einer

äußeren Kreislinie „orizon“

angebracht sind, erzeugt wird.

Hier findet sich die Zirkelbe-

wegung des wandernden Au-

ges, die van Hoogstraten be-

schrieben hatte.373 Der Bet-

rachter wird im Scheitelpunkt

von vier sich kreuzenden Ge-

raden, im Mittelpunkt des Quadrates, situiert. Die Objekte, die sich seinem Ge-

sichtsfeld darbieten, werden durch eine Summierung von unterschiedlichen Ansich-

ten wahrgenommen, so wie es die Seherfahrung des Guckkastens nahelegt. Durch

die vier Distanzpunkte zeigt Vredeman, wie ein Gegenstand sowohl in seiner opti-

schen Verkürzung, als auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt werden

kann. Die Schnittpunkte der Geraden, die von den Distanzpunkten ausgehen, mit

den Kreislinien zeigen jeweils unterschiedliche Gesichtsfelder.

Abbildung 56: Jan Vredeman, Illustration aus der Schrift „Perspectiva“ von 1604

Eine weitere Besonderheit von Vredemann de Vries’ Lehre liegt darin, dass er den

Augenpunkt nicht in einem bestimmten Abstand vor dem Bild lokalisiert, sondern

auf der Bildfläche selbst. Durch diese Auffassung von Perspektive wird die unmit-

telbare Nähe des Beobachterblicks erzeugt, die sich als Schwellensituation zeigt

und in den Tableaus von Nicolas Maes und Wall vorgeführt wird. Dieser Zoom-

Effekt ist die Folge der Distanzpunkt-Perspektive, welche die zweite Figur in Vre-

demans’ „Perspectiva“ darstellt. Sie zeigt eine Projektion des kreisförmigen Mo-

dells von Abbildung 56 in die Fläche. Der Augenpunkt aus dem sich die Verkür-

zungen ableiten, befindet sich an der Horizontlinie (orizon). Er ist in Vredemanns

Zeichnung als halbes Auge gekennzeichnet und wird von zwei Distanzpunkten (e

373 „Aegaende d´eerste Figure van den groont-regel der Perspective, naer den aert by consideratie, als hier in dese ronde voor gestelt wort, ende op dese ooge punten geteckent is by letter a, volgende de originelle linie int ronde , naer het omdrayen des persoons ghesichts, die sijnen standt heeft opt middelste vier cant“ Vredeman de Vries, Hans: Perspectiva, zit. nach. Brusati, Celeste: aaO., S. 309. Dazu auch Kemp, Martin: aaO., S. 108-119.

Page 187: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

185

und f) in gleicher Höhe flankiert. In ihnen bündeln sich strahlenförmig Diagonalen

und stecken ein

Gesichtsfeld

von jeweils 13

Grad ab. Die

Diagonalen

sind mit 16

nummerierten

Punkten auf

einer Basislinie

verbunden.

Dadurch erge-

ben sich Recht-

ecke, die sich in die Tiefe verkürzen und die räumliche Darstellung der Bildobjekte

eines Gemäldes vorführen. Im Unterschied zu Alberti fordert Vredeman keinen

Betrachter, der vor dem Gemälde situiert ist und von dessen Augenpunkt die Ver-

kürzungen konditioniert werden, sondern eine betrachterlose Darstellung, deren

Perspektive bildimmanent entwickelt wird. Bezeichnender Weise ist das gebräuch-

liche Wort für Perspektive im Norden „Deurzig-“ oder „Doorzichtkunde“, das nicht

die Darstellung eines Gegenstandes mit Rücksicht auf seine räumliche Beziehung

zum Betrachter meint, sondern die Art und Weise, wie die Erscheinung an der

Bildoberfläche dargestellt wird.374

Abbildung 57: Jan Vredeman: Illustration aus der Schrift „Perspecti-va“ von 1604

Der Augenpunkt des Betrachters wird nicht in einem bestimmten Abstand vor dem

Bild lokalisiert, sondern auf der Bildfläche selbst. Die Bildobjekte erscheinen dabei

ebenso realistisch verkürzt wie in Gemälden italienischer Prägung, unterscheiden

sich jedoch in ihrer Wirkung. Während das italienische Modell an eine körperliche

Betrachterpräsenz gebunden ist, funktioniert die holländische Perspektivlehre nach

den optischen Gesetzen, die sich auf das isolierte Auge beziehen.375

374 Im siebten Buch von Samuel van Hoogstraetens „Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilder-konst: Anders de Zichtbaere Werelt“, das 1678 in Rotterdam erschien, spricht er „van de Deurzig-kunde“. Hoogstraten, Samuel van: aaO., S. 273. Im Wortstamm findet sich eine Übereinstimmung mit der Bildgattung der „Doorkijkjes“. Die „Durchsichten“ sind nach dem perspektivischen Verfah-ren konstruiert, dem der Tür-, nicht der Fenstertopos zugrunde liegt. 375 Svetlana Alpers hat darauf hingewiesen, dass das holländische Distanzpunktverfahren auch im Sinne der italienischen Zentralperspektive gehandhabt werden kann. Vignola, der es als „construzi-

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

186

Das isolierte Auge, das mit einem Gesichtsfeld ausgestattet ist, zeigt sich in einem

weiteren Abschnitt in van Hoogstratens „Inleyding“. Während er den Leser über

die Wahrnehmung einer Kugel belehrt, beschreibt er den Horizont, wie er in Vre-

demans Illustration (Abb. 57) erscheint – als eine Teilansicht, die das Auge in ei-

nem 90-Grad-Gesichtsfeld registriert:

„Als by voorbelt, een ronde kloot of kogel vertoont en ronde kring, en een eenigen Orizont of zechteind, howel wy met hand en verstandt en oneydich getal begrijpen: welke ronden omtrek noch schaers de helft naer ons oogen toe bevangt; voornement-lijk, als zy wat groot, of zeer naby is. Een yeglijk weet zeer wel, dat wy in zee zinde, wel den Orizont, maer niet de helft des we-rels zien (...)“376

[Eine Kugel erscheint beispielsweise als ein Kreis mit einem einzelnen Horizont oder einer einzelnen Ansicht; wir wissen jedoch durch Hand und Verstand, dass der kreisförmige Umriss aus einer Vielzahl solcher Ansichten besteht und dass der kreisförmige Umriss vor unseren Au-gen kaum die Hälfte einer Kugel umschreibt, vornehmlich, wenn sie sehr groß ist oder sich sehr nahe bei uns befindet. Jedermann weiß, wenn man auf See ist, sieht man nur den Horizont und nicht die Hälfte der Welt (...)]377

Die runde Kontur einer Kugel wird scheinbar durch eine Ansicht gebildet. Tatsäch-

lich ist der gesamte Umriss jedoch eine Addition verschiedener Aspekte. Wir kön-

nen ein Objekt nicht auf einen Blick erfassen, sondern setzen seine Erscheinung

nacheinander zusammen. Das wird bei sehr großen Objekten besonders deutlich.

Van Hoogstraten gibt für die Ansicht des Einzelaspekts folgendes Beispiel: Von

einem Schiff aus bietet sich der Horizont nicht als Gesamtansicht, nicht als „helft

des werels“, sondern lediglich als Teilansicht dar. Um diese These zu verdeutli-

chen, wählt er einen Gegenstand, der sehr weit vom Auge entfernt ist.378 Diese

Teilansichtigkeit erscheint bei Vredeman zwischen den beiden Distanzpunkten. Er

hat den Horizont als verbindende Gerade zwischen die Punkte E und F gezogen. Im

Quadrat abcd der Grundlinie begegnet uns das Gesichtsfeld (zichteind) des isolier-

ten Auges, das Gesichtsfeld, das in van Hoogstratens Beispiel beschrieben wird. one legittima“ in Italien einführt, hat es im Sinne Albertis „manipuliert“ und auf eine Ansicht zuge-schnitten. Das Verfahren fordert dies jedoch nicht, sondern erlaubt mehrere Schrägansichten. Al-pers, Svetlana: aaO., S. 126. 376 Hoogstraten, Samuel van: aaO., S. 34. 377 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

187

Die 16 Punkte auf der Grundlinie repräsentieren unterschiedliche Gesichtsfelder,

die nacheinander eingenommen werden können. Erst die Addition der einzelnen

Gesichtsfelder ermöglicht eine komplette Ansicht. Eine Darstellung von Gegens-

tänden analog zum Fensterblick, wie es Alberti forderte, ist damit nicht zu verein-

baren.

Albertis Modell des Sehens, wie er es in „Della Pittura“ beschreibt, kann mit der

holländischen Distanzpunktkonzeption nicht verwirklicht werden. Albertis Sehpy-

ramide geht von einem definierten Punkt aus, der durch die Augen des Betrachters

vor dem Bild gebildet wird. Das bewegliche Auge van Hoogstratens und Vrede-

mans nimmt die Welt jedoch nicht mittels eines festgelegten Punktes wahr, sondern

konstituiert eine Summe von Teilansichten, in welcher sich der Horizont als Gerade

ohne Krümmung darstellt. Das hat für den Status und die Definition von Malerei

weit reichende Konsequenzen. Im italienischen Gemälde wird der Erfahrungsraum

des Betrachters durch die Logik der Perspektive erweitert. Kontinuierlich wird die

Welt des Betrachters weitergeführt und erhält seine maßstäbliche Relation durch

den Betrachterstandpunkt. Ziel ist das „movere“, die emotive Beteiligung des Be-

trachters, nicht die distanzierte Teilhabe am Bildgeschehen. Barocke römische De-

ckenfresken – beispielsweise Andrea Pozzos „Eintritt des Heiligen Ignatius in das

Paradies“ von 1681 in S. Ignazio – verdeutlichen diese fließende Bewegung. Die

Architektur wird erst durch die Malerei vollendet und zeigt einen illusionistischen

Himmel, wie man ihn durch Albertis Fenster sehen könnte. Die holländischen Ge-

mälde unterschieden sich sowohl in ihrer Genese wie in ihrem Status von diesem

Modell. Während das Deckenfresko von Pozzo als Konsequenz des Architekturer-

lebnisses in der Kirche dargeboten wird, führen die Guckkästen ein „Eigenle-

ben“379.

378 Doch auch Objekte, die „zeer naby“ sind, können lediglich bruchstückhaft wahrgenommen wer-den. Van Hoogstraten meint dabei mikroskopische Ansichten, wie man sie durch die Untersuchung von Insekten kennt. 379 Van Hoogstraten, selbst ein Meister der Trompe-l’oeil-Kunst, attackiert den Illusionismus italie-nischer Kirchendecken. Er tadelt im Kapitel 10 der Inleyding die Meister, die vortäuschen, dass sich die Kirchendecke dem Himmel öffne, anstatt Architektur zu sein. Hoogstraten, Samuel van: aaO., S. 140.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

188

Es sind in sich geschlossene und verschränkte Raumeinheiten, deren Reiz darin

liegt, sich einerseits dem Betrachter zu zeigen – schließlich sollen die Gemälde

visuell wahrgenommen werden –, andererseits unabhängig von ihm zu existieren.

Die Strahlen der Sehpyramide sind

hier durchtrennt. An ihre Stelle tritt

das bewegliche Auge, das als eine

Apparatur der Bildaufzeichnung

losgelöst vom Körper agiert. Da-

durch erscheint der Raum nicht als

Fortsetzung, sondern als Fiktion

einer anderen, analog konzipierten

Welt. Der Guckkastenraum besteht

ohne Bezug auf den tatsächlichen

Betrachterraum. Er kann nur auf-

merksam beobachtet, jedoch nicht

vereinnahmt werden. Das Distanz-

punktverfahren ist die malerische

Legitimation der Keplerschen Bild-

form. Die rahmenlosen Ansichten

und die betrachterlose Tiefenräumlichkeit entsprechen der Definition von Keplers

Netzhautbildern, die das begrenzte Gesichtsfeld darstellen. Um eine Ansicht eines

Guckkastens zu liefern, werden diese rahmenlosen „Aspekte“ durch verschachtelte

Zimmeransichten zusammengefügt. In Walls Fotografie „Morning Cleaning“ er-

möglicht die Weitwinkelaufnahme die Verbindung von Raumteilen, die das Auge

anschließend nur in einem sukzessiven Blickwechsel erfahren kann. Das Resultat

ist bei Wall wie bei den Holländern das gleiche: die Spur der entanthropomorphi-

sierten keplerschen Sehkultur, in der Bilder jenseits subjektiver Intentionen defi-

niert werden. Wall knüpft an diese Seherfahrung an, um Orte und Handlungen aus

ihrer technisch determinierten Indexikalität in den Bereich der Fiktion zu überfüh-

ren. Er bezieht sich dabei nicht auf die Traktate der holländischen Künstler und

forscht ebenso wenig nach den optischen Funktionen des Auges. Der Eindruck ei-

ner Bildmontage wird bei Wall durch den Standpunkt der Kamera, das Objektiv

oder die manipulative Bildbearbeitung erzeugt

Abbildung 58: Andrea Pozzo: Deckenfresko von 1681 in S. Ignazio

Page 191: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

189

Die Wirkung, die er erzielt, zitiert jedoch Methoden der Malerei. Wall arbeitet mit

Effekten, die in der Kunst der Holländer als visuelle Strategien etabliert wurden:

Einerseits wird dabei jedes Detail offenbart, andererseits wird ein abgeschlossener,

abgeschirmter Raum

vorgeführt, der ei-

gengesetzlich exis-

tiert. Man wird Zeuge

einer Szenerie, ob-

wohl man als Bet-

rachter im Gemälde

nicht vorgesehen ist.

Der Kastenraum, wie

ihn die Figur 56 der

Perspectiva von Vredeman zeigt, liefert somit das stilistische Vokabular sowohl für

die oben vorgestellten Fotografien wie für den Perspektivraum von „Picture for

Women“. Das Arrangement der Fotografie greift diese Negierung des Betrachters

durch die Spiegelung auf. Das Bild entwickelt sich von innen nach außen – wo bei

Vredeman der innerbildliche Augenpunkt angebracht ist, hat Wall die Kamera posi-

tioniert. Obwohl die perspektivische Organisation des Fotos Tiefe suggeriert, ist der

Kastenraum durch das Distanzpunktverfahren ohne einen vorgängigen Betrachter

konzipiert – eine Strategie, der sich Wall bedient, um Fotografie mit der Wirkung

der Malerei auszustatten:

Abbildung 59: Jeff Wall: Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, 1999, Großbilddia in Leuchtkasten, 187 x 356 cm

Denn „lange Zeit musste man (...) gegen die traditionelle Ästhetik der Fotografie streiten, die vom Gedanken des Faktischen aus-geht, und gegen den Anspruch der Faktizität, den die Fotografie sowohl in der Kunst als auch außerhalb von ihr erhebt. Ich weise diesen Anspruch nicht zurück, aber ich glaube nicht, dass man auf ihn eine Ästhetik der Fotografie – der Fotografie als Kunst – gründen kann (...) Das habe ich zum Teil dadurch zu erreichen versucht, dass ich die Beziehung der Fotografie zu anderen Kunstformen hervorgehoben habe, vor allem zur Malerei“380.

380 Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys. „Die Fotografie und die Strategien der Avantgarde“, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, S. 138-141, hier S. 139.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

190

E.VI. Der Guckkastenraum als Strategie zeitgenössischer Künstler

Der Guckkastenraum findet sich in den Arbeiten von Thomas Demand, Lois

Renner und Sam Taylor-Wood in zweifacher Weise. Zum einen beziehen sich die

Künstler auf das Interieurmotiv. Wir sehen Badezimmer, Büroräume, noble

Etagenwohnungen oder Ateliers. Zum anderen ist der Guckkastenraum Bestandteil

der Bildentstehung: Demands und Renners Bildräume sind Fotografien von

Guckkastenmodellen, die als dreidimensionale Vorlagen für die Kamera angefertigt

wurden. Sie beziehen sich auf den Kasten als künstlerisches Artefakt. Aus Pappe,

Karton, Holz, Textil oder Metall haben die Künstler Modelle in einem

Miniaturmaßstab gezimmert, um sie später kunstvoll ausgeleuchtet mit der Kamera

zu „porträtieren“. Während sich bei van Hoogstraten das visuelle Erlebnis in der

Dreidimensionalität des Kastens abspielt, überführen Demand und Renner das

Modell in eine zweidimensionale Fotografie. Beide benutzen Miniaturräume als

Fotovorlage, erzielen jedoch fotografische Fiktion durch unterschiedliche Effekte.

Während Demand den Betrachter durch sterile, aseptische Künstlichkeit irritiert,

wird der Blick bei Renners Fotografien durch unmögliche, unrealistische

Gößendimensionen gestört. Die Londoner Künstlerin Sam Taylor-Wood greift in

ihren langestreckten Fotografien auf die Erfahrung des synkopierenden Blicks

zurück. Einzelne Szenen werden additiv aneinandergereiht und sind nur durch ein

Abschreiten des Ausstellungsraums zu erfassen. Diese Arrangierungsstrategien

sollen im folgenden Kapitel näher bestimmt werden.

E.VI.1. Thomas Demand – „Salon“

Demands Fotografie „Salon“ von 1997 ist als Auftragsarbeit für das „New York

Times Magazine“ entstanden. Sie zeigt ein kleines, enges Zimmer im New Yorker

Rotlichtmillieu der 70er-Jahre. Die Fenster sind mit schwarzen Tüchern oder Folien

verhängt. Links sieht man eine Liege, auf ihr liegt eine ausgepackte Rolle Kleenex.

Rechts steht ein Tischchen mit einem Heizlüfter, daneben ein Stuhl mit

Aschenbecher. Oben rechts befindet sich eine kleine rote Lampe, die mittels eines

Schalters am herabhängenden Kabel angeknipst werden kann. Während Wall durch

die Stilllegung der Handlung die Bilderzählung eliminierte, verzichtet Demand auf

Page 193: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

191

Schauspieler, die in seinen Fotografien agieren. Demands Innenräume scheinen

zwar Bewohner zu haben – man entdeckt Aschenbecher, Schreibmaschinen,

Kaffeetassen und Büroutensilien – tatsächlich sind in seinen Großfotografien

jedoch nie Menschen zu sehen.

Das „New York Times Magazine“ hatte 19 Fotografinnen und Fotografen gebeten,

Arbeiten zum Times Square anzufertigen, jenem alten Vergnügungsviertel in New

York City. Demand entschied sich, die Geschichte des Platzes mit der Zeitung zu

verknüpfen, die dem Ort ihren Namen gegeben hatte. Er ließ sich 700 Fotos aus den

Archivbeständen des Magazins kommen, die aus Reportagen über den Platz

stammten und wählte eine Fotografie, die 1971/72 während einer Razzia –

angeordnet von der New

Yorker Stadtregierung –

entstanden war. Sie zeigt einen

Massagesalon und

dokumentiert das triste Leben

hinter den tristen Fassaden des

Times Square. Anschließend

baute Demand den abgebildeten

Raum aus Papier, Pappe und

Kunststoff nach, um ihn zu

fotografieren.381 Seine Arbeiten

basieren also auf Fotografien,

die in Pappmodelle

umgewandelt werden, welche

wiederum als Vorlagen für

monumentale Großfotografien dienen. Demand isoliert die Bildinformationen und

rekonstruiert sie in einem anderen Medium.382 Das Resultat sind Fotografien, die

Abbildung 60: Thomas Demand: Salon, 1997, Fotografie

381 Auf Seite 58 des „New York Times Magazine“ vom 18. Mai 1997 wurde Demands Arbeit publiziert. Das Pressefoto wurde, nachdem es durch Demands „Fiktionsfilter“ bearbeitet wurde, wieder in den Bilderkreislauf des Magazins überführt. 382 Bei der Arbeit „Raum“ bezieht sich Demand auf eine Dokumentarfotografie, die das Führerhauptquartier nach dem Bombenattentat auf Hitler zeigt; „Scheune“ geht auf eine Fotovorlage von Jackson Pollocks Atelier auf Long Island zurück, „Das Badezimmer“ rekurriert auf das Titelbild des „Spiegel“, das den toten Uwe Barschel in der Badewanne eines Hotelzimmers zeigt. Demand hat das Badezimmer nachgebaut, allerdings den toten Körper und einige Details der „Spiegel“-Fotografie weggelassen.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

192

sich durch eine spezifische Anonymität und Synthetik auszeichnen. Die

Modellnachbauten wirken verlassen und gestellt – wie stilllebenhafte

Arrangements, deren Objekte jeden Hinweis auf die Privatheit der Bewohner

verbergen. Wenn auch im Titel nicht ausgewiesen, erfährt der Betrachter schnell,

dass die Fotografien nicht Ablichtungen realer Räume sind, sondern sich auf eine

konstruierte Architektur beziehen: Die Buchdeckel in der Fotografie tragen keine

Titel, bei den Zigarettenschachteln fehlt die Aufschrift. Die perfekte Glätte der

Oberfläche und die Schattenlosigkeit der Gegenstände lässt die Fotografien

künstlich und steril wirken. Jedes erzählerische Detail wird getilgt. „Alle narrativen

Indizien führen ins Nichts“383.

Wie Lois Renner arbeitet Demand mit dem Effekt des Trompe-l’oeils, das

fotografische Dokumentation suggeriert, vom Betrachter aber als listenreiche

Augentäuschung entlarvt werden kann.

E.VI.2. Lois Renner – „Atelier“

Der Salzburger Künstler Lois Renner fotografiert seit über zehn Jahren sein Atelier.

Von seiner Künstlerwerkstatt hat er ein Modell im Maßstab 1:10 angefertigt, das je

nach aktueller Ausstattung verändert wird. Auf der Abbildung 61 erscheint es mit

winzigen Möbeln und Skulpturen, ein anderes Foto zeigt ein Metallgestänge und

handwerkliches Gerät, die neuesten Aufnahmen sind mit Miniaturpostern, welche

die Funktion von Gemälden übernehmen, ausgestattet. Neben Renners

Ateliermodell existieren Miniaturnachbauten vom Dachboden seines Elternhauses

in Salzburg und seinem ersten Wiener Domizil. Die minutiös nachempfundenen

Miniaturmodelle aus Holz zeigen Treppenläufe, Pfeilerkonstruktionen und

Geschosseinteilungen. Selbst der Verlauf der Leuchtkörper wird von Renner

detailliert übernommen.

383 Wetzel, Michael: Der Tatort als Baustelle, in: Kunstverein Freiburg im Marienbad (Hrsg.): Thomas Demand, Freiburg 1998, S. 20.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

193

Renners Großfotografie „Atelier“ aus dem Jahr 2001 ist auf eine Aluminiumplatte

aufgezogen. Man sieht in einen zweigeschossigen Raum, der durch eine Treppe

verbunden ist. Im Untergeschoss erkennt man eine Werkbank, einen Stuhl und

einen Holzbock. Das Obergeschoss

wird von einem Wassily-Sessel,

einem Gipsabguss des

Barberinischen Fauns und dem

Selbstporträt des Künstlers

bestimmt. Vergleicht man die

Größendimensionen der Einzelteile,

fallen die absurden Maßverhältnisse

sofort ins Auge: Das Stativ im

Vordergrund erscheint im Vergleich

zum Treppenlauf und den Stühlen

monumental. Allein die

Justiervorrichtung nimmt soviel

Platz ein, wie die Sitzfläche des

Stuhls. Ebenso zerstört der

riesenhafte Zollstock auf dem Holzbock die Illusion, es könne sich um ein

dokumentarisches Foto handeln. Einer fragilen Kugelschreibermine wird

zugemutet, sie könne die Last der Querverstrebung unterhalb der Skulptur

aufnehmen, der monumentale Barberinische Faun reicht in Renners Atelier fast

unter die Decke.

Abbildung 61: Lois Renner: Atelier, 2001, Fotografie

Auf weiteren Atelierfotografien finden sich Gemälde von Rembrandt oder

Bildzitate von Joseph Beuys und Marcel Duchamp. Renner stattet wie van

Hoogstraten die Interieurs mit Kunstwerken aus, die der Betrachter aus anderen,

musealen Zusammenhängen kennt. Den Faun, Rembrandt-Gemälde oder andere

Kunstzitate in einer Künstlerwerkstatt anzutreffen, ist ungewöhnlich. Der Kontrast

von Museum und Atelier ermöglicht es Renner, dem Betrachter die Fotografie als

Arrangement vorzuführen. Die Skulptur kann nur eine Kopie, das Gemälde nur eine

Postkarte oder ein Zeitungsausschnitt sein. Damit entziehen sich die Fotografien

ihrer Funktion als Fensterausblicke, die den Betrachterraum weiterführen. Ihre

absurden Größenverhältnisse entsprechen nicht den gewohnten Maßstäben der

Page 196: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

194

Betrachterwelt. Tatsächlich könnte der Betrachter sich in diesen Räumen

unmöglich bewegen. Er wird auf seine körperliche Ausgeschlossenheit

zurückverwiesen und kann den Raum lediglich visuell erobern. Dabei gehen

Renner und Demand über die Rauminszenierung von Wall hinaus. Während Wall

durch Inszenierung das fiktionale Potential der Fotografie ausschöpft, arbeiten

Demand und Renner mit der Konstruierung neuer Modellrealitäten. Sie übertragen

van Hoogstratens Kastenraum in die Fläche der Fotografie und entwickeln

„Metabilder“384 des Guckkastens.

E.VI.3. Sam Taylor-Wood – „Five Revolutionary Seconds X“

Sam Taylor-Wood ist Mitte der 90er-Jahre durch das Interesse gegenüber den

„young British Artists“ in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten.385 Im Gegensatz

zu Demand und Renner beschäftigt sie sich nicht ausschließlich mit Fotografie.

Neben Videoinstallationen arbeitet sie mit DVDs und Filmprojektionen. Oftmals

werden ihre Arbeiten auch von einer Audioinstallation begleitet. Die

Großfotografie „Five Revolutionary Seconds X“ gehört zu einer Serie von zehn

Panoramafotografien, die zwischen 1995 und 1998 entstanden sind. Ungewöhnlich

ist zunächst das Format, das sich über eine Höhe von 72 Zentimetern und eine

Breite von 757 Zentimetern erstreckt. Die Bilder, die jeweils einen einzelnen Raum

zeigen, sind mit einer Panoramakamera aufgenommen, die sich in fünf Sekunden

einmal um die eigene Achse dreht. Auf diese Umdrehung (engl. revolution) bezieht

sich auch der Titel der Arbeit. Es handelt sich um die 360-Grad-Aufnahme eines

Raumes, die Taylor-Wood nicht als panoramatische Rundumsicht präsentiert,

sondern als flächigen Streifen auf der Wand installiert.

384 Der Begriff des Metabildes geht auf Thomas Trummer zurück. Er spricht von der Fotografie als „Metabild der Malerei“. Dazu: Huck, Brigitte: Aller Anfang ist Renner, in: Frame – the state of the art, 11, April/Mai 2002, S. 116. 385 Sam Taylor-Wood vertritt die Nachfolgegeneration von Sherman und Wall. Sie bezieht sich auf Shermans metafiktionale Strategien, indem sie Gemälde alter Meister auf heutige Verhältnisse überträgt. „Wrecked“ von 1996 liegt Caravaggios „Abendmahl“ zugrunde.

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E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

195

Abbildung 62: Sam Taylor-Wood: Five Revolutionary Seconds X, 1995, Fotografie, 72 cm x 757 cm

Die Fotografie zeigt ein lichtdurchflutetes Loft, großzügige Wohnräume, die mit

Designermöbeln ausgestattet sind. Auf dem Couchtisch findet sich eine Vase mit

Lilien. Ein weiterer Raum zeichnet sich durch Einbauten, ein „Eams-Büro“ und

eine Wandplastik aus. Die Fotografie zeigt insgesamt fünf Räume, deren Grenzen

nahtlos ineinander übergehen. Dennoch fluchten einige Geraden von Türen und

Bildern an einigen Stellen, während sie an anderer Stelle bildparallel verlaufen. Die

Fotografie vermittelt durch ihre Komposition den Eindruck, aus verschiedenen

Fragmenten zusammengesetzt zu sein. Durch die Vielzahl von verschiedenen

Perspektiven wirkt der Bildstreifen wie eine Montage. Hier begegnet uns das

ästhetische Vokabular des Guckkastens wieder, das sich bei van Hoogstraten und

Wall in den raumteilenden Vertikalen und den Ausblicken in verschiedene Zimmer

zeigte.

Der synkopierende Guckkastenblick wird durch das ausgeprägte Querformat

aufgegriffen. Die Länge der Fotografie verlangt, dass das Tableau Szene für Szene

abgeschritten wird, so dass sich die gesamte Fotografie durch eine additive Reihe

von Ansichten erschließt. Durch die großflächige Anlage müssen mehrere

Standpunkte bei gleich bleibender Entfernung zur Fotografie eingenommen

werden. Die Kamera zeichnet den Raum so auf, wie er durch das Auge in

Vredemans Diagramm, Abbildung 56, wahrgenommen wird. Auge und Kamera

bilden den Mittelpunkt und erschließen den Raum durch die Drehung um sich

selbst. Analog zu van Hoogstratens Horizontbeschreibung bietet sich die Fotografie

von Sam Taylor-Woods für den Betrachter dar. Der Betrachter bewegt sich vor der

Horizontlinie wie vor der Fotografie. Die Breite des Tableaus kann nur durch den

Wechsel des bildparallelen Standpunkts erreicht werden.

Diese Komposition wird durch die Schilderung der Handlung aufgegriffen. Im

ersten Moment wird der Eindruck erzeugt, die Fotografie zeige eine Reihe von

Page 198: Dissertation

E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?

196

kausal und chronologisch verknüpften Handlungen. Tatsächlich ist jedoch jede

Person isoliert: Eine Person sitzt vor einer geöffneten Tür, ein Paar befindet sich

auf der Couch, während eine Frau, nur mit Unterhose und Trägerhemd bekleidet,

mit dem Rücken zum Betrachter steht. Obwohl sich die einzelnen Szenen in einem

Nacheinander erschließen, verzichtet Taylor-Wood darauf, eine Geschichte mit

Anfang, Mitte und Ende zu erzählen. Die Verbindung der einzelnen Bilder

funktioniert nicht als kausale oder zeitliche Folge. Damit erschießt sich für den

Betrachter keine durchgängige Erzählung. Es handelt sich um eine Anti-Erzählung,

um eine „dysfunktionale Narration“386.

386 Sam Taylor-Wood gebraucht diesen Begriff, wenn sie von der Organisation der Schilderung in ihren Fotografien spricht. Dazu: Rosenthal, Stephanie (Hrsg.): Stories – Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst, München 2002, S. 125.

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F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

197

F. „Die Augen betrügen“ – die Ästhetik der Schilderung

In diesem letzten Kapitel soll die Ästhetik der Schilderung eine grundlegende Be-

stimmung erhalten. Welche Funktion haben die Mechanismen, die als Kennzeichen

der Schilderung herausgearbeitet wurden? Wie lässt sich die Ästhetik des Nordens

beschreiben, und worin liegen die Übereinstimmungen mit der Fotografie der Post-

moderne?

Zu diesem Zweck verweilen wir noch einen Augenblick bei van Hoogstratens Guck-

kasten. Er ist nicht nur für die Vorgabe der synkopierenden Bilderschließung vor-

bildlich, sondern auch durch die motivische Darstellung des Bildthemas. Man findet

eine kalkulierte Blickregie zwischen den Bildfiguren, deren Aufgabe es ist, das Be-

obachten und das Beobachtetwerden darzustellen und die Verfasstheit des außenste-

henden Zuschauers widerzuspiegeln. Die Blicke, welche die Akteure innerhalb des

Kastens austauschen, entsprechen der

Betrachtersituation vor dem Bild und

liefern somit ein weiteres Indiz, um die

Artifizialität und den Status der nordi-

schen Kunst zu bestimmen. Obwohl der

Betrachter körperlich vom Geschehen

des Guckkastens ausgeschlossen ist,

wird sein Blick durch Nahsichtigkeit

affiziert. Wenn man durch das linke

Guckloch blickt, erkennt man eine jun-

ge Frau, die in das Lesen eines Buchs

vertieft ist und durch eine Fensterschei-

be von einem Mann mit Hut beobachtet

wird. Sie ist ganz in ihrer Tätigkeit ver-

sunken und nimmt den Beobachter

nicht wahr. Konzentriert und passiv Abbildung 63: Samuel van Hoogstraten: Guckkasten, Mitte 17. Jahrhundert, Detail

Page 200: Dissertation

F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

198

sitzt sie auf einem Stuhl, während die stehende männliche Figur durch das Fenster

blickt.387 Die Blickkonstellation stellt sich dem Betrachter dabei als eine Triangula-

tion dar; als ein Dreieck, dessen Scheitelpunkt durch den Betrachter gebildet wird.

Der Betrachter sieht sowohl die Frauenfigur als auch den beobachtenden Mann.388

Zum Vergleich nochmals Walls Fotografie „Picture for Women“: Wall verkörpert

darin einen Mann, der in der rechten Bildhälfte stehend eine junge Frau im Vorder-

grund beobachtet. Die Relation der Blicke ist asymmetrisch – er ist aktiv, sie passiv

– und besteht aus einem komplexen Arrangement zwischen dem Betrachter und der

motivischen Blickorganisation innerhalb der Fotografie. Während der Mann sich der

jungen Frau zuwendet – er scheint fast auf sie zuzugehen – steht sie, ohne Kontakt

aufzunehmen, unbeweglich an der Holzplatte. Er beobachtet, sie wird beobachtet –

ebenso wie in der Zimmeransicht des Guckkastens.389 Es ist eine intensive Blick-

konstellation zwischen Mann und Frau, die nicht erst in den 70er-Jahren im Zuge

einer feministischen Bilderkritik thematisiert wurde, sondern bereits bei van

Hoogstraten etabliert ist.

Beide Künstler – Hoogstraten wie Wall – wiederholen die Betrachtersituation als

Bildmotiv im Guckkasten, beziehungsweise im Tableau. Analog der Türschwellen-

Situation nimmt der Betrachter das „Innenleben“ des Guckkastens wahr. Er ist nur

auf die visuelle Wahrnehmung beschränkt, wird jedoch Zeuge einer Szenerie, in der

seine Verfasstheit motivisch aufgegriffen wird. Der Mann am Fenster und der beo-

oyeu-

ey,

387Celeste Brusati verweist in diesem Zusammenhang auf die Venus-Ikonographie. Die Attribute der Venus befinden sich auf dem Stuhl in der Eingangszone, zwischen den Türen. Dort liegt eine Perlen-schnur und ein Kamm, die Brusati dazu veranlassen von einer „gendered imagery inside the box“ zu sprechen. Brusati, Celeste: aaO., S. 181. 388 Thomas Clark hat diesen Begriff für die Beschreibung der Blickkonstellation in „Picture for Wo-men“ geprägt. Er verweist in seiner Beschreibung auf die Situation des isolierten Auges: „Bei gewis-sen Bildern kommt es auf eine Art Positionssystem an, das aus einem Dreieck besteht (...) Die Trian-gulation bezieht den Betrachter als einheitliches Element mit ein, als Auge“. Clark, Thomas J.: Reprä-sentation, Mißtrauen und kritische Transparenz – Eine Diskussion mit Jeff Wall, S. 189-243, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 210. Zur Blickkonstellation siehe auch Thierry de Duves Dia-gramm zu „Picture for Women“ in seinem Aufsatz „The Mainstream and the Crooked Path“, in: Duve, Thierry de / Pelenc, Arielle / Groys, Boris: Jeff Wall, London 1996, S. 31. 389 Walls Blickregie ist von feministischer Seite gedeutet worden. Diese Interpretation ist sicherlich zulässig, denn das Foto weist bereits im Titel („Picture for Women“) darauf hin, dass es sich dezidiert an Frauen wendet. Wall hat die von Laura Mulvey angeregte Diskussion um den männlichen, vristischen Blick verfolgt. In ihren Artikeln in der Zeitschrift „Screen“ vertritt Mulvey die These, dass Frauen in Erzählungen männlicher Autoren als Sexualobjekte thematisiert werden. Dazu: MulvLaura: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Dies.: Visual and Other Pleasures, Indiana 1989; Walter, Christine: Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie – Eileen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood, Weimar 2002, S. 118.

Page 201: Dissertation

F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

199

bachtende Künstler sind die innerbildlichen Stellvertreter des Betrachters. Wir bli-

cken mit der gleichen Motivation auf die Szenerie wie die männlichen Protagonisten

auf die weiblichen Figuren, werden zum einen vom Anblick affiziert und bleiben

doch ausgeschlossen.

Gemeinsam ist also beiden Arbeiten, dass sie metafiktional angelegt sind. Sie zeigen

eine Reflektion über die Bedingungen der Bildentstehung und führen diese dem Bet-

rachter deutlich vor Augen. Jeder bildende Künstler muss sich mit den Möglichkei-

ten der Malerei oder Fotografie auseinandersetzen, kennen, was bereits entwickelt

wurde, und nach eigenen Lösungen suchen. Doch in der Kunst des Nordens zeigt

sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Metafiktion, die über den etablierten Auf-

gabenbereich der Malerei hinausreicht. Nicht nur die Darstellung eines Themas ist zu

bewältigen, sondern gleichzeitig ein Hinweis auf den malerischen Diskurs zu liefern.

Die Innenräume des Guckkastens sind nicht nur mit Möbeln ausgestattet, sondern

zeigen über den Türen und an den Wänden Gemälde und Landkarten. Diese Bild-

elemente werden nicht zur Komplettierung des Innenraums eingesetzt, sondern besit-

zen ein inhaltliches Programm. Das Gemäldeinventar erschließt eine weitere Dimen-

sion des Guckkastens: Ein Landschaftsgemälde befindet sich über der Tür zum

Schlafzimmer, zwei Gemälde flankieren die Tür neben der Garderobe, ein weiteres

findet sich in der

rechten Kastenhälfte,

im Zimmer zwischen

dem Eingangsbe-

reich und der lesen-

den Frau. Es zeigt

den „Wettstreit von

Apollo und Pan“,

während das Gemäl-

de im Flur „Minerva

als Siegerin über die

Ignoranz“ themati-

siert. Beide Gemälde gehören zum Bilderkanon der enzyklopädischen Bildergalerien,

die sich als Pictura-Allegorien seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Holland finden

Abbildung 64: Willem Haecht: Das Atelier des Apelles, um 1630, Öl auf Holz, 105 x 149,5 cm

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F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

200

lassen und referieren auf Ovids „Metamorphosen“.390 Pictura erscheint darin inmit-

ten einer Vielzahl von Gemälden, die bis unter die Decke eines Saals gehängt sind –

beispielsweise in Willem van Haechts „Atelier des Apelles“ von 1630.391 Dieses

Gemälde zeigt Pictura, die von Apelles gezeichnet wird. Beide Gemälde, sowohl der

„Wettstreit von Apollo und Pan“ wie das „Urteil der Minerva“, finden sich hier. In-

dem van Hoogstraten die bekannte Kombination der Kunstkammerdarstellung wählt,

macht er sein Verständnis der Malerei deutlich. Das Gemäldepaar wird von ihm we-

gen seiner programmatischen Bedeutung gewählt. Midas bevorzugte Pan und wird

für sein Urteil mit Eselsohren bestraft – mit dem Zeichen für Ignoranz und einen

ästhetischen Irrtum, während Apollo von van Hoogstraten als überlegener Triumpha-

tor dargestellt wird. Van Hoogstraten kontrastiert das Gemälde des Wettstreits mit

dem der Minerva und zelebriert dabei den Sieg der Malerei und der Repräsentation

über die Ignoranz.

Bildermachen wird bei van Hoogstraten also durch einen Meta-Diskurs kommentiert.

Indem er Bilder in Bildern darstellt, verweist er auf das Selbstverständnis der Male-

rei. Bei Wall zeigt sich dieser Meta-Diskurs durch die Malereizitate. In „Picture for

Women“ scheint das Gemälde von Edouard Manet durch, so dass die Inszenierung

der Fotografien durch den Palimpsest deutlich zu Tage tritt.392 Während van

Hoogstraten ein ikonographisches Programm bemüht, um die Lesart der Kunst vor-

zugeben, zitiert Wall andere Meister. Es sind zwei Methoden, die einem Ziel folgen:

durch Metafiktion den Sinn und Zweck der Malerei zu erweitern, nicht nur Inhalte

vorzuführen, sondern einen Sinn jenseits der malerischen oder fotografischen Hand-

lung zu offenbaren – und zwar keinen religiösen, liturgischen, historischen oder bio-

grafischen, sondern lediglich einen artistischen Sinn. Die Bewusstwerdung der Male-

rei, die Entstehung einer modernen Konzeption des Bildes wird von van Hoogstraten

vorgeführt: Das neue Bild ist ein Objekt, das für eine andere Art der Kontemplation

inia-i,

nce bis

390 Dazu: Winner, Matthias: Die Quellen der „Pictura-Allegorien“ in gemalten Bildergalerien des 17. Jahrhunderts, Köln 1967; Filipczak, Zirka: Picturing Art in Antwerp – 1500-1700, Princeton 1987. Celeste Brusati sieht das Gemäldeprogramm von van Hoogstraten in der Tradition der Künstlerhäuser von Vasari und Rubens. Die fiktive Wohnarchitektur des Guckkastens sei ein Künstlerhaus en mture, das durch das Gemäldeprogramm auf Rubens Antwerpener Wohnhaus referiere. Dazu: BrusatCeleste: aaO., S. 179. Ebenfalls: Hüttinger, Eduard (Hrsg.): Künstlerhäuser von der Renaissazur Gegenwart, Zürich 1985. 391 Das Gemälde „das Atelier des Apelles“ von Willem van Haecht zeigt Pictura, die von Apelles gezeichnet wird. Neben den Gemälde „Wettstreit von Apollo und Pan“ und „Urteil der Minerva“ findet sich hier noch das Programmbild „Christus heilt den Blinden“.

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bestimmt ist als eine Ikone; es ist für die ästhetische Versenkung konzipiert und ba-

siert auf der Erfindung der reinen Malerei. Van Hoogstraten befindet sich im „Zeital-

ter der Kunst“, das auf das „Zeitalter des Bildes“393 folgt und einen neuen Status des

Gemäldes begründet. Während van Hoogstraten reflexive Momente in das Bild ein-

baut, um dem Tableau, das der kultischen Funktion enthoben ist, einen neuen ästheti-

schen Aufgabenbereich zu sichern, beschäftigt sich Wall damit, den indexikalischen

Charakter der Fotografie zu überwinden.

Beide Künstler verbindet die Aufgabe, eine Kunst zu schaffen, die dem etablierten

Medium durch bildimmanente Kunstgriffe eine Ästhetik verleiht. Dabei bilden die

Gemälde und Fotografien einerseits die Wirklichkeit ab, schildern Situationen und

Handlungen, andererseits besitzen sie eine Dimension, welche die Überlegungen zur

Produktion dieser Schilderung mit einschließt. Die doppelte Blickregie, die dem Bet-

rachter seine eigene Verfasstheit vorführt, und der bildimmanente Diskurs der Meta-

fiktion kennzeichnen die Ästhetik der Schilderung. Sie führt die beiden Parteien, die

an der Bildentstehung beteiligt sind, zusammen: den Betrachter, der gespiegelt wird,

und den Bildschöpfer, der Auskunft über sein kalkuliertes Konzept gibt.

F.I. Der ehrliche Betrug – „Fictional narrative“?

Van Hoogstraten und Wall begehen dabei einen Betrug. Beide sind Meister der Täu-

schung, die den Betrachter durch den „schönen Schein“ des Kunstwerks reizt. Durch

den perfekten Illusionismus der Fotografie und der Malerei, welche weder das Medi-

um, noch die Flachheit des Bildträgers thematisieren, werden die Arbeiten zum Ä-

quivalent der Wirklichkeit. Sie betrügen, und gerade dadurch üben ihre Bilder eine

Faszination auf den Betrachter aus. Die Anekdote, die der Hoogstraten-Schüler Ar-

nold Houbraken berichtet, gibt darüber Auskunft, wie dieser Betrug vor sich geht:

1651 führt van Hoogstraten am Wiener Hof drei seiner Werke dem Kaiser vor.

392 Vergleiche: Kapitel C.II.. 393 Beide Begriffe entstammen Hans Beltings Studie über die Geschichte des Gemäldes. Belting, Hans: Bild und Kult – eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.

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Die Reaktion des Kaisers zeigt angenehme Überraschung und die Wertschätzung von

Hoogstratens Arbeit:

„Toonde zich de Keizer daar op verlieft te wezen, die het zelfde lang bezag, doch echter zich bedrogen vont, en daar op zeide: dit ist der eerste Maler die mir betrogen heeft. En liet hem voorts aanseggen: dat hy tot straf voor dat betrog dat stuk niet zou wederom krygen, maar hy het voor altyt wilde bewaren, en in waarde houden.“394 [Der Kaiser erwies sich darin verliebt zu sein; er besah dasselbe lange, fand sich jedoch betrogen und sagte: das ist der erste Maler, der mich betrogen hat. Er ließ ihm weiterhin sagen: Dass er das Stück aus Strafe für den Betrug nicht wiedererhal-ten solle, sondern er es für immer bewahren und in Ehren halten wol-le“.395]

Wie kann der Kaiser aber Genuss daran finden, getäuscht zu werden? Die Erklärung

liegt in der ästhetischen Gestalt des Betrugs. Nur, wenn die Täuschung entlarvt wer-

den kann, ist sie gelungen und wird

vom Betrachter geschätzt.396 Der Kai-

ser hat den Betrug aufgedeckt, nach-

dem er das Gemälde einige Zeit be-

trachtet hatte. Er hat die Inszenierung

offengelegt und will zum Andenken an

diese ästhetische Erfahrung das Gemäl-

de van Hoogstratens behalten.

Abbildung 65: Samuel van Hoogstraten, Kabinett-Tür, 1655, Öl auf Holz

Zu den Gemälden, die van Hoogstraten

während seiner Wiener Zeit malte, ge-

hört auch die Darstellung einer Kabi-

netttür aus dem Jahr 1655. Sie vermit-

telt einen Eindruck von der Malerei, die

den Kaiser begeisterte. An einer Holz-

394 Houbraken, Arnold: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, Amsterdam 1680. Herausgegeben von Piet T.A. Schwillens, Maastricht 1943, S. 124. Diese typische Künstleranekdote besitzt einige Authentizität. Ein augentäuschendes Gemälde von van Hoogstraten aus dem Jahr 1655 gilt als das früheste erhaltene Beispiel und scheint noch in Wien gemalt worden zu sein. Es trägt die Aufschrift „Empfangen den 12. Feber 1655 von S. v. Hoogstraten Wien“. 395 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 396 Darauf verweist auch Hans Holländer. Er macht die Entlarvung der Wahrnehmung für die Faszina-tion der Anamorphosen verantwortlich. Holländer, Hans: anamorphotische Perspektiven und cartesia-nische Ornamente – zu einigen Gemälden von Jean Francois Niceron, Festschrift für Günther Weydt, München 1972, S. 53-72.

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tür sind mehrere Gegenstände befestigt: ein Tuch, ein Pinsel und eine hängende Ta-

sche, die einen Kamm, einen Schwamm und einen Brief beinhaltet. Die Maserung

des Holzes und jedes Detail der Schrauben wurde festgehalten. Der Faltenwurf des

Tuches wurde ebenso detailliert abgebildet wie die feine Ornamentik der Taschen

und die Textur des Schwammes und der Pinselborsten. Das Gemälde zeigt sich da-

durch der Gemälde-Gattung der „Bedriegertjes“ zugehörig. Diese Art der Malerei

stellt nicht nur die technische Virtuosität der Meister dar, sondern gleichzeitig die

Narretei der Augen – nicht nur die Kabinetttür und die Gegenstände werden abgebil-

det, sondern auch der Betrug, der durch die Illusion begangen wird. Die Täuschung

ist hier eine Strategie der Metafiktion. Sie führt einerseits eine Realität vor, weist

diese jedoch im nächsten Moment als künstlerische Gemachtheit aus. Die Kunst

schafft Bilder und ästhetische Realitäten; die Entdeckung, durch sie betrogen worden

zu sein, wird zur Kategorie für eine gelungene Malerei. Der holländische Dichter Jan

Vos hat diese Erfahrung in zwei Zeilen dargestellt. In einem Gedicht, das Mitte des

17. Jahrhunderts in Amsterdam erscheint, beschreibt er ein Historiengemälde in der

Annahme es sei ein Naturding. Plötzlich erschrickt er und entdeckt seinen Irrtum, um

sofort die Leistung des Künstlers entsprechend zu loben: „Ik mies, o spijt! Ik mies:

de verf bedriegt mijn oogen / ’t Penseel der schilderkunst heeft ongemeen vermoo-

gen.“397[Ich irre, oh Jammer! Ich irre: die Farbe betrügt mein Auge. Der Pinsel der Male-

rei hat ein ungemeines Vermögen.]

Um den schönen Schein als positive Qualität der Malerei bemessen zu können, be-

durfte es einiger Vorentscheidungen, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts getroffen

wurden. Die Reflektion über Kunst, die Constantijn Huygens um 1630 in die private

Autobiografie seiner Jugend einfügte, wurde zwar von den Gedanken um den Betrug

der Kunst, beziehungsweise um die Wahrheit ihrer Darstellung, getragen; Huygens

tadelte jedoch die Künstler, die der schlichten Natur eine Maske vorhielten und eine

übertrieben lebendige Darstellung forcierten.

397 Jan Vos zitiert nach Weber, Gregor: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes – Jan Vos und sein „Zee-ge der Schilderkunst“ von 1654, Hildesheim 1991, S. 98. Weber führt weitere Beispiele an. Ein Ge-mälde mit dem Thema „Evas Apfelbiss“ spornt Jan Vos in einem weiteren Gedicht zum Vergleich seines und ihres Irrtums an: „ Wie? Ich irre. Ich sehe eine Tafel erscheinen. Wurde Eva durch die Schlange, ich wurde durch die Farbe betrogen. Vergib mir diese Sünde; der Betrug ist ungemein. Die Größe der Kunst macht diese Untat klein“. ders.: aaO., S. 99.

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Einerseits lobte Huygens die Darstellungen Rembrandts und Lievens, bezog sich

jedoch auf Tacitus, um die Malerei, die an Täuschung grenzt, negativ zu bewerten.

Die Ambivalenz von Kunst und Täuschung ist bei Huygens noch deutlich zu spü-

ren.398 Erst Ende der 30er-Jahre findet sich das Lob für eine Kunst als Täuschung in

der Schrift „De Pictura Veterum Libri Tres“, in der Franciscus Junius den Betrug

positiv beschreibt:

„Of the sweet allurements of picture, and how we suffer our heart wittlingly and willingly to be seduced and beguiled by the fame, many examples might be alleadged here, if it were not generally known that a good picture is nothing else in it selfe but a delusion of our eyes“399.

Ein gutes Gemälde liefert die perfekte Täuschung des Auges. Um dies zu erreichen,

bedarf es der Fähigkeit des Künstlers, die Natur nachzuahmen. Das notwendige

Komplement der Täuschung ist somit die Imitation. Nur die Dinge, die mit einem

Höchstmaß an Ähnlichkeit gestaltet sind, können den Betrachter im ersten Moment

über ihre malerische Existenz hingwegtäuschen. Die Mechanismen der Täuschung

müssen von den Künstlern beherrscht werden, denn nur durch Könnerschaft kann das

Auge des Betrachters genarrt werden.400

Es gibt im Holland des 17. Jahrhunderts jedoch zwei Arten der Naturnachahmung,

die von den Kunstschriftstellern propagiert werden. Bei beiden Parteien muss der Stil

im Sinne der wahrhaftigen Darstellung gebraucht werden; sowohl die Anschaulich-

keit als auch die Verbindung von Wahrem, Wahrscheinlichem und Möglichem muss

gewährleistet sein. Mimesis stellt dabei ein Gebot der Kunst dar und dient ihrer Wir-

kung und Lesbarkeit. Dieser Aristotelischen Grundregel folgen sowohl die Klassi-

zisten wie ihre Gegner; die Mittel jedoch, durch die diese Wirkung erzeugt wird,

unterscheiden sich. Zum einen propagieren Klassizisten wie Gerard de Lairesse,

Joost van den Vondel und Jan de Bisschop, die „electio“, die bedachte Wahl der ab-

zubildenden Gegenstände, um dem „Ideal“ näherzukommen. Der Künstler ist dabei

durch die Auswahl der schönsten Teile befähigt, die Natur in gereinigter Form ohne

398 Weber, Gregor: aaO., besonders das Kapitel I.V. „Wider die calvinistische Kunstkritik“. 399 Junius, Franciscus: The Painting of the Ancients, London 1638, S. 54. 400 „Maar ik zeege dat een Schilder, diens Werk het ist, het gezigt te gedriegen, ook zoo veel kennis van der natuur der dingen moet hebben, dat hy gropndig verstaet, waer door het oog bedroogen wort“ [ich aber sage, dass ein Maler, dessen Werk den Gesichtssinn betrügen soll, so viel Kenntnis von der Natur der Dinge haben muss, dass er gründlich versteht, wodurch Augen betrogen werden]. Hoogstra-ten, Samuel van: aaO., S. 273-275.

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deren Unvollkommenheiten nachzuahmen und dadurch zu übertreffen. Ein „gutes“

Gemälde zu erzeugen, bedeutet gleichzeitig das Decorum und das Aptum zu wahren,

also Kategorien anzuwenden, die aus der antiken Poetik stammen und die Maßstäbe

für eine gelungene und vor allem den Stilen gemäße Darstellung bereitstellen. Zum

anderen schlägt der Dichter Jan Vos vor, nicht den antiken Autoritäten zu folgen und

damit von der Wahrheit abzuweichen, sondern die Natur so darzustellen, wie sie sich

dem Auge offenbart, nicht idealisiert, sondern wie sie erscheint.

Wir haben Vos bereits kennengelernt, wie er in einem Gedicht die täuschende Wir-

kung eines Gemäldes lobte. Nun soll er als Zeuge für einen holländischen Realismus

angeführt werden, dessen Kunsttheorie im 17. Jahrhundert eine Alternative zur klas-

sichen Auffassung bereithält. Er steht in einer Art holländischen „Querelle des An-

ciens et des Modernes“ gegen die Vormacht antiker Autoren und entwirft eine

Kunstlehre, die sich nicht durch das Erlernen von Regeln auszeichnet, sondern durch

Erfahrung und Übung.401 Die Aristotelische Trias von Natur, Unterricht und Übung

wird von Vos zwar zitiert, steht jedoch im Dienst einer schlichten unverfälschten

Nachahmung der Natur, die nicht durch ein Regelwerk eingeschränkt werden darf. In

seinem epischen Gedicht „Zeege der Schilderkunst“ von 1654 stattet er den Maler

mit schöpferischen Qualitäten aus und verweist auf die illusionistischen Qualitäten,

die der schlichten Naturnachahmung eigen sind. Die Malerei hat das Vermögen „le-

bende Bilder“ zu erzeugen: „Dus zag Natur haar schepsels weeder leeven/Door verf,

vol vlees en blodt, op’t vlak paneel“402. [So sah Natur ihre Geschöpfe wieder leben,

durch Farbe voll Fleisch und Blut, auf der flachen Tafel.]

Der Maler gleicht einem Schöpfer, der die Natur auf der Tafel wieder erschafft und

sogar übertrifft, denn im Gegensatz zu den „lebenden Bildern“ der Natur sind die des

Künstlers unvergänglich. Welcher Art diese Malerei sein soll, offenbart jedoch erst

die Kontroverse um Rembrandt van Rijn. Vos nimmt dabei eindeutig zugunsten des

Künstlers Stellung. Rembrandt, der von den Klassizisten als „Ketzer der Malerei“403

betitelt wurde, schuf Werke, die der Kritiker Adries Pels als regellos und damit

kunstlos beschreibt. Sie richten sich – laut Pels – nicht nach einem antiken Kanon, 401 Weber, Gregor: aaO., S. 119. 402 Zit. nach: Weber, Gregor: aaO., S. 163. 403 Der Ausdruck „eerste Kétter in de Schilderkunst“ wird von Jan A. Emmens und Götz Pochat ange-führt. Emmens, Jan A.: Rembrandt en de regels van de kunst, Amsterdeam 1979, S. 90; Pochat, Götz:

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sondern orientieren sich lediglich am Augenschein. Rembrandt habe das Modell für

eine Leda oder Danae in den Missgestalten einer Waschfrau oder Torftreterin ge-

sucht und damit die Grenzen von „genus medium“ und „genus sublime“ nicht deut-

lich getrennt. Diese Regellosigkeit zeigt sich besonders im Inventar des Ateliers:

Harnische, Dolche, Pelz- und Faltenkrägen, die Rembrandt auf Trödelmärkten fand,

zieren sein Atelier und werden verwendet, um anschließend als Kleidung die edlen

Körper eines Scipio oder eines Cyrus zu bedecken. Für Pels bedeutete das eine Ver-

mischung der Stile, ein Verstoß gegen das Gebot der Angemessenheit.

Es ist kein Zufall, dass eben jene Gegenstände, die Pels Kritik auslösten, bei Jan Vos

nun als Requisiten im Atelier der Malerei, die als Allegorie dargestellt wird, zu fin-

den sind.404 Vos hatte Rembrandts Atelier vor Augen, als er diese Requisitensamm-

lung der Malerei in seinem Stück „Zeege der Schilderkunst“ beschrieb. In Rem-

brandt fand man also den Antipoden der klassizistischen Malerei, in Jan Vos den

Gegner der idealistischen Dichtung.

Vos verstand sich selbst, nicht ohne Stolz, als Vertreter einer bürgerlichen Kunst,

deren vorrangiges Ziel die Erweckung der Verwunderung und die Affizierung des

Betrachters war. Der „Realismus“ soll durch die vollkommene, unbeschönigte Imita-

tion der Wirklichkeit eine Fesselung des Betrachters erreichen. Die vollkommene

Nachahmung der Natur erweckt dabei den Affekt der Verwunderung, einen reflexi-

ven Akt der Kunstrezeption und erhält bei Vos als Verbindungsglied zwischen Ethik

und Ästhetik eine besondere methodische Bedeutung. In der Admiration, die in der

Tradition des antiken „Staunens“ steht, werden durch die Kunstfertigkeit eines Wer-

kes die Emotionen des Betrachters geweckt.405

In der Hierarchie der Malereigattungen, wie sie der Idealist Gerard de Lairesse später

aufstellte, wird die Vorliebe Vos’ für den bürgerlichen Stil, mit dem „genus medi-

um“ identifiziert. Gregor Weber hat herausgestellt, dass der „genus medium“ Ende

des 17. Jahrhunderts der Genremalerei zugesprochen wird. Die Malerei hat nun die

Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie – von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 349. 404 Vos schreibt: „Hier hängen Schilde, verrostete Schwerter, hier liegt ein Totenkopf, dort ein Men-schenknochen. Hier prunkt ein Löwenfell. Etwas weiter Bücher in altem Einband. Was jeder verwor-fen hat, kommt hier wieder in Stand. Die Kunst erwählt bisweilen verachtete Dinge“. Dazu Weber, Gregor: aaO., S. 134f. 405 Hierzu besonders: Weber, Gregor: aaO., Kapitel VII. „Die Sonderstellung der Verwunderung“. S. 231-242.

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Aufgabe, Sitten und Charaktere unter besonderer Berücksichtigung der Affekte dar-

zustellen.406 Ihr wird der mittlere Stil zugeordnet, der das „delectare“ zur Aufgabe

hat, während das permovere mit der heroischen Historiendarstellung auf den „genus

sublime“ abboniert ist.

Diese Grenzziehung findet sich bei Vos Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht. In

dem Zeitraum, in dem Vermeer die „Milchmagd“ porträtiert, die „Briefleserin“ malt

oder Nicolas Maes’ „Lauschende Magd“ entsteht, gibt es noch kein striktes Regle-

ment der Stile und keine eindeutige Zuweisung von Thema der Darstellung und Mo-

dus der Ausführung. Gregor Weber hat gezeigt, dass Vos einen realistischen Darstel-

lungsmodus gerade auch für die Historienmalerei einfordert und die unbeschönigte

Darstellung in den Dienst der seelischen Affizierung des Betrachters stellt. Die Ver-

bindung von Thema und Stil ist somit eine spätere Forderung der Kunstkritk. Der

„Realismus“ wird Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht auf die Darstellung des

Volkstümlichen bezogen, sondern dient der Befriedigung der Augenlust. Das Postu-

lat des „lebenden“ Bildes dient zur Verwunderung und Überzeugung des Betrachters

vor dem Hintergrund eines alle Gattungen der Kunst betreffenden Realismus’ der

holländischen Kunst.407 Das Gedicht „Zeege der Schilderkunst“ liefert damit die

Basis für eine Kunsttheorie, welche das Gebot, die „zichtbare natur“ zu malen, ver-

anschaulicht. Es gibt in Holland die Forderung nach einer Kunst, die spezifisch hol-

ländische Züge trägt und die in ihrem Realismus die optische Erscheinung nobilitiert.

Dieser Realismus bildet die Grundlage für die Ästhetik der Schilderung, die ihren

täuschenden Reiz aus dem Wechselspiel von künstlerischer Gemachtheit und imitie-

render Naturnachahmung erhält. Wie in Walls Fotografien tritt dabei das Medium im

Dienst der Mimesis in den Hintergrund, denn nur, wenn der Eigenwert der Farbe und

die spezifischen Möglichkeiten der Technik unterdrückt werden, kann sich der meta-

pikturale Diskurs und damit die Ästhetik des „ehrlichen Betrugs“ einstellen. Der

„Realismus“ darf dabei nicht mit dem Begriff verwechselt werden, den das 19. Jahr-

hundert für die holländische Kunst geprägt hat. Realismus ist hier die kunstvolle Imi-

406 Dazu auch der Aufsatz von Hans-Joachim Raupp: Ansätze zu einer Theorie der Genremalerei in den Niederlanden im 17. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46, 1983, S. 401-418. 407 So schreibt Jan Bialostocki über die Kunst des holländischen Malers: „Auch die Geschichte und die Allegorie stellt er wie eine Wirklichkeit und nicht wie ein Ideal dar“. Bialostocki, Jan: Einfache Nachahmung der Natur und oder symbolische Weltschau – zu den Deutungsproblemen der holländi-schen Malerei des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, XLVII, 1984, S. 421-438, hier: S. 434.

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tation und die artistische Selbstauskunft der Künstler, keine sozial motivierte Gesell-

schaftsstudie.

Der Rembrandt-Schüler van Hoogstraten hat in einer Schlüsselbemerkung seines

Malereitraktats die Ästhetik des Nordens zusammengefasst und liefert damit eine

Kategorie, die uns im Teil C.V. dieser Arbeit bereits beschäftigt hat. Sie beschreibt

die spezifische Beschaffenheit des Kunstwerks der Schilderung: „Want een volmaek-

te Schilderij is als een Spiegel van de Natuer, die de dingen, die niet en zijm, dot

schijnen te zijn, en op een geoorlofde vermelelijke en prijke wijze bedriegt“ 408. [Ei-

ne vollkommene Malerei ist ein Spiegel der Natur, welcher die Dinge, die nicht existieren,

erscheinen lässt, und zwar in einer Weise, die Vergnügen bereitet.409]

Die Malerei bildet die Dinge der Natur ab; sie erschafft sie zwar neu auf der Lein-

wand, aber nicht als Verdoppelung, sondern als Schein. Philostratus war hier für van

Hoogstraten vorbildlich, andernorts sind es Zeuxis und Parhasios, doch hinter der

Rechtfertigungsstrategie durch die etablierten antiken Malerei-Topoi zeigt sich der

originäre Charakter der holländischen Malerei: Sie schafft eine fiktionale Welt, die

durch mimetische Nachahmung Ähnlichkeit besitzt, sich durch die Scheinhaftigkeit

jedoch als Kunstwerk ausweist. Dadurch bereitet die Malerei, die man in van

Hoogstratens Gemälden und seinem Guckkasten vorfindet, Vergnügen.

Zum Vergleich soll hier das Zitat des amerikanischen Theoretikers Douglas Crimp

aus seinem 1979 entstandenen Aufsatz „Pictures“, das anfangs zur Charakterisierung

von Walls Arbeiten eingeführt wurde, dienen. Douglas Crimp schreibt: „We do not

know what is happening in these pictures, but we know for sure, that something is

happening, and that something is a fictional narrative. We would never take these

photographs for being anything but staged“410.

Wir nehmen eine Schilderung wahr, die sich im ersten Moment als Beschreibung der

Wirklichkeit darbietet. Im gleichen Moment zeigt sie sich jedoch als fiktional narra-

tiv, also als nur scheinbar erzählerisch. Was Hoogstraten als „schijnen“ charakteri-

siert, tritt bei Douglas Crimp als „fictional narrative“ auf. Die Dinge scheinen in ih-

rer mimetischen Struktur auf den ersten Blick eine Erzählung im Sinne einer doku-

mentarischen Abbildung darzustellen, offenbaren jedoch auf den zweiten Blick ihren

408 Hoogstraten, Samuel van: Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 25. 409 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 410 Crimp, Douglas: aaO., S. 179.

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rein ästhetischen Charakter. Wäre Crimp bei dem Adjektiv „narrative“ von einer

Erzählung ausgegangen, wie sie in der Literatur auftritt411, so hätte er nicht die Vo-

kabel „fictional“ davor setzen müssen. Der Ausdruck „fictional narrative“ dient ihm

hier, um die zweiwertige Relation der Fotografie zur Wirklichkeit zu beschreiben:

Die Inszenierung der Fotografie wird dadurch bestimmt, dass sie einerseits in den

Kategorien der Betrachtererfahrung verfährt und von einer Schilderung (engl. „narra-

tion“) ausgeht, die mit den etablierten Kategorien von Raum und Zeit arbeitet, diese

jedoch durch ästhetische Strategien als Schein enlarvt.

„Like ordinary snapshots, they appear to be fragments: unlike those snapshots, their

fragmentation is not that of the natural continuum“, schreibt Douglas Crimp weiter

und macht deutlich, dass das Wortpaar „fictional narrative“ zwei komplementäre

Bereiche vereint: Die Arbeiten referieren im ersten Moment auf die Struktur realer

Zeitverhältnisse, um im zweiten Moment ihre Erfundenheit und Inszenierung anzu-

zeigen. Beide Autoren beschreiben also das gleiche Phänomen, die gleichen ästheti-

schen Kategorien und verdeutlichen, wie der ästhetische Mechanismus der Schilde-

rung funktioniert. Sie formulieren eine Ästhetik des Erscheinens, die sich aus dem

Wechselspiel von Wahrheit und Illusion, künstlerischem Werk und Abbild speist.

Für die Fotografie wie das Gemälde ist dabei Folgendes verbindlich: Sie sind selbst

nicht das, was sie darstellen.

Obwohl die Autoren fast 300 Jahre trennen, beschreiben sie einen ähnlichen Prozess

und bestimmen die Grundlagen der Kunst als ästhetischen Schein. Die Werke, die sie

charakterisieren, beziehen ihren Wert nicht aus der Lieferung wahrheitsgemäßer In-

formationen. Nicht die Übermittlung von Sachverhalten ist das Ziel, sondern die

Darstellung einer quasi realen Welt. An sie wird nicht der Anspruch gestellt, Daten

zu liefern, die sich mit den Kategorien „wahr“ oder „falsch“ beziehungsweise „Lü-

ge“ oder „Tatsachenbericht“ klassifizieren lassen. Hier werden Sonderstellungen

innerhalb der sonst geltenden Gesetze der Welt zugebilligt, die von den Werken zwar

zeitweise überschritten, aber nicht dauerhaft aufgehoben werden können. Ein Muse-

umsbesuch ist beispielsweise zeitlich begrenzt, und selbst wenn man seine Ersparnis-

se in „einen Wall“ investiert hat – die ästhetische Rezeption wird dadurch be-

411 Im Englischen bedeutet „Narration“ sowohl Schilderung von Sachverhalten, die auf Tatsachen beruhen wie künstlerische Fiktion.

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schränkt, dass man einet Tätigkeit nachgeht und die Welt in einem funktionalen

Vollzug erfährt.

Doch wie ist es möglich, dass man an dem Gefallen findet, dessen Wahrheit zweifel-

haft ist?412 Van Hoogstraten und Douglas Crimp, der erste Theoretiker der inszenier-

ten Fotografie, thematisieren den Urspung dieses Wohlgefallens: In den Kunstwer-

ken wird eine Wirklichkeit vorgeführt, deren Bezugsgrößen im Erscheinen liegen.413

Gerade, wenn die Werke der Kunst eine wahrscheinliche Gegenwart imaginieren,

deren Relationen im ersten Moment mit der Betrachtererfahrung korrespondieren,

wird ermöglicht, eine Wirklichkeit wahrzunehmen, die diese mögliche Gegenwart

zwar vor Augen führt, sich ihr gleichzeitig aber spielerisch entzieht. In diesem Spiel

wird die Aufmerksamkeit, die man dem ästhetisch Erscheinenden entgegenbringt,

zugleich zu einer Aufmerksamkeit für sich selbst, denn die ästhetische Wahrneh-

mung hält eine Bewusstseinsmöglichkeit bereit, ohne die der Betrachter ein weit ge-

ringeres Gespür für die Gegenwart des Lebens hätte. Dabei ist der ästhetische Blick

für den Betrachter frei verfügbar; er ist eine Spielart der Wirklichkeitsaneignung,

kulturell erworben und als Wahrnehmungsvollzug nicht von einem modernen Be-

wusstsein zu trennen.

Walls Fotografien und die Malerei der Holländer haben nicht nur die Gestaltung von

Raum und innerbildlicher Handlung gemeinsam, sondern auch den „ehrlichen Be-

trug“. Beide rufen damit auch eine ähnliche Betrachterhaltung hervor: Das Erstaunen

des österreichischen Kaisers angesichts der augentäuschenden Malerei von van

Hoogstraten findet sich in anderen Worten in unserer Gegenwart auch in der Rezep-

tion von Walls Werk:

„Er bearbeitet Themen, von denen jeder von uns zu wissen glaubt, worum es geht und doch werden wir durch die Art der Realisie-rung auf ein Terrain zurückgestoßen, das uns fremd ist (...), er

412 Die Geschichte der Kunst, genauer gesagt der Dichtung, hat gezeigt, dass erst durch ein Wissen um die Fiktion, Kunst als ein Drittes zwischen Wahrheit und Lüge anerkannt wird. Erst seitdem es einen Wahrheitsbegriff gibt, an dem sich aufzeigen lässt, ob die Aussagen abweichend oder überein-stimmend sind, lässt sich der fiktionale Charakter eines Kunstgegenstandes bestimmen. Heinz Schlaf-fer bestimmt den Beginn dieser Fragestellung in Platons Dialog „Ion“. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen – die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frank-furt/Main, 1990, S. 45f. 413 Die folgenden Ausführungen finden sich ausführlich in der Publikation von Martin Seel. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München 2000.

Page 213: Dissertation

F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

211

suggeriert, das einfach nur aufgenommen zu haben, was da war.“414

So beschreibt im Jahr 2001 der Kunstkritiker Bernd Reiß die Wirkung, welche die

Werke von Wall auf ihn ausüben. Allein in dieser Fremdheit liegt die Qualität der

Gemälde und Fotografien – jenseits davon, sich in Begriffen ausdrücken zu lassen.

Walls Fotografien verlangen vom Betrachter eine aufmerksame Wahrnehmung. Sie

bleiben jedoch „in den Dingen unbestimmbar“ und werden dadurch zu einem Rätsel.

Ihre enigmatische Wirkung liegt darin begründet, dass sie sich nicht mit den Erfah-

rungswerten der Betrachter in Übereinstimmung bringen lassen. Im Gegensatz zum

Auktionator, der gerade Walls Fotografien taxiert, kann sich der ästhetische Blick

dieser Fremdheit hingeben und sie als Genuss empfinden.

Beide Künstler – sowohl van Hoogstraten wie Jeff Wall – sind „ehrliche Betrüger“ –

nur unter anderen Vorzeichen: Während van Hoogstraten seine „Bedriegertjes“ als

mimetische Nachahmungen mittels der malerischen Lasur vorstellt, benutzt Wall die

mimetischen Eigenschaften der Fotografie, um sie in die fiktionale Welt der Kunst-

werke zu überführen. Der eine lässt die Malerei als Dokument erscheinen, der andere

das Dokument als Malerei.

Diese Gemeinsamkeiten sollen nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen. Schließ-

lich hat Wall durch seine Arbeit einen Beitrag zur Kunstgeschichte in der Postmo-

derne geleistet und ist nicht ein Plagiator bereits entwickelter Lösungen. Während er

die Inszenierungstrategien und das Thema des Scheinhaften, in denen die Fotogra-

fien dargestellt sind, mit der Kunst der Holländer teilt, ist das Medium unterschied-

lich. Er arbeitet mit einer Kamera, also tatsächlich mit einer technischen Apparatur,

die in ihrer Entwicklungsgeschichte zum Reproduktionsmedium schlechthin gewor-

den ist. Ihre Kardinalkategorie ist im 20. Jahrhundert der Index, der als Spur, Berüh-

rung oder referentielle Kontinuität gesehen wird.

Der Index wird zur Signatur der Moderne, die durch Abdrucktechniken der Farbe

oder des Pinselstrichs künstlerische Authentizität propagiert und in der Fotografie

eine Technik vorfindet, die dem Anspruch Genüge tut, die verborgenen Strukturen

der Welt aufzudecken.

414 Reiß, Bernd: Die Konstruktion einer scheinbaren Wirklichkeit – Räume, Blicke, Paraphrasen, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures and Places, München 2001, S. 184 und S. 194.

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F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

212

Mitte März 1916 schreibt Oskar Schlemmer in sein Feldtagebuch:

„Das haben die Franzosen, so wie sie uns in der Aviatik voraus waren, voraus erkannt und erfunden: Fliegeraufnahmen der Pho-tographie, die die Welt von oben in nie gesehener Art wiederge-ben, Felderflächen und Formen, dazu die immense photographi-sche Tonwirkung, das hat die Franzosen darauf gebracht, von der Welt des Sichtbaren wiederum die Kraft des Neuen und Unerhör-ten zu holen. Es ist das Phantastischste, Phantasie-Anregendste, was ich mir denken kann. Es ist vor allen Dingen in der Fläche, dem Ein und Alles der Malerei, die nun einmal diese als Mittel ih-res Ausdrucks nimmt.“415

Die Moderne sieht in der Fotografie die Möglichkeit, das vorher Unsichtbare aus der

Wirklicheit zu extrahieren. Die Strukturen der Welt bilden sich dabei gewissermaßen

selbst ab – in Farben und Formen. Dem setzt Wall das postmoderne Konzept der

Inszenierung entgegen.416 Im Gegensatz zur Avantgarde wird nun nicht mehr ver-

sucht, die Spur der Wirklichkeit freizusetzen, eine unsichtbare, möglicherweise geis-

tige Organisation der Welt freizusetzen, sondern das mimetische Abbild als eine

denkbare Möglichkeit zu imaginieren. „Ich habe in der Regel keine Idee, weil ich

nicht glaube, dass es einer Idee bedarf. Bei der Fotografie braucht man eben etwas

zum Fotografieren. Dies muss etwas Reales sein oder zumindest etwas denkbar Rea-

les, das sich der Kamera darbieten könnte...“417, bestimmt Wall seine Arbeit und

macht dabei deutlich, dass er sich auf den klassischen Topos der Mimesistheorie

bezieht. Der postmoderne Charakter seiner Arbeit wird dabei besonders deutlich,

wenn er sich von dem Diktum der Abstraktion avantgardistischer Kunst distanziert

und auf eine vormoderne Kategorie von Malerei verweist. Wall zitiert die Aristoteli-

sche Formel von der Möglichkeit der Handlung innerhalb eines Kunstwerks. Ein

künstlerisches Werk führt Handlungen vor, die zwar mit den Relationen der Betrach-

terwelt operieren, dabei aber keinen Wahrheitsgehalt beanspruchen. Sie sind mög-

415 Oskar Schlemmer in: Tut Schlemmer (Hrsg.): Briefe und Tagebücher, München 1985, S. 47. 416 Walls Gegenposition zu Avantgarde beschreibt er in einem Interview, in dem er sein Vorbild Edo-uard Manet und die „Malerei des modernen Lebens“ gegen die klassische Moderne ausspielt: „So scheint es mir, daß das allgemeine Programm der Malerei des Modernen Lebens (...) die bedeutendste evolutionäre Entwicklung in der westlichen modernen Kunst ist, und daß der Angriff der Avantgarde darauf um eben dieses Programm kreist, und zwar als eine Gegenposition, die kein neues allgemeines Programm ins Leben rufen kann.“, Jeff Wall in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 189-243. 417 Jeff Wall im Gespräch mit Bernd Reiß. Reiß, Bernd: Die Konstruktion einer scheinbaren Wirk-lichkeit – Räume, Blicke, Paraphrasen, in: Lauters, Rolf (Hrsg.): Figures and Places, München 2001, S. 186.

Page 215: Dissertation

F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

213

lich, wahrscheinlich, aber nicht mit dokumentarischer Sicherheit belegt.418 Mimesis

der Natur bedeutet nicht, dass Kunst die Natur kopiert und ihre Inhalte verdoppelt;

Aristotelische Mimesis bezieht sich auf die Darstellung von Möglichkeiten, die nicht

mit den Kategorien wahr/falsch zu fassen sind. Hatte die Fotografie bis in die 70er-

Jahre versucht, zu dokumentieren oder den abstrakten und gegenstandslosen Darstel-

lungsmöglichkeiten des Mediums nachzuspüren, beschreibt Wall eine Kunst, die sich

von diesen Strategien deutlich absetzt. Seine Fotografien gehören zu einer anderen

Gattung der bildenden Kunst und paraphrasieren die Möglichkeiten eines scheinba-

ren Wirklichkeitsillusionismus’, der im Dienst der Nachahmung steht und seit dem

18. Jahrhundert nicht mehr zu den Paradigmen der Malerei gehört. Er macht eine

vormoderne künstlerische Praxis fruchtbar und begründet damit eine Neuorientie-

rung innerhalb der Fotografie der Postmoderne.

Was in den Werken erscheint, ist die künstlerische Inszenierung; Jeff Wall zeigt an

der Kunst das Künstlerische. Man merkt den Werken an, dass sie eigens dafür herge-

stellt wurden, um die ästhetische Wahrnehmung des Betrachters zu wecken. Die

Kunst zeigt sich als Kunst und zwar nicht, indem sie die Mittel ihrer Herstellung

vorführt – das wäre eine indexikalische Strategie –, sondern, indem sie Mimesis be-

treibt, diese überbietet und gleichzeitig durch künstlerische Strategien aufhebt. Hier

umfasst die ästhetische Wahrnehmung beides: sowohl die spezifischen Eigenschaften

der Objekte wie ihren ästhetischen Vollzug. Das kalkulierte Täuschen und Enttäu-

schen steht am Anfang der autonomen Malerei, die sich von ihren kultischen Ver-

pflichtungen verabschiedet hat, und erscheint bei Wall in motivischer und techni-

scher Hinsicht. Er zeigt diese täuschende Strategie dem Betrachter noch durch ein

weiteres Merkmal der Arbeiten an: Die transparenten Fotografien sind Groß-Dias

und befinden sich vor Neonröhren, die in einem Kasten angebracht sind. Die Bilder

besitzen zwar ein eigenes Bildlicht, die Schilderung wird im Ausstellungsraum je-

doch nur durch das Leuchten der Röhren erkennbar. Wall paraphrasiert dabei den

ästhetischen Schein seiner Arbeit und macht deutlich, dass sie nur durch das buch-

stäbliche Erscheinen existieren. Der Bildkasten funktioniert dabei als ein Stück der

418 Aufschlussreiche Ergebnisse zur Aristotelischen Mimesis ergab die Kontroverse zwischen Günther Bien und Hans Blumenberg. Bien, Günther: Bemerkungen zur Genesis und ursprünglichen Funktion des Theorems von Kunst als Nachahmung der Natur, in: Bogawus - Zeitschrift für Literatur, Kunst, Philosophie, 2, 1964, S. 26-43. Blumenberg, Hans: Nachahmung der Natur - zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium generale,10, 1957, S. 266-283.

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F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG

214

Wirklichkeit, das das visuelle Feld abgrenzt. Wie bei jedem Gemälde begründet hier

der Rahmen die Identität der Fiktion. Er zeigt den Beginn eines anderen Raums an

und gibt dem Betrachter den Hinweis, dass das Bild als Fiktion gelesen werden soll.

Wall potenziert dabei die Lichtsituation, wenn das bildimmanente Beleuchtungslicht

auf die „Selbstlichtigkeit“ der Röhren trifft und macht deutlich, dass seine Fotogra-

fien über den Transport von Informationen hinausgehen. Durch die Selbstlichtigkeit

wird klar, dass wir nicht vor einer Fotografie stehen, sondern vor der Darstellung

einer Fotografie als Kunstwerk.

Page 217: Dissertation

G. SCHLUSSBETRACHTUNG

215

G. Schlussbetrachtung

Was zeichnet die Fotografien des kanadischen Künstlers Jeff Wall aus? Dieser Frage

wurde in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Walls Fotografien wurden

beschrieben, analysiert und eingeordnet. Es galt zu klären, inwieweit sich Walls

Arbeit „Picture for Women“ von der Gegenwartskunst der 60er- und 70er-Jahre

unterscheidet und wie diese Verschiedenheit für den Betrachter deutlich gemacht

wird. Nicht nur die monumentalen Maße, die Verwendung eines Diafilms und die

perfekte Pose der Schauspielerin führen in der Fotografie „Picture for Women“

Walls Strategie vor, sondern auch die Figuration und die Verwendung eines Spiegels.

Durch die Figuration, welche ein Manet-Gemälde paraphrasiert, löst sich Wall von

den Signalen indexikalischer Kunst. Die ikonische Referenz seiner Fotografien

beschwört ein Bild herauf, das durch eine Inszenierung arrangiert wird und einen

Medienwechsel erlebt. Durch den Spiegel setzt sich Wall als Autor ins Werk, fügt

eine metafiktionale Ebene ein und wendet sich gegen die indexikalische Fotokunst

der Concept Art. Kein Mediendiskurs bestimmt Walls Schaffen, sondern die Arbeit

am Tableau, an der gestalteten, abgeschlossenen Bildeinheit. Für diese Kunst wurde

das Attribut „fictional narrative“ verwendet. Es stammt aus einem Aufsatz des

Kunstkritikers Douglas Crimp, der 1979 die ersten arrangierten Fotografien in den

USA beschreibt.

Jeff Wall arbeitet mit den Konnotationen des etablierten Tafelbildes, das eine

kunsthistorische Betrachtung verlangt. Im Gegensatz zur performativen Kunst, zur

Objektkunst und Installation kehrt er zu einem konventionellen Format zurück, das

einen Vergleich mit der Malerei nahelegt. Durch „vergleichendes Sehen und

Beschreiben“ konnte die Malerei nördlich der Alpen als malereitheoretisches

Dispositiv herangezogen werden. Es hat sich herausgestellt, das Walls fotografische

Technik mit dem malerischen Blick der holländischen Künstler verwandt ist. Ebenso

wie die Maler setzt er Bildakzente, die den Betrachter auf eine spezielle Kondition

des Sehens verweisen: auf die Keplersche Form des Bildermachens.419

Die Funktion des Auges wird bei Kepler zum methodischen Paradigma, das sich in

der Kunstgeschichte, bei den Holländern, den Impressionisten und letztlich bei Jeff

419 Svetlana Alpers ist zu widersprechen, wenn sie die Keplersche Bildform als indexikalisches Zeichen benennt. Malerei kann nicht per se als Index kategorisiert werden. Walls Fiktionalisierung liegt darin, dass er Kategorien, die für die Malerei gelten, auf die Fotografie überträgt. Svetlana, Alpers: aaO., S. 107.

Page 218: Dissertation

G. SCHLUSSBETRACHTUNG

216

Wall findet. Durch den Begriff des Aspektes wurde diese kalkulierte Bildgenese

nachgezeichnet und das Repertoire der Kunst, die sich dem Aspekthaften

verschrieben hat und durch eine spezielle Blickregie den Betrachter am

Bildgeschehen beteiligt, dargelegt. Es ist eine Blickorganisation, deren Aufgabe es

ist, den Betrachter weniger durch einen intellektuellen Nachvollzug zu bewegen, als

seine „Augenlust“ zu befriedigen.

Dieser Bildkomposition korrespondiert die Gestaltung von Handlung und räumlicher

Tiefe. Die Stilllegung der Handlung, die für die Szenerien im Werk von Wall

kennzeichnend sind, zeigen sich auch bei Vermeer – besonders in dessen Gemälde

„die Milchmagd“. Eine Dehnung von Momenten ist für diese Malerei und Fotografie

typisch und führt dazu, dass beide als Schilderung zu kategorisieren sind. Handlung

wird dabei nicht als Erzählung vorgeführt, sondern als Darstellung, die aus dem

genuinen Formenvokabular der Malerei entwickelt wird. Um die Unterschiede von

Schilderung und Erzählung deutlich zu konturieren, wurden drei Möglichkeiten der

bildnerischen Erzählung dargestellt. Das epische und das dramatische Erzählen

zeigen ebenso wie eine Kunst, die nach der Formel des fruchtbaren Moments

gestaltet ist, ein klar definiertes Davor und Danach innerhalb der Bildhandlung. Im

Gegensatz zu dieser Kunst sind die Darstellungsformen nördlich der Alpen nicht am

Text orientiert, sondern erhalten ihre Gesetze durch das Nebeneinander der

Darstellungen auf dem antiken Schild des Achill. Er begründet in Karel van Manders

Schilder-Boeck die Tradition der Malerei als Schilderung. Der Schildtopos findet

sich auch bei Van Eycks „van der Paele Altar“ und im Wappen der Gilden. Er

verweist auf die Organisation der Zünfte und offenbart eine weitere Parallele von

Fotografie und holländischer Malerei: Beide werden als Handwerk gewertet.

Anschließend wurde die Strategie der Stilllegung bei weiteren zeitgenössischen

Künstlern aufgezeigt. Ute Friederike Jürß sowie Theresa Hubbard und Alexander

Birchler setzen die Stilllegung ein, um das Video beziehungsweise die Fotografie als

Fiktion auszuweisen. Die Analyse ihrer Arbeiten schließt den Komplex der

Bildzeitlichkeit ab.

Die räumliche Gestaltung von Walls Fotografien zeichnet sich durch eine

guckkastenartige Wirkung aus. Die Protagonisten befinden sich in einem

abgeschlossenen Raum, der oftmals durch vertikale Verstrebungen geteilt wird. Die

Bildräume besitzen eine indifferente Wirkung, die durch den Rekurs auf die

holländische Lehre des Distanzpunktverfahrens erläutert werden konnte. Dabei ist

Page 219: Dissertation

G. SCHLUSSBETRACHTUNG

217

das Gemälde nicht nach der Albertischen Fenstersicht ausgerichtet, sondern wird in

der Tiefenräumlichkeit durch einen innerbildlichen Augenpunkt organisiert. Zudem

ist die Darstellung durch ein sukzessives Erfassen der Szenerie gekennzeichnet.

Auch bei anderen zeitgenössischen Künstlern finden sich der Guckkastenraum oder

die synkopierende Blickrichtung. Lois Renner und Thomas Demand bauen Räume

als Miniaturmodelle nach und übertragen die Guckkastenansichten in Fotografien,

während Sam Taylor-Wood durch langgestreckte Arbeiten dem Betrachter ein

sukzessives Abschreiten der Fotografie abverlangt.

Es galt zu erklären, durch welchen ästhetischen Mechanismus Walls Fotografien

einen Reiz auf den Betrachter ausüben, denn Kunst mit Fotografie gab es bereits

durch die neu-sachliche Fotografie von August Sander, die Mehrfachbelichtungen

von Hans Richter und die Montagen von El Lissitzky und Alexander

Rodtschenko.420 Doch dort wurden entweder Gegenstände in einer surrealen

Komposition zusammengefügt oder als Versatzstücke der Wirklichkeit montiert. In

beiden Fällen wurde der Abbildcharakter der Fotografie konterkariert. Stattdessen

präsentiert Jeff Wall quasi reale Bildwelten, denen man nur auf den zweiten Blick

ansieht, dass ihr Realismus die Augen betrügt. Sie scheinen im ersten Moment eine

dokumentarische Aufnahme zu liefern, lösen aber dieses Versprechen durch die

Stilllegung der Handlung und den Guckkastenraum nicht ein. Ihre Ästhetik vollzieht

sich in einem Modus des „als ob“. Der Tableaucharakter, der durch die Rahmung

und die konventionelle Präsentation als „Tafelbild“ von Wall vor Augen geführt

wird, gewährleistet dabei eine „ästhetische Grenze“421, die anzeigt, was Bild ist und

was Nicht-Bild ist. Sie veranlasst den Betrachter nach Signalen der Fiktionalität in

den Fotografien zu suchen. Die „ästhetische Grenze“ oszilliert in den Fotografien

von Jeff Wall zwischen Dokumentation und Fiktion und hinterlässt dadurch eine

Fremdheit, die zugleich fasziniert und irritiert.

420 Der Ausstellungskatalog, der anlässlich des 50-jähigen Jubiläums der Werkbundausstellung „Film und Foto“ 1979 erschien, versammelt verschiedene Positionen der frühen Fotokunst. Steinorth, Karl: Internationale Ausstellung des Deutschen Werkbunds „Film und Foto“ – Stuttgart 1929, Stuttgart 1979. 421 Dazu: Michalski, Ernst: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, Berlin 1932, S. 145-214.

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Zima, Peter von: Literatur intermedial, Musik – Malerei – Photographie – Film,

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Ausstellungskataloge

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Badischer Kunstverein (Hrsg.): Matthias Wähner – Wege zum Ruhm – Paths of

Glory, München 1993.

Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Bilder, die lügen,

Bonn 1999.

Hentschel, Martin (Hrsg.): Teresa Hubbard/Alexander Birchler – Wild Walls,

Bielefeld 2001.

Institut für Auslandsbeziehungen, Zeller, Ute (Hrsg.): realer Raum – Bildraum –

fotografische Arbeiten – Susanne Brügger, Tomas Demand, Heidi Specker, Stuttgart

1998.

Koniger, Maribel (Hrsg.): Lois Renner – Bilder 1999-2002, Ostfildern-Ruit 2003.

Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im Bundesverband der Industrie e.V. (Hrsg.):

ars viva 95/96 – Thomas Demand – Jochen Lempert – Barbara Probst – Wolfgang

Tilmans, Frankfurt/Main 1995.

Kunsthaus Zürich (Hrsg.): Malerei und Photographie im Dialog von 1840 bis heute,

Bern 1977.

Kunstmuseum Heidenheim (Hrsg.): Vom Holzschnitt zum Internet – die Kunst und

die Geschichte der Bildmedien von 1450 bis heute, Heidenheim 1997.

Kunstverein Freiburg im Marienbad (Hrsg.): Thomas Demand, Freiburg 1998.

Landesbank Baden-Württemberg (Hrsg.): Zoom – Ansichten zur Deutschen

Gegenwartskunst – Sammlung Landesbank Baden-Württemberg, Ostfildern-Ruit

1999.

Neues Museum Bremen (Hrsg.): Originale – echt falsch – Nachahmung, Kopie,

Zitat, Aneignung, Fälschung in der Gegenwartskunst, Bremen 1999.

Museum für neue Kunst (Hrsg.): Ute Friederike Jürß – You never know the whole

Story, Ostfildern-Ruit 2000.

Page 241: Dissertation

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Museum für Kunst– und Kulturgeschichte (Hrsg.): Inszenierte Wirklichkeit,

Dortmund 1989.

Staatsgalerie Stuttgart, Conzen, Ina (Hrsg.): Edouard Manet und die Impressionisten,

Ostfildern-Ruit 2002.

Städtische Galerie Esslingen, Damsch-Wiehager, Renate (Hrsg.): 3. Internationale

Foto-Triennale – Dicht am Leben, Esslingen 1995.

Schick, Martin (Hrsg.): Lois Renner und die Fotografie an der Hochschule für

Gestaltung in Karlsruhe, Karlsruhe 2004.

Siegrist, Roland (Hrsg.): Echt und falsch – Die Wahrheit im Medienzeitalter, Mainz

2000.

White Cube (Hrsg.): Tom Hunter, Ostfildern-Ruit 2003.

Literatur zu Jeff Wall

Ausstellungskataloge

Vischer, Theodora / Naef, Heidi: Jeff Wall – Catalogue raisonné 1978-2004, Basel

2005

Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): Jeff Wall –

documenta 11 – Plattform 5, Ostfildern-Ruit 2002.

Goetz, Ingvild (Hrsg): Matthew Barney, Tony Oursler, Jeff Wall, Hamburg 1996.

Institute for contemporary Arts (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, London 1984.

Krempel, Leon (Hrsg.): Camera elinga – Pieter Janssens begegnet Jeff Wall,

Framkfurt/Main 2002.

Kunsthalle Düsseldorf (Hrsg.): Jeff Wall – Restoration, Düsseldorf 1994.

Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Christian Boltanski, Neo Rauch, Luc Tuymans,

Jeff Wall, James Welling, Wolfsburg 2003.

Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Monumente der Malancholie – Noboyoshi Araki,

Jeff Wall, Wolfsburg 1998.

Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Jeff Wall – Landscapes and other Pictures,

Wolfsburg, 1996.

Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, Frankfurt/Main 2002.

Page 242: Dissertation

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Musée d’art contemporain de Montréal (Hrsg.): Jeff Wall – Oeuvres 1990-1998,

Montreal 1999.

Museo nacional Centro de Arte Reina Sofia (Hrsg.): Jeff Wall, Madrid 1994.

Museum of Contemporary Art Los Angeles / Brogher, Kerry (Hrsg.): Jeff Wall, Los

Angeles 1997.

Museum für Gegenwartskunst Basel (Hrsg.): Jeff Wall – Fotografien des modernen

Lebens, Basel 1998.

Museum für Gegenwartskunst Basel (Hrsg.): Jeff Wall – Young Workers, Basel

1987.

Museum moderner Kunst Wien (Hrsg.): Jeff Wall – Photographs, Köln 2003.

Städtische Galerie im Lenbach-Haus (Hrsg.): Jeff Wall – Space and Vision,

München, 1996.

Hirshhorn Museum and Sculpture Garden / Smithsonian Institution (Hrsg.):

Directions 1981, Washington, D.C., 1981.

Zeitschriftenartikel / Aufsätze

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Beiträge zur Kunstgeschichte, 10, Dettelbach 1997, S. 332-342.

Ammann, Jean-Christoph: Jeff Wall, in: ders.: Bewegung im Kopf – vom Umgang

mit der Kunst, Regensburg 1993, S. 167-169.

Bonnet, Anne-Marie / Metzger, Rainer: Eine demokratische Kunst, eine bougeoise

Tradition der Kunst – ein Gespräch mit Jeff Wall von Anne-Marie Bonnet und

Rainer Metzger, in: Artis – Zeitschrift für neue Kunst, 2, Feb./März 1995, S. 46-51.

Bryson, Norman: Jeff Wall – enlightment boxes, in: Art/Text, 56, Februar/April

1997, S. 56-63.

Dickel, Hans: Im Licht der Bilder – der Platz des Betrachters im Werk von Jeff Wall,

in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Köln 1996,

S. 69-83.

Emslander, Fritz: Jeff Wall, in: Bilstein, Johannes / Winzen, Matthias (Hrsg.): Seele

– Konstruktionen des Innerlichen in der Kunst, Nürnberg 2004, S. 132-133.

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und Jeff Wall, in: neue bildende Kunst, 4, August/September 1996, S. 34-43.

Page 243: Dissertation

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International, 7, Vol.20, March 1982, S. 52-56.

Müller, Jürgen: Progressive Universalpoesie des Medienzeitalters, in: Texte zur

Kunst, 14, Juni 1994, S. 174-170.

Rollmann, Barbara: Kunst hat viel mit Würde zu tun – Interview zwischen Barbara

Rollmann und Jeff Wall in: Süddeutsche Zeitung, Nr.130, 10. Juni 1997, S. 16.

Schor, Gabriele: Der gefrorene Augenblick, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 267, 19.

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Wagner, Anselm: Jeff Wall – Fotografie als "tableau vivant", in: Noema Art Journal,

42, August/September/Oktober 1996, S. 84-93.

Watson, Scott: Canada Dry – zweimal sechs Künstler aus Vancouver, in:

Wolkenkratzer Art Journal, 2, März/April 1988, S. 28-33.

Monographien/Interviews/Texte von Jeff Wall

Duve, Thierry de / Pelenc, Arielle / Groys, Boris (Hrsg.): Jeff Wall, London 1996.

Joly, Jean-Baptiste: Die Photographie in der zeitgenössischen Kunst, Stuttgart 1990.

Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys. „Die Fotografie und die Strategien der

Avantgarde„, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, Frankfurt/Main 2002, S.

138-141.

Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents, in: Jeff Wall – Transparencies, New York,

1987, S. 99.

Jeff Wall im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International, 44,

1999, S. 230-245.

Wall, Jeff: Unity and Fragmentation in Manet, in: Parachute, 35, 1984, S. 5-7.

Wall, Jeff: Einheit und Fragmentierung bei Manet, in: Stemmrich, Gregor: Szenarien

im Bildraum der Wirklichkeit, Dresden 1997, S. 235-248.

Weitere Quellen:

Interview mit Jeff Wall im Rahmen der Fernsehreihe „contacts/kontaktabzüge„ –

Wall/Bustamente, ausgestrahlt in Arte Deutschland, 2000.

Page 244: Dissertation

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, 3, 4, 13, 24, 32, 33, 43, 46, 47, 60, 61, 62: die Verfasserin. Abb. 2: Krauss, Rosalind: Das Fotografische – eine Theorie der Abstände, München 1998. Abb. 5, 6: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Werk, Berlin 2000.

Abb. 7, 15, 17, 19, 21, 27; 28, 34, 35, 37, 48, 49, 50, 59: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, München 2001

Abb. 9, 10: Loreck, Hanne: Cindy Sherman – Geschlechterfiguren und

Körpermodelle, München 2002.

Abb. 12: Jooss, Birgit: Lebende Bilder – zur körperlichen Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999. Abb. 14: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika – aktuelle Perspektiven der zeitgenössischen Fotografie, Zürich 1998. Abb. 15: Foucault, Michel: Velàzquez, Las Meninas – die Hoffräulein, in: [ohne Herausgeber]: Velàzquez – Las Meninas, Frankfurt/Main 1999. Abb. 16: Metzger, Rainer: Kunst in der Postmoderne – Dan Graham, Köln 1994.

Abb. 22, 23, 25, 39, 56, 57: Alpers, Svetlana: Kunst der Beschreibung – holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985. Abb. 36, 38, 41: Netta, Irene: Das Phänomen der Zeit bei Jan Vermeer van Delft – eine Analyse der innerbldlichen Zeitstrukturen seiner ein- und mehrfigurigen Interieurbilder, Hildesheim 1996. Abb. 40: Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Jeff Wall – Landscapes and other Pictures, Wolfsburg, 1996. Abb 42: Rosen, Valeska von: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in den Werken Tizians – Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Berlin 2001. Abb. 44, 45: Belting, Hans: Bild und Kult – eine Geschichte des Bildes vor der dem

Zeitalter der Kunst, München 1993.

Abb. 51, 52, 53, : Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild – Beginn der

Metamalerei, München 1998.

Page 245: Dissertation

Abb. 55: Schneede, Uwe M.: De wonderlijke Perspectifkas, in: Artis – Zeitschrift für

alte und neue Kunst, 7, 1966, S. 25-28.

Abb. 58: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?; München 1994.

Abb. 64: Hüttinger, Eduard (Hrsg.): Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur

Gegenwart, Zürich 1985.

Abb. 65: Brusati, Celeste: Artifice and Illusion – the Art and Writings of Samuel van

Hoogstraten, Chicago 1995.