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Das arrangierte Bild Strategien malerischer Fiktion im Werk von Jeff Wall Von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde einer Doktorin der Geisteswissenschaften (Dr. phil.) genehmigte Abhandlung vorgelegt von Valerie Antonia Hammerbacher aus Böblingen Hauptberichter: Prof. Dr. R. Steiner Mitberichter: Prof. Dr. H. Schlaffer Tag der mündlichen Prüfung 22. Dezember 2004 Kunsthistorisches Institut der Universität Stuttgart 2005
INHALTSVERZEICHNIS 2
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung 6
B. Das Fotografische – Paradigma der Sichtbarkeit 14
I. William Henry Fox Talbot – „The Pencil of Nature“ 16
II. Talbots Schlüsselbegriffe in der Fotogeschichte 24
1. „unconsciously recorded“: Baudelaire, das „Neue Sehen“, Benjamin 24
2. Talbots „Abdruck“ und die semiotische Fototheorie von Rosalind Krauss 27
C. „Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen“ 36
I. Die Figuration – Bilder entstehen aus Bildern 38
1. Manets Gemälde als Paraphrase 38
II. Tableau vivant, Attitüde oder Arrangement? 42
1. Was ist ein fotografisches Tableau vivant? 42
2. Was ist eine fotografische Attitüde? 48
3. Was ist ein fotografisches Arrangement? 52
III. Der Spiegel – oder: Wo befindet sich der Betrachter bei Jeff Wall? 54
IV. Arrangement und Indexikalität 61
V. „Fictional narrative“ – Kategorie der inszenierten Fotografie 65
D. Der ausgeschlossene Betrachter – Grundlagen einer optischen Kunst 71
I. Jeff Wall – Maler des modernen Lebens? 73
II. Fotografie als Fensterblick? 75
III. Exkurs: Leon Battista Albertis Konzeption der Malerei 85
IV. Das Sehen ohne Betrachter – die keplersche Sehkultur 93
V. Der Aspekt – Topos der Kunsttheorie 110
INHALTSVERZEICHNIS 3
E. Erzählung oder Schilderung? 122
I.Dauer oder Moment? 125
II.Exkurs: Malerei als Erzählung 135
1. Das epische Erzählen 136
2. Das dramatische Erzählen 139
3. Der fruchtbare Moment 142
III.Malerei als Schilderung 150
1. Der Schild des Achill als Ursprung der Malerei 150
2. Der Maler als neuer Phidias 156
3. Die Tradition des Handwerks 158
IV.Die Stilllegung der Handlung als Strategie zeitgenössischer Künstler 165
1. Ute Friederike Jürß – „ You Never know the whole Story“ 166
2. Theresa Hubbard / Alexander Birchler – „Gregor’s Room“ 168
V.Tiefe – Guckkasten oder Raumbühne? 170
1. Der Blick ins Innere – Türschwellen- statt Fenstersicht 171
2. Sukzessive Blickbewegung und Distanzpunktverfahren 182
VI.Der Guckkastenraum als Strategie zeitgenössischer Künstler 190
1. Thomas Demand – „Salon“ 190
2. Lois Renner – „Atelier“ 192
3. Sam Taylor-Wood – „Five revolutionary Seconds“ 194
F. „Die Augen betrügen“ – die Ästhetik der Schilderung 197
I.Der ehrliche Betrug – „Fictional narrative“? 201
G. Schlussbetrachtung 215
H. Literaturverzeichnis 218
Abstract
The Canadian Artist Jeff Wall stages his photographs. By using strategies of pictorial
fiction, he conveys to the viewer that his works are not intended to document reality:
they are works of art. What is it that makes us realize that we are not dealing with a
document but with a staged composition? Can one point out a particular event or a
specific year when “Photographic Document” and “Photographic Fiction” became
distinct? In what tradition does Wall stand, and what are the typical characteristics of
his work? These are the questions investigated in the present thesis. It will concen-
trate in particular on Wall’s 1979 photograph “Picture for Women”. This is a key
picture in which all the characteristics responsible for Wall’s “fictionalization” strat-
egy are to be found. The people are placed in a peep-show type room, and are not
involved in a story that can be told. A story recounted like a written or verbal report
is out of the question. Instead, in Wall’s photographs, action and space are responsi-
ble for a fictional narrative portrayal (schilderij) which stands in a particular picto-
rial tradition. The pictorial portrayal to which Wall refers has its origins in a painting
tradition found north of the Alps – where it is not the text that issues the decisive
directives, but the portrayals on Archilles’ shield – with major consequences for
painting: the duration of the activity is defined by standstill, and the charm of the
paintings lies in the fine details of the presentation. It is by making such allusions
that Wall’s photographs develop into fictional works of art.
His work pioneers an art which has liberated itself from the influence of indexicality
as characterized by the semiologist Charles S. Peirce – both medially and themati-
cally. As a medium, every photograph is an index. But transferring the strategies of
painting to the photograph, Wall establishes a new variant of art and prevents con-
clusions being drawn from his work on the basis of indexicality.
Wall’s pictorial method permits a morphological comparison of photographs and
paintings so that the investigation is based on descriptions of pictures which are
compared with one another. Because the pictures correspond, it is possible to come
to a similar understanding analysis of how the pictures are made. The present thesis
is divided in five sections (B. – F). First Wall’s photographs are contrasted with con-
temporary works which are indexically structured. Then analogies with Dutch pant-
ing are highlighted which provide the basis for a development of further evidence.
The aim of this thesis is to give Wall his place in a picture-making tradition and to
demonstrate that it is painting that is responsible for the fictional effect of his art. In
Section D, contrary to current research findings, parallels to painting of the Dutch
school will emerge. These analogies will make it possible to explain Wall’s photog-
raphy as a form of art based on Johannes Kepler’s optics – an art form which affects
the spatial composition and the way action is presented. Section E. is devoted to
these two elements – space and action. The final section F. gives a summary of the
findings, and formulates an aesthetics of portrayal.
Abstract
Was zeichnet die Fotografien des kanadischen Künstlers Jeff Wall aus? Dieser Frage
wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Es gilt zu klären, inwieweit sich
Walls Arbeiten von der Gegenwartskunst der 60er- und 70er-Jahre unterscheiden und
wie diese Verschiedenheit für den Betrachter deutlich gemacht wird. Es ist das Ziel,
für das arrangierte fotografische Bild einen Begriff zu finden, diese Kunst in eine
Tradition zu stellen und damit ihre Merkmale zu definieren.
Jede analoge Technik der Fotografie ist zwangsläufig an ihr physikalisches und
chemisches Herstellungsverfahren gebunden und steht als fotografisches Bild in
einer physikalischen Verbindung zur Wirklichkeit. Fotografie kann aufgrund ihrer
Technik nichts anderes sein als die Darstellung eines bildgebenden Prozesses auf
lichtempfindlichem Fotopapier. Doch seit den 70er-Jahren konterkarieren Künstler
durch Bildsignale die medialen Gegebenheiten und ermöglichen es, die Fotografie in
ein anderes Bezugssystem zu überführen. Fotografie soll nun nicht mehr als ein
Dokument, sondern als Fiktion gewertet werden Die Fiktionalisierung erfolgt dabei
als eine Transgression der Technik durch Methoden der Darstellung.
In der Arbeit Jeff Walls zeigt sich dies in der fotografischen Darstellung von
Handlung und Raum. Walls Fotografie friert weder einen Moment ein, noch ist sie an
einem klar ausgewiesenen Ort zu lokalisieren. Sie ist weder Schnappschussaufnahme
noch erzählt sie eine Geschichte.
Ein besonderes Augenmerk wird auf Walls Fotografie „Picture for Women“ von
1979 gerichtet. In diesem Schlüsselbild finden sich die entscheidenden Merkmale,
die für Walls Überschreitungsstrategie verantwortlich sind. Hier etabliert Wall einen
Bildraum, der sich der Korrespondenz mit der Betrachterwelt entzieht und dennoch
auf den ersten Blick von augentäuschendem Realismus gekennzeichnet ist. Die
Fotografie stellt nicht einen Blick durch ein Fenster dar, wie es von Leon Battista
Alberti seit den Renaissance für die malerische Bildkunst gefordert wurde, sondern
schließt den Betrachter aus – sowohl in ihrer zeitlichen wie in ihrer räumlichen
Struktur.
Die Personen befinden sich in einem Guckkastenraum und sind in eine Handlung
involviert, die keine Nacherzählung erlaubt. Von einer Erzählung, die sich an einem
schriftlichen oder mündlichen Rapport orientiert, kann nicht die Rede sein.
Stattdessen sind in Walls Fotografie Handlung und Raum für eine fiktional narrative
Schilderung verantwortlich, die in einer malerischen Tradition steht.
Wall begründet eine neue Gattung, in dem er Strategien der Malerei auf die
Fotografie anwendet. Die Schilderung, auf die sich Wall bezieht, hat ihren Ursprung
in der Malerei nördlich der Alpen. Dort liefert nicht der Text die ausschlaggebenden
Direktiven, sondern die Darstellung des Schildes des antiken Helden Achill. Für die
Malerei ist das folgenreich: Die Dauer der Handlung wird durch eine Stilllegung
definiert, und die Gemälde beziehen ihren Reiz aus der Delikatesse der Darstellung.
Die Gemälde von Jan Vermeer oder Nicolas Maes liefern die ästhetischen
Sehkonventionen, durch deren Vergleich sich Walls Fotografien beschreiben lassen.
Durch die Analogie zwischen Walls Fotografie und einem speziellen Typus der
Malerei können seine Fotografien klassifiziert werden.
A. EINLEITUNG 6
A. Einleitung
Strategien fotografischer Fiktion – was bedeutet das? Das bemühte Lächeln, wenn
der Fotograf bei der Passfotoaufnahme die Formel „Bitte recht freundlich„ murmelt
oder das alljährliche Ablichten des üppig geschmückten Weihnachtsbaumes? In bei-
den Fällen wird inszeniert. Die Passfotopose ist ebenso kalkuliert wie das „Porträt„
der Weihnachtstanne. Beide Aufnahmen sind mit einem speziellen Wollen aufge-
nommen, in Szene gesetzt und zeigen, dass sowohl vor der Kamera wie hinter der
Kamera das Bewusstsein, eine Fotografie herzustellen die Bildkomposition be-
stimmt. Beide Fotografien stellen Situationen dar, die dem Betrachter vermitteln,
dass sie an einem klar definierbaren Ort und zu einem eindeutigen Zeitpunkt entstan-
den sind. Beide präsentieren einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Sie sind Dokumente.
Und gerade durch ihren Dokumentcharakter amüsiert das Betrachten der Passfoto-
aufnahme auch Jahre später. Die Unterstellung, das Foto repräsentiere etwas, was
damals mit Sicherheit so gewesen sei, und der Vergleich mit der abgebildeten Person
heute – zum Zeitpunkt des Betrachtens – erzeugt Amüsement.
Bei der inszenierten Fotografie, die Ende der 70er-Jahre in den USA und kurz darauf
auch in Europa entsteht, ist die Bilddefinition eine andere. Diese Fotografien sind
zwar auch Spuren der Wirklichkeit, Aufzeichnungen eines je Gewesenen und ebenso
mit kalkulierter Geste in Szene gesetzt, und dennoch unterscheiden sie sich grundle-
gend von der fotografischen Produktion früherer Jahrzehnte: Die technischen Vor-
aussetzungen des Mediums werden nun überschritten. Durch Bildsignale konterka-
rieren die Foto-Künstler die medialen Gegebenheiten und ermöglichen, die Fotogra-
fie in ein anderes Bezugssystem zu überführen. Fotografie soll nun nicht mehr als ein
Dokument, sondern als Fiktion gewertet werden Die Fiktionalisierung erfolgt dabei
als eine Transgression der Technik durch Methoden der Darstellung.
Jede analoge Technik der Fotografie ist zwangsläufig an ihr physikalisches und che-
misches Herstellungsverfahren gebunden, und steht als fotografisches Bild in einer
physikalischen Verbindung zur Wirklichkeit. Fotografie kann aufgrund ihrer Technik
nichts anderes sein als die Darstellung eines bildgebenden Prozesses auf lichtemp-
findlichem Fotopapier. Doch seit den 70er-Jahren werden den technischen Qualitäten
A. EINLEITUNG 7
bildnerische Mittel gegenübergestellt, welche der Dokumentation und Aufzeichnung
von Wirklichkeit entgegentreten.
Das hat Konsequenzen für die Darstellung von Handlung und Raum. Die fiktionali-
sierte Fotografie friert weder einen Moment ein, noch ist sie an einem klar ausgewie-
senen Ort zu lokalisieren. Sie ist weder Schnappschussaufnahme noch erzählt sie
eine Geschichte. Die Fotografen verwandeln das Medium durch Überschreitungsstra-
tegien in Fiktionen – und dadurch in Kunstwerke. Die Konditionen der üblichen Bet-
rachterwelt sind nun für die Bildhandlung nicht mehr verbindlich, und die Fotografie
wird zu einem eigenständigen Interpretament. Diese Art der Fotografie liefert eine
Alternative zum Wirklichkeitsdokument und genießt eine Ausnahmestellung. Die
sonst geltenden Gesetze der Welt können von ihr zeitweise überschritten, aber nicht
dauerhaft aufgehoben werden, denn ästhetisches Vergnügen ist immer zeitlich be-
schränkt. Nur durch diese Sonderstellung liefert diese Fotografie dem ästhetischen
Bewusstsein des Betrachters interesseloses Wohlgefallen.
In der vorliegenden Untersuchung werden die Kennzeichen solcher Fotografien be-
schrieben und dingfest gemacht. Im Zentrum der Arbeit steht das Werk des kanadi-
schen Künstlers Jeff Wall. Er gehört zu der ersten Generation von Fotografen, die
bereits Ende der 70er-Jahre mit arrangierten Bildern arbeiten. Wall wurde 1946 in
Vancouver geboren und studierte in London Kunstgeschichte. Er arbeitet und lebt in
Kanada. Wall etabliert in seinen Fotografien bewusst eine Entfremdung, „die das
Flüchtige und das Zufällige des modernen Alltags mit einem Moment des ‚Ewigen‘
zu verbinden sucht“1. Doch wie kann dieses Charakteristikum durch einen kunsthis-
torischen Begriff gefasst werden? Was zeichnet Walls Arbeit aus? Woran merken
wir, dass wir es nicht mit einem Dokument, sondern mit einem Kunstwerk zu tun
haben, und gibt es einen markanten Punkt, ein Jahr, in dem sich „Fotografie als Do-
kument“ und „Fotografie als Fiktion“ differenzieren? Diesen Fragen geht die vorlie-
gende Untersuchung nach. Ziel ist es, für das arrangierte fotografische Bild einen
Begriff zu finden, diese Kunst in eine Tradition zu stellen und damit ihre Merkmale
zu definieren.
Ein besonderes Augenmerk wird auf Walls Fotografie „Picture for Women“ von
1979 gerichtet. In diesem Schlüsselbild finden sich die entscheidenden Merkmale,
A. EINLEITUNG 8
die für Walls Überschreitungsstrategie verantwortlich sind. Hier etabliert Wall einen
Bildraum, der sich der Korrespondenz mit der Betrachterwelt entzieht und dennoch
auf den ersten Blick von augentäuschendem Realismus gekennzeichnet ist. Die Fo-
tografie stellt nicht einen Blick durch ein Fenster dar, wie es von Leon Battista Al-
berti seit den Renaissance für die malerische Bildkunst gefordert wurde, sondern
schließt den Betrachter aus – sowohl in ihrer zeitlichen wie in ihrer räumlichen
Struktur.
Die Personen befinden sich in einem Guckkastenraum und sind in eine Handlung
involviert, die keine Nacherzählung erlaubt. Von einer Erzählung, die sich an einem
schriftlichen oder mündlichen Rapport orientiert, kann nicht die Rede sein. Stattdes-
sen sind in Walls Fotografie Handlung und Raum für eine fiktional narrative Schil-
derung verantwortlich, die in einer malerischen Tradition steht.
Wall begründet eine neue Gattung, in dem er Strategien der Malerei auf die Fotogra-
fie anwendet. Die Schilderung, auf die sich Wall bezieht, hat ihren Ursprung in der
Malerei nördlich der Alpen. Dort liefert nicht der Text die ausschlaggebenden Direk-
tiven, sondern die Darstellung des Schildes des antiken Helden Achill. Für die Male-
rei ist das folgenreich: Die Dauer der Handlung wird durch eine Stilllegung definiert,
und die Gemälde beziehen ihren Reiz aus der Delikatesse der Darstellung. Die Ge-
mälde von Jan Vermeer oder Nicolas Maes liefern die ästhetischen Sehkonventionen,
durch deren Vergleich sich Walls Fotografien beschreiben lassen. Durch die Analo-
gie zwischen Walls Fotografie und einem speziellen Typus der Malerei können seine
Fotografien klassifiziert werden.
Walls Arbeit weist den Weg für eine Kunst, die sich aus dem Bannkreis der Indexi-
kalität durch Möglichkeiten der malerischen Darstellung befreit. Der Begriff der In-
dexikalität entstammt der Lehre des amerikanischen Semiologen Charles S. Peirce,
dessen Schrift „Logik als Untersuchung von Zeichen“ von 1873 die Sprachphiloso-
phie stark beeinflusst hat. In den 60er-Jahren entdeckt die Kunstwissenschaft das
semiotische System und macht es für die Auslegung von Kunstwerken fruchtbar.
Peirce hat eine Zeichenlehre entwickelt, deren drei Typen – Ikon, Symbol und Index
– den Bildwissenschaften hilfreiche Begriffe an die Hand gegeben haben und bis
1 Rabionovitz, Cay Sophie: Jeff Wall, in: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): documenta 11 – Plattform 5: Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2002, S. 243.
A. EINLEITUNG 9
heute die Rezeption von Fotografie bestimmen.2 Qua Medium ist jede Fotografie ein
Index. Doch indem Wall Strategien der Malerei auf die Fotografie transferiert, etab-
liert er eine neue Variante der Kunst und entzieht seine Werke den Schlussfolgerun-
gen, die durch mediale Indexikalität begründet werden.
Bereits die Vorbereitungen, die Wall für jede seiner Fotografien trifft, zeigen den
kalkulierten Charakter seiner Arbeit: Schauspieler müssen organisiert werden, die
später in den Bildszenerien die Handlung darstellen. Räume werden entweder nach
kompositorischen Gesichtspunkten ausgewählt oder akribisch gezimmert, mit Inven-
tar bestückt und mit einer oftmals geprobten Lichtregie ausgestattet.
Der detaillierten Planung entspricht das Herstellungsverfahren: Seit 1978 arbeitet er
mit Großbilddias. Mit einer Plattenkamera belichtet Wall einen Film, um anschlie-
ßend die Bildinformation auf das Großdia übertragen. Aus meist zwei Teilen wird
das spätere Tableau montiert. So zeigen seine Großbilddias oftmals die Stelle, an der
die Diafolien aneinanderstoßen – manchmal wird sie als schwarze Linie deutlich,
manchmal ist sie fast transparent. Im Gegensatz zum Abzug ist das Dia als Durch-
sichtsbild für die Projektion und nicht als Zwischenstufe für eine Vervielfältigung
gedacht. Der Generalverdacht, jeder Fotograf stehe im Bannkreis von Walter Benja-
mins „technischer Reproduzierbarkeit“ kann damit für Wall ausgeschlossen werden.
Die Maße seiner Großbilddias sind monumental. Einige Fotografien sind zwei mal
drei Meter groß. Man steht ihnen gegenüber wie einem Historiengemälde. Das weite-
re Verfahren gibt Hinweise darauf, dass Wall sich von der Fotografie der Massen-
medien distanziert. Die Großbilddias werden in einem Kasten montiert, der mit
Leuchtstoffröhren versehen ist. Somit erhalten die Bilder eine „Selbstlichtigkeit“3,
welche die Konnotationen des technischen Herstellungsverfahrens unterläuft. Walls
Bilder leuchten aus sich selbst. Neben dem Beleuchtungslicht der Szene besitzen sie
eine eigene Lichtqualität, die dem Betrachter zeigt, dass diese Fotografien keine Ab-
bilder der Wirklichkeit sein wollen, sondern selbstständige Bildeinheiten.
2 Beat Wyss bezieht sich ausdrücklich auf Charles S. Peirce, um die Kunstgeschichte in eine Chrono-logie verschiedener Arten des Bildermachens zu ordnen. Demnach folgt auf die Ära des magischen Bildes, das rhetorische und das mechanische Bild. Wyss, Beat: Das Fotografische und die Grenzen des mechanischen Bildes, in: Belting, Hans / Kamper, Dietmar / Schulz Martin: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 365-376. 3 Der Begriff der Selbstlichtigkeit stammt von Wolfgang Schöne. Schöne, Wolfgang: Über das Licht in der Malerei, Berlin 1989.
A. EINLEITUNG 10
Bisher ist noch kein Terminus gefunden worden, der die Arbeit von Jeff Wall kate-
gorisiert.4 Während in der fotohistorischen Literatur sehr wohl das Phänomen der
Arrangierung erkannt wurde und seit den 70er-Jahren die Begriffe „staged“,
„constructed“ und „fabricated“ kursieren5, ist es vernachlässigt worden, die Bildqua-
litäten von Walls Fotografien zum Anlass einer Begriffsfindung zu nehmen. Es ist
vom „pictorial impact“ und dem „Bild im Konjunktiv“ die Rede.6 Vor allem der
Begriff der Inszenierung ist im deutschsprachigen Raum für diese Art der Fotografie
verwendet worden.7 Doch auch Fotografien können inszeniert sein, die mit dem Ziel,
als Dokumente gewertet zu werden, erstellt worden sind. Der Begriff ist zwar hilf-
reich, um einen Schnappschuss von einer kalkulierten Bildproduktion zu unterschei-
den, eine Bild-Kategorie liefert er ebenso wenig wie die Bestimmung von Walls Fo-
tografie als Erzählung.8 „Eine inszenierte Fotografie zeigt damit eine Sequenz, die
als Bestandteil einer (theatralen) Inszenierung denkbar ist und die – weil die Sequenz
Teil eines erzählerischen Ganzen ist – eine narrative Struktur hat9, bestimmt Christi-
4 Es existieren zwar Werkübersichten, jedoch keine begriffliche Fundierung von Walls Arbeit. Als Übersicht sind zwei Ausgaben der Kunstzeitschrift Parkett zu empfehlen. Parkett: Collaborations Jeff Wall – Christian Boltanski, 22, 1989, S. 52-89; Parkett: Douglas Gordon – Jeff Wall – Laurie Ander-son, 49, 1997, S. 84-123. 5 Vor allem in der englischsprachigen Literatur wurde versucht, für diese neue Kunst Begriffe zu finden. Der Fotokritiker Allan Douglas Coleman führte den Ausruck der „directorial mode“ in einem gleichnamigen Aufsatz ein und ergänzte ihn durch die Begriffe „staging“ und „arranging“. 1977 widmete Coleman den „constructed realities“ eine Publikation. Coleman, Allan Douglas: The directo-rial Mode – Notes towards a definition, in: Artforum, 15, 1976, S. 55-61. In deutscher Übersetzung in: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie III – 1945 bis 1980, München 1983, S. 239-243; Über die „constructed realities“: Coleman, Allan Douglas: The Grotesque in Photography, Verona 1977, S. 72-75. 6 Der Begriff des „pictorial impact“ stammt aus dem Ausstellungskatalog „Transparencies“, der „des Bildes im Konjunktiv“ von Belinda Gardner. Institute of Contemporary Arts London (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, London 1984. S. 3; Gardner, Belinda: Lakonie der Landschaft – ein Gespräch zwischen Belinda Gardner und Jeff Wall, in: neue bildende kunst, 4, August/September 1996, S. 41. 7 Bazon Brock führt den Begriff „Inszenierte Fotografie“ 1972 ein. Brock, Bazon: Ein neuer Bilder-krieg, in: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): documenta 5 – Begrabung der Realität – Bilderwelten heute, Kassel 1972, S. 3ff. Zur Bildinszenierung auch: die Magisterarbeit von Dorothea Linck „Konstruiert oder authentisch? Photographische Wirklichkeit als Inszenierung“, die Link 1995 an der Universität Lüneburg abgeschlossen hat. Des Weiteren: Andreas Müller-Pohle: Inszenierung – zeitgenössische Fotografie aus der Bundesrepublik, Göttingen 1988; Museum für Kunst- und Kulturgeschichte (Hrsg.): Inszenierte Wirklichkeit, Dortmund 1989; Honnef, Klaus: Simulierte Wirklichkeit – inszenierte Fotografie – Bemerkungen zur Paradoxie der fotografi-schen Bilder in der modernen Konsumgesellschaft, in: Kunstforum International, 83, März/April/Mai 1986, S. 88-92. 8 Hartnäckig hält sich die Unterstellung, Walls Fotografien erzählten Geschichten. Lauter, Rolf: Die Erzählung von der Gegenwart der Erinnerung, in: ders. (Hrsg.): Figures and Places, München 2002, S. 13-15.; Walter, Christine: Bilder erzählen – Positionen inszenierter Fotografie: Eileen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lochhart, Tracy Moffat, Sam Taylor-Wood, Weimar 2002. 9 Walter, Christine: aaO., S. 57.
A. EINLEITUNG 11
ne Walter Walls Arbeiten. Ihr ist nur teilweise zuzustimmen: Sicherlich findet man
bei Wall das Moment der Zeitlichkeit – jedoch nicht die Zeitlichkeit, die sich als
Davor und Danach darstellt. Im Gegensatz zur Narration findet sich bei Walls Foto-
grafien Zeit als Dauer ohne linearen Verlauf.
Die Auswertung der Forschungsliteratur zu den Fotografien von Jeff Wall hat ge-
zeigt, dass sein Werk nicht nur im Hinblick auf die Erzählstruktur analysiert wird,
sondern auch die Fragen nach malerischen und fotografischen Vorläufern diskutiert
werden.
Es sind vor allem zwei Festlegungen, welche die Analyse bestimmen:
1. Können seine Fotografien als Erzählungen klassifiziert werden?10
2. Steht er in einer fotografischen Tradition der Piktorialisten?11
Die vorliegende Arbeit widerspricht sowohl dem Vergleich von Walls Ansatz mit
der baudelaireschen Kunsttheorie als auch der Ableitung seiner Fotografie aus der
piktorialistischen Kunstproduktion des 19. Jahrhunderts.12 Denn im Gegensatz zur
Fotografie der Piktorialisten arbeitet Wall nicht mit Montagen, Retuschen oder Fil-
tern, versucht also nicht, Malerei zu imitieren, sondern reizt die fotografischen Qua-
litäten mittels malerischer Referenzen aus. Fotografie muss nicht mehr in einem Pa-
ragone zwischen Malerei und technisch generierter Bildherstellung aufgewertet wer-
den, sondern erhält eine weitere Qualität. Sie ist nun nicht mehr nur fotografisches
Dokument, sondern signalisiert dem Betrachter eine Lesart als fotografische Fiktion.
10 Chevrier, Jean-Francois: Ein Maler des modernen Lebens, in: Lauter, Rolf (Hrsg.):aaO., S. 168-185; Bonnet, Anne-Marie / Metzger, Rainer: Eine demokratische, eine bourgeoise Tradition der Kunst – ein Gespräch mit Jeff Wall, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 33-45. Diese These folgt eben-so Kerry Brogher mit seinem Aufsatz „The Photographer of Modern Life“, in: ders. (Hrsg.): Jeff Wall, Los Angeles 1997, S. 13-21; auch in der jüngsten Publikation zu Walls Werk vertritt Gregor Stemmrich die These, Wall rehabilitiere eine avantgardistische Praxis. „Zwischen Exaltation und sinnierender Kontemplation – Jeff Walls Restitution des Programms der peinture de la vie moderne“, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hrsg.): Jeff Wall – Photographs, Wien 2003, S. 154-173. 11 Walter begründet ihren Verweis mit den Worten: „Da die wenigen Fotografien des Piktorialismus dennoch großen Einfluss auf das Werk zeitgenössischer Künstler haben, wird die piktorialistische Fotografie im folgenden als historischer Vorläufer inszenierter Fotografie vorgestellt.“ Walter, Chris-tine: aaO., besonders das Kapitel „Exkurs – zur Inszenierten Fotografie im 19. Jahrhundert“, S. 63-68, S. 63. 12 Zur Auseinandersetzung von Baudelaires Kunsttheorie und Wall siehe Kapitel D.I. der vorliegen-den Arbeit.
A. EINLEITUNG 12
Die Analyse der Werke von Jeff Wall gliedert sich in fünf Teile:
1. Es wird anhand der Schriften von William Henry Fox Talbot ein fotografi-
sches Paradigma ausgearbeitet. Dies ermöglicht, einen Referenzrahmen zu
erstellen, an dem sich Walls Ansatz abgrenzen und konturieren lässt.
2. Daraufhin werden Walls Überlistungsstrategien des fotografischen Paradig-
mas deutlich gemacht, um anschließend Analogien zwischen seiner fotografi-
schen Produktion und eines speziellen Typus’ von Malerei zu zeigen.
3. Die Gleichartigkeit zwischen seiner Fotografie und einer malerischen Praxis
wird durch das Bildarrangement, in dem der Betrachter ausgeschlossen ist,
verdeutlicht. Ebenso wie in holländischer Malerei entzieht sich Walls Foto-
grafie der Korrespondenz mit dem Betrachter. Er kann die Darstellung zwar
visuell erkunden, die Bildhandlung und der Bildraum führen seine Konditio-
nen jedoch nicht weiter. Vorbildlich ist nicht das Bild, als Schnitt durch die
Sehpyramide, sondern die Erfahrung des Auges als anonyme Aufzeichnungs-
apparatur.
Die Beziehung zwischen holländischen Gemälden und Walls Fotografien
steht dabei nicht in einem Verhältnis der Ableitung. Es ist nicht das Ziel, eine
Kausalität, eine Epochendefinition oder eine Schule darzustellen. Keine line-
are Entwicklungslinie soll dargelegt werden, die sich als folgerichtiger Ver-
lauf darstellt, sondern Analogien vor Augen geführt werden, die Walls Aus-
einandersetzung mit den Möglichkeiten der Fotografie offen legt.
4. Ziel der Arbeit ist, Walls Überlistung der fotografischen Technik in Bezug zu
einer malerischen Art der Bildgenese zu stellen und das Arrangement von
Raum und Zeit als Komplement einer optischen Kunst darzulegen. Beide –
Raum und Zeit – werden in einer optischen Kunst, zu der sowohl die hollän-
dische Malerei als auch Jeff Walls Fotografie zu zählen ist, betrachterunab-
hängig definiert. Die Handlung lässt sich dabei als Schilderung kategorisie-
ren, der Raum als Guckkastenraum, der mit einer Türschwellen-Sicht ausges-
tattet ist.
5. Das abschließende Kapitel fasst die Feststellungen der Analyse zusammen
und formuliert eine Ästhetik der Schilderung. Es soll deutlich gemacht wer-
den, dass Walls Fotografien durch kalkulierte Bildsignale eine fiktionale Les-
A. EINLEITUNG 13
art hervorrufen und ein drittes Element zwischen Wahrheit und Lüge etablie-
ren.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
14
B. Das Fotografische – Paradigma der Sichtbarkeit
Jeff Wall ist Fotograf – angesichts seiner Werke und des Themas der vorliegenden
Arbeit scheinbar eine banale Selbstverständlichkeit. Keine Gemälde, Zeichnungen
oder Collagen von ihm werden derzeit öffentlich gezeigt, und schließlich hat er 2004
den Hasselblad-Award für seine Verdienste in der Fotografie und keiner anderen
Kunst erhalten. Dennoch standen am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn nicht
die fotografischen Medien, sondern andere Techniken der Bildherstellung.13 Der
Kanadier arbeitete mit Pinsel und Leinwand, Zeichenstift und Papier.14 Erst Anfang
der 70er-Jahre benutzte er die Plattenkamera und den Foto-Film, um seine großfor-
matigen Tableaus zu entwickeln.15 „Mein Werdegang hängt also eigentlich damit
zusammen, daß ich die Photographie als etwas akzeptiert habe, wovon ich nicht weg-
kam, obwohl sie zuerst nicht mein Hauptinteresse war. Ich habe oft das Gefühl, ich
sei aus der Welt der Malerei und des Zeichnens kommend, in die Photographie ver-
bannt worden“16.
Es stellt sich nun die Frage, was das Spezifische der Fotografie ist, für die sich Wall
entschieden hat. Will man über die Werke des kanadischen Künstlers schreiben, 13 Die Fotografie wird im vorliegenden Text als Medium klassifiziert. Seit 1839, dem Jahr des Ver-kaufs des fotografischen Patents an den französischen Staat, wird für diese Technik der Begriff „Me-dium“ verwendet. Er wird zur Polarisierung und als Abgrenzung zu Herstellungsverfahren der nicht-technischen Bildkünste gebraucht. Jedes Zeichensystem hat per se die Aufgabe, Inhalte an ein Publi-kum zu vermitteln. Jede Kunst ist Medium, seitdem es sie gibt. Doch seit der Erfindung der Fotogra-fie hat der Begriff nicht mehr nur die Bedeutungen „Mitte“, „Mittel“ oder „Vermittlung“, sondern bezeichnet einen Vorgang, der allein durch technische Apparaturen eingeleitet wird. Diese Verengung des Begriffs bildete sich angesichts der technischen Erzeugung der fotografischen Zeichensysteme heraus. Wolfgangs Kemps Quellensammlung zur Fotografiegeschichte belegt den Gebrauch dieses begrifflichen Vokabulars. Als Beispiel sei auf den Aufsatz von Arthur James Anderson „Die künstle-rische Qualität des Mediums“ aus dem Jahr 1910 verwiesen. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie – 1839-1912, München 1980, S. 247-250. Dazu auch: Wyss, Beat: Der Weg zur Welt im Kopf – eine Kunstgeschichte der Medien fast-forward, in: Kunstfonds e.V. (Hrsg.): RAM – Reali-tät – Anspruch – Medium, Köln 1995, S. 15-36. 14 Bereits vor seinem Studium hat Wall Naturabstraktionen und Gemälde in der Art des abstrakten Expressionismus’ angefertigt. In den 60er-Jahren lassen sich deutliche Bezüge zu Robert Motherwell nachweisen. Wall experimentierte jedoch mit verschiedenen Kunstrichtungen, ohne sich auf einen Stil oder eine künstlerische Technik festzulegen. Zum Frühwerk: Museum of Contemporary Art Los An-geles (Hrsg.): Jeff Wall, New York 1997, S. 16ff. 15 „Was ich Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger machte, änderte sich, als ich mich der Pho-tographie zuwandte, da ich seit meiner Kindheit gemalt und gezeichnet hatte. Vor 1967 hatte ich schon eine Weile gemalt und die Minimal Art durchgemacht (...) “, beschreibt Wall den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn. Jeff Wall, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Szenarien im Bildraum der Wirk-lichkeit, Dresden 1997, S. 190.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
15
muss man sich zunächst klar darüber werden, was diese Technik von anderen unter-
scheidet, welchen Ursprung und welche Geschichte sie hat.
„Bevor nicht klar erkannt wird, daß das Medium Photographie aus sich selbst keine
Kunst hervorzubringen vermag, wohl aber durch seine besonderen Eigenschaften
über eine eigene Stilgeschichte verfügt, (...) und anderseits mit Hilfe diese Mediums
sehr wohl Kunst produziert werden kann (...) – werden weder die Photographen noch
die Museen zu einer brauchbaren theoretischen Grundlegung kommen“, kritisiert der
Fotografiehistoriker Rolf H. Krauss die Diskussion um die Kunstwürdigkeit der Fo-
tografie bereits Ende der 70er-Jahre.17
Was ist also die analoge Fotografie? Die technischen Vorgänge sind zu ausreichend
dargestellt worden: Die Fotografie ist ein Verfahren, welches die Herstellung von
Abbildungen durch die Einwirkung von Strahlung ermöglicht. Die Strahlung trifft
auf Schichten, deren physikalische und chemische Eigenschaften verändert werden.
Auf einem Glas- oder Kunststoffträger befindet sich eine lichtempfindliche Emulsi-
on, auf der sich mit Hilfe des fotografischen Objektivs das Bild des Aufnahmege-
genstands optisch abbildet. Seit über 160 Jahren hat sich daran nichts geändert, und
auch die Digitalfotografie funktioniert durch die „Belichtung“ empfindlicher Senso-
ren.18 Nahezu jede Einzelfrage der fotografischen Funktionen ist erörtert worden;
das Verfahren der Gebrauchsfotografie ist hinlänglich bekannt.19 Eine weitere Dar-
stellung der Technik ist also nicht notwendig.
Stattdessen soll im Folgenden ein begriffliches Feld ausgearbeitet werden, durch das
die Ideengeschichte der Fotografie bestimmt werden kann. Gedankliche Muster und
Kategorien werden dadurch deutlich; ein Definitionsrahmen kann erstellt werden und
die weitreichenden Verästelungen der Fotogeschichte können anhand von Kernbeg-
riffen des Fotografischen konturiert werden. Einerseits erhält man also eine Definiti-
16 Jeff Wall in: Stemmrich, Gregor: aaO., S. 191. 17 Krauss, Rolf H.: Photographie als Medium – 10 Thesen zur konventionellen und konzeptionellen Photographie, Ostfildern 1995, S. 153. 18 In der Digitalfotografie wird die Lichtinformation jedoch anschließend in einen binären Code um-gewandelt.
19 Freier, Felix: Dumont’s Lexikon der Fotografie, Köln 1992; Osterloh, Günter: Leica R – angewand-te Leica– Technik, Frankfurt/Main 2000.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
16
on des Fotografischen, andererseits die Möglichkeit, die spezifische Wahrnehmung
der Fotografie und ihr Bezugsfeld darzulegen.20
B.I. William Henry Fox Talbot – „The Pencil of Nature“
Die frühesten Äußerungen zur Fotografie zeigen bereits die Denkfiguren, die sich
durch die gesamte spätere Auseinandersetzung mit der Fotografie ziehen werden.
Besonders die Äußerungen des Engländers William Henry Fox Talbot sind für die
Erstellung eines fotografischen Paradigmas aufschlussreich.21 In seinen Schriften
„Some Account of The Art of Photogenic Drawing or The Process By Which Natural
Objects May Be to Delineate Themselves Without The Aid of The Artist’s Pencil“
von 1839 und dem „Pencil of Nature“ legt William Henry Fox Talbot die ersten
Texte zur Theorie der Fotografie vor.22
Talbot hat als naturwissenschaftlicher Privatgelehrter nicht nur unabhängig von den
französischen Erfindern die Fotografie entdeckt, sondern auch Beschreibungen und
Erklärungen der Fotografie geliefert. Die neue Technik musste benannt werden; er
benötigte ein entsprechendes Vokabular, um in Vorträgen, Rezensionen oder wissen-
schaftlichen Artikeln von den Möglichkeiten der Kamera-Bilder zu berichten. In
seinem 6-bändigen Werk „The Pencil of Nature“, das zwischen 1844 und 1846 ver-
öffentlicht wurde, führt Talbot dem Leser die verschiedenen Anwendungsgebiete der
Fotografie vor.23 Die erste Ausgabe erschien 1844 mit insgesamt 24 eingeklebten
Kalotypien, fotografischen Papierabzügen, die – im Gegensatz zu den Fotografien 20 Dem Ansatz von Bernd Busch ist zu folgen, wenn er die Geschichte der Fotografie als Geschichte ihrer Wahrnehmung beschreibt. Busch, Bernd: Belichtete Welt – eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt/Main 1995. 21 Beaumont Newhall betont Talbots Leistung mit den Worten: „Its importance in the history of pho-tography is comparable to that of the Gutenberg Bible in printing“. Newhall, Beaumont: Introduction, in: ders. (Hrsg.): William Henry Fox Talbot – The Pencil of Nature, New York 1969, o.S.. 22 Hubertus von Amelunxen verneint den theoretischen Anspruch Talbots. Inzwischen ist sich jedoch die Fotografie– Forschung über die Theorietauglichkeit von Talbots Schriften einig. Amelunxen, Hubertus von: William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature (I) – ein kleines Plädoyer für eine neue „Lektüre“, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 14, 1984, S. 17-27. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. 23 Das Werk teilt sich wie folgt auf: Juni 1844 (Tafel I-V), Januar 1845 (Tafel VI-XII), Mai 1845 (Tafel XIII-XV), Juni 1845 (Tafel XVI-XVIII), Dezember 1845 (Tafel XIX-XXI) und April 1846
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
17
Jacques-Mandé Daguerres, der mit Glas- und Metallplatten arbeitete – im Positiv-
Negativ-Verfahren entstanden waren.24 „The Pencil of Nature“ ist das erste Buch,
dessen Fotografien als Massenproduktion hergestellt wurden und das eine Gegen-
überstellung von Bild und Text aufweist. Talbot hat mit kurzen, meist eine Seite um-
fassenden Kommentaren seine Kalotypien eingeordnet und in einen Bezugsrahmen
gesetzt. Durch diesen ergibt sich nun die Möglichkeit, die Wahrnehmungen des Fo-
tografischen zu erstellen.
Bereits im knappen Vorwort wendet Talbot sich an den Leser und verdeutlicht, dass
sich seine Entdeckung von allen etablierten Abbildungsmethoden unterscheidet. Tal-
bot nimmt eine Differenzierung vom technischen Verfahren und dem Denkmuster,
welches die Fotografie unweigerlich begleitet, vor:
„It must be understood that the plates of the work now offered to the public are the pictures themselves, obtained by the ac-tion of light, and not imitations of them (...) The plates of the present work will be executed with the greatest care, entirely by optical and chemical processes. It is not intended to have them altered in any way, and the scenes represented will con-tain nothing but the genuine touches of Nature’s Pencil.“25
Die folgenden 24 Tafeln sind Produkte eines chemischen und optischen Prozesses
und zeigen gleichzeitig die Abdrücke der Natur, „the genuine touches of Nature’s
Pencil“26. Die Fotografie stellt insofern etwas Neues dar, weil sie ganz in der Ver-
mittlung des Realen aufzugehen scheint, anders als das Bild des Künstlers, der nach
seinen subjektiven Vorstellungen arbeitet.27 Die Fotografie erzeugt eine besondere,
(Tafel XXII-XXIV). Weitere Daten zur Produktion findet man bei Harry John Philip Arnold: William Henry Fox Talbot – Pioneer of Photography and Man of Science, London 1977. 24 Die entscheidenden Anstöße für die Entwicklung der Fotografie im heutigen Verständnis gingen weniger von der Daguerreotypie als vielmehr von den Arbeiten Talbots aus. Seine Begründung des Positiv-Negativ-Verfahrens 1835 ermöglichte die Reproduzierbarkeit des Originals durch die Herstel-lung unendlich vieler fotografischer Abzüge. Zur Weiterentwicklung des fotografischen Verfahrens durch Talbot siehe Eder, Maria Josef: Die unbekannten künstlerischen Verdienste eines Erfinders, in: [ohne Hrsg.]: Sonnenbilder von William Henry Fox Talbot, Luzern 1985, S. 1-4. 25 Talbot, Henry Fox: The Pencil of Nature, in: aaO., o.S.. 26 An anderer Stelle spricht er davon, die Bildtafeln „are impressed by Nature’s hand“. Talbot, Wil-liam Henry Fox: The Pencil of Nature, in: aaO., o.S..
27 Die Gegenüberstellung von objektiver Fotografie und subjektivem künstlerischem Meisterwerk wird angeführt, weil sie in der Argumentation des 19. Jahrhunderts oftmals bemüht wird. Rodolphe Töpffer schrieb 1841 im Morgenblatt für gebildete Stände: Das Künstler schaffte das Werk „nach Maßgabe seines subjektiven Empfindens (...) zu einem Mittel des Ausdrucks, nicht zu Nachahmung“.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
18
zweite Welt. Dennoch ist die im Foto abgebildete Wirklichkeit von ihrem Vorbild
abhängig und gerade dieser Sachverhalt unterscheidet die Fotografie von allen bishe-
rigen Möglichkeiten der bildhaften Darstellung.
Daraufhin skizziert Talbot die Folge einer Versuchsreihe, die letztlich zur Analyse
des fotografischen Verfahrens geführt hat und fügt hinzu, dass „the Author of the
present work having been so fortunate as to discover (...) the principles and practice
of Photogenic Drawing (...) which employs processes entirely new, and having no
analogy to any thing in use before“28. Talbot definiert seine naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse als Entdeckung (discovery) der Fotografie. Er beschreibt seine For-
schung als Vorfinden eines natürlichen Vorgangs, der seit jeher latent vorhanden war
und nun zufällig aufgedeckt wurde. Seine Tätigkeit bestand darin, diesen Vorgang zu
beobachten und als allgemeines Gesetz zu formulieren. Durch den Begriff der Entde-
ckung verdeutlicht Talbot, dass er die Funktionen der Fotografie als etwas versteht,
das zwar von Forschern untersucht und reproduziert werden könne, sich jedoch au-
ßerhalb der menschlichen Einflusssphäre befinde. Die Fotografie unterliegt einer
eigenen, naturgemäßen Gesetzlichkeit; sie ist keine Erfindung, sondern kann, ebenso
wie andere physikalische und chemische Vorgänge nur aufgedeckt werden.29
Den Anwendungsmöglichkeiten widmet er sich in den Erläuterungen des Abbil-
dungsteils. Tafel II zeigt die Fotografie von chinesischem Porzellan. Sie kann als
„inventory describing“30 oder als „mute testimony“31, als stumme Zeugenaussage,
vor Gericht verwendet werden, sollten die Kostbarkeiten von einem Dieb entwendet
werden. Das Bild ersetzt also nicht nur die schriftliche Inventarliste, sondern ist
gleichzeitig ein gerichtsgültiges Dokument.
Der Fotografie fehle es daher an „poetischem Wollen“, sie sei lediglich eine „Sklavin der Reprodukti-on“, in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): aaO., S. 70-77, S. 74. 28 Talbot, William: Henry Fox: aaO., o.S.. 29 Talbot verwendet für die Fotografie auch den Begriff der „Invention“. Er wird jedoch lediglich für das Experimentieren mit verschiedenen optischen Geräten verwendet, mit deren Hilfe er die Fotogra-fie entdeckt hat. Solange es sich noch um Spekulationen handelt, spricht Talbot von „Invention“. Wenn er die naturwissenschaftlichen Gesetze beschreibt, verwendet er ausschließlich den Begriff „Discovery“. Dem Kultur-Natur-Dualismus, den Peter Geimer bei der Durchsicht des Talbotschen Werks entwirft, ist also zu widersprechen. Geimer, Peter: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit – Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 7-25, S. 15. 30 Talbot: aaO., o.S..
31 Talbot: aaO., o.S..
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
19
Fotografische Bilder besitzen für Talbot noch weitere Vorzüge: Sie zeichnen Dinge
auf, deren Existenz dem Fotografen zum Zeitpunkt der Bildherstellung nicht ins Au-
ge gefallen sind. Sie übersteigen also die menschliche Wahrnehmung, denn “it fre-
quently happens (...) that the operator himself discovers on examination, perhaps
long afterwards, that he has depicted many things he had no notion of at the time (...)
Sometimes a distant dial-plate is seen, and upon it – unconsciously recorded – the
hour of the day at which the view was taken“32. Zudem sind die Aufnahmen der Fo-
tografie so detailreich, wie sie kein Maler herzustellen vermag. Die Fotografie „will
enable us to introduce into our pictures a multitude of minute details which add to
the truth and reality of representation, but which no artist would take the trouble to
copy faithfully from nature“33.
Für die Tafel II, „View of the Boulevards at Paris“, gibt Talbot folgende Lesean-
weisung:
„His View was taken from one of the upper windows of the Hotel de Douvres, situated at the corner of the Rue de la Paix. The spectator is looking to the North-east. The time is after-noon. The sun is quitting the range of buildings adorned with columns: its facade is already in shade, but a single shutter standing open projects far enough forward to catch a gleam of sunshine. The weather is hot and dusty, and they have just been watering the road, which has produced two broad bands of shade upon it, which unite in the foreground, because, the road being partially under repair (...) A whole forest of chim-neys borders the horizon: for, the instrument chronicles what-ever it sees, and certainly would delineate a chimney pot or a chimney-sweeper with the same impartiality as it would the Apollo of Belvedere. The view is taken from a considerable height, as appears easily by observing the house on the right hand; the eye being necessarily on a level with that part of the building on which the horizontal lines or courses of stone ap-pear parallel to the margin of the picture“34.
Er beschreibt präzise die Abbildung eines Pariser Boulevards; das Licht- und Schat-
tenspiel, das sich an den Kolonnaden abzeichnet, den Glanz des Sonnenscheins auf
den Hausfassaden, die Wasserpfützen, die man wegen der großen Hitze auf dem 32 Talbot: aaO., o.S.. 33 Talbot: aaO., o.S..
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
20
Boulevard angelegt hatte. Talbot benennt verlassene Wagen und Geräte, welche für
Reparaturarbeiten, die derzeit auf der Straße stattfinden, benutzt wurden. Weit wich-
tiger als Talbots Gegenstandsbeschreibung ist jedoch die Einordnung der Fotografie
in den raum-zeitlichen Zusammenhang: Er gibt die Tageszeit an („The time is after-
noon“), den exakten Standpunkt („Rue de la Paix“) und die Himmelsrichtung
(„North-east“), von der aus die Ansicht aufgenommen wurde. Damit benennt er so-
wohl den Zeitpunkt der Entstehung, den Blickwinkel wie den Ort, von dem aus die
Kamera angesetzt wurde.
„The instrument chronicles whatever it sees“, unterrichtet er den Leser und betont
dabei, dass der fotografische Apparat unparteiische Bilder herstellt. Die Kamera ist
zudem eine Chronographin
des Vergangenen, welche
Ausschnitte eines Raum-
und Zeit-Zusammenhangs
wiedergibt. Sie zeichnet
alles auf, was sich ihrer Lin-
se darbietet – und zwar als
ein Protokoll eines „Hier
und Jetzt“, das durch einen
Zeitpunkt und einen spezifi-
schen Ort definiert wird.
Ihre Erzeugnisse sind Do-
kumente, die zweifellos das als Bild festhalten, was einmal gewesen ist. Das Mo-
menthafte wird haltbar gemacht und dem Strom der Veränderung entrissen.35 Die
Fotografie konserviert, friert ein und fixiert. Talbots „Zwang zur sprachlichen Verar-
beitung gründet geradezu in der Kluft zwischen der fotografischen Zeit der Fixierung
und der Zeit der Wahrnehmung, der vergangenen des Motivs wie der nachträglichen
Abbildung 1: William Henry Fox Talbot: „View of the Boulevards at Paris“, 1854, 24 x 30,5 cm in: „The Pencil of Nature“, 1854
34 Talbot: aaO., Plate II., o.S..
35 Seine frühen Versuche, mit optischem Gerät zu experimentieren, sind von diesem Streben gekenn-zeichnet. „Während dieser Überlegung kam mir der Gedanke (...), wie bezaubernd es wäre, könnte man diese natürlichen Bilder dazu veranlassen, sich dauerhaft einzudrücken, um festgehalten zu blei-ben auf dem Papier“. Zitiert nach: Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit – die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Berlin 1988, S. 26.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
21
des Bildes“36. Die Fotografien sind für Talbot Zeugnisse einer vergangenen Wirk-
lichkeit, in deren Verlauf die Kamera-Technik eingebrochen ist und die im Augen-
blick der Aufnahme abreißt. Die im Bild angehaltene und aufgehobene Zeit soll an-
schließend durch den Text dem Leser zurückgegeben werden.
Talbots Beschreibung der Tafel III liefert aber noch ein weiteres Charakteristikum
des Fotografischen: Talbot berichtet von den Umständen der Bildherstellung und
beschreibt den Standpunkt, den er für die Anfertigung der Fotografie gewählt hat: Er
hat die Kamera vor eines der oberen Fenster des Hotel de Douvres aufgestellt und
durch die geöffneten Fensterflügel die Aufnahmen hergestellt. Die fotografischen
Abbildungen zeigen also nicht nur Raum-Zeit-Fragmente, sondern eine spezifische
Sicht des Boulevards. Sie repräsentieren den Blick durch ein Fenster.
Bereits in seinem ersten erhaltenen Negativ, das Talbot im Jahr 1835 anfertigte, zeigt
sich sein Interesse, die Fotografie als Äquivalent eines Fensterblicks zu verstehen:
„Ein lila gefärbtes Stück dünnes Papier, eine wirklich unscheinbare Prospettiva, ein
Blick auf und gerade noch durch das Fenster, hinter dem nur undeutlich Konturen
einiger Bäume und eines Gebäudes zu sehen sind. Aber es ist im Wesentlichen der
Blick nach außen, der eine solche Faszination auf den Betrachter ausübt. Talbot hat
später andere Ansichten photographiert, wobei wie auch hier der Rahmen oder der
leicht geöffnete Fensterflügel immer der Ikonographie des Bildes zugehörten“37.
Talbots Fotografien sind Ausblicke auf die Welt des Sichtbaren, deren Oberfläche
sich in den Kamera-Bildern selbst abbildet.
In der Beschreibung der Tafel II, die Geschirr in Regalen zeigt, führt Talbot einen
weiteren wichtigen Gedanken ein. Er benennt die Analogie zwischen der Fotokamera
und dem menschlichen Auge, die besonders für die Untersuchung der Fotografien
von Jeff Wall später von Wichtigkeit sein wird.38 Diese Eigenschaft ist zwar nur ein
sekundäres Merkmal des Fotografischen, der Augenvergleich ist nicht zwangsläufig
36 Busch, Bernd: Fotografie / fotografisch – die sogenannten Entdecker, in: Barck, Karlheinz / Fonti-us, Martin / Schlenstedt, Dieter / Steinwachs, Burkhart / Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2001, S. 496-553, S. 501. 37 Amelunxen, Hubertus von: aaO., S. 27.
38 Dazu das Kapitel D.II. der vorliegenden Arbeit.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
22
an die Kameratechnik gebunden, er zeigt jedoch, dass sich seit Beginn der fotografi-
schen Praxis eine Verknüpfung von Auge und Kamera finden lässt.39
„The articles represented on this plate are numerous. But, how-ever numerous the objects – however complicated the arrange-ment – the Camera depicts them all at once. It may be said to make a picture of whatever it sees. The object glass is the eye of the instrument – the sensitive paper may be compared to the ret-ina. And the eye should not have too large a pupil: that is to say, the glass should be diminished by placing a screen or a diaphragm before it, having a small circular hole, through which along the rays of light may pass. When the eye of the instrument is made to look at the objects through this contracted aperture, the resulting image is much sharp and correct.“40
Das Objektiv der Kamera wird als Auge des Instruments beschrieben und der Film,
auf dem sich die empfangenen Bilder abdrücken, als Netzhaut. Die fotografischen
Bilder sind – ebenso wie die des Auges – nach den Gesetzen der Perspektive organi-
siert. Dinge, die im Hintergrund liegen, sind kleiner als Gegenstände, die sich im
Vordergrund befinden.41
Bilder, welche die Kamera aufzeichnet, sind an die perspektivische Verkürzung ge-
bunden. Der Film der Kamera kann nur das darstellen, was durch das Objektiv an
Lichtstrahlung vermittelt wird. Die Wellenfronten, die von Objekten ausgesendet
werden, verlieren an Lichtintensität, je weiter sie vom Objektiv entfernt sind. Die
Substanzen der Filmemulsion, auf die ein niedriger Strahlenbeschuss erfolgt, werden
in einer geringeren Stärke zur Veränderung angeregt, als diejenigen, die durch nahe
Objekte starker Strahlung ausgesetzt sind. Der Grund für die perspektivische Ver-
kürzung liegt also in der Intensität der reflektierenden Lichtstrahlung, die den Film
erreicht.42 Der Straßenzug von Abbildung 1, den Talbot beschreibt, muss sich als
39 Diese Denkfigur findet sich sowohl bei William Henry Emerson wie bei Heinrich Kühn. Während Emerson aus piktorialistischer Perspektive argumentiert, bezieht sich Kühn auf die Wahrnehmungs-theorie des Physiologen Hermann Helmholtz. Ullrich, Wolfgang: Unschärfe, Anitmodernismus und Avantgarde, in: Geimer, Peter (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit – Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 381-412. 40 Talbot, William Henry Fox: aaO., o. S.. Die kursive Hervorhebung findet sich auch in Talbots Ori-ginaltext. 41 Der Aufsatz von Linsen unterschiedlicher Brennweite ermöglicht es zwar, entfernte Gegenstände näher an den Vordergrund zu rücken, Talbots Instrumentarium bot jedoch nicht die Tele- und Weit-winkelfunktion, die heute im Gebrauch sind.
42 Zajonc, Arthur: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, Hamburg 1993. Besonders das Kapitel: die Anatomie des Lichts, S. 76-120.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
23
Raumflucht organisieren, denn die Gegebenheiten der Fotografie funktionieren nach
den Gesetzen der Physik, genauer, sie folgen den Gesetzen der Optik. Die Wiederga-
be der Außenwelt durch die Fotografie hat dadurch Ähnlichkeit mit den Abbildun-
gen, die durch die Gesetze der Zentralperspektive erhalten werden. Die Perspektive
“rationalisiert mit Hilfe der mathematisch konstruierten Perspektive den Bildraum
bis zum letzten Punkt auf den Betrachter hin“43 – ebenso wie die Fotografie mittels
physikalischer Gesetze.
Für Talbot ist dies ein Grund, um seine Entdeckung auch dilettierenden Künstlern zu
empfehlen, denen die Fotografie Erleichterung in der Darstellung der Räumlichkeit
bieten könne: „those amateurs especially, and they are not few, who find the rules of
perspective difficult to learn and to apply (...) prefer to use a method which dispenses
with all that trouble.“44
Bevor ausschnitthaft die Geschichte der Fotografie skizziert wird, sollen nun Talbots
Definitionen zusammengefasst werden: Talbot apostrophiert in seinen Ausführungen
die Merkmale des neuen Mediums und die Neuartigkeit der Fotografie. Talbot betont
die Abwesenheit des gestaltenden Subjekts. In der Fotografie bilden sich Gegenstän-
de und die Dinge der Natur quasi von selbst ab. Es ist der Zeichenstift der Natur
(„Pencil of Nature“), der die Darstellung liefert. Der Fotograf setzt lediglich einen
Vorgang in Gang, der sich jedoch nach eigenen Gesetzen, ohne menschliche Inter-
vention vollzieht. Es sind die Gesetze einer Maschine, eines Apparates, die optisch
und chemisch funktionieren. Dieses Instrument liefert „stumme Zeugenaussagen“
und detailreiche Abbildungen einer Apparatur, die unbewusst aufzeichnet („uncons-
ciously recorded“). Die Gegenstände zeigen sich als authentische „self-
representations“ in den Abbildungen, in welche sich die Zeit der Aufnahme einge-
schrieben hat und versiegelt wurde. Nach Talbots Beschreibung sind Fotografien
„Augenblicke“, die durch die optischen Gesetze der Kamera die perspektivische
Wahrnehmung des Betrachters weiterführen. In unendlicher Vielzahl lassen sich die-
43 Stelzer, Otto: Kunst und Photographie – Kontakte, Einflüsse, Wirkungen, München 1966, S. 52.
44 Talbot: aaO., o.S.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
24
se Selbstabbildungen der Natur reproduzieren.45 Sie sind unbestechliche Produkte
eines Instruments, das nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten operiert.
B.II. Talbots Schlüsselbegriffe in der Fotogeschichte
B.II.1. Charles Baudelaire, das „Neue Sehen“, Walter Benjamin
Seit ihrer Entstehung wird die Fotografie von einem semantischen Feld bestimmt,
das die Selbstabbildung der Natur und das maschinelle Registrieren zum Thema hat.
Um diesen „begrifflichen Kern“ kreisen die Argumente, in denen entweder für eine
Ablehnung oder eine Befürwortung der Fotografie plädiert wird. Das Fotografische
ist damit ein Paradigma einer spezifischen Sichtbarkeit, die erstmals 1839 von der
Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Elemente dieses Paradigmas werden isoliert,
verabsolutiert und sind stilprägend für bestimmte fotografische Ausrichtungen. Auch
wenn sich die Bilder, welche die Fotografen des „Neuen Sehens“ herstellen, von
denen unterscheiden, die 40 Jahre früher von Piktorialisten angefertigt wurden, so
beziehen sie sich doch auf das, was das Fotografische ausmacht – nur dass die
Künstler des 19. Jahrhunderts das Fotografische negieren, die des 20. Jahrhunderts es
forcieren. Fotografie ist und bleibt ein Bildmedium, das durch einen Apparat produ-
ziert wird und nur aufgrund seiner spezifischen, technischen Eigenschaften funktio-
niert. Die Geschichte der Fotografie schreibt sich somit immer als Verhältnis zu ih-
ren technischen Voraussetzungen fort.
Deutlich wird dies in den Vokabeln, die für die inszenierte Fotokunst unserer Ge-
genwart verwendet werden. Zeitgenössische Künstler wie Lois Renner, Thomas De-
mand oder die Becher-Schüler Andreas Gursky und Axel Hütte stellen „echte Fäl-
schungen“ oder „true lies“46 her; sie operieren mit dem Paradox aus fiktionalem An-
spruch und physikalischer Gesetzmäßigkeit des Mediums. In der kalkulierten Über- 45 „The number of copies which can be taken from a single original photographic picture, appears to be almost unlimited“. William Henry Fox Talbot, aaO., o.S.. 46 Mit dem Titel „Echte Fälschung“ wurde der Artikel von Andreas Langen in der Stuttgarter Zeitung vom 17. März 2004 überschrieben. Er rezensierte eine Fotoausstellung der Lois-Renner-Schüler, die in der Galerie der Stadt Backnang zu sehen war. Unter dem Titel „True Lies“ wurde zwischen 16.1
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
25
schreitung der Technik positionieren sie sich, ebenso wie Jeff Wall, gegenüber einem
Sachverhalt, der seit der Erfindung der Technik diskutiert wird.
Doch zurück zu den frühen Jahrzehnten der Fotografie. In den Naturwissenschaften,
in denen das Foto um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Handzeichnung ablöste,
wurde die neue Abbildungstechnik mit Begeisterung aufgenommen.47 Während das
mechanische Produzieren von dokumentarischen Bildern in der Medizin oder Astro-
nomie dem Streben nach wissenschaftlicher Objektivität entsprach, wurde die Foto-
grafie aufgrund ihrer maschinellen, geistlosen Bildproduktion von den bildenden
Künstlern abgelehnt. Kurz nach der Veröffentlichung der Fotografie meldeten sich
kritische Stimmen, welche die Merkmale, die von Talbot bereits vorgestellt wurden,
für eine Zurückweisung des Mediums angaben: die Detailgenauigkeit, die Trennung
von Geist und Hand, der Mangel an künstlerischer, subjektiver Einflussnahme, der
Verlust des Ausdrucks, der Fantasie und des Genies.48 „Die Fotografien sind derzeit
zu buchstabengetreu, um mit Kunstwerken konkurrieren zu können (...) die wunder-
barsten Details mikroskopischer Fotografien überfordern die Nachahmung durch
Menschenhand, aber sie sind keine Kunstwerke“49, proklamierte John Leighton in
seiner Rede vor der Photographic Society in London 1853. Der Landschafts- und
Reisefotograf Francis Frith schreibt in seinem Artikel „Die Kunst der Fotografie“
1859: „Ganz offenkundig und grundlegend für ihre Popularität ist ihre wesentliche
Genauigkeit in der Wiedergabe der Umrisse und in beträchtlichem Maße auch der
Perspektive und von Licht und Schatten (...) Tatsache ist, dass die Fotografie zu
wahrheitsgetreu ist. Sie besteht darauf, uns „die Wahrheit und nichts als die Wahr-
heit“ zu geben“50.
und 28. 3. 2004 im Franz-Gertsch-Museum im schweizerischen Burgdorf eine Ausstellung zur Ge-genwartsfotografie und -videokunst gezeigt. 47 Lorraine Daston und Peter Galison beschreiben in ihrem Aufsatz „Das Bild der Objektivität“ eine Veränderung in der Erstellung von Bildatlanten für die Anatomie während des 19. Jahrhunderts. Sie skizzieren einen Wechsel vom Typischen, Ausgewählten und Normativen zum Einzelfall und Indivi-duellen unter der Bezugnahme auf die fotografische Technik. Daston, Lorraine / Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit – Fotografie in Wissen-schaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main, S. 29-99. 48 Zum Problem der Detailliertheit in der Fotokunst siehe: Brückle, Wolfgang: Einzelheiten über Ein-zelheiten, in: Brückle, Wolfgang / Henning, Andreas / Pfarr, Ulrich (Hrsg.): Photo-Kunst – 1852-2002, Ostfildern 2003, S. 4-13. 49 Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie – 1839-1912, München 1980, S. 91-93, S. 91.
50 Kemp, Wolfgang: aaO., S. 100-103, S. 101.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
26
Charles Baudelaire führt in seinem Aufsatz „Die Fotografie und das moderne Publi-
kum“ an: „Wenn es ihr erlaubt wird, sich auf die Domäne des Geistes und der Phan-
tasie auszuweiten, auf all das was nur durch die Seele des Menschen lebt, dann wehe
uns! (...) Das Verhältnis von Fotografie und Kunst ist und soll wie das Verhältnis
von Buchdruck und Literatur sein, ein dienendes.“51 Negativbearbeitung, Bromöl-
drucke, Unschärfe, kurz die Anleitungen, die im 19. Jahrhundert für die Bildbearbei-
tungen gegeben werden, sind die Antworten auf den Vorwurf, das Medium könne
nur durch eine subjektive Gestaltung „Durchgeistung“ und Relevanz erreichen.
Das ändert sich in dem Moment, als die Fotografie unter einem neuen Blickwinkel
betrachtet wird. Was zuvor ein Manko war, wird nun als Maschinenkunst in Scha-
dographien oder Fotogrammen gefeiert. Das Bewußtwerden dieser Möglichkeit hätte
dahin geführt, Existenzen, die mit unserem optischen Instrument, dem Auge nicht
wahrnehmbar oder aufnehmbar sind, mit Hilfe des fotografischen Apparates sichtbar
zu machen; d.h. der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Au-
ge, vervollkommnen bzw. ergänzen“52, schreibt Laszlo Moholy-Nagy 1927 im ach-
ten Band des Bauhausbuches. Die Einheit von Kunst und Technik als ästhetisches
Gestaltungsprinzip, das Moholy-Nagy am Bauhaus verfolgte, konnte nun mit Hilfe
der Fotografie verwirklicht werden.53„Es kommt der neue Fotograf?“54 verkündet
Werner Gräff 1929 anlässlich der Werkbundausstellung „Film und Foto“; Alexander
Rodtschenko proklamiert 1931: „In der Fotografie gibt es alte Blickwinkel, Stand-
punkte des Menschen, der auf der Erde steht und geradeaus blickt, oder wie ich es
nenne, Aufnahmen vom Bauchnabel aus, den Apparat am Bauch“55.
51 Kemp, Wolfgang: aaO., S. 110-113, S. 111. 52 Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei – Fotografie – Film, Bauhausbücher, 8, München 1927, S. 26. 53 Die Verbindung von Technik und Kunst am Bauhaus stellt Hans Belting dar. „Das unsichtbare Meisterwerk – die modernen Mythen der Kunst, München 1998, besonders das Kapitel: Kunst und Technik – der Wandel des Bauhauses, S. 385-388. 54 Gräff, Werner: Es kommt der neue Fotograf, Berlin 1929.
55 Zitiert nach Weiss, Evelyn (Hrsg.): Alexander Rodtschenko – Fotografien 1920-1938, München 1978, S. 51. Zur Fotografie von Rodtschenko siehe auch: Vöhringer, Margarete: Faktografie – Foto-grafie als Fakt, in: Belting, Hans / Schulze, Ulrich (Hrsg.): Beiträge zur Kunst und Medientheorie – Projekte und Forschung an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Ostfildern 2000, S. 133-155.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
27
Das „Neuen Sehen“ kultiviert, was Talbot als „unconsciously recorded“, als unbe-
wusstes Aufzeichnen, beschrieben hatte.56 Die Fotografie kann dasjenige darstellen,
was der Aufmerksamkeit des Fotografen bei der Herstellung entgeht und erst nach
der Entwicklung des Abzugs verwundert im Bild aufgefunden wird.57 Türme mit
Uhren wie bei Talbots Fotografie des „Queens College“ oder Strukturen, bloß geleg-
te Gegenstände, die sich der Kamera bei Moholy-Nagy oder Alexandr Rodtschenko
als Kompositionen aus Licht und Schatten offenbaren. Als das „Optisch-Unbewußte“
erscheint es in Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni-
schen Reproduzierbarkeit“. Es wird „handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die
zur Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle
eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums, ein unbewußt durchwirk-
ter tritt (...). Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie“58.
B.II.2. Talbots „Abdruck“ und die semiotische Fototheorie von Rosalind Krauss
Dem unbewußten Registrieren korrespondiert die Eigenschaft der Fotografie, Abbil-
dungen herzustellen, in denen sich die Objekte durch reflektierte Strahlung abdrü-
cken. Im Vorwort des „Pencil of Nature“ weist Talbot den Leser darauf hin, „how
charming it would be if it were possible to cause these natural images to imprint
themselves durably, and remain fixed upon the paper!“59. Mit seiner Entdeckung hat
er diesen Anspruch eingelöst: Kamera-Bilder sind Abdrücke (imprints), die sich auf
dem Papierabzug dauerhaft eingeschrieben haben.
56 Zur fotografischen Richtung des „Neuen Sehens“: Kemp, Wolfgang: Das neue Sehen – Problemge-schichtliches zur fotografischen Perspektive, in: ders.: Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 1978. 57 Michelangelo Antonioni machte diesen Sachverhalt zum Thema seines Filmes „Blow up“. 58 Benjamin Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1994, S. 10-44, S. 36. Die Geist-Fotografie okkulter Zirkel um 1900 ging ebenfalls davon aus, dass die Kamera die Fähigkeit besitze, Dinge aufzuzeichnen, die das menschliche Auge nicht wahrnehmen könne. Dazu: Emslander, Fritz: Geisterfotografen, in: Bilstein, Johannes / Winzen, Matthias (Hrsg.): Seele – Konstruktionen des Innerlichen in der Kunst, Nürnberg 2004, S. 58-65.
59 Talbot, Henry Fox: aaO., o.S.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
28
In den 60er-Jahren kehrt mit der Concept Art Talbots Begriff des „imprints“ in der
Fototheorie der Indexikalität wieder.60 Unter Bezugnahme auf die Sprachphilosophie
von Charles Sanders Peirce wird der Abdruck talbotscher Prägung in ein zeichenthe-
oretisches Rahmenwerk eingepasst, angereichert und erweitert sowie als eigenstän-
diger Bildtypus ausgewiesen.
Alle drei Typen der peirceschen Semiotik – Index, Ikon und Symbol – definieren
eine Relation zwischen einem Zeichenträger und seinem Designat. Der Zeichenträger
ist ein Gegenstand, auf dem die Zeichen inskribiert sind. Er kann verschiedene Stoff-
lichkeiten haben oder ganz auf eine materielle Natur verzichten. Rauch oder roter
Lippenstift am Kragen können ebenso als Zeichenträger fungieren wie elektrische
Signale. Sie bezeichnen ein Objekt, das in der formalen Logik mit dem Begriff „De-
signat“ belegt wird. Auf das Designat wird verwiesen, es wird durch das Zeichen
dargestellt. Ikon, Symbol oder Index referieren auf das Designat und liefern dadurch
verschiedene Modelle, um ihr relationales Verhältnis zu beschreiben. Sie stellen un-
terschiedliche Referenzformen und Rezeptionsformen dar: Während das Ikon mit
dem Modus der Ähnlichkeit operiert, funktioniert das Symbol durch Konvention. Es
ist ein Zeichen, das durch Übereinkunft gefunden wird, willkürlich gesetzt wird und
nur mit einem entsprechenden Code zu dechiffrieren ist. Die Wörter beispielsweise,
durch welche dieser Text aufgebaut ist, basieren auf einer gesellschaftlichen Kon-
vention, die ein verbindliches Alphabet liefert und jedem Laut einen bestimmten
Buchstaben zuweist. Im Gegensatz zum symbolischen Zeichen wird der Index durch
einen natürlichen Zusammenhang mit dem Bezeichneten definiert. Sein Objektbezug
ist unmittelbar rekonstruierbar, beruht jedoch nicht auf einer sinnlich wahrnehmba-
ren Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Designat. Ein Fingerabdruck auf einer Mord-
waffe ist beispielsweise ein indexikalisches Zeichen für den Benutzer dieser Waffe.
Dieser Abdruck operiert im Modus der Kausalität und wird durch eine physikalische
Verbindung mit dem Bezeichneten bestimmt. Er macht sich geltend als Spur und
Markierung und bezieht seine Triftigkeit aus einer chemischen oder physikalischen
Beziehung zur Wirklichkeit. Der Index garantiert Präsenz.
60 Besonders dazu Metzger, Rainer: Indexikalität und Alienation, in: ders.: Kunst in der Postmoderne – Dan Graham, Köln 1994, S. 114-132.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
29
Peirce’ Sprachphilosophie wird in den 60er- und 70er-Jahren in die bildende Kunst
überführt und bildet eine Allianz mit ästhetischen Kategorien61. Was sich bei Peirce
noch auf „spekulative Grammatik“ oder „die Physiologie der Formen“62 bezog, wird
nun mit genuin künstlerischen Fragestellungen belegt. Die theoretischen Ressourcen
von Strukturalismus und Semiotik dienen der Kunst als Feld, in dem Homologien
sich auf der Zeichenebene statt über geschichtlich wandelbare Stile einstellen. Wenn
Robert Rauschenberg Ende der 50er-Jahre einen eingefärbten Autoreifen über eine
sieben Meter lange Papierbahn rollt und anschließend den „Automobile Tire Print“
in die Vertikale befördert, propagiert er ebenso eine indexikalische Kunst wie Yves
Klein, der für die „Anthropomètries“ die Spuren von bemalten Frauenkörpern auf
Papier festhält. Beiden beschert der Index ein Dokument der Wirklichkeit; ein Real-
Phänomen fixiert sich selbst als Zeichen. Indexikalität ist nun nicht mehr nur eine
zweiwertige Relation, sondern eine artistische Verfasstheit, sie wird zum künstleri-
schen Programm.
Die Apologetin des Index’ in der Fototheorie ist Rosalind Krauss.63 1977 erscheint
in der Zeitschrift „October“ ihr Aufsatz „Notes on Index: Seventies’ Art in America“
indem sie die „photographic condition“64 als gemeinsames Merkmal der Gegen-
wartskunst beschreibt. In ihrer Charakterisierung des Fotografischen bezieht sie sich
auf Talbots Schlüsselbegriff des Abdrucks; Fotografie ist ein „physical imprint“.
„The photogram only forces, or makes explicit what is the case of all photography. Every photograph is the result of a physical imprint transferred by light reflections onto a sensitive surface.
61 Metzger, Rainer: Kunst in der Postmoderne, Köln 1994. 62 Peirce spricht in seinem „Syllabus of Certains Topics of Logic“ von diesen Gegenständen seiner Zeichentheorie. Pape, Helmut: Charles S. Peirce – Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/Main 1983. 63 Krauss steht mit ihrem Ansatz nicht alleine: Auch Philippe Dubois sieht in der Fotografie auf die Strategie des Spurenlegens. Dubois, Philippe: Der Fotografische Akt – Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden 1998. Ebenso: Schulz, Martin: Körper sehen – Körper haben? – Fragen der bild-lichen Repräsentation, in: Belting, Hans / Kamper, Dietmar / Schulz, Martin (Hrsg.): Quel Corps? – eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 1-25, besonders das Kapitel: Die photographische Spur, S. 20-25; Frohne, Ursula: Berührung mit der Wirklichkeit – Körper und Kontingenz als Signa-turen des Realen in der Gegenwartskunst, in: Belting, Hans (Hrsg.): aaO., S. 401-426; Didi-Hubermann, Georges: Ähnlichkeit und Berührung – Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999; Wyss, Beat: Das indexikalische Bild, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Ge-schichte und Ästhetik der Fotografie, 76, 2000, S. 3-11.
64 Krauss, Rosalind: Anmerkungen zum Index, in: Harrison, Charles / Wood, Paul (Hrsg.): Kunsttheo-rie im 20. Jahrhundert, Ostfildern 1998, S. 1203-1209, S. 1203.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
30
The photograph is thus a type of icon, or visual likeness, which bears an indexical relationship to its object. Its separation from true icons is felt through the absoluteness of this physical gene-sis, one that seem to short-circuit or disallow those processes of schematization or symbolic intervention that operate within the graphic representation of most paintings. If the Symbolic finds its way into pictorial art through the human consciousness oper-ating behind the forms of representation, forming a connection between objects and their meaning this is not the case for pho-tography.“65
Indexikalität arbeitet als Bedeutungsproduktion mit reiner Präsenz, während ästheti-
sche Konventionen und künstlerische Autorenschaft hier ausgeschaltet sind. „Die
Funktionsweise des Index’ in der Kunst der Gegenwart, die Weise, in der er die
hochdifferenzierte Sprache ästhetischer Konventionen (und die Art von Geschichte,
die sie codieren) durch die Registrierung nackter physischer Präsenz ersetzt wird
(...)“66 findet Krauss in der Arbeit Marcel Duchamps.
Duchamps Beziehung zum Thema des indexikalischen Zeichens, die Weise, wie sei-
ne Kunst als Matrix für gegenwärtige Konzeptionen dient, beschreibt Krauss als äs-
thetischen Präzedenzfall. Seine Arbeit „Das Große Glas“, das zwischen 1915 und
1923 entstand, ist für Krauss eine Spielart der Fotografie: „nicht nur die Markierung
der Oberfläche mit Beispielen des Index und die Verteilung von Bildern als physi-
sche Substanzen innerhalb des Bildfeldes, sondern auch die Undurchdringlichkeit
des Bildes im Bezug auf seine Bedeutung“67, charakterisiert Duchamps Strategie.
Noch deutlicher formuliert Krauss ihre These in der 1998 entstandenen Schrift über
das Fotografische. Sie signalisiert bereits durch das Frontispiz ihre Fotografie-
Konzeption. Es zeigt eine Arbeit des französischen Künstlers Roger Parry. Die 1930
entstandene Fotografie stellt eine Handfläche dar, die gegen eine Glasscheibe ge-
presst wird und deutlich ihre Druckspuren vorführt. Diese Fotografie beschreibt kei-
ne Handlung – bezeichnender Weise hat sie Parry als „Sans Titre“ bezeichnet. Sie ist
buchstäblich bloßer Abdruck und verweist darauf, dass Krauss Indexikalität als
„Kardinaltugend“ des Fotografischen versteht. „Die Photographie kann nur über die
65 Krauss, Rosalind: Notes on the Index: Seventies Art in America, in: October – The First Decade, 1976-1986, Cambridge / Massachusetts, 1987, S. 2-15., S. 9. 66 Krauss, Rosalind: aaO., S. 1206.
67 Krauss, Rosalind: aaO., S. 1208.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
31
Direktheit einer physischen Pfropfung verlaufen: Wie ein Fußabdruck im Sand ist sie
an die Tätigkeit des direkten Eindrückens gebunden“68. Daher ist die Fotografie un-
trennbar mit dem verbunden, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen ist. Die
wesentliche Eigenschaft des Mediums ist dadurch bestimmt, Spuren des je Dagewe-
senen zu zeigen.
In ihrem Aufsatz über den französischen Fotogra-
fen Nadar macht Krauss deutlich, dass die indexi-
kalische Spur in einem raum-zeitlichen Zusam-
menhang steht: Nadar konzentriert „seine Auf-
merksamkeit wiederum auf die physische Nähe,
die ihr absolutes Erfordernis ist, auf den Sachver-
halt, daß – egal, wie irgend ein anderes System
der Informationsübertragung arbeiten mag – die
Photographie von einem Akt der Passage zwi-
schen zwei Körpern im selben Raum abhängt“69.
Damit das Aufzeichnungsgerät arbeiten kann,
müssen Gegenstände anwesend sein. Der indexi-
kalische Abdruck liefert also etwas, was die Ver-
fassung von Objekten zu einem spezifischen Augenblick darstellt und deren Verän-
derung angehalten hat. Durch die Indexikalität ist jede Fotografie ein Dokument der
Wirklichkeit, eine Zeitzeugin im buchstäblichen Sinn. Sie hat aus dem Verstreichen
der Zeit einen Punkt isoliert. Da der Verlauf von Zeit nur an Objekten sichtbar ist,
die sich an einem Ort befinden, haben sich diese raumzeitlichen Determinanten eben-
falls eingeschrieben.
Abbildung 2: Frontispiz von Rosalind Krauss' Schrift "Das Photographische – eine Theorie der Abstände" von 1998
Innerhalb der Fotografiegeschichte hat sich gezeigt, dass dieser Sachverhalt nicht
zwangsläufig als Qualität der Fotografie bewertet wird. Kritisch formuliert bereist
1927 Siegfried Kracauer: „Die Fotografie versammelt Fragmente um ein Nichts. Als
die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für einige Sekunden in einem
Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt ist aber statt der
Großmutter jener Aspekt (...). Nicht der Mensch tritt ins einer Fotografie heraus, 68 Krauss, Rosalind: Das Photographische – eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 23.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
32
sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem
sie ihn abbildet“70. Für Kracauer ist jede Fotografie ein Inventar verschiedener Frag-
mente und Details, denen aber eine innere Einheit fehlt, da eine solche Einheit nur
auf der Ebene des Gemeinten, des Sinns und der Bedeutung entsteht.71 Die Fotogra-
fie stellt bloße Äußerlichkeit dar, die mit seiner Erfahrung und Vorstellung nicht
übereinstimmt.
Kracauers Vorwurf der fotografischen Darstellung bloßer Sichtbarkeit wird von Ro-
land Barthes’ Text „Die helle Kammer“ aus dem Jahr 1980 aufgegriffen. Barthes
nimmt sich eine Fotografie seiner verstorbenen Mutter vor und versucht sie darin
wiederzufinden. Und ebenso wie bei Kracauer bleibt sein Versuch vergeblich. Statt
seiner Mutter sieht Barthes nur unpersönliche Gegenstände, die auf die Mode einer
früheren Zeit verweisen. Das innere Wesen, die wahre Identität entzieht sich der fo-
tografischen Wiedergabe, da diese nur oberflächliche Details darzustellen vermag.
Was sie zeigt, „ist so gewesen“. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Oberflächendar-
stellung zwangsläufig alle Facetten des Menschen, beziehungsweise der Erinnerung,
die man von diesem Menschen hat, miteinschließt.72
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich durch Talbots Charakterisierung des
neuen Mediums Denkmuster innerhalb der Fotografiegeschichte etabliert haben, die
sich in drei Punkten ausprägen:
1. Die Fotografie wird durch einen Apparat erzeugt, der die künstlerische Einfluss-
nahme ausschließt.
2. Fotografien stehen in einem spezifischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Sie sind an
die Präsenz der abgebildeten Gegenstände gebunden. Auf ihrer Oberfläche haben
sich die Gegenstände der äußeren Welt abgedrückt und eingeschrieben.
3. Diese fixierten Spuren des Dagewesenen sind aus einem raum-zeitlichen Zusam-
menhang isoliert worden. 69 Krauss, Rosalind: aaO., S. 25. 70 Kracauer, Siegfried: Die Photographie, in: ders.: Der verbotene Blick, Leipzig 1992, S. 185-202, S. 196. 71 Dazu: Groys, Boris: Die Wahrheit der Fotografie, in: ders.: Logik der Sammlung am Ende des musealen Zeitalters, München 1997, S. 127-144.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
33
Ob es sich um die stumme Zeugenschaft oder um die Möglichkeit der Selbstabbil-
dung handelt, es hat sich gezeigt, dass das Fotografische nur abhängig von seinen
technischen Möglichkeiten gedacht werden kann. Die fotografische Technik liefert
das Paradigma einer spezifischen Sichtbarkeit, die nur in Relation zu ihren techni-
schen Voraussetzungen konstruiert werden kann. Ihrer „natürlichen Magie“73 oder
der Analogie von Fotografie und Acheiropoieta, den nicht von Künstlerhand angefer-
tigten Christus-, Marien- oder Heiligenbildern, wie sie Didi-Hubermann postuliert,
liegt immer die maschinelle Apparatur zugrunde.74 Als Medium kann Fotografie
dadurch niemals Kunstanspruch haben. Lediglich der Blick und die Verwendung
dieses Mediums stehen für einen intentionalen Gebrauch, der auf eine künstlerische
Verwendung schließen lässt. Was sich an der Fotografie ändert, ist also nicht das
Fotografische, sondern sind der Kontext und die Ansprüche, denen das Fotografische
ausgesetzt wird. Die Geschichte der Fotografie unterliegt darum einem Verlauf ver-
schiedener Erwartungen und künstlerischer Bilddefinitionen und zeugt von der Wei-
se, in der sie als Idee einer wahrheitsgemäßen Repräsentation von Wirklichkeit kon-
struiert, instrumentalisiert oder überlistet wird.75 Dieser Sachverhalt gilt auch für Jeff
Wall. Seine künstlerische Arbeit definiert sich anhand dessen, was das Selbstver-
ständnis des Fotografischen ist.
„Meine Generation begann ihre fotografische Arbeit mit einer Art Kampf gegen das, was aus dem Medium oder der Kunstform ge-worden war, was sie ihrem Selbstverständnis nach geworden war. (...) Lange Zeit musste man gegen die traditionelle Ästhetik der Fotografie streiten, die vom Gedanken des Faktischen ausgeht, und gegen den Anspruch der Faktizität, den die Fotografie sowohl in der Kunst, wie auch außerhalb von ihr erhebt. Ich weise zwar
72 Barthes Suche nach dem Bild seiner Mutter wird jedoch mit einer anderen Fotografie beendet. Die-ses Foto zeigt seine Mutter als Kind, das heißt zu einem Zeitpunkt, von dem Barthes keine erlebte Anschauung von ihr gehabt haben kann. 73 Talbot, William Henry Fox: aaO., o.S. 74 Didi-Huberman, Georges: The Index of the Absent Wound (Monograph on a stain), in: October, 29, 1994. S. 68. Weitere Aufsätze finden sich in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika – aktuelle Perspektiven der zeitgenössischen Fotografie, Zürich 1998.
75 Ronald Berg hat in seiner Studie über Talbot, Benjamin und Barthes das Fotografische als „roten Faden“ innerhalb eines intertextuellen Geflechts der drei Autoren dargelegt und anschließend die unterschiedlichen Gewichtungen dargestellt. Er kommt zum Ergebnis, das Fotografische bei Talbot als Registrieren, bei Benjamin als Wahrnehmen und bei Barthes als Imaginieren zu beschreiben. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
34
diesen Anspruch nicht zurück, aber ich glaube nicht, dass man auf ihn eine Ästhetik der Fotografie – der Fotografie als Kunst – gründen kann. Ich dachte, ich könnte dieses Problem dadurch lö-sen, dass meine Fotografien den Anspruch auf Faktizität suspen-dieren, jedoch nicht ohne den Betrachter zu einer Auseinanderset-zung mit der Frage der Faktizität zu zwingen. Das habe ich zum Teil dadurch zu erreichen versucht, dass ich die Beziehung zu an-deren bildnerischen Medien hervorgehoben habe (...) Das war für mich so etwas wie eine Mimesis an die anderen Künste, etwas, was nur in der Fotografie möglich war. Erst später stellte ich fest, dass diese Mimesis auf einer Basis stattfand, die die Fotografie selbst geliefert hatte.“76
Wall arbeitet mit einem Medium des Faktischen, mit der Technik, die anhand von
Talbots Kernbegriffen beschrieben wurde. Qua Technik sind Walls Fotografien e-
benso wie Talbots Kalotypien Erzeugnisse eines optischen und chemischen Prozes-
ses. Sie sind „Ikonen des Realen“77, die an die faktischen Gegebenheiten gebunden
sind, und arbeiten ausschließlich in einer indexikalischen Relation.
Für die technische Genese ist dieser Sachverhalt eine unumstößliche Gesetzmäßig-
keit – für Walls künstlerische Zielsetzung jedoch keine zwingende Vorgabe: „Jahre-
lang wurde die Beschäftigung mit Fotografie vor allem durch die Beschäftigung mit
der Frage vorangetrieben, wie man sich von den orthodoxen Haltungen absetzen
konnte“78, beschreibt er seinen Ansatz, den er seit Mitte der 70er-Jahre verfolgt. Die
technische Konstitution wird dabei zwar als gegeben vorausgesetzt, kann jedoch
durch spezifische Bildsignale unterlaufen werden. Dem Betrachter wird vorgeführt,
dass die Fotografie in ein nicht-dokumentarisches Feld überführt wird. Ihre fiktionale
Qualität wird durch eine Transgression des Technischen erreicht, die als Überlistung
der Kamera funktioniert. Wie Vilém Flusser richtig bemerkt, muss die Frage, die
sich die Künstler Mitte der 70er-Jahre stellen, lauten: „Inwieweit ist es dem Fotogra-
fen gelungen, das Apparatprogramm umzuleiten?“79. Das heißt nicht, dass die Foto-
grafie als Lüge entlarvt wird. Ganz im Gegenteil: Ihr dokumentarischer Charakter 76 Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Jeff Wall – Figures and Places, Frankfurt/Main 2001, S. 138-141, S. 139. 77 Der Begriff stammt aus Ronald Bergs Disseration über die Fotografie Talbots. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. 78 Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S. 138. 79 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1991, S. 73.
B. DAS FOTOGRAFISCHE – PARADIGMA DER SICHTBARKEIT
35
wird als zwingende Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, denn da sie eine Technik
ist, funktioniert sie nach den Gesetzen der Optik. Nur, wenn das Fotografische als
Voraussetzung akzeptiert wird, kann es überschritten werden. Wie sich zeigen wird,
liegt Walls Antwort darauf in der spezifischen Darstellung der Figuration und der
Benutzung eines Spiegels. Um seine Mechanismen der Apparat-Überlistung zu ver-
deutlichen, wird im Folgenden sein Schlüsselbild „Picture for Women“ aus dem Jahr
1979 untersucht, anhand dessen sich Walls Bildsignale exemplifizieren lassen
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
36
C. „Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen“80
„Picture for Women“ zeigt eine junge Frau und einen Mann in einem abgeschlosse-
nen Innenraum. Draußen ist es dunkel, so dass zur Beleuchtung der Szenerie die
Glühlampen angeschaltet wurden. Im Hintergrund sieht man einen Tisch, Stühle und
Kabel, die auf dem Parkettboden verteilt sind. Im Vordergrund lehnt links eine auf-
recht stehende Frau an einer Art Holzgesims. Ihre Hände ruhen auf der Platte. Sie
blickt den Betrachter an, während der junge Mann, etwas zurückgesetzt in der rech-
ten Bildhälfte, die Frau beobachtet. Der Mittelgrund wird durch eine Kamera, die auf
einem Stativ montiert ist, dominiert. Sie teilt das Foto in zwei Bildhälften. Neben
dieser symmetrischen Struktur wird eine weitere deutlich. Zwei Stangen, auf denen
möglicherweise Studioleuchten angebracht wurden, flankieren die Kamera rechts
und links und bewirken, dass die Bildfläche aus drei Zonen zusammengesetzt er-
scheint. Die Figuren sind in einen klar komponierten Bildraum eingepasst; ihre
Abbildung 3: Jeff Wall: Picture for Women, 1979, Großbilddia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm
80Das Zitat stammt von Vilém Flusser: aaO., S. 73. Es bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf die ästhetische Strategie, die sich aus Flussers Ansatz ableiten lässt, nicht auf das Unterdrückungs- und Macht-Potential, das Flusser in der fotografischen Technik sieht.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
37
Handlungen sind jeweils einer Bildzone zugeordnet. Jede Figur des Bildpersonals,
einschließlich der Kamera, befindet sich in einem vertikalen Bildstreifen.
Durch ein wiederholtes Betrachten der Szenerie wird klar: Der Mann betätigt den
Fernauslöser der Kamera, er ist der Künstler, und das Foto zeigt sein Selbstporträt.
Es ist Jeff Wall, der sich nicht hinter der Kamera befindet, sondern das fotografische
Verfahren durch den Fernauslöser einleitet. Die Kamera steht isoliert im Raum und
funktioniert als automatischer Mechanismus der Bildaufzeichnung.
Doch die Arbeit zeigt weit mehr als die Darstellung des fotografischen Aktes. Wall
hat die Szene vor einem Spiegel inszeniert. Der Spiegel nimmt den gesamten Bild-
raum ein und reflektiert das Arrangement, ohne dass dem Betrachter vermittelt wird,
wo der Spiegel beginnt oder an welcher Stelle er endet. Was auf der Fotografie zu
erkennen ist, führt also keine Realität vor Augen, die sich als Schnitt durch die Seh-
pyramide darstellt, sondern ist eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, das Bild einer
Spiegelung. Die Fotografie zeigt keinen Ausblick oder gerahmten Durchblick, son-
dern ein abgeschlossenes Gefüge, in das der Betrachter nicht einbezogen, sondern
aus dem er ausgeschlossen wird. Er sieht eine Szene, die sich ihm nur durch die Re-
flektion erschließt.
Wall zeigt uns „Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit“81. Aber was verbirgt sich
hinter diesem enigmatischen Etikett? Um das Programm der fiktionalen Fotografie
näher zu bestimmen, sollen die Merkmale der Fotografie „Picture for Women“ nun
entzerrt und einzeln dargestellt werden. Zum einen bedeutet das, die Wahl des Mo-
tivs – die Frauenfigur, die sich im Vordergrund befindet – zu analysieren, zum ande-
ren das Spiegelarrangement zu erörtern. Es wird dabei deutlich werden, dass Wall
seine Motive in einer Weise verwendet, die sich auf eine genuin malerische Konzep-
tion gründet und welche die Absicht verfolgt, das fotografische Bild durch das male-
rische Bild zu überschreiben.
81 Das Zitat bezieht sich auf den Titel einer Textsammlung, die Interviews, Vorträge und Aufsätze Jeff Walls vereinigt. Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit, Dresden 1997.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
38
C.I. Die Figuration – Bilder entstehen aus Bildern
C.I.1. Manets Gemälde als Paraphrase
Die junge Frau, die sich bei Wall im Spiegel betrachtet, steht im Vordergrund, in der
linken Bildhälfte. Vor ihr befindet sich eine horizontal verlaufende Holzplatte, auf
der ihre Hände liegen. Aufrecht stehend blickt sie scheinbar aus der Fotografie. Wall
hat sich bei der Pose seines Modells an
einem berühmten Vorbild orientiert; er
bezieht sich auf Edouard Manets Gemälde
„Le Bar aux Folies-Bergère“, das zwi-
schen 1881 und 1882 entstanden ist: „
‚Picture for Women‘ ist ein Remake vom
Manets Gesellschaftsporträt. Die ‚Bar‘
hatte es mir tatsächlich angetan; ich hatte
das Bild mehrmals in den Courtauld Gal-
leries während meiner Studienzeit in
London gesehen. Ich wollte es ausdeuten, in Gestalt einer neuen Version analysieren,
wollte versuchen seine innere Struktur freizulegen“82, berichtet Wall 1986 in einem
Interview.
Abbildung 4: Jeff Wall: Picture for Wo-men, 1979, Großbilddia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm
Worin besteht nun Walls Ausdeutung?
Was übernimmt er, und was verändert er
an der malerischen Vorlage? In beiden
Bildern befinden sich die Figurinen in
einem deutlich querformatigen Bildfeld,
dessen Raum durch ein Netz von Hori-
zontalen und Vertikalen strukturiert wird.
Sowohl parallel zur Bildfläche wie zu den
Rändern verlaufen Kompositionsachsen.
Bei Manet sind es der Balkon im Hintergrund, die Pfeiler der Galerie und der Tresen
im Vordergrund, bei Wall ein Strukturgerüst, das durch die Tischplatte und das Ge-
Abbildung 5: Edouard Manet: Le Bar aux Folies-Bergère, 1881-82, Öl auf Lein-wand, 93 x 114 cm
82 Jeff Wall in: Typologie, Luminiszenz, Freiheit – ein Gespräch zwischen Els Barents und Jeff Wall, in: Barents, Els (Hrsg.): Jeff Wall – Tranparencies, München 1986, S. 96f.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
39
stänge vorgegeben wird. In beiden Fällen wird das Bildpersonal in einen kompositi-
onellen Rahmen eingefügt. Alle Raumelemente führen jeweils über die Bildgrenze
hinaus. Die Frauenfiguren werden in beiden Fällen durch den Tresen präsentiert; sie
erhalten eine klar definierte Bildzone, die sie vorführt, fast auszustellen scheint. Bei-
de Frauen werden frontal dargestellt. Ihre Ansichten werden unterhalb der Hüfte
durch die Theken abgeschnitten.
Dennoch unterscheidet sich Walls Protagonistin von der Manets. Nach der sozialhis-
torischen Deutung des Gemäldes ist die Frau bei Manet eine Grisette.83 Sie ist eine
Gelegenheitsprostituierte und die Lokalität der Folies-Bergère ein Ort, an dem sich
die bourgeoise Gesellschaft von Paris amüsiert. Sie ist eine „Parisienne“, eine junge
Frau, die nach der Mode ihrer Zeit gekleidet ist. Ihre zweiteilige Kleidung besteht
aus einem Rock und einem hüftlangem Oberteil, das sie über einem eng geschnürten
Mieder trägt. Das Oberteil besitzt einen viereckigen Ausschnitt, der mit Spitze und
Blumen besetzt ist und in der Mitte geknöpft wird. Es springt in Hüfthöhe auf und
betont die nach hinten gerichtete Drapierung des Rockes. Ihr Haar hat sie zu einem
Chignon, einem Knoten am Hinterkopf, gebunden; in die Stirn sind Fransen frisiert.
Die Enge und Schlankheit der Silhouette kennzeichnen sie als eine Frau, deren Mode
den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstammt.84 Obwohl Manets Gemälde nicht
auf ein Gesellschaftsporträt zu reduzieren ist, sondern vielmehr eine komplexe In-
szenierung der Bildentstehung darstellt85, sind die Unterschiede zu Wall offensicht-
lich. Und gerade daraus lässt sich Walls Verfahren, das ihn von anderen Künstlern
der inszenierten Fotografie unterscheidet, ermitteln.
Walls Protagonistin ist eine Frau des 20. Jahrhunderts. Sie befindet sich – in Shirt
und Hose – im Studio des Künstlers, während Manet seine Szene in einem Amüsier-
lokal spielen lässt. Wall paraphrasiert lediglich die Pose von Manets Modell und die
Art und Weise, wie das Gemälde durch ein Raster aus Kompositionsachsen struktu- 83 Timothy Clark untersucht Manets Gemälde im Bezug auf die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts und die gesellschaftlichen Umbrüche, die sich dadurch in Paris zeigten. Die Frauenfiguren werden dabei aufgrund ihrer sozialen Identitäten dargestellt. Clark unterscheidet die „Cocotte“, die „Grisette“, die „Lorette“ und die „Fille“. Clark, Timothy: The Painting of Modern Life – Paris in the Art of Manet and His Followers, Princton 1984. 84 Die ausladende Mode der 1870er-Jahre wurde Anfang der 80er-Jahre durch eine schlanke, flache und langgestreckte Mode ersetzt. Erst 1885 setzte durch den „Cul de Paris“, einen Gestell, das die Stoffdrapierung des Rocks in Kaskaden zu Boden gleiten ließ, eine Veränderung in der Mode ein. Lenning, Gertrud: Kleine Kostümkunde, Berlin 1987. 85 Eine Analyse des Bildarrangements liefert Michael Lüthy in seiner Arbeit „Bild und Blick in Ma-nets Malerei“, Berlin 2001. Besonders dazu das Kapitel: Der Spiegel des Subjekts – Un bar aux Fo-lies-Bergère, S. 161-182.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
40
riert wird. Er nimmt nur noch vage auf das Vorbild Bezug – nur soweit, dass man
durch die Horizontale im Vordergrund und das Standmotiv des Modells Überein-
stimmungen finden kann. Die zweite Szene, die sich in Manets Bild abspielt, welche
die Grisette als Spiegelung und Rückenfigur einführt, wird von Wall nicht über-
nommen. Er bezieht sich auf Manet, um seine Figurine zu transformieren, sie in die
Fotografie einzufügen und in einen neuen Bildzusammenhang zu integrieren. Sie
weist zwar auf „Le Bar aux Folies-Bergère“ zurück, ist jedoch gleichzeitig die Prota-
gonistin einer neuen Bildhandlung. Die Bardame wird von Wall in einen neuen Kon-
text versetzt, gewissermaßen funktionalisiert. Nicht Bar und Tresen sind in die Foto-
grafie überführt worden, sondern die Paraphrase der Komposition und Pose. Walls
Adaption führt dazu, dass die Referenz zugunsten einer neuen Bildhandlung in den
Hintergrund rückt.
Das hat Folgen, denn nur derjenige, der Manets Gemälde als Erinnerungsbild vor
sich sieht, erkennt die Referenz der Fotografie. Die Referenz von Wall ist somit ein
Bildungsproblem; und Walls Nachbild lebt von Manets Vorbild – und zwar im Sinne
kunsthistorischer Gelehrsamkeit.
Betrachtet man Manets Werk unter dieser Voraussetzung, wird klar, dass dieser seine
Referenzen in ähnlicher Weise einsetzt. In freier artistischer Verfügbarkeit bedient
sich Manet der Motive. Sein Gemälde „Frühstück im Grünen“ ist ein Paradebeispiel
für Manets Konzeption des pluralen Bildes86. Es bezieht sich sowohl auf das „Länd-
liche Konzert“ von Giorgione als auch auf einen Kupferstich aus dem 16. Jahrhun-
dert, in dem Marcantonio Raimondi eine heute verschollene Arbeit Raffaels wieder-
gibt, und verweigert damit die Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung.
Ebenso ruft Manet durch die Pose der Olympia in seinem gleichnamigen Gemälde
Tizians „Venus von Urbino“ auf, verlagert seine kanonische Vorgabe jedoch in das
Kurtisanen-Milieu und liefert damit eine Dekonstruktion der Stilhöhe. Das Decorum,
die Angemessenheit von Genre und Referenz treten auseinander; semantische Äqui-
valenzen werden vernachlässigt. Was letztlich von Manet gezeigt wird, ist eine re-
flektierte Transformation von Bild- und Kunsttradition. Die Vorbilder werden nur in
dem Maß kenntlich gemacht, dass eine Verbindung zum Original zu erkennen ist –
86 Der Begriff entstammt der Magisterarbeit „Das plurale Bild – das Bildzitat als Verfahren in der Malerei Edouard Manets“ von Stefan Borchert. Sie entstand 1997 am kunsthistorischen Institut in Stuttgart bei Professor Reinhard Steiner.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
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ohne eine Übernahme der Inhalte und Verweise. Die Motive sind einfach da, unmit-
telbar und großformatig, vorgeführt mit bestechender Appellativität.87
In der Fotografie „The Storyteller“ von 1986
dient Manets Arbeit Wall erneut als Vorlage.
Diesmal ist es „Déjeneur sur l’herbe“ aus
dem Jahr 1863, von dem er die Figurenkons-
tellation und einzelne Sitzmotive verwendet.
Das angewinkelte Bein und der Arm, der auf
das Knie gestützt wird sowie die Hand, die
das Winkelmotiv aufnimmt und zum Gesicht
führt, werden übernommen – nur seitenver-
kehrt. Wo Manet eine unbekleidete Frau darstellt, hat Wall einen Mann in Jeans und
Lederjacke gewählt.
Abbildung 6: Edouard Manet: Déje-neur sur l’herbe, 1863, Öl auf Lein-wand, 208 x 264 cm
In seinem Aufsatz „Einheit und Fragmentie-
rung bei Manet“, der 1984 in der Zeitschrift
„Parachute“ veröffentlicht wurde88, charakte-
risiert Wall Manets Kunst und weist sich als
Kenner seiner Mechanismen aus: „Die Figu-
ren, die er [Manet] malt und darstellt, sind
gleichzeitig greifbar, das heißt traditionell
erotisiert, und doch aufgelöst, ausgehöhlt und
sogar ‚ansatzweise‘ dekonstruiert“89. Wie Manet stellt er die Figur in einer Doppel-
rolle dar. Seine Modelle sind Schablonen, Codes und erscheinen gleichzeitig als
Hauptdarsteller einer neuen Bildeinheit. Auf diese Haltung bezieht sich Wall auch in
den Fotografien „Eviction Struggle“, „The Stumbling Block“, „Tattoos and Sha-
dows“ und „The Thinker“.90 Dort unterlegt er der Bildszenerie barocke Pathosfor-
meln, Posen aus Dürers „Melancholia“ oder Paul Gauguins Tahiti-Gemälden. Er
transformiert eine Referenz, schildert eine Geschichte und verweist darauf, dass sei-
Abbildung 7: Jeff Wall: The Storytel-ler, Großbilddia in Leuchtkasten, 1986, 229 x 437 cm, (Detail)
87 Metzger, Rainer: Attitüde und Modernität – Aspekte des Kanonischen in der Kunst der letzten Jahr-zehnte, in: Kunstforum International, 162, Nov./Dez. 2002, S. 126-142. 88 Wall, Jeff: Unity and Fragmentation in Manet, in: Parachute, 35, 1984, S. 5-7; deutsch in: West-fälischer Kunstverein (Hrsg.): Jeff Wall, Münster 1988, S. 53-62.; Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 235-248. 89 Wall, Jeff: Einheit und Fragmentierung bei Manet, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 243. 90 Weitere Fotografien, die auf einen Bilderkanon referieren, sind: „Outburst“ und „Vampires’ Pic-nic“.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
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ne Fotografien in ein System von Bildern einzuordnen sind. Durch dieses System
erhält die Referenz ihre Berechtigung. Kunst entsteht demnach aus Kunst, und der
Nachhall des Kanonischen legitimiert die Autorität von Manets Gemälde und Walls
Fotografie. „Unter jedem Bild liegt immer schon ein anderes Bild“, hat der Theoreti-
ker Douglas Crimp, mit dem sich das Kapitel C.V. beschäftigt, dieses Verfahren be-
zeichnet. Es tritt mit der inszenierten Fotografie Mitte der 70er-Jahre auf den Plan
und zeigt sich als Mechanismus, der es ermöglicht, Werke der Fotografie als Kunst
zu lesen. Fotografien werden als Kunstwerke ausgelegt, und ihre Auslegung wird
durch die Aufrufung anderer Gemälde erzeugt. Die Funktion dieser Referenz liegt
darin – wie Walls Zitat auf Seite 33 gezeigt hat –, das Paradigma der Sichtbarkeit der
Fotografie zu überschreiten. Indem Wall kalkuliert etablierte Motive zitiert, evoziert
er im Betrachter ein weiteres Bild. Ein Bild, das durch die Sichtbarkeit in Walls Fo-
tografie hervorgerufen wird, jedoch nur im Gedächtnis des Betrachters vorhanden ist.
C. II. Tableau vivant, Attitüde oder Arrangement?
Walls Arrangierung hat das Ziel, durch spezielle Bildmechanismen die Technik der
Fotografie zu überschreiten. Damit steht er nicht alleine. Dieses Verfahren kenn-
zeichnet auch die Arbeit anderer Künstler, die Mitte der 70er-Jahre beginnen, foto-
grafisch zu arbeiten. Cindy Sherman, Irene Andessner und Eleanot Antin schöpfen
ebenfalls aus dem Reservoir der Kunstgeschichte; Valie Export und Hannah Wilke
beziehen sich auf Pathosformeln von Gemälden und verwenden diese als Attitüde.
Alle genannten Künstler verbindet das Ziel, das fotografische Bild aus dem Refe-
renzrahmen des indexikalischen Zeichens in den Referenzrahmen der künstlerischen
Fiktion zu überführen, unterschiedet jedoch die spezifische Verwendung des vorge-
fundenen Bildmaterials.
C.II.1. Was ist ein fotografisches Tableau vivant?
Das Tableau vivant ist ein lebendes Bild. Es ist eine körperliche Nachstellung oder
Nachempfindung eines Gemäldes oder einer Plastik; eine Live-Inszenierung auf der
Basis von Kunstwerken. Es wird von einer Personengruppe für kurze Zeit bewe-
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
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gungs- und wortlos nachgestellt und durch ein Publikum betrachtend rezipiert. Der
Reiz des Tableau vivant liegt in seiner Fähigkeit, die medialen Gegensätze von Vor-
und Nachbild zu verbinden. Wie der Begriff bereits andeutet, werden in dieser
Kunstform zwei unterschiedliche Verfasstheiten miteinander verbunden. Während
das statische Kunstwerk für kurze Zeit zum Leben erweckt wird, erscheinen die dar-
gestellten Protagonisten für die Dauer der Aufführung in den vorgegebenen Posen
eingefroren zu sein.91
Seit der Antike finden sich lebende Bilder als Teil der Fest- und Triumphzüge.92 Ihre
Tradition wurde in sakralen Prozessions-, profanen Huldigungs- oder Karnevalszü-
gen im 15. Jahrhundert weitergeführt. Anlässlich des Einzugs Johannas von Kastilien
in Brüssel 1496 spricht ein Chronist von „personagias“, von figuralen Bildern und
Posen, auf erhöhten Bühnen und Gerüsten, die in den Winkeln der Gassen aufgestellt
wurden und für die Vorübergehenden im rechten Moment auf Befehl durch daran
angebrachte Vorhänge mal verhüllt wurden, mal dem Blick offenstanden. Die insge-
samt 27 Stationen zeigten weibliche Persönlichkeiten, alttestamentliche, antike oder
zeitgeschichtliche Figuren, mit denen sich das Programm explizit an die Braut wand-
te.
In den „trionfi“, den weltlichen Umzügen in Neapel, Rom, Venedig und Mailand
wurden auf Wagen oder Traggerüsten lebende Bilder gezeigt, die meist religiöse,
allegorische oder mythologische Themen verkörperten.93 Sie zeigten „rappresentazi-
oni“, Darstellungen, die in ein komplexes inhaltliches Programm eingepasst waren,
sich jedoch nicht explizit auf eine malerische Vorlage bezogen.94 Mit dem Tableau
vivant teilen sich diese Bildinszenierungen den Nachstellungscharakter. Beide zeigen
lebende Bilder, die sich – ohne mündlichen Vortrag – in einer zeitlichen Beschrän-
kung nur dem Auge darstellen und sich stumm und bewegungslos für den Betrachter
zu einem Bild formieren. Im Unterschied dazu haben die lebenden Bilder zwar Teil
91 Christian Janecke hat in seinem erhellenden Aufsatz über die aktuelle Performancekunst auf die Konstruktion von Bildhaftigkeit durch vorübergehenden Stillstand hingewiesen. Janecke, Christian: Performance und Bild / Performance als Bild, in: ders. (Hrsg.): Performance und Bild / Performance als Bild, Berlin 2004, S. 11-113. 92 Köhler, Jens: Untersuchungen zur hellenistischen Festkultur, Frankfurt/Main 1996. 93 Dazu ausführlich: Helas, Philine: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhun-derts, Berlin 1999. 94 Nach der Recherche von Philine Helas lässt sich lediglich in einem Fall eine konkrete malerische Vorlage benennen. Bei dem Einzug Philipps des Guten in Gent 1458 diente der 26 Jahre zuvor ge-weihte eycksche „Genter Altar“ als Vorbild für die Darstellung eines Lebensbrunnens. Helas Philine: aaO., S. 5.
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am ikonographischen Bilderschatz, thematisieren jedoch nicht dessen Inhalt.95 Le-
bende Bilder sind immer an einen Anlass gebunden, während das Tableau vivant, die
Nachstellung eines Gemäldes, den Anlass selbst vorgibt.
Der erste Bericht, der nachgestellte Gemälde als eigenständige Kunstgattung nennt,
stammt von der Malerin Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun. Sie beschreibt in ihren
Memoiren eine Szene aus dem Spätsommer 1795. Auf dem Landsitz der Fürstin Ka-
tharina-Feodorowna Dolgorouky bei Sankt Petersburg habe sie im höfischen Kreis
Tableaux vivants nachgestellt:
„ Le petit théatre était charmant, je voulais en profiter pour com-poser des tableaux vivant. Il nous arrivait sans cesse du monde de Saint-Pétersbourg; je choisissais mes personnages entre les plus beaux hommes et les plus belles femmes, et je les costumais en les drapant avec des chales de cachemire que nous avions à profu-sion. Je préférais le sujets graves ou ceux de la Bible à tout autre. Je représentais aussi de souvenir plusieurs tableaux connus, tels que la famille de Darius, que réussit à merveille; mais celui qui obtint le grand succès fut celui d’Achille à la cour de Lycoméde; je me chargeais de personnage d’Achille, car le plus souvent je m’habillais de manière qu’un casque et un bouclier suffisaient pour me composer un costume fort exact. Les tableaux vivants amusaient extrêmement la société. »96
Diese Zeilen geben einige wichtige Anhaltspunkte. Es handelte sich um eine exklu-
sive, höfische Gesellschaft von Sankt Petersburg. Zunächst werden Bilder mit bibli-
schen Inhalten dargestellt, dann aber auch „de souvenir plusieurs tableaux connus“.
Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun nennt zwei Titel, „Darius und seine Familie“ und
„Achill am Hof des Lycomedes“. Die Vorlagen sind demnach allgemein bekannt,
und die Malerin inszeniert sie aus dem Gedächtnis.97 Aus den Reihen der Zuschauer
werden Darsteller ausgesucht; Schals dienen als Draperie. Um die Gestalt eines A-
chill nachzustellen, muss Vigée-Lebrun sich jedoch mit Requisiten behelfen. Sie
benötigt einen Helm und einen Schild, um ein „costume fort exacte“ zu schaffen. Um
ein Tableau vivant zu inszenieren, benötigt man also erstens ein bekanntes Gemälde 95 Zur Beeinflussung der italienischen Malerei durch die lebenden Bilder der Festumzüge und Auto-mateninszenierung siehe: Helas, Philine: aaO., Kapitel: Präsenz – Dramatisierung von Liturgie, Pre-digt und Kirchenfest, S. 13-58. 96Elisabeth Vigée-Lebrun: Souvenirs, hrsg. von Claudine Herrmann, Paris 1984, S. 83. 97 Möglicherweise handelte es sich bei der Inszenierung,, um die Darstellung von Poussins Gemälde „Achill unter den Töchtern des Lycomedes“ aus dem Jahr 1650. „Leider gibt die Malerin nicht an, wessen Werk sie damit meinte, vielleicht eine unnötige Anlage, da dies zum Allgemeinwissen der Anwesenden zählte“. Jooss, Birgit: Lebende Bilder – zur körperlichen Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999, S. 116f.
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als Vorlage und zweitens Requisiten, Draperien, Staffagen und Dekorationen.98 Oft-
mals wurden die Tableaux in Rahmen mit Vorhängen inszeniert, um dem Publikum
den „Gemäldecharakter“ noch deutlicher vorzuführen.99 Die Teilnehmer der Veran-
staltung sind in erster Linie an der Darstellung des lebenden Bildes selber beteiligt,
beziehen keine Schauspieler mit ein und entwickeln das lebende Bild als gesell-
schaftlichen Anlass. Mit der Inszenierung von Tableaux vivants verfolgt man das
Ziel eines „amusement de la société“.
Das Tableau vivant ist eine Kostümierung, eine Demonstration des Körpers, der de-
koriert seine Wandlungsfähigkeit beweist. Es ist eine Selbstdarstellung in einer vor-
gegebenen Rolle. Diese Rolle muss jedoch nicht mit dem Geschlecht der Darsteller
übereinstimmen. In der zitierten Passage stellt die Hauptperson, Elisabeth-Louise,
selbst den Achill nach. Es ist also in einem lebenden Bild ebenso möglich, als Frau
einen Männerrolle zu spielen, wie umgekehrt. Das Tabelau vivant „ist auf reine
Bildhaftigkeit geschrumpftes Theater“100. Durch die zeitliche Beschränkung und
durch die Bezugnahme auf lebendige Akteure gehört das Tableau vivant zu den dar-
stellenden Künsten. Es bedient sich zwar der Malerei, ist selbst jedoch keine maleri-
sche Technik. Es ist auf eine zeitliche Dauer von ein bis drei Minuten beschränkt und
zuallererst eine performative Kunstform.
Was bedeutet das nun für die Fotografie? Wenn sich Cindy Sherman mit aufwendi-
gen Verkleidungen als Bacchus in caravaggesker Manier darstellt, bezieht sie sich
einerseits auf die Tradition des Tableau vivant, kultiviert jedoch gleichzeitig den
Medienwechsel von Malerei in Fotografie. Das Vorbild wird von Sherman in zwei-
facher Weise modelliert: erstens durch die Übertragung als lebendes Bild und zwei-
tens durch die Überführung in die Fotografie.
98 Darin liegt sein Unterschied zu den lebenden Bildern aus Pygmalions Werkstatt. Dazu: Blühm, Andreas: Pygmalion – die Ikonographie eines Künstlermythos zwischen 1500 und 1900, Frank-furt/Main 1989; Eschenburg, Barbara: Pygmalions Werkstatt – die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, Köln 2001. 99 Aus den Materialien, die Birgit Joos in ihrer Studie zum Tableau vivant der Goethezeit zusammen-getragen hat, erfahren wir, mit welchem zeitlichen und materiellen Aufwand die Verkleidungen be-trieben wurden. Meist begnügte man sich mit Gemälden, die wenig figürliches Personal hatten und oftmals moralische oder politische Intentionen transportierten. Später finden sich jedoch neben den Einzelporträts auch Bilder mit bis zu 20 Akteuren, dann auch aufwendige Spektakel, in denen etwa fünf Tableaus gleichzeitig zu sehen waren. Jooss, Birgit: aaO., S. 175ff. 100 Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: Atmende Bilder – Tableau vivant und Attitüde zwischen „Wirklichkeit und Imagination“, in: dies. / Matt, Gerald (Hrsg.): Tableaux vivants – Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film, Video, Wien 2002, S. 9-52, S. 13.
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Die Arbeit „Untitled #224“ zeigt die Künstlerin in einem gegürteten, antikisierenden
Umhang. Sie sitzt, den Ellbogen auf eine Holzplatte gelehnt, in der Pose, die Cara-
vaggio in seinem Gemälde „Selbstporträt als kranker Bacchus“ von 1593 vorgegeben
hat. Der Hintergrund ist als dunkle Fläche angelegt. In der rechten Hand hat sie eine
Rebe mit Weintrauben. Die Schulter entblößt blickt sie den Betrachter an. Ihr Kopf
wird von Weinlaub geziert. Hier finden sich alle Merkmale des Tableau vivant, die
bereits bei Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun ermittelt wurden: die Kostümierung, die
Requisiten, die Schminke. Die Künstlerin übernimmt selbst den Akt der Darstellung;
sie setzt keine Schauspieler ein, das Bild ist eindeutig als Nachbild von Caravaggios
Vorbild zu erkennen.101
Abbildung 9: Cindy Sherman: Untitled #224, 1989, Fotografie, 66 x 52 cm
Abbildung 8: Caravaggio: Selbst-porträt als kranker Bacchus, 1593-1594, Öl auf Leinwand, 93 x 114 cm
Durch kleine Irritationen verweist sie den Betrachter auf ihre Anverwandlungen. Die
dunkel umrahmten Augen und Brauen führen ebenso die Maskerade vor wie die
dunklen Schatten, die den Verlauf der Muskeln auf dem Oberarm nachzeichnen. In
einer anderen Fotografie der Serie der „History Portraits“ sieht man deutlich den
101 Durch den Bezug auf das Tableau vivant lässt sich in Shermans Arbeit auch ein Bezug zur Perfor-mance-Art herstellen. Dazu: Goetz, Ingvild (Hrsg.): Jürgen Klauke, Cindy Sherman, Ostfildern, 1994.
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Perückenansatz (Untited #222)“; im „Untitled #197“ erscheint Cindy Shermans Nase
als nachmodelliertes, angeklebtes Körperfragment.102
Auf Shermans Verfahren bezieht sich der Japaner Yasumasa Morimura in seinen
Tableau vivant.103 Er
inszeniert opulente
Szenen, in denen er mal
als Frau, mal als Mann
auftritt. Mit Barett oder
Leibchen führt er A-
daptionen holländischer
Genreszenen des 17.
Jahrhunderts vor oder
inszeniert sich als Rembrandt oder Marcel Duchamp. In seiner Fotografie „To my
little Sister: for Cindy Sherman“ aus dem Jahr 1998 führt er das Rollenporträt so
weit, dass er sich selbst Shermans Fotografien einverleibt. Bis ins Detail rekon-
struierte er Szenerie,
Beleuchtung und Far-
bigkeit von Shermans
Fotografie „Centerfold
Unit #96 (1981)“. Er
schlüpft in das gleiche
Kostüm, legt es in die
gleichen Falten und
imitiert Shermans Ge-
sichtsausdruck. Lediglich die Augenform irritiert beim Betrachten und macht deut-
lich, dass es sich hier um eine Nachstellung handelt.104
Abbildung 10: Cindy Sherman: Centerfold Unit #96 (1981), Fotografie, 20 x 25 cm
Abbildung 11: Yasumasa Morimura: To my little Sister: for Cindy Sherman, 1998, Fotografie, 66 x 120 cm
102 Shermans Verbindung zu weiteren Künstlern, die in der Tradition des Tableau vivants stehen, finden sich in: Seipel, Wilfried (Hrsg.): Diskurse der Bilder – photokünstlerische Reprisen kunsthisto-rischer Werke, Wien 1993. 103 Weitere Tableau-vivant-Künstler sind: Frank Horvat, der sich auf Gemälde von Goya, Rembrandt und Renaissance-Meister bezieht oder Irene Andessner, die sich als Konstanze Mozart, Sofonisba Anguissola oder Marlene Dietrich inszeniert. Dazu: Kast, Raimund (Hrsg.): I am – Irene Andessner, Ostfildern-Ruit 2003. 104 Im Unterschied zum Fake werden hier von den Künstlern Signale in das Bild gesetzt, die den Bet-rachter die Nachahmung aufdecken lassen. Das Fake lässt sich nur durch den Kontext als Kunstwerk desavouieren. Wenn dies nicht gelingt, ist es lediglich eine Fälschung. Zu den Paradekünstlern der Appropriation gehören Elaine Sturtevant, Sherrie Levine und Richard Prince. Stefan Römer hat für
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C. II.2. Was ist eine fotografische Attitüde?
Die Attitüde ist eine Variante des Tableau vivant. Auch hier dienen den ausführen-
den Protagonisten die Werke der bildenden Kunst als Referenz. Im Unterschied zum
lebenden Bild werden jedoch nicht alle Einzelheiten der malerischen Vorlage adap-
tiert, sondern nur Posen, Gesten und Gebärden. In der Attitüde ist es weniger die
Kostümierung der Darstellenden als das Vorführen eines gestischen und mimischen
Repertoires.
Lady Hamilton, die junge Frau des englischen Gesandten in Neapel, hat mit ihren
Posen-Performances in den 80er-Jahren des 18. Jahrhunderts die Kunstform der Atti-
tüde begründet.105 In Caserta inszenierte sie sich vor einem gebildeten Publikum in
einer Serie von Stellungen und Gesten, die sich auf Skulpturen, Vasenmotive, Fres-
ken oder Gemälde von der Antike bis zum Barock bezogen. Der Zuschauer hatte das
dargestellte Motiv zu erraten, das heißt auch er musste – wie beim Tableau vivant –
den ursprünglichen Bildzusammenhang kennen, aus dem die Pose herausgelöst wor-
den war. Durch Goethes „Italienische Reise“ liegt ein Bericht über der Lady Hamil-
tons Attitüden vor:
„Er [Lord Hamilton] hat sie [Lady Hamilton] bei sich, eine Eng-länderin von etwa zwanzig Jahren. Sie ist sehr schön und wohlge-baut. Er hat ihr ein griechisches Gewand machen lassen, das die trefflich kleidet, dazu löst sie ihr Haar auf, nimmt ein paar Schals und macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden, Mienen etc., daß man zuletzt wirklich meint, man träume. Man schaut, was so viele Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch, ausschweifend, bußfer-tig, lockend, drohend, ängstlich, etc., eins folgt aufs andere und aus dem anderen. Sie weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln und macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält das Licht dazu und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand er-geben. Er findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile der sizili-anischen Münzen, ja den Belvederschen Apoll selbst.“106
Sturtevants und Levines Werke den Begriff „Fake“ geprägt. Römer, Stefan: Der Begriff des Fake, Berlin 1989, entstanden als Dissertation am Institut für Kunstgeschichte der Humboldt-Universität bei Professor Horst Bredekamp. 105 Ittershagen, Ulrike: Lady Hamiltons Attitüden, Mainz 1999, S. 12. 106 Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise, hrsg. von Andreas Beyer und Norbert Miller, München 1992, S. 257-258.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
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Zur Attitüde gehört also, dass Haltungen, „Gebärden und Mienen“, in schnellem
Wechsel vorgeführt werden. Sowohl das gestische wie das mimische Repertoire wird
eingesetzt, um spezifische Typen darzustellen, die sich innerhalb einer Aufführung
abwechseln. Das Ziel der Vorführung ist nicht das genaue Nachstellen eines Vor-
bilds, sondern die konzentrierte Wiedergabe einer „Pathosformel“ im Sinne Aby
Warburgs.
Warburgs Pathosformeln, die er in seinem Bilderatlas „Mnemosyne“ zusammenge-
tragen hat, zeigen die Funktion vorgeprägter antiker Ausdrucksformeln bei der Dar-
stellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance.107 Warburgs
Atlas verbindet Gruppierungen von tradierten Gebärden des Leidens, des Helden-
tums, der Ekstase oder des Sieges in Abbildungen von Kunstwerken auf einzelnen
Tafeln. Diese Posen, Haltungen und Stellungen werden als „leidenschaftliche Ges-
ten“ mit der Attitüde lebendig. Ist die Pathosformel im Tableau vivant noch durch
das Requisit diszipliniert, wird sie jetzt pantomimisch. Sie ist – ihrem Kontext be-
raubt – gebärdenhafte Darstellung von Expressivität.108
Die Schals, die in den Tableaux vivants von Elisabeth-Louise Vigee-Lebrun der Kos-
tümierung galten, werden nun verwendet, um der Posen-Performance eine Drama-
turgie zu verleihen. Die Vorstellung eröffnete Emma Hamilton jeweils tief verschlei-
ert. Sie enthüllte sich – wie bei einem Denkmal üblich –, indem sie sich den Schal
von der Stirn zog und ihn schließlich in die Ausführung einer Pose integrierte. Lady
Hamilton schmückte sich zwar mit kostümhaftem Zubehör, ordnete dies jedoch dem
Ziel unter, das Gemüt des Betrachters anzurühren. Traurig, drohend, lockend oder
ängstlich stellte sich Lady Hamilton dar und bemühte durch ihr mimisches und gesti-
sches Körperspiel nicht nur die Referenz auf eine künstlerische Vorlage, sondern
auch auf einen Typus einer emotionalen, weiblichen Verfasstheit.109
107 Barta-Fliedl, Ilsebill / Glissmer-Brandi, Christoph / Sato, Naoki (Hrsg.): Rhetorik der Leidenschaft –zur Bildsprache der Kunst im Abendland, München 1999. 108 Die Attitüde soll zur emotionalen Anteilnahme anregen. Einen Bericht über die Reaktionen der Zuschauer liefert die Malerin Marianne Kraus, die 1791 einer Vorführung von Lady Hamilton bei-wohnte. „Ich schämte mich meiner starken Nerven, wo ich so Alles, Damens und Herren, weinen sah. (...) da sitzt also die holzige Kraus neben einer Angelika, die so laut schlukte, das sich steine hätten bewegen können. Der arme Rehberg sah aus wie ein Knabe, der düchtig schläge vom H. Schulmeister bekommt, H. Reifenstein weinde doch noch zierlich, man konnte die langsam herabrollenden andiki-schen Tränen zählen“. Zitiert nach Ittershagen, Ulrike: aaO., S. 62. 109 Diese Inszenierung der Weiblichkeit ist vor allem von Dagmar von Hoff diskutiert worden. Von Hoff, Dagmar: Ikonographie des Weiblichen – die Attitüde in der Goethe-Zeit am Beispiel von Ida Brun, in: Baumgart, Silvia: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993. S. 19-42; die Analyse der Wechselwirkung von Attitüde und weiblichen Rollenporträt findet sich bei Bettina
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Der in Rom ansässige deutsche Historienmaler Friedrich Rehberg hat in einer Serie
von zwölf Umrissstichen Lady Hamiltons Attitüden 1794 dokumentiert. Alle zwölf
Stiche zeigen verschiedene Haltungen von Lady Hamilton. Um den szenischen
Wechsel der Bilder darzustellen, hat Rehberg die Posen als Serie angelegt.
Das vierte Blatt der Stichserie zeigt Emma Hamilton als Sofonisbe. Sie posiert als
tragische Heldin, die den Tod einer Auslieferung in feindliche Hand vorzieht. Ihr
Haar ist gelöst. Mit aufwärts gewandtem Gesicht und erhobenen Augen, den Mund
leicht geöffnet, ist sie an eine Säule gelehnt. Der Kopf wird von der linken Hand ge-
stützt; in ihrer rechten hält sie eine Schale, in der sich das von ihrem Gatten gesandte
Gift befindet. Emma Hamilton orientiert sich in dieser Attitüde an der Typologie
schmerzvoller Verzweiflung, die durch die zahlreichen Bildfindungen Guido Renis
und Charles Le Bruns vorgegeben wurden. In seinen Figuren der Lukretia und Kleo-
patra hatte Reni die richtungsweisenden barocken Darstellungstypen des weiblichen
Heldentodes etabliert.110
Abbildung 12: Friedrich Rehberg: Zeichnungen getreu dem Abbild der Natur, 4 Umrißstiche von Lady Hamiltons Attitüden, Heilige Rosa, Kleopatra, Muse des Tanzes, Sofonisbe, 1794
Hamiltons Gesichtsausdruck, der geöffnete Mund, die nach oben gewandten Augen,
das offene Haar sowie die ausladende theatralische Gestik finden sich bei Charles Le
Bruns Darstellung der Maria Magdalena. Durch einen Stich von Gérard Edelinck war
dieses Gemälde weit verbreitet. Lady Hamilton war es durch den englischen Maler
George Romney bekannt, der sie in zahlreichen Sitzungen porträtierte.111
Baumgärtel: Die Attitüde und die Malerei – Paradox der stillen Bewegtheit in Synthese von Erfindung und Nachahmung, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 46, 1992, S. 21-42. 110 Ulrike Ittershagen hat nachgewiesen, das sich in der Sammlung von Lord Hamilton Gemälde die-ses Typus’ befanden. Ittershagen, Ulrike: aaO., S. 91. 111 Weitere Vorbilder für ihre Posen fanden sich in Lord Hamiltons Sammlung. So beispielsweise eine aus dem Schlaf erwachte Ariadne, die in der 1766 veröffentlichten Stichsammlung der „Pitture Anti-che“ veröffentlicht wurde. Ittershagen, Ulrike: aaO., S. 44.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
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Die Attitüde lebt als Inszenierungsformel in den zahlreichen Ateliers der Berufsfoto-
grafen weiter. Walter Benjamin findet sie in seiner kritischen Beschreibung der foto-
grafischen Praxis in der Porträtminiatur des 19. Jahrhunderts: Der Fotografierte fin-
det sich darin als „als Salontiroler, jodelnd, den Hut ge-
gen gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Mat-
rose, Standbein und Spielbein, wie es sich gehört, gegen
einen polierten Pfosten gelehnt“112. In der noch jungen
Bildkunst kann das fotografische Porträt im 19. Jahrhun-
dert nur durch den Bezug auf die Malerei bestehen. Wie
in Kapitel B.2. gezeigt wurde, müssen die Bilder des
geistlosen Apparates sich durch die Spuren des Genies
legitimieren – auch wenn diese Spuren staffagenhafte
Verweise und leere Posen sind. Im Unterschied zu den
Attitüden, die Mitte der 70er-Jahre inszeniert werden,
beziehen sich die Fotografen, die mit Postamenten, Balustraden und klassischen Po-
sen arbeiten, weder auf ein spezifisches Kunstwerk, noch verfolgen sie eine Überlis-
tungsstrategie. Die Fotografen sichern sich hier künstlerischen Anspruch durch
kunsthistorische Reminiszen-
zen.
Abbildung 13: Sandro Botticelli, Der Früh-ling, 1478, Tempera auf Holz, 203 x 314 cm (Detail)
Im 20. Jahrhundert trifft man
auf die Kunstform der Attitüde,
die unter feministischer Frage-
stellung behandelt wird. Wenn
Künstlerinnen wie Valie Ex-
port, Hannah Wilke oder Ulrike
Rosenbach auf die Kunstge-
schichte referieren, dann nicht
nur, um einen weiteren Blick auf das Medium zu ermöglichen, sondern um ge-
schlechtsspezifische Codierungen, den männlichen Blick, zu desavouieren. In ihrer
inszenierten Serie „Liebesperlen“ von 1976 übernimmt Valie Export Gesten von
Sandro Botticellis Gemälde „Der Frühling“. In den drei Fotografien hat sie in jeweils
Abbildung 14: Valie Export: Liebesperlen (nach Botticel-li, der Frühling), 1976, Fotografie, 153 x 76 cm
112 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter sei-ner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/Main 1994, S. 54.
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einer Pose die Kopf- und Armhaltung sowie das Standmotiv einer Figur nachgeahmt.
Es sind isolierte Attitüden, die als Serie ein Kompendium von Pathosformeln darstel-
len:
„Ich untersuche den Ausdruck bestimmter Körperhaltungen in seiner historischen Ausprägung. In den Gemälden der Vergan-genheit hat sich unbemerkt ein Archiv der Körperhaltungen nie-dergeschlagen, das für die Kenntnis der Gefühlszustände und My-thologien ihrer Zeit von großem Wert ist (...) Engramme leiden-schaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut (...) Indem ich diese Körperhaltungen nachzeichne und nachstelle und sie dann einfüge in die Umwelt unserer sozialen Prägung durch Ver-wendungen von Materialien aus dem heutigen Umkreis, versuche ich diesen demütigenden Blick zu entlarven.“113
Die Merkmale der Attitüde, wie sie Lady Hamilton eingeführt hat, zeigen sich hier
sehr deutlich:
1. Es wird eine isolierte Pose eines spezifischen Kunstwerks ausgewählt.
2. Diese Pose wird mit körperlichen Gesten und Stellungen nachgeahmt.
3. Diese Pose ist Teil einer Serie.
4. Es werden keine Kostüme verwendet.
5. Die Künstlerin ist zugleich die Protagonistin der Attitüde. Die Darstellung der
Pose wird keinem Schauspieler überlassen.
C. II.3.Was ist ein fotografisches Arrangement?
Nun soll Jeff Walls Fotografie „Picture for Women“ nochmals untersucht werden.
Lässt sich die Fotografie als Tableau vivant oder Attitüde charakterisieren?
Die Unterschiede zum Tableau vivant sind offensichtlich: Walls Protagonistin ist
keine Figur des 19. Jahrhunderts. Er verwendet weder Schminke, Requisiten oder
Staffagen. Die Frauenfigur ist keine verkleidete Grisette. Sie lässt sich stattdessen
durch Kleidung und Frisur als Zeitgenossin des Künstlers erkennen.114 Im Unter-
schied zur Attitüde übernimmt Wall mehr als die bloße Haltung von Manets Figur.
113 Valie Export in: Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: aaO., S. 125. 114 Sowohl Rainer Metzger als auch Birgit Jooss definieren Walls Arbeit dagegen als Tableau vivant. Metzger, Rainer: Das nachgestellte Bild – die Metaphorik des Tableau vivant in der zeitgenössischen Fotografie, in Artis, 10, 1990, S. 10-14, S. 13; Jooss, Birgit: aaO., Kapitel: Aus heutiger Sicht, S. 259-275, S. 269.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
53
Er reduziert die Vorlage nicht auf eine personale Geste, sondern überträgt auch Bild-
elemente, die zur Komposition von Manets Gemälde gehören.115 In Walls Fotografie
finden wir sowohl den horizontalen Streifen im Vordergrund, wie die Verschränkung
des Figurenpersonals in ein Kompositionsgerüst, die nackten Glühlampen, die sich
auf Manets einfache Kugellampen im Hintergrund beziehen sowie die Abend-, be-
ziehungsweise Nachtzeit, in der die Szenen angesiedelt sind. Wall führt ebenso wie
Manet ein verwirrendes Spiel mit einem Spiegel ein.
Am deutlichsten zeigt sich jedoch eine Differenz, die Walls Arbeit sowohl vom
Tableau vivant wie von der Attitüde trennt: Wall selbst ist keine Figur, die sich aus
dem Manet-Gemälde ableiten lässt. Sowohl im Tableau vivant wie in der Attitüde
fallen die Künstler mit den Darstellern des Bildzitats zusammen. Bei „Picture for
Women“ ist es jedoch nicht der Künstler selbst, sondern lediglich die Frau im Vor-
dergrund, die als Bildzitat eingesetzt wird. Wall steht außerhalb der Gemälde-
Referenz. Die Fotografie „Picture for Women“ zeigt zwar – wie bei Tableau und
Attitüde – ein Selbstporträt Jeff Walls, diese Selbstdarstellung lässt sich jedoch nicht
als Beziehung zu einem Vorbild rekonstruieren. Der Künstler führt sich vielmehr als
Arrangeur einer neuen Bildhandlung ein. Er arrangiert die Bildelemente, bleibt je-
doch außerhalb des Rollenspiels.
Wall arrangiert eine Bildeinheit, die als Tableau angelegt ist. Nicht nur die Komposi-
tion, die reine Flächengliederung, sondern vor allem die Verbindung der Einzelteile,
ist so angeordnet, dass sie zu einer geschlossenen inhaltlichen Darstellung führt.116
Während in der Attitüde und dem Tableau vivant die Rollen adaptiert werden, wer-
den sie bei Wall in einen neuen, festgelegten Handlungsraum gesetzt. Seine Fotogra-
fien erschöpfen sich nicht in der Referenz, sondern führen diese weiter.
Was sich bei „Picture for Women“ zeigt, gilt auch für die anderen Arbeiten, in denen
auf Malerei Bezug genommen wird. In Walls Fotografie „Storyteller“ wird die Refe- 115 Rolf Lauter ist darum zu widersprechen, wenn er Walls Figuren auf die Ausdrucksstudien von
Jahrhun-
hmus
l-
Charles Le Brun bezieht. Lauter, Rolf: Figur und Habitus, in: ders. (Hrsg.): aaO., S. 28. 116 Zur Komposition siehe Pächt, Otto: Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. derts, in: Oberhaidacher, Jörg / Rosenauer, Artur / Schikola, Gertraut (Hrsg.): Methodisches zur Kunsthistorischen Praxis, München 1977, S. 17-58. Auch: Kuhn, Rudolf: Komposition und Rhyt– Beiträge zur Neubegründung einer historischen Kompositionslehre, Berlin 1980; ders.: Erfindung und Komposition in der monumentalen zyklischen Historienmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2000. Hans Körner beschreibt die kunsttheoretische Geschichte des Begriffs von Aberti bis Poussin. Körner, Hans: Auf der Suche nach der „wahren Einheit“ – Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei vom mittleren 17. bis zum 19. Jahrhundert, München 1988. Besonders das Kapitel: „Von der „Komposition der Körper“ zur Bildkomposition, S. 12-69.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
54
renz von engagierten Schauspielern übernommen.117 Wall stellt sie als Arrangeur
einer Handlung zusammen, er paraphrasiert Posen, bestimmt das Kompositionsgefü-
ge, in das die Handlung verlagert wird und wählt Darsteller aus, die nach seiner An-
weisung agieren. Die Vorbilder der Gemälde schleichen sich ein. Er bezieht sich auf
Malerei als „kompositorische Anverwandlung“118.
Die Merkmale von Walls fotografischen Arrangements sind demnach:
1. Es wird eine malerische Komposition und / oder eine Pose paraphrasiert
2. Diese Paraphrase erfolgt ohne Kostümierung
3. Der Künstler ist nicht Teil der Paraphrase
4. Es entsteht eine neue Bildeinheit. Die Paraphrase stellt nicht nur sich selbst aus,
sondern wird in eine Bildhandlung integriert.
Alle drei Varianten – Tableau vivant, Attitüde und Arrangement – speisen sich durch
den Rekurs auf fotografiefremde Bildmedien und kultivieren den Kontrast von Male-
rei und Fotografie. Alle Kunstformen sind inszeniert, aber nur Jeff Walls Fotografien
sind arrangiert. Walls Fotografien zeigen sich als Arrangements vor der Kamera, bei
denen sowohl die Lichtführung, die Wahl des Schauplatzes, wie die Personen einer
kalkulierten Bildkomposition unterliegen. Wall inszeniert dabei eine neue Bildein-
heit, ist aber nicht Teil der kunsthistorischen Referenz.
C. III. Der Spiegel – oder: Wo befindet sich der Betrachter bei Jeff Wall?
Die Arrangierungsstrategie von Jeff Wall erfährt durch die Verwendung des Spiegels
in der Fotografie „Picture for Women“ eine weitere Pointe. Wall fügt eine zweite
Variante ein, um das Paradigma der Sichtbarkeit talbotscher Prägung zu überlisten.
Er gibt dem Betrachter den Hinweis, dass seine Bilder nicht nach den etablierten
Vorgaben fotografischer Sichtbarkeit verstanden werden sollen. William Henry Fox
117 Jeff Wall äußerste sich in einem Gespräch mit Jean-Francois Chevrier: „Wie du weißt, entstanden die meisten meiner Aufnahmen in Zusammenarbeit mit Schauspielern (...) Der rätselhafte Charakter meiner Bilder entsteht zum größten Teil aus dem Spiel der Darsteller. (...) Ich denke, eine fremde Person, also jemand, den ich nicht kenne – oder allgemeiner ausgedrückt, jemand, den wir nicht ken-nen – ist als solches eine Quelle des Rätselhaften, eine rätselhafte Figur. Wall, Jeff: Ein Maler des modernen Lebens – Gespräch zwischen Jeff Wall und Jean-Francois Chevrier, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S.168-185, S.169. 118 Folie, Sabine / Glasmeier, Michael: aaO., S. 43.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
55
Talbot hatte seine Kalotypien als Fensterblicke beschrieben, als Ausblicke in eine
Welt, in welcher die Erfahrungen des Betrachters weitergeführt werden. Der Text,
der Talbots Ansicht des Pariser Boulevards begleitet und der im Kapitel B.I. vorge-
stellt wurde, hat gezeigt, dass der englische Fotopionier seine Fotografien als Ansich-
ten aus einem Fenster anfertigte, als Blick durch einen Fensterrahmen. Nun soll an-
hand des Spiegelmotivs bei Wall gezeigt werden, wie Talbots Paradigma unterlaufen
wird.
Zunächst gibt der erneute Vergleich von Manet und Wall Aufschluss über die Ansät-
ze beider Künstler. Ebenso wie Manets „Bar aux Folies-Bergère“ zeigt Wall die
Verwendung des Spiegels. Manets Grisette steht vor einer gerahmten Spiegelfläche,
die einen Großteil des Bildhintergrunds ausfüllt. Der Rahmen ist zwar in der unteren
Bildhälfte zu erkennen, dennoch wird fast alles, was der Betrachter sieht, durch die
Spiegelung vorgeführt. Der Balkon und die Vergnügungsgesellschaft liegen zwar
optisch vor ihm, faktisch jedoch in seinem Rücken. Der Bildraum, in welchen der
Betrachter blickt, ist gleichzeitig der Sehraum der Barfrau. Was wir sehen, sehen wir
gewissermaßen mit den Augen der Frau, die hinter dem Tresen steht. Manet sugge-
riert zwar, dass man sich nur umzuwenden bräuchte, um das Gespiegelte auch reali-
ter zu sehen. Doch da dieser Wechsel von der Fiktion zur Wirklichkeit nicht möglich
ist, bleibt der Betrachter auf jene heterogenen Mosaiksteinchen angewiesen, die er
durch den Blick der Barfrau zu sehen bekommt und aus denen er das, was sich hinter
ihm befindet, zusammensetzen muss.
Manets vervollständigt seine komplexe Blickregie, indem er eine Nebenszene ein-
fügt, die eine weitere Facette der Grisette deutlich macht. Sie erscheint im Spiegel als
Rückenfigur, ist in das Gespräch mit einem Mann in Frack und Zylinder vertieft und
ermöglicht es dem Betrachter, zwischen der Außenperspektive und der Innenper-
spektive der Figur zu springen. Die Welt kann einmal mit den Augen der Figur gese-
hen werden, ein anderes Mal wird die Grisette als Teil dieser Welt wahrgenom-
men.119
Manets Teilung von Innen- und Außenperspektive wird von Wall nicht übernommen.
Während sich der Betrachter bei Manet dem Bild wie einer tatsächlichen Bar nähert
und dort in ein Verhältnis von „ich“ und „du“ tritt, schließt Wall den Betrachter aus. 119 Zur weiteren Analyse des Gemäldes: Lüthy, Michael: Bild und Blick in der Malerei Manets, Berlin 2000. Die Rezeptionsgeschichte des Gemäldes wird in dem Sammelband von Bradford R. Collins zusammengefasst. Bradford R. Collins (Hrsg.): Twelve Views of Manet’s „Bar“, Princeton 1996.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
56
Wall hat die Fotografie zwar ebenfalls vor einem Spiegel inszeniert, dieser tritt je-
doch selbst nicht in Erscheinung. Der Spiegel verkleidet die gesamte Fläche, bildet
die vierte Wand des Raums und ist für den Betrachter nicht zu erkennen. Erst auf den
zweiten Blick verrät die Kamera, die der Fläche gegenübergestellt ist, dass es sich
um einen abgeschlossenen Spiegelraum handeln muss, denn ohne die große Spiegel-
fläche wäre die Kamera unmöglich Teil der Bildhandlung.120
Ein weiterer Vergleich wird zei-
gen, dass sich Wall mit Frage-
stellungen der Malerei beschäf-
tigt und das Spiegel-Motiv ein-
führt, um das Bild an seine
künstlerische Autorität zurück-
zubinden, die sich in Kapitel C.
II. 3. deutlich als Arrangierungs-
strategie der Szene ausgewiesen
hat. Der Künstler bildet die In-
stanz der Apparatüberlistung.
Als künstlerische Autorität hat
Wall die Möglichkeit, kalkulierte
Strategien anzuwenden, um im
Bild Anzeichen einer Fiktionali-
sierung zu geben. Erst durch den Autor wird die Fotografie zu einer Kunstform, die
sich dem Diktum des „Es ist so gewesen“121 entledigen kann.
Abbildung14: Diego Velázquez: Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 318 x 276 cm
Eine seiner berühmtesten Ausprägungen erfährt das Spiegel-Motiv in dem Gemälde
„Las Meninas“, das Diego Velázquez 1656 als Hofmaler des spanischen Königs mal-
te. Wall hat während einer Europa-Reise 1977 das Gemälde von Velázquez kennen-
120 Martina Weinhart untersucht Walls Fotografie „Picture for Women“ unter der Berücksichtigung des Spiegelarrangements, kommt jedoch zu einem falschen Ergebnis, weil sie die Fotografie als Er-weiterung des Betrachterraums darstellt. Sie unterstellt eine Dreieckskomposition, deren Hypotenuse bei den Bildfiguren liegt, und deren Spitze sich außerhalb der Fläche beim Betrachter befindet. Damit bezieht sie Albertis Sehpyramide auf Walls Fotografie. Weinhart, Martina: Selbstbildnis ohne Selbst – Dekonstruktion eines Genres in der zeitgenössischen Kunst, Berlin 2004. Besonders das Kapitel: Wege der Partizipation, S.179-222. 121 Das Zitat ist Roland Barthes´ Essay „Die helle Kammer“, entlehnt. Barthes, Roland: aaO., Frank-furt/Main 1985, S. 128.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
57
gelernt.122 Er führt Velázquez und dessen Gemälde „Las Meninas“ in seinem Aufsatz
„Frames of reference“ aus dem Jahr 2003 als Bezugspunkt an. Er studierte „tradi-
tional painters like Manet, Cezanne and Velazquez (...) My involvement with that art
as a young artist helped me connect what bothered me about photography with quali-
ties in other art forms that held valuable indications for aspects of photographic mak-
ing. A sculpture by Andre seemed to me to have affinities with Las Meninas“123.
Wie in Walls Fotografie spielt die Bildszene von „Las Meninas“ in einem abge-
schlossenen Raum. Die Infantin Margarita, der Hofmaler Velázquez, die Hoffräulein
und weiteres Bildpersonal sind in der „Pieza de la galería“ des Alcázar versammelt.
Die Infantin soll gemalt werden und sie betrachtet dafür ihre Erscheinung im Spiegel.
Noch bereitet sie sich vor, noch ist nicht alles so, wie es später auf dem Gemälde
erscheinen wird. Wir erblicken die Phase der Bildentstehung, in der sich noch alles
vorbereitet: Das Glas mit dem Getränk muss noch geleert werden, um anschließend
die korrekte Pose für das höfische Repräsentationsbild einzunehmen.
Die Infantin ist der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Blicke der vier Hauptper-
sonen sind auf sie gerichtet – unmittelbar oder durch den Blick in den Spiegel. Isabel
del Velasco, das Hoffräulein, das links neben der Infantin steht, ist ein wenig nach
vorne geneigt und blickt prüfend auf die Kleidung der Prinzessin. Sie nimmt bereits
die Armhaltung ein, die für die Prinzessin vorgesehen ist. Gleich wird sie sich der
Etikette fügen und die gleiche Haltung einnehmen wie das Hoffräulein. Mit eben
dieser Armhaltung hat Velázquez die Infantin 1655 gemalt.
Folgt man Foucault und seiner Erklärung des Gemäldes in der „Ordnung der Dinge“,
so befinden sich vor dem Gemälde der König und die Königin von Spanien, welche
die Ausführungen des Künstlers beobachten und die Stellvertreterrolle des Betrach-
ters einnehmen.124
Der kleine Spiegel an der Rückwand des Raumes zeigt – laut Foucault – die Reflek-
tion des Königspaares und ermöglicht es, die Wirklichkeit außerhalb des Gemäldes
in Beziehung zur dargestellten Szenerie zu setzen.
122 Er besuchte die Gemäldesammlung des Prado in Madrid. Lauter, Rolf: Licht und Schatten, in: ders. (Hrsg.): aaO., S. 20-22, S. 21. 123 Wall, Jeff: Frames of reference, in: Artforum, 9, 2003, S.1-23, S.18. 124 Foucault, Michel: Velázquez, Las Meninas – die Hoffräulein, in: [ohne Herausgeber]: Velázquez – Las Meninas, Frankfurt/Main 1999, S. 11-55; Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frank-furt/Main 1974, S. 30-45; Harris, Enriqueta: Velázquez, Oxford 1982; Eine Übersicht der verschiede-nen Interpretationen liefert: Greub, Thierry (Hrsg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen, Berlin 2001.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
58
Reinhard Brandt und Rainer Marx liefern jedoch eine andere Interpretation des Ge-
mäldes;125 sie zeigt evidente Parallelen zwischen Walls postmoderner Bildkonzepti-
on und dem Beginn der Metamalerei im 17. Jahrhundert.126 Dabei hat der Spiegel
nicht die Funktion, König und Königin in den Raum zu projizieren, sondern auf die
malerische Ausführung des Herrscherporträts zu verweisen. Es ist nach den Abmes-
sungen der „Pieza de la galería“ unmöglich, dass König und Königin der Gruppe um
die Infantin gegenüberstehen. Würden sich – wie es Foucault vorschlägt – die Köni-
gin und der König spiegeln, dann müssten auch die Leinwand, der Künstler und die
Gruppe sowie große Teile des Raums in der Reflektion erscheinen. Zudem wird im
Spiegelbild das Königspaar in unterschiedlicher malerischer Ausführung gezeigt.
Während der Oberkörper der Königin vollständig ausgeführt ist, zeigt sich das Brust-
bild des Königs als Skizze.127 Ein weiteres Argument gegen die Betrachterrolle der
Könige findet sich, wenn man die Frisur der Infantin betrachtet. Im Porträt, das Ve-
lázquez von ihr 1655 angefertigt hat, trägt Margarita den Scheitel auf der rechten
Seite. Das Gemälde „Las Meninas“ zeigt also eine Spiegelung der Prinzessin und
schließt aus, dass sich das Königspaar vor dem Bild befindet. Weder der Maler Ve-
lázquez noch die Infantin blicken auf vor dem Gemälde befindliche Betrachter.
Stattdessen lässt der Spiegel im Hintergrund den Ausschnitt eines bereits begonne-
nen Gemäldes erkennen.128 Es ist das Bildnis, in dem später auch die Prinzessin er-
scheinen wird, das Gemälde, das in der linken Bildhälfte rückseitig dargestellt wird.
Es zeigt das Porträt der Könige, das von Velázquez bereits auf der Leinwand als
Skizze ausgeführt wurde und nun durch die Darstellung der Infantin vollendet wird.
Der Maler hat es so positioniert, dass die im Umriss gemalten Könige in Brusthöhe
im Spiegel erscheinen.
125 Brandt, Reinhardt: Philosophie in Bildern – von Giorgione bis Magritte, Köln 2000, S. 283-311; Marx, Rainer: Foucaults Irrtum, in: Frankfurter Rundschau vom 24.4.1999. 126 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild – Beginn der Metamalerei, München 1998, Kapitel VIII. Bilder vom Maler/Bilder vom Malen, S. 224-298. 127 Ein Versuch, die Unstimmigkeiten zu klären, stammt von Ulrich Asemissen. Er macht jedoch aus dem Königspaar einen Spuk, der im Moment des Malens durch den Raum huscht. „Es ist bloß eine Erscheinung, ein höchst reizvoller bildhafter Reflex, dessen Herkunft unbestimmt und unbestimmbar bleibt“. Asemissen, Hermann Ulrich: Las Meninas von Diego Velázquez, in: Kassler Hefte für Wis-senschaft und Kunstpädagogik, 2, Kassel 1981, S. 30. Auch: Asemissen, Ulrich Hermann / Schweik-hart, Gunter: Malerei als Thema der Malerei, Berlin 1994. 128 Dazu auch Moya, Ramiro: El trazado regulador y la perspectiva en „Las Meninas„“ in: Revista de Arquitectura, 3, 1961, S. 3-11; Stoichita, Victor I.: Imago Regis – Teoría del arte y retrato real en Las Meninas de Velázquez, in: Mariás, Fernando (Hrsg.): Otras Meninas, Madrid 1995, S. 181-203; Brown, Jonathan: Velázquez – Maler und Höfling, München 1986.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
59
Diese Beobachtung ist für die strukturelle Eigenart des Gemäldes von großer Wich-
tigkeit, denn der Betrachter wird ausgeschlossen, und das Gemälde zeigt sich statt-
dessen als künstlerischer Innenraum. Es stellt sich nun die Frage, wie wir, die Be-
rachter des Innenraums, die Szene im Atelier sehen. Die Antwort liegt in der Logik
des gesamten Bildes: Das Bild wird von innen gesehen; es ist aus dem Blickwinkel
der Infantin entwickelt und zeigt, was Margarita vor Augen hat. Die Prinzessin er-
blickt sich im Spiegel, und gleichzeitig sieht sie den Hintergrund und die Figuren
neben sich. Der Betrachter ist eliminiert; würde er vor dem Bild stehen, würde er die
Rückseite einer Spiegelwand erblicken. Es gibt keinen externen Betrachter im Bild;
er wird vielmehr durch das Spiegelarrangement ersetzt. An seine Stelle tritt dasjeni-
ge, was aus dem Zentrum des Bildes gesehen wird. Das Gemälde ist ein selbstbezüg-
liches Arrangement, das in sich geschlossen ist und für den Betrachter nur durch die
malerische Fixierung der Innenperspektive wahrnehmbar ist. Es verschließt sich in
sich selbst, ist nur Binnenraum und dadurch weniger das Bild einer Wirklichkeit, als
ein auf sich selbst reflektierendes Kunststück. Trat der Betrachter im Gemälde Ma-
nets der Barfrau gegenüber, so ist er bei Velázquez gar nicht erst vorgesehen.
Wall bezieht sich auf diese Struktur, indem er den Kunstgriff des spanischen Malers
aufgreift. Im Gegensatz zur Bezugnahme auf Manet erfolgt die Referenz nicht in
motivischer Hinsicht, sondern auf einer bildstrukturellen Ebene. Die Bedeutung von
„Las Meninas“ als höfisches Repräsentationsbild klammert Wall aus.129 Er bezieht
sich nicht auf die Darstellung königlicher Macht, sondern auf den Spiegelmechanis-
mus, der dem Betrachter bewusst macht, dass es sich um ein Abbild mit „konstruier-
ter“ Perspektive ohne Außenbezug handelt.
Ebenso wie Velázquez kann Wall sein Modell nur von vorne darstellen, weil er, be-
ziehungsweise die Kamera, es nur von vorne sieht. Wenn die Fotografie nicht aus
dem Blickwinkel des Betrachters konzipiert wurde, wie es Talbot im „Pencil of Na-
ture“ vorgibt, kann sie nur auf eine künstlerische Wahrheit, auf die arrangierte Fikti- 129Erst seit dem 19. Jahrhundert trägt das Gemälde den Titel „Las Meninas“. In seiner Entstehungszeit hatte es den Namen „La familia des Felipe IV“. Es ist also ein Familienporträt, das die Infantin als zukünftige Königin in einem genealogischen Zusammenhang mit ihren Eltern präsentiert. Diese sind zwar durch die Spieglung als Reflektion anwesend, körperlich jedoch abwesend. Ihre „erscheinungs-hafte“ Präsenz wird in der Forschung als Verkörperung der übergeordneten Legitimität des Staates gewertet. „Las Meninas“ ist demnach ein Gemälde, das die Rechtssymbolik des Königtums repräsen-tiert. Dazu: Lüthy, Michael: Las Meninas und die Idee der Repräsentation, in: aaO. S. 194-200; zur unsterblichen, mystischen Seite des Königtums, dessen Ausläufern noch im Absolutismus spürbar sind: Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs – eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
60
on verweisen; die eigengesetzliche Verschlossenheit der Fotografie verweist auf den
fiktionalen Anspruch, dem Walls Bild unterliegt. Er paraphrasiert den Fenstertopos
albertischer Prägung und führt ihn gleichzeitig ad absurdum. Die Fotografie ist ein in
sich geschlossenes, autonomes Gebilde, das „gänzlich es selbst ist“130, indem es die
Bildentstehung und die Bildbetrachtung darstellt. Der Spiegel ermöglicht dabei, dass
das Bild angesehen werden kann – nicht von außen, sondern aus der Bild-Perspektive
der Kamera, die mittig in die Fotografie gesetzt ist. Sie nimmt die Spiegelung auf
und produziert das Objekt, das später betrachtet werden kann. Wall hat dadurch die
Möglichkeit, einerseits dem Betrachter eine Abbildung vorzuführen, ihn aber gleich-
zeitig aus dem fiktiven Bildraum zurückzuweisen.
Die Spiegelung liefert noch weitere Besonderheiten: Im Gemälde und in der Fotogra-
fie wird der Produktionsvorgang dargestellt. Velázquez und Wall setzen sich auktori-
al ins Bild. Dabei gibt es keinen Zweifel, wer für das künstlerische Produkt die Ver-
antwortung trägt. Beide Künstler haben ihre Produktionsmittel in der Hand, Veláz-
quez Palette und Pinsel, Wall den Fernauslöser der Kamera. Die Fotografie entsteht,
indem der Künstler die Veranlassung dafür liefert. Dabei werden der Schöpfer des
Werks und sein Bild im Werk ebenso präsentiert wie das Herstellen und das Ergebnis
der Herstellung. Selbstporträt und Autorendarstellung fallen zusammen. Diese Ver-
vielfachung der Darstellungsebenen weist die Werke als metafiktional aus.131 Die
Bilder haben mehrere Lesarten, von denen die augenfälligste der Diskurs über das
Bildermachen ist. Beide fügen eine reflexive Bildebene ein, um dem Betrachter zu
zeigen, dass es sich um ein Kunstwerk handelt, das nach spezifischen Gesetzen her-
gestellt wurde.
Ein Gemälde so darzustellen, dass es wie der Reflex eines Spiegels erscheint, gehört
zu den Üblichkeiten der barocken Bildkultur. Der Spiegel ist dabei eine Chiffre der
Malerei, die mit ihren eigenen Mitteln vorgeführt werden soll. Wall bezieht sich auf
dieses metafiktionale Verfahren, um deutlich zu machen, dass es sich bei seinen Fo-
tografien um kalkulierte Arrangements handelt, deren Konzeption eine Autorschaft
zugrunde liegt. Die Selbstreferentialität seiner Fotografien besteht nicht darin, die
130 Brandt, Reinhard: aaO., S. 297. 131 Der Begriff der Metafiktion stammt ursprünglich aus der Literaturwissenschaft. In der vorliegen-den Arbeit wird er verwendet, um die auktorialen Verfahren von Velázquez und Wall zu benennen; er charakterisiert die ästhetische Selbstauskunft und das Anliegen des Künstlers, im Werk Hinweise auf seine Entstehung unterzubringen.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
61
medialen Eigenschaften zu visualisieren, sondern einen selbstreflexiven, illusionisti-
schen Innenraum darzustellen.
C. IV. Arrangement und Indexikalität
Die aufgeführten Merkmale sollen nun den Eigenschaften des Fotografischen gegen-
übergestellt werden, die anhand von William Henry Fox Talbots Texten erarbeitet
wurden. Das Fotografische zeichnet sich demnach durch die Selbstabbildung der
Natur aus, durch einen maschinellen Mechanismus, der in Gang gesetzt wird. Die Art
und Weise, mit der sich Wall ins Bild setzt, stellt diesem naturgesetzlichen Automa-
tismus eine künstlerische Autorität gegenüber. Wall kann diese Gesetzmäßigkeit
nicht auflösen, jedoch Hinweise für den Betrachter geben, das indexikalische Bild in
einem anderen Referenzrahmen wahrzunehmen. Wall stellt sich als Künstlerpersön-
lichkeit dar, die das indexikalische Verfahren einordnet, kommentiert und auslegt.
Durch die Transformation des Manet-Modells gelingt es Wall, die Technik des Me-
diums zu hinterfragen und neu zu bewerten. Durch sein Arrangierungs-Verfahren
verweist er nicht nur auf die indexikalische Qualität der Fotografie, sondern fügt
auch eine ikonische hinzu.
Die Paraphrase des Manet-Motivs ruft die bildliche Erinnerung des Betrachters auf.
Bildhafte Erinnerung funktioniert jedoch über Ähnlichkeiten, die das Vor- und
Nachbild durch Referenz in Verbindung bringen. Ähnlichkeit ist jedoch keine Eigen-
schaft des Index’, sondern des Ikons. „Ein Ikon ist ein Zeichen, insofern es einem
anderen Objekt ähnlich ist und eine Idee hervorruft, die – da sie sich selbst ähnelt –
ihrem Objekt ähnlich ist.“132, bestimmt der Semiotiker Charles S. Peirce das Ikon in
seinem „logische[n] Notizbuch“. Durch Ähnlichkeit wird keine physikalische Ver-
bindung konstruiert, die grundlegend für den Index ist. Ein ikonisierendes Zeichen
verweist auf den bezeichneten Gegenstand durch Übereinstimmung von bildhaften
Merkmalen. „Dabei werden natürlich Farbe, Form, Größe, Beschaffenheit des Be-
zeichneten im Zeichen anders sein können. Die Wachsfigur Heinrich VIII. im Panop-
tikum an der Reeperbahn ist so ein ikonisierendes Zeichen des berühmten englischen
Herrschers“133. Ebenso wie die Wachsfigur auf den englischen König verweist, be- 132 Charles S. Peirce – Semiotische Schriften, in: Kloesel, Christian / Pape, Helmut (Hrsg.), Frank-furt/Main 1986, S. 346. 133 Menne, Albert: Einführung in die Logik, Tübingen 1993, S. 12.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
62
zieht sich Wall auf Manets Darstellung. Walls Zeichen evoziert beim Betrachter den
bezeichneten Gegenstand durch die erinnerte Bildhaftigkeit. Der Künstler verweist
auf ein Vorbild, das von Manet als willkürliche Setzung geschaffen wurde und nun
als Arrangement in „Picture for Women“ aufgerufen wird.134
Die Sammellinse der Fotografie ermöglicht es zudem, ein Bild darzustellen, welches
perspektivische Verkürzungen aufweist. Durch große Objekte wird ein Vordergrund
suggeriert, durch kleine ein Hintergrund angedeutet. Die Fotografie kann dadurch –
wie es auch Talbot vorschlägt – als Ausblick durch ein Fenster gewertet werden. Der
Fensterblick zeigt demnach eine Wirklichkeit, die nicht ohne einen Betrachter ge-
dacht werden kann. Das Sehen durch ein Fenster funktioniert immer durch die Wei-
terführung der Betrachterrealität. Seine Verfasstheit wird in das Bild aufgenommen;
es ist die Verlängerung seiner raumzeitlichen Bedingungen. Durch den Spiegelme-
chanismus schließt Wall nun den Betrachter aus. Die Fotografie „Picture for Wo-
men“ kann nicht als Ausblick durch ein Fenster gelesen werden, weil das Bild sich
aus dem Blickwinkel der Kamera entwickelt. Zwar ist der Tisch im Hintergrund
kleiner als die Figuren im Vordergrund, doch letztlich macht der Spiegel deutlich,
dass die Fotografie aus einer „Innenperspektive“ entwickelt wurde. Die Pointe des
Bildes liegt darin, dass der Betrachter die Fotografie zwar als Gegenüber rezipieren
kann, ihm jedoch gleichzeitig bewusst gemacht wird, dass es ohne eine Bezugnahme
auf seine raum-zeitliche Verfasstheit entstanden ist. Das Hier-und-Jetzt, das kenn-
zeichnend für den physikalischen Abdruck ist, soll durch diesen Mechanismus über-
schritten werden.
Wall legt zwar Spuren, die auf die Entstehung qua Medium verweisen, liefert jedoch
eine Transgression der fotografischen Technik, um Bilder hervorzubringen.135 Mit
einer Kunsttheorie, die das Indexikalische zum alleinigen Inhalt der Fotografie
macht, können seine Arbeiten nicht bestimmt werden. Die Propaganda des indexika-
lischen Abdrucks verabsolutiert den Herstellungsvorgang als ästhetische Kategorie
und verkennt, dass Werke der inszenierten Fotografie nicht allein unter der Kategorie
des Index` subsumiert werden können. Walls Arbeiten sind Tableaus, in denen die
technische Gemachtheit der bildhaften Wirkung untergeordnet wird. Sie schildern 134 Auf die Überbietung von Indexikalität durch Ikonik verweist auch Ulrich Reißer. Reißer, Ulrich: Jeff Wall“, in: ders. (Hrsg.): Kunstepochen – 20. Jahrhundert, S. 290-292, S. 290f. 135 Die Bilder, die Wall erzeugt, haben keine Verwandtschaft mit der bildmäßigen Fotografie des 19. Jahrhunderts. Diesem Unterschied widmet sich das Kapitel „Der ausgeschlossene Betrachter - Grund-lagen einer optischen Kunst“, S. 104 der vorliegenden Arbeit.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
63
eine Szenerie, verweisen auf die Autorenschaft des Künstlers, erschöpfen sich aber
nicht in medialer Selbstbezüglichkeit. Die Fotografie „Picture for Women“ zeigt bei-
spielhaft, wie Wall die Kategorien der Indexikalität überschreitet. Indem er sich als
Autor einführt und auf das malerische Erbe von Manet referiert, propagiert er eine
„ikonische Wende“136, die durch die Verbindung zweier unterschiedlicher Medien
gewährleistet wird. Malerei trifft auf Fotografie; eine indexikalische Technik auf ein
ikonisches Verfahren. Und mehr noch: Wall unterläuft die Schlussfolgerung, die an
den Gebrauch des Mediums geknüpft ist. „Picture for Women“ ist zwar eine Fotogra-
fie – eine Garantie für ihre Dokumenthaftigkeit übernimmt sie deswegen nicht. Die
Arbeit ist in erster Linie ein arrangiertes Bild und erwirkt dadurch den Anspruch, als
Fiktion rezipiert zu werden. Während das Indexikalische jede künstlerische Fiktion
eliminiert, bietet die „ikonische Wende“ der inszenierten Fotografie die Möglichkeit,
als Kunstwerk in einem spezifischen Referenzrahmen wahrgenommen zu werden.
Walls Verfahren zeigt, dass die Fotografie – wie die klassischen Künste – in unter-
schiedlichen Kontexten und Arrangements verschiedene Funktionen annehmen kön-
nen. Ebenso wie die Zeichnung, welche sowohl wissenschaftliches Dokument als
auch Kunstwerk sein kann, kann die Fotografie fiktionalisierende Arrangements dar-
stellen, um dem Betrachter den Kunststatus zu signalisieren. In den etablierten Küns-
ten ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ein Medium sowohl an der Repräsentation
von Wirklichkeit wie an der von Einbildungskraft teilnehmen kann.
Die indexikalische Dominanz der Fotografie hatte dies bis Mitte der 70er-Jahre nicht
zugelassen. In der Ankaufspolitik der Museen schlägt sich diese Prägung deutlich
nieder: Das erste Bild von Cindy Sherman aus der Serie der „Untitled Film Stills“
wurde Mitte der 80er-Jahre an die Sammlung des Museum of Modern Art verkauft.
Obwohl das „Moma“ seit der Begründung durch Edward Steichen eine kaufkräftige
Fotoabteilung vorwies, wurde die Serie durch den Etat bezahlt, der für den Ankauf
von Gemälden und Skulpturen zuständig war.137 Ganz und gar der modernistischen
Fotografie verpflichtet, propagierte der damalige Leiter John Szarkowski ausschließ-
lich eine Fotokunst, welche sich den Gesetzen greenbergscher Prägung verpflichtete.
136 Dieser Ausdruck ist erstmals durch den amerikanischen Wissenschaftler Thomas Mitchell geprägt worden. Mitchell. Mitchell, W.J. Thomas: Picture Theory – Essays on verbal and visual Representa-tion, Chicago 1994. 137 Dazu: Grundberg, Andy: Kunst und Fotografie – Fotografie und Kunst – über die modernistische Membran, in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika, Zürich 1998, S. 43-52, S. 51.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
64
Fotografische Technik mit malerischem Anspruch zu verbinden, bedeutete für Szar-
kowski keine Möglichkeit, Fotografie als Kunstform zu etablieren.
Der einseitige, technisch-mediale Diskurs schlägt sich noch heute im Sprach-
gebrauch nieder. Der deutsche Begriff für das Medium macht es deutlich: Das Wort
„Fotografie“ bezeichnet sowohl die Technik der Bildherstellung wie ihr Er-
zeugnis138. Das bildnerische Werk hat die gleiche Bezeichnung wie sein Herstel-
lungsverfahren. Dem entspricht die Logik der enzyklopädischen Fotografiegeschich-
ten. Die bedeutendsten Nachschlagewerke der Fotografie wie der Sonderband „Ge-
schichte der Photographie“ der Propyläen Kunstgeschichte und Michel Frizots „Neue
Geschichte der Fotografie“ organisieren die Chronologie der Bilder als eine Abfolge
technischer Überbietungen.139 Seit dem 19. Jahrhundert dominiert diese Technikge-
schichte das Feld. Ihre Erzählung kanonisiert die Geschichte der Fotografie als Folge
immer besserer Apparaturen, als teleologische Reihe von Erfindern und Erfindungen.
„Als Gegenstand seiner Untersuchung und Betrachtung wählt der Fotohistoriker je-
ner Jahre den Apparat und nicht, was dieser hervorbringt, das Material, und nicht,
was die chemische Reaktion sichtbar macht“140.
Nachdem die Signale dargestellt wurden, die Wall einsetzt, um den Kunstcharakter
seiner Fotografien vorzuführen, folgt nun die Frage, in welcher Tradition sich Walls
Bilder befinden. In den Kapiteln D. E. und F. der vorliegenden Arbeit wird diese
Fragestellung ausführlich erläutert. An dieser Stelle nur soviel: In Bildgenese, Kom-
position und Auffassung von Handlung und Raum steht Wall in der malerischen
Tradition, die sich nördlich der Alpen entwickelt hat. Das Ausschließen eines exter-
nen Betrachters zeugt davon, die Technik des Abdrucks der Fotografie mit Strategien
des Eindrucks, der Malerei, zu verbinden. Doch bevor diese Argumentation entwi-
ckelt wird, muss ein begriffliches Vokabular gefunden werden, um Walls Fotogra-
138 Siehe auch dazu im Brockhaus den Eintrag zur Photographie: „Die Gesamtheit der Verfahren, Beschäftigung und Geräte zur Herstellung dauerhafter Abbildungen von beliebigen Objekten durch Einwirkung von Strahlung (...) auf Schichten, deren physikal. oder chem. Eigenschaften unter dieser Energieeinwirkung verändert werden; auch das dadurch erzeugte Bild (i. e. S. Lichtbild, Photo) selbst.“ Der große Brockhaus, Neunter Band, Wiesbaden 1980, S. 24. 139 Frizot, Michel (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998; Gernsheim, Helmut: Geschich-te der Photographie – die ersten hundert Jahre, Frankfurt/Main 1983. 140 Starl, Timm: Bilderatlas und Handbuch – zu einigen Aspekten der fotogeschichtlichen Darstellun-gen bei Josef Maria Eder und Hermann Krone, in: Hesse, Wolfgang / Starl, Timm (Hrsg.): Der Photo-pionier Hermann Krone – Photographie und Apparatur – Bildkultur und Phototechnik im 19. Jahrhun-dert, Marburg 1998, S. 215-224, S. 217.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
65
fien adäquat zu beschreiben – eine Kategorie, welche die Bildqualität und den
Kunstcharakter gleichermaßen berücksichtigt.
C.V. „Fictional narrative“ – Kategorie der inszenierten Fotografie Der amerikanische Kunstkritiker Douglas Crimp liefert in seinem Aufsatz „Pictures“
von 1979 die Begrifflichkeiten, durch die sich Walls Fotografien beschreiben las-
sen.141 „Pictures“ bezog sich auf eine gleichnamige Ausstellung, die Crimp in New
York 1977 besucht hatte. Im „Artists Space“, einer kleinen Produzentengalerie, wur-
den fünf Positionen zeitgenössischer Fotografie vorgestellt, Werke von Troy Braun-
tuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith.
1979 erschien Crimps Aufsatz in der Zeitschrift „October“, ging jedoch über die Re-
zension dieser Ausstellung weit hinaus.142 Crimp stellte eine Arbeit der Foto-
Künstlerin Cindy Sherman vor und lieferte durch seine Beschreibung des „Untitled
Filmstills #21“die entscheidende Formel.
Bereits die ersten Sätze seines Aufsatzes zeigen, dass Crimp beabsichtigt, die Vor-
aussetzungen der Concept- und Minimal-Art einer Revision zu unterziehen. Er rea-
giert auf Michael Frieds Aufsatz „Art and Objecthood“ von 1967, in dem die Mini-
mal-Art und ihre Werke in die Nähe des Theaters gerückt werden. In der Auseinan-
dersetzung mit dem modernistischen Werkbegriff greenbergscher Prägung definierte
Michael Fried die Kunst jenseits der traditionellen Gattungen. Eine theatralische
Kunst „lies between the arts“143. Die Ära der Einzelkünste, Malerei und Skulptur, sei
Vergangenheit, denn „Art degenerates“; eine Weiterentwicklung der einzelnen Gat-
tungen sei nach Fried nicht mehr zu erwarten: „The concept of the art itself ... [is]
meaningful, or wholly meaningful, only within the individual arts“. Der Rang eines
Kunstwerks zeige sich in der Berücksichtigung seiner medialen Eigenschaften. Gute
Malerei beschränke sich demnach auf die Zweidimensionalität, während Plastiken
und Skulpturen ihren Bestimmungen nach mit der Dreidimensionalität arbeiten sol- 141Crimp, Douglas: Pictures, in: October, 8, Spring 1979, S. 75-88. Als englischer Nachdruck liegt der Text vor in: Wallis, Brian / Pillips, Christopher / Yohn, Tim (Hrsg.): Art after Modernism – Rethink-ing Representation, New York 1984, S. 175-186. 142 Erst in der jüngeren Forschung haben Autoren den Text „Pictures“ in Zusammenhang mit der Fo-tografie gesehen. Ohne ihn weiter einzuordnen, nennt ihn Andy Grundberg in einem Abschnitt des Aufsatzes „Kunst und Fotografie – Fotografie und Kunst – über die modernistische Membran, in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): aaO., S. 44.; Dazu auch: Metzger, Rainer (Hrsg.): Kunstforum International, 162, Nov./Dez. 2002. 143 Alle Zitate von Michael Fried werden in Crimps Text aufgeführt. Crimp, Douglas: aaO., S. 175f.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
66
len. Um gegen Frieds Medienkritik zu argumentieren, stellt Crimp die neuen künstle-
rischen Aktivitäten dar. Er bemerkt: „the actual characteristics of the medium per se
cannot any longer tell us much about artist’s activity“144. Die Künstler, deren Arbei-
ten für Crimp eine neue Art der Kunst repräsentieren, stammen zwar aus der Ära der
„Presentness“, sie haben den Kategorien jedoch eine neue Ausrichtung gegeben und
arbeiten nun mit Bildern.
„Theatrical dimensions have been transformed and quite unex-pectedly reinvested in the pictorial image. If many of these artists can be said to have been apprenticed in the field of performance as is issued from minimalism, they have nevertheless begun to re-verse its priorities, making of the literal situation and duration of the performed event a tableau whose presence and temporality are utterly psychologized“145.
An die Stelle der Buchstäblichkeit („literal situation“) minimalistischer Materialien,
Intentionen und Verweise ist das Tableau getreten.
Jeff Wall beschreibt diesen Vorgang 2001 im Rückblick:
„In den siebziger Jahren habe ich mit Fotografie neu begonnen, in einer Arbeitsweise, die sich von der der sechziger Jahre voll-kommen unterscheidet (...) Mir war die „Fotokunst“ ästhetisch zu sehr in ihrem eigenen Diskurs befangen. Die Maßstäbe dafür wa-ren in den zwanziger und dreißiger Jahren festgelegt worden; das Wesentliche dabei war die Qualität des Abzugs und der dokumen-tarische Gehalt. Mehr oder weniger auf diese Weise sah meine Generation, um 1966, die Fotografie. Aus vielen Gründen schien mir diese Vorstellung angesichts der Möglichkeiten, die ich dem Medium zutraute, als höchst unangemessen. Diese Möglichkeiten waren in der damaligen Diskussion über Fotografie ungenügend umrissen. (...) Die Geschichte der Malerei gab dazu sehr viel mehr Anregung (...). Um innovativ gegen das Konzept der „künst-lerischen“ Fotografie zu arbeiten, musste ich Bildqualitäten, Su-jets und Techniken integrieren, die in jenem Konzept ausge-schlossen waren“146
Dieser Übergang lässt sich im fotografischen Werk von Wall deutlich nachzeichnen.
Ende der 60er-Jahre arbeitete er noch konzeptuell und gehörte zu der von Crimp be-
schriebenen Generation, deren künstlerische Erfahrungen durch die Buchstäblichkeit
144 Crimp, Douglas: aaO., S. 176. 145 Crimp, Douglas: aaO., S. 177. 146 Jeff Wall in: Ein Maler des modernen Lebens – Gespräch zwischen Jeff Wall und Jean-Francois Chevrier, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S. 173.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
67
der Concept-Art geprägt wurden. Zu seinen frühen Arbeiten gehört das „Landscape
Manual“ von 1969-70, das aus einem 50-seitigen Buch besteht. Es wurde in einer
Auflage von 400 Stück veröffentlicht und zeigt Schwarzweiß-Fotografien, die neben
einen Text montiert wurden. Sie dokumentieren eine Autofahrt, während der die Fo-
tografien entstanden sind. Im Gegensatz zu den späteren Inszenierungen arbeitet
Wall hier literal. Die Fotografien im „Landscape Manual“ besitzen keine Hinweise
auf einen fiktionalen Ge-
halt. Sie sind in dieser Ar-
beit nur das, was sie sind –
indexikalische Einprägun-
gen einer Spritztour. Deut-
lich zeigt sich hier der Ein-
fluss Dan Grahams. Dan
Grahams Arbeiten, denen
Wall 1981 einen langen
Essay gewidmet hat147,
zeigen die entscheidenden
Merkmale der Concept-Art: Sie markieren den Übergang vom Werk zum Text. Die
Abbildung Nr.16 stellt die Textarbeit „Homes for America“ von 1966 dar. Sie be-
steht aus dem Layout einer Doppelseite.
Abbildung 15: Jeff Wall: Landscape Manual, 1969-70, 50-seitiges Booklet
Text und Bild sind drei-
spaltig angeordnet und er-
schienen 1966/1967 in der
Dezember/Januar-Ausgabe
des „Arts Magazine“. Zwar
wurde Grahams Entwurf
verändert, einige seiner
Fotografien durch die von
Walker Evans ersetzt, das
Layout gekürzt; dennoch
vereinigt „Homes for Ame-
rica“ die Charakteristika einer Kunst, die für Jeff Wall am Anfang seiner künstleri-
Abbildung 16: Dan Graham: Homes for America, Doppel-seite in der Zeitschrift „Arts Magazine“, 1966/67
147 Wall, Jeff: Ein Entwurf zu „Dan Grahams Kammerspiel“, in: Stemmrich, Gregor: aaO., S. 47-187.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
68
schen Laufbahn verbindlich sind. Ebenso wie bei Graham ist Walls Text-Bild-
Kombination als Beitrag für das Printmedium konzipiert worden – bei Graham als
Zeitschriftenbeitrag, bei Wall als Booklet. Beide kultivieren die Aufwertung des All-
täglichen, Nebensächlichen und Banalen, indem die Vorstädte bei Graham und die
Straßenszenerien bei Wall sowohl als Motiv wie als Technik mit dem Dilettantismus
der Allerweltsknipserei fotografiert worden sind. Die Abzüge sind verschattet; sie
zeigen Ansichten, die während der Autofahrt aus der Frontscheibe gemacht wurden –
ohne Arrangement, Bestimmung des Standpunkts und Schauspieler. Durch den
schlechten Druck sind kaum noch Details zu erkennen. Gestalterische Komponiert-
heit und lichtbildnerische Delikatesse, welche die artifizielle Gemachtheit späterer
Arbeiten auszeichnen, gehören hier nicht zum Repertoire.
Wall thematisiert ebenso wie Graham den kalkulierten Dilettantismus der Herstel-
lung und stellt ihn in den Dienst einer weiteren Concept-Art-Kategorie.
Es ist das Entropische, das sich in den Fotografien beider Künstler ausdrückt. Von
Robert Smithson 1966 in einem Aufsatz der Zeitschrift „Artforum“ eingeführt, be-
zeichnet das Entropische die Konformität der amerikanischen Vorstädte und Land-
schaften, den Verlust regionaler Identität und den Prozess einer fortschreitenden op-
tischen Gleichschaltung. Der naturgesetzlich determinierte Verfall von Ordnung und
die Erosion der Landschaft kennzeichnen seiner Meinung nach die lebensweltliche
Wirklichkeit der Bürger, die in den USA leben.148 Die Landschaft hat in Walls Foto-
grafien keine individuelle Prägung. Sie ist totes Brachland, das bis dato unbebaut ist,
später jedoch von den vorstädtischen Seriensiedlungen einverleibt wird. Hier finden
sich noch keine tableauhaften Inszenierungen, sondern Fotografien, welche als Re-
portage die Region dokumentieren. Walls „Landscape Manual“ zeigt den Status, den
Fotografie im künstlerischen Umfeld der 60er-Jahre hatte: Sie dient den Künstlern
als Dokument. Bis Anfang der 60er-Jahre gibt es nur eine Kunst mit Fotografie, eine
Kunst als Fotografie tritt erst zehn Jahre später auf den Plan. Fotografische Abzüge
sind als Dokumente eindeutig an einen Zeitpunkt und eine Örtlichkeit gebunden.
Auch wenn im „Landscape Manual“ unklar bleibt, auf welcher Straße sich der Foto-
graf befindet, ist gesichert, dass die Dokumentation zu einem Zeitpunkt erfolgt ist,
den auch wir, die Betrachter hätten erleben können. Im „Landscape Manual“ arbeitet
148 Smithson, Robert: Entropy and the Monument, in: Holt, Nancy: The Writings of Robert Smithson, New York 1977, S. 41-116.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
69
Wall nicht mit der fiktionalisierten Zeit eines Kunstwerks, sondern mit der eingefro-
renen Zeit der Wirklichkeit. Ähnlich dem Schnappschuss, den der Tourist während
einer Reise anfertigt, oder der Aufnahme eines Angestellten des Straßenvermes-
sungsamts, der die Befestigung der Teerschicht dokumentiert. Das ändert sich Ende
der 70er-Jahre. Jeff Wall und Cindy Sherman inszenieren ihre ersten Posen, wozu
Douglas Crimp schreibt:
„The psychological of this work is not that of subject matter of this picture, however, but of the way those pictures are presented, staged; that is, it is a function of their structure. (...) The temporal-ity of these pictures is not then a function of the nature of the me-dium as in itself temporal, but of the manner in which the picture is presented“149.
Durch die Inszenierung hat sich die gesamte Struktur der Fotografie verändert. Nicht
mehr die mediale Beschaffenheit diktiert nun die Wirkung der Fotografie, sondern
„the manner in which the picture is presented“. Ihre Zeitlichkeit ist nicht mehr die
eines Dokuments. Die Parameter, die das indexikalische Bild ausgezeichnet haben,
die Referenzen zur Wirklichkeit, treten nun in den Hintergrund. Das Aufzeichnen der
fotografischen Bilder, das immer in einem realzeitlichen Zusammenhang steht, wird
überschritten.
„We do not know what is happening in these pictures, but we know for sure, that
something is happening, and that something is a fictional narrative. We would never
take these photographs for being anything but staged“150, beschreibt Crimp die Kunst
der inszenierten Fotografie. Sie ist „fictional narrative“ – eine Kategorie, die im letz-
ten Kapitel dieser Arbeit bei der Ästhetik der Schilderung wieder aufgegriffen wird.
„Fictional narrative“ ist eine Fotografie, die mit dem Dokumentcharakter spielt. Sie
bildet ab und entzieht sich gleichzeitig den Konsequenzen, welche der Abbildcharak-
ter hervorruft. Vor allem der Dokumentcharakter, der die fotografische Abbildung
als Konsequenz eines Hier-und-Jetzt ausweist, wie es im Rekurs auf Talbot beschrei-
ben wurde, wird durch die Inszenierung überschritten.
The „photograph is generally through to announce itself as a di-rect transcription of the real precisely in its being a spatiotemporal fragment; or, on the contrary, it may attempt to transcend both
149 Crimp, Douglas: aaO., S. 178. 150 Crimp, Douglas: aaO., S. 179.
C. FREIHEIT IST, GEGEN DEN APPARAT ZU SPIELEN
70
space and time by contravening that very fragmentary qual-ity.[151] Sherman’s photographs do neither of these. Like ordinary snap-shots they appear to be fragments; unlike those snapshots their fragmentation is not that of the natural continuum“152.
Durch den Begriff „fictional narrative“ gibt Douglas Crimp uns eine Kategorie an die
Hand, mit der Walls Kunst benannt werden kann. Der Begriff markiert den Punkt
einer Neudefinition der Fotografie, die Mitte der 70er-Jahre beginnt. Es sind Zeit und
Raum, die in veränderter Weise präsentiert werden. Die Organisation der vorliegen-
den Arbeit knüpft an diese Einteilung an. Handlung und Tiefe werden, stellvertretend
für Zeit und Raum, als Merkmale der Schilderung untersucht. Nachdem die Analo-
gien zwischen der Malerei holländischer Prägung und Walls Fotografien aufgezeigt
worden sind, werden die Zeitstruktur und räumliche Wirkung dargestellt. Nicht mehr
die Medialität der Fotografie ist dabei bestimmend, sondern ihr Bildcharakter. „Pic-
ture for Women“ zeigt, dass Indexikalität als ästhetische Kategorie, wie sie von Ro-
salind Krauss gefordert wird, durch die Praxis inszenierter Fotografie überboten
wird.
151 Im Originaltext setzt Crimp hier eine Fußnote, um auf Edward Weston zu verweisen. Seine Foto-grafie gilt ihm als Kunst, die den fragmentarischen Charakter überschreitet. Westons neusachliche Fotografien arbeiten mit Großaufnahmen von Früchten und Gegenständen. Sie sind nicht „fictional narrative“. 152 Crimp, Douglas: aaO., S. 179.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
71
D. Der ausgeschlossene Betrachter – Grundlagen einer optischen Kunst
Das vorige Kapitel hat gezeigt, dass Ende der 70er-Jahre neue Strategien entwickelt
wurden, um Fotografie als Kunstform ohne dokumentarischen Abbildcharakter zu
etablieren. Jeff Wall bezieht sich auf Mechanismen von Velázquez und Manet und
macht dem Betrachter deutlich, dass seine Fotografien eine neue Lesart verlangen.
Diese Neubestimmung zeigte sich als Überschreitung der etablierten fotografiege-
schichtlichen Denkfiguren, die sich seit 1839, besonders durch die Veröffentlichung
des „Pencil of Nature“ durch William Henry Fox Talbot, gebildet hatten.
Es wurde dargestellt, dass Wall seine Fotografien arrangiert und durch das Spiegel-
motiv den Betrachter ausschließt. Seine Fotografien können nicht als Blick durch ein
Fenster gewertet werden. Sie gehören nicht zu einem Bildtypus, der sich als Schnitt
durch die Sehpyramide versteht und die raumzeitliche Betrachtererfahrung weiter-
führt. Die Darstellung eines Gegenstands an einem spezifischen Ort zu einem spezi-
fischen Zeitpunkt, wie es das indexikalische Bild zwangsläufig vorführt, steht diesem
Ausschluss des Betrachters gegenüber. Als Technik ist die Fotografie eine Aufzeich-
nung des je Gewesenen, als Arrangement unter Ausschluss des Betrachters ein ei-
genständiger künstlerischer „Innenraum“.
Dieser Ausschluss des Betrachters wird nun im Folgenden für eine Genealogie im
Sinne einer Tradition des Bildermachens von Bedeutung sein.153 Es gilt nun zu klä-
ren, welche Art von Bild-Kunst ähnlichen Zielsetzungen und Determinanten wie die
Fotografie Jeff Walls unterliegt. Wie muss diese Kunst ausgestattet sein, und was
qualifiziert sie, um als Bezugspunkt zu fungieren?
Es wird sich zeigen, dass Wall in einer malerischen Tradition steht, die sich in drei
Punkten mit seiner Fotografie trifft.
1. In der optischen Genese. Diese spezifische Art der Malerei wird in Analogie zum
Mechanismus der Augenfunktion entwickelt. Sie ist eine Kunst, die auf den Grund-
lagen der Optik beruht.
2. Im Gegenmodell zum Fensterblick der italienischen Malereikonzeption durch Le-
on Battista Alberti. Die Bildinhalte sind nicht auf einen Betrachter ausgerichtet.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
72
3. In der spezifischen Definition von Raum und Zeit. Diese Malerei besitzt eine au-
gentäuschende Wirkung. Im ersten Moment erscheint sie den Betrachter zu integrie-
ren, doch sowohl der Bildraum, wie die Bildzeit – siehe dazu Kapitel E – machen
deutlich, dass die Figuren auf sich bezogen sind und nicht für den Betrachter zu agie-
ren scheinen. Die Erschließung der Bildhandlung erfolgt für den Betrachter in räum-
licher Hinsicht durch einen Guckkastenraum, in zeitlicher Hinsicht durch die Schil-
derung.
Malerei wird in dieser Bildgattung als visuelle Kunst verstanden, deren Aufgabe
darin besteht, den Betrachter als Beobachter in die Bildwelt einerseits einzubeziehen,
andererseits die Bildrhetorik nicht auf ihn hin zu kalkulieren und ihn vielmehr auf
seine Rolle aus außenstehenden Beobachter zu beschränken. Dabei liegt beiden, so-
wohl der Malerei wie der Fotografie, eine Analogie im Bezug auf die Aufzeich-
nungsapparaturen zugrunde. Während der Fotograf mit einer optischen Linse seine
Inszenierung einfängt, folgt der Maler dem Vorbild des Auges als Sehinstrument.
Der Künstler stellt das Gemälde nicht als Reflex einer subjektiven Wahrnehmung
dar, sondern versucht die Konditionen eines anonymen Aufzeichnungsapparates zu
erforschen. Anschauliche Beispiele für diese Gattung der visuellen Kunst finden sich
in den Gemälden, die in Holland während des 17. Jahrhunderts entstehen. Sie bezeu-
gen das Bestreben der Künstler, analog dem Auge die Wirklichkeit auf die Bildtafel
zu bannen. Die holländischen Gemälde besitzen dabei ein Höchstmaß an Wirklich-
keitsbezug, ohne den Status des Kunstwerks zu verlieren. Hier etabliert sich eine
Kunstform, die ebenso wie Walls Fotografie „fiktional narrativ“ ist. Die Figuren
scheinen in diesen Bildräumen wie in Guckkästen ohne Bezug auf einen Beobachter
zu handeln; ihre Tätigkeiten sind nicht auf den Betrachter hin kalkuliert. Raum und
Bildzeitlichkeit dieser optischen Kunst unterliegen nicht den Gesetzen der Betrach-
terwelt.
153 Der Begriff des Bildermachens entstammt Walls eigener Diktion. In einem Interview mit Rolf Lauter, das er 2001 führte, benutzte Wall diesen Begriff, um seine Nähe zur holländischen Malerei zu verdeutlichen. Siehe dazu Seite 76 dieser Arbeit.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
73
D. I. Jeff Wall – Maler des modernen Lebens?
Hartnäckig hält sich in der Forschung zu Walls Fotografien die Aussage, seine Ar-
beiten seinen eine Weiterführung eines Bildtypus’, der sich in der Malerei des 19.
Jahrhunderts herausgebildet habe: „Die Verbindlichkeit, die Wall in der Geschichte
sucht, findet er in dem Baudelaireschen Programm der ,peinture de la vie moderne’
(...) nur so wird verständlich, daß Wall seine Kunst gleichzeitig als Erneuerung des
Konzepts der ,peinture de la vie moderne’ und als historische Konsequenz der Ent-
wicklung der Avantgarde begreift“154; „Jeff Wall ist ein Maler des modernen Le-
bens“155, Vertreter einer bourgeoisen Tradition der Kunst.156
Charles Baudelaires Text „Le Peintre de la vie moderne“ von 1865 beschreibt den
Schaffensprozess des Malers Constantin Guys. Baudelaire geht von einer besonderen
Neugierde des Malers gegenüber allen Erscheinungen der Wirklichkeit aus.157 „Man
denke sich einen Künstler, der sich geistig beständig im Zusand des Genesenden
befände, und man wird den Schlüssel zu Guys’ Charakter haben“158. Zudem zeichnet
sich der moderne Maler für Baudelaire durch die Leistung seiner Vorstellungskraft
aus. Guys „zeichnet aus dem Kopfe und nicht nach dem Modell (...). In der Tat
zeichnen alle guten, wahren Zeichner nach dem Bilder, das in ihrem Gehirn ge-
schrieben steht, und nicht nach der Natur“159. Es ist das sehnlichste Verlangen der
modernen Maler, „alle Mittel des Ausdrucks sich zu eigen zu machen, damit niemals
die Befehle des Geistes durch Verzögerung der Hand Störung und dann Veränderung
erfahren“160. Die Malerei des modernen Lebens ist also an die Schöpfungen der
künstlerischen Vorstellung und an die Ausführung dieser Vorstellung durch die
154 Stemmrich, Gregor: Vorwort, in: ders.: aaO., S. 7-31, S. 8. 155 Chevrier, Jean-Francois: Ein Maler des modernen Lebens, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): aaO., S. 168-185. 156 Bonnet, Anne-Marie / Metzger, Rainer: Eine demokratische, eine bourgeoise Tradition der Kunst – ein Gespräch mit Jeff Wall, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 33-45. Dieser These folgt ebenso Kerry Brogher mit seinem Aufsatz „The Photographer of Modern Life“, in: ders.: (Hrsg.): Jeff Wall, Los Angeles 1997, S. 13-21. Auch in der jüngsten Publikation zu Walls Werk vertritt Peter Bürger die These, Wall rehabilitiere eine avantgardistische Praxis. Museum Moderner Kunst Wien (Hrsg.): Jeff Wall – Photographs, Wien 2003. 157 „Um also zu einer Würdigung Guys’ überzugehen, so merke man sich zunächst, daß als Aus-gangspunkt seines Genies die Curiositas betrachtet werden kann“. Baudelaire, Charles: Der Maler des modernen Lebens, in: Schumann, Henry (Hrsg.): Charles Baudelaire – der Künstler des modernen Lebens – Essays, „Salons“, intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 290-320, S. 295. 158 Baudelaire, Charles: aaO., S. 295. 159 Baudelaire, Charles: aaO., S. 304. 160 Baudelaire, Charles: aaO., S. 305.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
74
Hand des Künstlers gebunden. Beim Schaffensakt ist der Bezug zu der wahrgenom-
menen Wirklichkeit ein Erinnerungsprozess. Die Eindrücke, die im ästhetischen
Moment der unbefangenen Wahrnehmung gewonnen wurden, werden im künstleri-
schen Akt neu geordnet. In der Salonkritik von 1859, die der „schöpferischen Imagi-
nation“ gewidmet ist, beschreibt Baudelaire das Verhältnis von künstlerischer Vor-
stellung und Naturaneignung anschaulich als Verwendung eines Wörterbuchs.
„“Die Natur ist bloß ein Wörterbuch“ (...) Um recht zu begreifen, welcher ausgedehnte Sinn in dieser Wendung sich birgt, muß man sich vergegenwärtigen, welchen mannigfaltigen Gebrauch man gemeinhin vom Wörterbuche macht. Man sucht dort den Sinn der Wörter, ihr Werden und Entstehen (...) Doch nie hat jemand das Wörterbuch als eine Komposition im dichterischen Sinne des Wortes angesehen. Die Maler, die der Imagination folgen, suchen in ihrem Wörterbuche die Elemente, die ihrer Konzeption ent-sprechen; und indes sie diese mit einer gewissen Kunst ihren Zwecken anpassen, geben sie ihnen obendrein eine völlig neue Physiognomie. Die aber keine Imagination besitzen, schreiben aus dem Wörterbuch ab.“161
Für Baudelaire ist die Wirklichkeitsabbildung an das Eingreifen des künstlerischen
Bewusstseins gebunden.162 Die subjektive Deutung der Natur macht aus der Wahr-
nehmung erst das Kunstwerk – und gerade hier liegt eine Unvereinbarkeit mit der
Fotografie, wie sie Jeff Wall verwendet. Die Fotografie steht dieser Art der künstleri-
schen Imagination gegenüber. Erstens ist die Technik der Bildherstellung immer
vom Künstler getrennt, Geist und Hand treten auseinander, und zweitens ist die Fo-
tografie gerade an die Darstellung des Sichtbaren gebunden. Die „inneren Bilder“,
die nur der Vorstellungskraft entstammen – wie sie Baudelaire fordert – kann die
Fotografie nicht liefern. Dieses Unvermögen, künstlerische Imagination auszudrü-
cken, begründet Baudelaires Ablehnung der Fotografie:
„In diesen kläglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetre-ten, die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem Glauben zu bestärken und was etwa noch Göttliches im französi-schen Geiste zurückgeblieben sein mochte zugrunde zu richten
161 Baudelaire, Charles: aaO., S. 212f. 162 In seiner Kritik der Pariser Salon-Ausstellung von 1859 nimmt Baudelaire die Unterteilung der Maler in „réaliste“ und „imaginatifs“ vor. Der ersten Gruppe stellt die Wirklichkeit ohne den denken-den und fühlenden Menschen objektiv und unmittelbar dar, die Gruppe der „imaginatifs“ dagegen bildet die subjektiv durch das menschliche Bewusstsein wahrgenommene Wirklichkeit ab. Dazu: Schulze Stefan: Die Selbstreflektion der Kunst bei Baudelaire, Heidelberg 1999. Besonders das Kapi-tel: Baudelaires Betonung der Imagination in den Schriften zur Malerei, S. 245-259.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
75
(...) Auf dem Gebiet der Malerei und der Skulptur, vor allem im Frankreich (...) lautet heute das Credo der Leute von Welt: ,Ich glaube an die Natur und glaube einzig an die Natur’ (...) und so wäre denn die Industrie, die ein mit der Natur identisches Resultat uns geben würde, die absolute Kunst. Ein rächerischer Gott hat die Stimme dieser Menge gehört. Daguerre ward sein Messi-as“163.
D. II. Jeff Wall – Fotografie als Fensterblick?
Erst in der jüngeren Forschung wurden Zusammenhänge von Walls Fotografien mit
einer anderen Gattung von Malerei dargestellt. Im Jahr 2001 organisierte der Kurator
León Krempel eine Konfrontation von Walls Fotografien mit der Malerei des hollän-
dischen Barockkünstlers Pieter Janssens, um bisher unbeachtete malerische Bezüge
im Werk des Kanadiers offenzulegen. Er zeigte anlässlich der Kabinettausstellung
„Camera elinga – Pieter Janssens begegnet Jeff Wall“ im Frankfurter Städelmuseum
Janssens’ Werke „Interieur ohne Figuren“ und „Tischstilleben mit Glas, chinesischer
Schale und Früchten“ und stellte sie Walls Fotografien „Morning Cleaning“ und
„Swept“ gegenüber. „Der Reiz der Begegnung mit Jeff Wall liegt darin, daß dieser
eine Affinität zu der Alten Kunst bezeugt, die über das übliche Maß hinaus geht (...)
Während Janssens als ein ,wahrer Fotograf’ optische Phänomene studiert und dar-
über hinaus noch ein für seine Zeit verblüffendes Gespür für abstrakte Formen
hat“164, greift Wall die im 20. Jahrhundert unterbrochene Tradition der gegenständli-
chen Malerei wieder auf. „Die in der Ausstellung herausgestellten Ähnlichkeiten
zwischen Janssens und Wall verweisen auf Kontinuitäten in der Kunstgeschichte der
Neuzeit und Moderne, die oft übersehen werden“165. Obwohl Krempel die Darstel-
lung der Gemeinsamkeiten schuldig blieb, hatte er mit diesem zulässigen Vergleich
eine Verbindung hergestellt, die von Jeff Wall in einem Interview 2001 bestätigt
wurde. Auf die Frage des Kunstkritikers Rolf Lauter, was für ihn in Bezug auf die
holländische Malerei des 17. Jahrhunderts von Bedeutung sei, antwortete Jeff Wall:
163 Baudelaire, Charles: aaO., S. 205f. Zur Rezeption der Fotografie im 19. Jahrhundert auch: Schö-ning, Udo: Photographie und Literatur – diskursanalytische Bemerkungen zu einem Zusammenhang von Technik und Kunst in Frankreich um 1850, in: Briesemeister, Dietrich / Schönberger, Axel (Hrsg.): Ex nobile philologorum officio – Festschrift für Heinrich Bihler zu seinem 80. Geburtstag, Berlin 1998, S. 57-83. 164 Krempel, León: Einführung, in: ders. (Hrsg.): Camera elinga – Pieter Janssens begegnet Jeff Wall, Frankfurt/Main 2001, S. 7-22., S. 22. 165 Krempel, León: Einführung, in: aaO., S. 20.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
76
„Die besten dieser Gemälde sind Teil einer Tradition des Abbildens, des Bilderma-
chens, die ich als grundlegend für unseren Begriff von Kunst und künstlerischer
Qualität empfinde (...) Ich interessiere mich für die Wege, auf denen sie sich Fragen
des Abbildens nähern“166. Sein Interesse an holländischer Kunst verdeutlichte er
zudem im Winter 2002/2003 durch die Kuratierung einer Ausstellung, die in der
Manchester Art Gallery zu sehen war.167 Wall zeigte eine Auswahl seiner Land-
schaftsfotografien, denen er Gemälde der ständigen Sammlung der Galerie gegen-
überstellte. Er wählte die holländischen Landschaften des 17. Jahrhunderts und
knüpfte damit eine Verbindung, die bereits der US-Amerikanerin Charissa Terranova
in ihrer Rezension von Walls Ausstellung in der Marian Goodman Gallery in Paris
aufgefallen war: „And, the amazingly daunting pall of heavy blue that covers the sky
above brings to mind those skies so particular to the Dutch landscape, with its wet
geography and mercurial weather, and its tradition of landscape painting of the sev-
enteenth century“168.
Was sind nun die Eigenschaften,
die Walls Fotografien ausma-
chen und sie in die Nähe einer
spezifischen Gattung von Male-
rei stellen lassen? Betrachten
wir zunächst noch einmal Walls
Fotografie „Picture for Wo-
men“, um die entscheidenden
Hinweise für die Analyse zu
erhalten. Die Fotografie zeigt
eine Szene im Studio des Fotografen. Deutlich fallen die Protagonisten der Darstel-
lung ins Auge: Es sind Wall, sein Modell und die Kamera. Alle drei befinden sich im
Vordergrund und haben nahezu die gleiche Größe. Die Köpfe der Protagonisten so-
Abbildung 13: Jeff Wall: Picture for Women, 1979, Großdia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm
166 Jeff Wall im Interview mit Rolf Lauter, in: Krempel, León (Hrsg.): aaO., S. 28-29, S. 28. 167 Die Ausstellung wurde vom 6. Dezember 2002 bis zum 2. Februar 2003 in der Manchester Art Gallery gezeigt. 168 Terranova, Charissa N.: On the Hairy Idea of Beauty – Seven Works by Jeff Wall. Die Rezension erschien anlässlich Jeff Walls Ausstellung in der Marian Goodman Gallery in Paris, die vom 16. No-vember 2002 bis zum 4. Januar 2003 gezeigt wurde. Veröffentlicht wurde die Rezension unter: www.stretcher.org.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
77
wie das Gehäuse der Kamera befinden sich auf einer Höhe. Als Reihung sind sie im
Raum angeordnet. Das Tisch-Stillleben im Hintergrund kann zwar noch erahnt wer-
den, der Fokus ist jedoch auf den Vordergrund gerichtet und hebt diese Zone mit
besonderer Deutlichkeit hervor. Der Tiefenschärfebereich markiert den Standpunkt
der Figuren und definiert ihre Position. Weder agieren die Figuren, noch nutzen sie
die Dreidimensionalität der Bildtiefe. Sie erscheinen flach in den Raum gestellt und
erinnern eher an eindimensionale Schablonenfiguren aus Pappe oder Holz denn an
lebende Akteure. Ihre Gesichter zeigen keine expressive Mimik, die Körper sind in
sich geschlossen. Der Verzicht auf raumgreifende Gesten zeigt sich bei Wall, dessen
rechter Arm nicht in Erscheinung tritt. Lediglich seine linker Arm und die Hand, in
der er den Fernauslöser hält, werden gezeigt. Wall verzichtet darauf, durch Über-
schneidung der Figuren räumliche Tiefe und eine körperliche Interaktion des Bild-
personals darzustellen.
Die Figuren sind in ein Kompositionsgefüge aus Horizontalen und Vertikalen einge-
passt. Das Holzgesims, auf dem die Hände der Frau ruhen, bildet einen horizontalen
Streifen, der rechts und links über die Fotografie hinauszuführen scheint. Das Bild-
personal bildet senkrechte Kompositionslinien, die durch das Gestänge der Studio-
leuchten und durch die Verstrebungen der Fenster aufgenommen werden. Der Blick
des Betrachters wird blockiert und stattdessen die Geschlossenheit des Raumes dar-
gestellt. Die Fenster dienen nicht dazu, eine Tiefe vorzuführen; sie liefern keinen
Ausblick auf landschaftliche Weite. Im Gegenteil: Die Augen des Betrachters wer-
den von der Handlung, die sich in einer Art Guckkasten abspielt, auf den Vorder-
grund gelenkt.
Das Kompositionsgefüge zeigt jedoch noch weitere Merkmale: Die sich verkürzen-
den Linien, die von den weißen Wände ausgehen, welche die Figuren rechts und
links flankieren, treffen sich in der mittig in das Bild gesetzten Kamera. Dadurch
erzeugt Wall eine Irritation, die das Verständnis der Fotografie als Blick durch ein
Fenster konterkariert: Der Fluchtpunkt, auf den die räumlichen Verkürzungen zulau-
fen, wird durch die Kamera im Vordergrund verdeckt. An die Stelle, die als Flucht-
punkt im Hintergrund liegt, tritt das kompositorische Zentrum im Vordergrund. Der
optischen Gesetzmäßigkeit der Fotografie, die jedes Bild einer perspektivischen
Verkürzung unterwirft, stellt Jeff Wall die Position des Fotoapparates entgegen.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
78
Zudem arbeitet Wall der räumlichen Tiefe durch eine technische Gegebenheit der
Diafilmentwicklung entgegen. Da die Folien nur in einer handelsüblichen Größe zu
erhalten sind, muss er seine Dias aus zwei Teilen montieren. Alle großformatigen
Fotografien sind an einer Stelle zusammengesetzt. Dieser „Saum“ zeigt sich immer
als schwarze Linie, die von Wall an einer kompositorisch wichtigen Stelle in das
Bildgefüge gesetzt wird:
„ ,Picture for women’, on the other hand, was based theoretically on the seam, passing through the reflecting lens of the camera. In the system of representation exemplified by classical perspective, the vanishing point signifies both an irrationality (indivisibility) and an ideal of integration, wholeness and unification. The cam-era lens have often been identified with this signification through the structure of productive structural comparability of optical and geometrical perspective. The lens was meant to signify the ideally unified focal point of the structure of productive and erotic rela-tionship organized across the surface of yet another optical mechanism (...) the seam, or sature, or split to which the lens is subjected therefor functions not only as a structural factor but as a metaphoric key to the subject as a whole. I wanted to create struc-ture based simultaneously on unification and division across the web of signification established by the mechanisms used to make a picture“169
Der Saum ist in der Fotografie „Picture for Women“ ein „metaphoric key“. Er steht
der Ganzheit und der Betrachterintegration („wholeness and unification“), die durch
den zentralperspektivischen Raum entsteht, entgegen. Wall setzt der Einheit („unifi-
cation“) des Bildes die Teilung („division“) gegenüber. Er konterkariert die betrach-
terorientierte fotografische Darstellung sowohl durch den mittigen Schnitt, die deut-
liche Sichtbarmachung der materiellen Entstehung sowie durch das kompositorische
Arrangement. Der notwendigen optischen Verräumlichung der Fotografie stellt er die
Inszenierung der Bildszene an der Oberfläche des Bildraums gegenüber.
Das Gemälde „Kessel putzende Magd“ des Malers Gerard Dou von 1642 zeigt ein
ähnliches Verständnis des Bildraums. Wie in Walls Fotografie ist die Darstellung auf
wenig figürliches Personal beschränkt. Der Handlungsraum der Figur nimmt nur
wenige Zentimeter der Bildtiefe in Anspruch; raumgreifende Gebärden sind in die-
sem Bildraum nicht möglich. Die Erscheinungsrealität ist die einer seichten Nische.
Der Bildraum wird durch eine Brüstung – ähnlich der Holzplatte bei Wall – markiert.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
79
Wie bei „Picture for Women“ ist die Protagonistin deutlich im Vordergrund angesie-
delt; ein Fenster-Ausblick, der die umgebende Landschaft miteinbezieht und so den
Bildraum erweitern würde, findet sich nicht.
Walls Nähe zu einer malerischen Bildkultur
holländischer Prägung zeigt sich besonders
in seinen panoramatischen Landschaften. Die
Ausschnitthaftigkeit und Unabgeschlossen-
heit des Bildraums sind dabei ebenso kenn-
zeichnend wie die Weitläufigkeit der Bildan-
lage. Sie ermöglicht es, den Blick schweifen
zu lassen und stellt keine abgeschlossene
Bild-Totalität dar. In den Landschaftsdarstel-
lungen werden keine kompositorischen
Hilfsmittel zur Bilderschließung gegeben;
eine Hierarchie der einzelnen Bildgegenstän-
de, die auf eine betrachterorientierte Aneig-
nung des Bildinhalts verweisen würde, ist nicht zu finden. Die weitläufigen Ansich-
ten erscheinen nicht als kalkulierter Bühnenraum, sondern räumlich versetzbar, wie
das Segment einer Ansicht. Walls Fotografie „The Old Prison“ von 1987 zeigt das
Panorama einer flachen Landschaft. Sie ist als breites Querformat angelegt. Der Ho-
rizont ist tief eingezogen und bestimmt die Hälfte des Bildraums. Der breite, leicht
bewölkte Himmel nimmt das ausgeprägte Rechteck des Bildformats auf. Der Vor-
dergrund ist scharf gestellt, während der Hintergrund sich als streifenförmige Anlage
entwickelt. Eine winzige, vereinzelte Figur, die kaum in der Fülle der Bilddetails in
Erscheinung tritt, befindet sich auf dem Grünstreifen, links neben einer Häuserzeile.
Sie erlaubt es jedoch nicht, einen Maßstab für eine Zuordnung der Bildgegenstände
zu liefern. Eine Größenverhältnismäßigkeit, durch die der Betrachter sich in eine
Relation zur Bildhandlung stellen könnte, wird dadurch nicht vorgegeben. Die Figur
kann nicht als Identifikationsfigur für den Betrachter dienen. Kein Gegenstand stellt
sich in die Blickachse. Es gibt keine Elemente der Bildregie, die einen Gegenstand
mit besonderer Zeigefunktion hervorheben. Nichts gibt dem Blick des Betrachters
Abbildung 14: Gerard Dou: Kessel putzende Magd, 1642
169 Jeff Wall, in: McClintic, Miranda (Hrsg.): Directions 1981, Washington D.C. 1981, S. 30.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
80
Halt; kein Objekt beansprucht eine forcierte Aufmerksamkeit. Die Fotografie wird
vielmehr durch die Weite des Horizonts bestimmt.
Abbildung 17: Jeff Wall: The Old Prison, 1987, Großbilddia in Leuchtkasten, 70 x 229 cm
Hier zeigt sich Walls ausgeprägter Sinn dafür, dass das Bild eine Fläche ist – ähnlich
einer topographischen Geländeansicht, aber nicht wie ein Fenster. Vergleicht man
das Foto mit einer Zeichnung von Philips Koninck aus dem Jahr 1647, fallen weitere
Gemeinsamkeiten auf: Konincks „Flusslandschaft“ zeigt ebenso wie Walls Fotogra-
fie ein Panorama mit ein leerem „Vordergrundplateau“170. Der bewölkte Himmel ist
tief
im Gemälde angelegt,
das Bild ist zur rech-
ten und linken Seite
geöffnet. Der Bild-
raum wird wie in
Walls „The Old Pri-
son“ von einem strei-
fenförmigen flachen
Hintergrund abge-
schlossen. Durch die
Flächigkeit der Anlage und den gestreckten Verlauf der Landschaft kann die Frage,
wo der Betrachter angesiedelt ist, nicht beantwortet werden. Es gibt keine Sehens-
würdigkeit, auf die der Künstler mit Nachdruck hinweist. Stattdessen bestimmt die
Darstellung der Topographie, der weiten Ebene, das Bild. Ein Betrachterstandpunkt
Abbildung 18: Philips Koninck: Flusslandschaft mit hohem Ufer, lavierte Federzeichnung, 1647
170 Gerson, Horst: Philips Koninck – ein Beitrag zu Erforschung der holländischen Malerei des XVII. Jahrhunderts, Berlin 1980, S. 59.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
81
ist angesichts Walls panoramatischer Landschaft ebensowenig wie bei Koninck zu
definieren. Beide verzichten darauf, einen deutlichen Fluchtpunkt für die Orientie-
rung im Bild anzulegen. Ein kompositorischer Zusammenhalt, wie man ihn aus der
Malerei Italiens kennt, fehlt der Zeichnung wie der Fotografie. Der Betrachter wird
nicht mittels der Perspektive durch die Darstellung geführt. Beide Künstler verzich-
ten darauf, gestalterische Orientierungspunkte für einen schrittweisen Nachvollzug
des Raumes zu liefern und betonen die Flächigkeit des Bildträgers.
Diesen Aus-
schluss des Bet-
rachters führt
Wall in der Foto-
grafie „The Je-
wish Cemetery“
von 1987 weiter.
Die streifenför-
mige Anlage
wird hier beson-
ders durch die Bildelemente Horizont, Baumzone und Grünfläche hervorgehoben.
Die Fotografie besteht aus drei Bildhorizontalen, welche das Großbilddia in Flächen
unterteilen. Der räumliche Zug in das Bildinnere wird durch diese bildparallel ange-
ordneten Streifen unterlaufen. Die Baumreihe, welche den Mittelgrund markiert,
erscheint als Profil der Landschaft, als Silhouette, die das Bild unterteilt. Eine in die
Fläche gebreitete Landschaft wird dargestellt, für deren visuelle Aneignung kein
spezifischer Blickwinkel oder Abstand vorgesehen ist. Während der Himmel in „The
Old Prison“ die Hälfte des Bildraums eingenommen hat, bedeckt er hier zwei Drittel
der Fotografie.
Abbildung 19: Jeff Wall: Jewish Cemetery, Großbilddia in Leucht-kasten, 119 x 216 cm
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
82
Wie in Jacob van Ruisdaels Gemälde „Ansicht von Naarden“ von 1647 wird die
Komposition durch Bildstreifen geprägt, die über die Grenzen der Leinwand hinaus-
zuführen scheinen. Ruisdael präsentiert seine Landschaft als ungerahmte Ansicht,
welche die Topographie der Stadt Naarden deutlich spüren lässt. Eine abgeschlosse-
ne Bildeinheit, die sich auf ein kompositorisches Zentrum ausrichtet, das sich deut-
lich von den anderen Bildgegenständen absetzt, sowie eine stufenweise Erschließung
des Geländes wird nicht ermöglicht.
Das heißt nicht,
dass Räum-
lichkeit aus den
Gemälden
zwangsläufig
ausgeschlossen
wird. Seit Pati-
nirs Einführung
des dreigrundi-
gen Bildsche-
mas besteht
auch für die holländischen Maler die Herausforderung darin, eine Naturansicht zu
präsentieren, in der zwischen Nähe und Ferne vermittelt wird.171 Diese Räumlichkeit
steht jedoch nicht im Dienst einer Landschaftsmalerei, die auf einen externen Bet-
rachter hin „berechnet“ ist, sondern bezieht sich auf eine Bildorganisation, die sich
aus zwei anderen Quellen speist: zum einen aus der topographischen Landvermes-
sung und Kartographie, zum anderen aus den Gesetzen einer spezifischen Optik, die
rahmenlose Ansichten liefert und das Bild mit den Abbildungen des monokularen
Sehens zusammenspannt, wie es in Kapitel DIV. dargestellt wird.172 Luft- oder
Farbperspektive, das Abnehmen des Deutlichkeitsgrads und das Verblauen der Farbe
Abbildung 20: Jacob van Ruisdael: Ansicht von Naarden, 1647, Öl auf Holz, 34,7 x 66,5 cm
171 Wyss, Beat: Peter Bruegels Landschaft mit Ikarussturz – ein Vexierbild des humanistischen Pes-simismus, Frankfurt/Main 1990. 172 Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung – holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, besonders das Kapitel: Kartographie und Malerei in Holland, S. 213-285.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
83
in der Ferne, liefern dabei zwar ein „Davor“ und „Dahinter“, richten diese Räum-
lichkeit jedoch nicht nach der Fenstermetapher Albertis aus.173
Als letztes Beispiel soll der Bezug zu holländischer Malerei durch das Genre deut-
lich gemacht werden. Abbildung 21 zeigt Walls Fotografie „An Octopus“, die 1990
entstanden ist. Der Verweis auf die holländische Stilllebenmalerei ist hier offensicht-
lich.174 Wall präsentiert das Arrangement eines Tintenfisches auf einem Tisch, der
vor eine Wand gestellt
wurde. Der Hintergrund
wird durch eine Mauer
gebildet, die den Blick
blockiert und ihn auf den
schmalen Handlungsstrei-
fen im Vordergrund zu-
rückweist. Der Bildraum
wird durch die Wand klar
definiert und führt jenen schmalen Streifen vor, jene oberflächliche Ereigniszone, die
bei „Picture for Women“ bereits vorgestellt wurde.
Abbildung 21: Jeff Wall: An Octopus, 1990, Großbilddia in Leuchtkasten, 182 x 229 cm
Fassen wir die Darstellungsanalogien noch einmal zusammen und schließen damit
die Beweisaufnahme ab: Auffällig ist die Betonung der Textur der Gegenstände, die
von Licht und Schatten modelliert werden. Die Protagonisten befinden sich im Vor-
dergrund der Bildräume und sind nicht auf einen eindeutigen Betrachterstandpunkt
ausgerichtet. Die Interieurs sind in geschlossenen Räumen organisiert, die an die
Struktur eines Guckkastens erinnern. Die Fotografien wecken die Schaulust des Be-
trachters, das visuelle Erkunden der Darstellung. Eine weitere Analogie zeigt sich in
der materiellen Gestaltung der Tableaus. Leinwand wie Großdia besitzen in diesem
Fall einen glatten Bildgrund, bei dem die Eigenschaften der Werkstoffe unterdrückt
werden. Keine stilistische Signatur, die sich in der Bearbeitung der Farbmaterie aus-
173 Martina Sitt hat darauf hingewiesen, dass der Fenster-Topos Albertis erst 1707 in den kunsttheore-tischen Schriften von Gerard de Lairesse relevant wird und demnach für Ruisdaels Landschaftsauffas-sung nicht von Bedeutung ist. Sitt, Martina: Die Wandlung in der theoretischen Auffassung des Land-schaftsraums, in: Dies. / Biesboer, Pieter (Hrsg.): Jacob van Ruisdael – die Revolution der Land-schaft, Zwolle 2002, S. 46-48. 174 Auch andere Arbeiten werden durch diesen stilllebenhaften Charakter ausgezeichnet. Dazu gehö-ren die Fotografien „Peas and Sauce“ von 1999, „Diagonal Composition“ von 1993 und „Diagonal Composition 2“ von 1998.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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drückt, lenkt von der Bildhandlung ab. Die Gegenstände werden in der Gegenstands-
farbigkeit in einem gedämpften Streulicht dargestellt. Kein Filter verändert bei Walls
Fotografien die Lokalfarbigkeit des Inventars, keine farbigen Schatten oder Erschei-
nungsfarben verfremden die Landschaften von Koninck oder Ruisdael. Rusidael trägt
die Farbe lasierend auf und benutzt keine pastose Farbspur und gestische Pinselfüh-
rung. Ebenso verzichtet Wall darauf, die Entwicklerflüssigkeit oder Beschichtung
des Trägerpapiers in Erscheinung treten zu lassen. Die Körnigkeit des Films wird
vollständig eliminiert, so dass sich der belichtete Film der Darstellung unterordnet.
Im Gegensatz zur Malerei Manets thematisiert Wall weder die Farbmaterie noch die
Gemachtheit des Werks, sondern stellt die Stofflichkeit der fotografischen Technik
in den Dienst einer fiktionalen Wirklichkeit, die sich zwar als augentäuschend realis-
tisch darstellt, gleichzeitig aber dem Anspruch auf Dokumenthaftigkeit verweigert.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Verwendung des Farbfilms.175 Während
die Schwarz-Weiß-Fotografie die abstrakten Strukturen der Objekte betont, ermög-
licht die Farbfotografie eine quasi realistische Wirkung, deren Effekt oben als „fikti-
onal narrativ“ kategorisiert wurde. Der Farbfilm gewährleistet dabei eine zweifache
Abgrenzung. Zum einen von einer Fotografie, die abstrakte Strukturen untersucht,
zum anderen von einer fotografischen Kunst, welche die Techniken des indexikali-
schen Abdrucks dezidiert zur Schau stellt. Nichts erinnert mehr an die neusachliche
Fotografie von Albert Renger-Patzsch, Karl Blossfeld oder der Bauhaus-Meister
Walter Peterhans und Laszlo Moholy-Nagy. Es findet sich kein Verweis auf den
Schwarz-Weiß-Druck der Tageszeitung, der noch die Bilder von Heiner Blum oder
Hans-Peter Feldmann bestimmte.176 Seine Fotografien zeigen nicht die Welt, die
eine anonyme Spur hinterlässt, sondern den Eindruck, den das Auge der Kamera
empfängt – und dieser zeigt sich nicht in Graustufen, sondern in mannigfachen Va-
leurs.
175 Bereits seine frühen inszenierten Fotografien sind mit Farbfilmen hergestellt worden. Das erste Großdia „Destroyed Room“ von 1978 zeigt einen verwüsteten Raum, in dem vielfarbige Stofffetzen verteilt sind.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
85
D. III. Exkurs: Leon Battista Albertis Konzeption der Malerei
Die aufgezählten Merkmale zeigen, dass ein außenstehender Betrachter sich nicht in
den Fotografien und Gemälden verorten kann. Die Fotografien liefern keinen Blick
durch ein Fenster, wie er seit der Renaissance für eine bestimmte Art der Malerei
südlich der Alpen gefordert wird. Leon Battista Albertis kunsttheoretischer Ver-
gleich von Malerei und Fensterblick, den er 1435 in seiner Schrift „Della Pittura“
eingeführt hat, lässt sich auf diese Kunst nicht anwenden.
Ein kurzer Exkurs soll nun Albertis Gemälde-Definition näher bestimmen, um vor
dieser Folie die Spezifik von Walls Fotografie deutlicher hervortreten zu lassen. Al-
betis Äußerungen zum Fenstertopos, zur Sehpyramide und die Darstellung der be-
trachterkalkulierten Malerei stehen dabei im Zentrum. Sie bilden den Referenzrah-
men für eine Kunst, die sich zwar ebenso wie die Malerei nördlich der Alpen auf
optische und geometrische Gesetze bezieht, diese jedoch mit einer anderen Zielset-
zung in ein kunsttheoretisches Modell einpasst.
Albertis „Erfindung des Gemäldes“ definiert das künstlerische Bild als eine Mo-
mentaufnahme der Welt.177 Diese Erfindung ist zwar eine konstruierte, illusionisti-
sche Projektion von Dreidimensionalität auf eine zweidimensionale Fläche, präsen-
tiert jedoch einen Ausblick, der auf einen Betrachter zugeschnitten ist und dessen
raumzeitliche Erfahrung weiterführt. „Prospectiva“, Perspektive im Sinne der Re-
naissance meint die Ermöglichung eines Durchblicks durch Beherrschung der Ver-
zerrungsregeln. Sie setzt ein Trapezoid, wenn der Betrachter ein Quadrat sehen soll,
ein Ovaloid, wenn ein Kreis oder Zylinder gemeint ist.178 Da das Gemälde durch die
Regeln der Perspektive illusionistisch wirken soll, kann es nur eine einzige und ge-
schlossene Ansicht darstellen, da ein Mensch in einem Augenblick nur ein Bild der
Welt sehen kann. Das Gemälde ist auf einen zentralen Punkt fokussiert und einheit-
lich nach einem Modulus, der den Maßen des betrachtenden Menschen proportional
176 Heiner Blum und Hans-Peter Feldmann verwenden für ihre Foto-Installationen vorgefundenes Bildmaterial, das aus Zeitschriften oder Zeitungen stammt. Dazu: Städtische Galerie Esslingen / Wie-hager, Renate (Hrsg.): 3. Internationale Foto-Triennale – Dicht am Leben, Ostfildern 1995. 177 Hubert Locher bezeichnet Albertis Malereitheorie als „Erfindung des Gemäldes“. Locher, Hubert: Leon Battista Albertis Erfindung des „Gemäldes“ aus dem Geist der Antike – der Traktat De Pictura, in: Forster, Kurt W. / Locher, Hubert (Hrsg.): Theorie der Praxis – Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1999, S. 75-107. 178 Boehm, Gottfried: Die Bilderfrage, in: ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 325-343, S. 337.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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entspricht, komponiert. Der Betrachter soll sich der gefühlserregenden Wirkung des
Bildes beziehungsweise des darstellenden Sujets hingeben, und zwar nicht nur als ob
das Gemälde eine Wirklichkeit wäre – vielmehr wird das Bild „im Akt der Betrach-
tung wirksame Realität“179.
Alberti, der sich in „Della Pittura“ als Maler ausgibt, beschreibt im ersten Buch sei-
ner Abhandlung den Entstehungsprozess eines Gemäldes:
„Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein recht-winkliges Viereck von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fenster, durch das ich betrachte, was gemalt werden soll; und darauf lege ich nach Belieben fest, von welcher Größe ich die Menschen in meinem Gemälde haben möchte.“180
Der Fensterblick basiert also auf der Vortäuschung einer wirklichen Welt. Er ist,
gemäß den optischen Erkenntnissen, die Alberti anführt, ein Schnitt durch die Sehpy-
ramide:
„Da wir nun sehen, dass es nur eine einzige Fläche ist, sei es eine Wand oder Tafel, auf der ein Maler sich um die Darstellung meh-rerer Flächen bemüht, die in der Pyramide enthalten sind, wird es ihm nützlich sein, diese Pyramide irgendwo zu durchschneiden, damit er durch seine Linie ähnliche Säume und Farben im Malen zum Ausdruck bringen kann. Wenn sich dies irgend so verhält, wie ich gesagt habe, sieht jeder, der ein Gemälde betrachtet, eine bestimmte Schnittfläche einer Pyramide. Daher wird das Gemälde nichts anderes sein als die Schnittfläche durch die Sehpyramide, die gemäß einem vorgegebenen Abstand, einem festgelegten Zentralstrahl und mit bestimmter Beleuchtung auf einer gegebe-nen Fläche mit Linien und Farben kunstgerecht dargestellt ist.“181
179 Locher, Hubert: aaO., S. 101. Dazu auch Gottfried Boehm: aaO., S. 336: „Unbestritten ist, daß sich die Malerei damals auf eine neue Weise der sichtbaren Welt öffnete. Ob sie deswegen perfekte Ab-bilder schaffen wollte? Wäre es um ein illusionsstiftendes Bild gegangen, das sich idealenfalls von der Realität, die es darstellte, gar nicht mehr unterscheiden ließe, das Bild würde sich mit der Errei-chung dieses Ziels selbst aufheben. Man müsste sagen: das Bild soll nicht sein, soll Realität sein, genauer: das Bild soll Realität werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, stellt man überra-schend fest, daß die vollendete Abbildbarkeit, d.h. der Illusionismus, mit der perfekten Ikonoklastik konvergiert. Mitten im gelungenen Bild nistet eine bildaufhebende Kraft“. 180 Alberti, Leon Battista: Della Pittura, in: Bätschmann, Oskar / Gianfreda, Sandra (Hrsg.): Leon Battista Alberti – über die Malkunst, Darmstadt 2002, S. 93. 181 Alberti, Leon Battista: aaO., S. 85.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
87
Der Schnitt durch die Sehpyramide ermöglicht es Alberti, das Gemälde als Analogie
zu einem Blick durch ein Fenster zu realisieren. Er stützt sich darin auf die geometri-
schen und optischen Gesetze Euklids, dessen Werke als Abschrift von Campana da
Novara in Albertis Besitz waren.182 Durch die Bezugnahme auf die ersten beiden
Axiome der Optik, auf die geradlinige Ausbreitung der Sehstrahlen und die Bünde-
lung der Sehstrahlen in einem Kegel kann Alberti die perspektivische Konstruktion
des Bildraums erzeugen und gleichzeitig den Bildraum an den Betrachter zurückbin-
den. Er gibt dafür folgende Handlungsanweisung: Zunächst ist eine viereckige Bild-
fläche von beliebiger Größe anzunehmen und darauf die Darstellung eines stehenden
Menschen festzulegen, der den Horizont bestimmt. Die Grundlinie dieses Rechtecks
wird in mehrere Abschnitte unterteilt, und „dann bringe ich innerhalb des Rechtecks,
wo es mir richtig erscheint, einen Punkt an, der den Ort einnimmt, auf welchen der
Zentrahlstrahl trifft, und den ich deshalb ,Zentralpunkt’ nenne“. Der Zentralstrahl,
der sich als „feiner Faden“ zwischen Auge und Fläche spannt, ermöglicht es dem
Betrachter, einen Gegenstand wahrzunehmen; für die Konstruktion des Gemäldes
liefert er den Bezugspunkt, nach dem sich alle Gegenstände im Bild perspektivisch
organisieren.183
Aus dieser Bestimmung leitet Alberti ab, was sowohl den Bildraum, wie die Bildzeit
des Gemäldes betrifft und im Kernbegriff seiner Gemäldekonzeption, in der „isto-
ria“, zusammengeführt wird. Albertis Leistung besteht darin, einen Begriff für die
Bilderzählung gefunden zu haben, der sich zwar aus den Gedanken der Rhetorik
speist, gleichzeitig jedoch diese auf die Malerei überträgt und dadurch die Mittel der
malerischen Darstellung erweitert.184 Die „istoria“ ist die bildliche Darstellung von
Vorgängen durch handelnde und leidende Figuren. Eine „istoria“ zeigt eine zusam-
menhängende Szene mit menschlichen Figuren in körperlicher und seelischer Bewe-
gung im perspektivisch korrekt konstruierten Raum. Gemälde ohne Handlung wie
182 Bätschmann, Oskar: aaO., S. 8. 183 Eine anschauliche Zeichnung dieses Verfahrens liefert Bätschmann, Oskar: aaO., S. 12. 184 In der Wahl des Begriffs „istoria“ knüpft Alberti an Dantes Ausführungen im Purgatorio der Gött-lichen Komödie an. Im zehnten Gesang verwendet Dante den Begriff, den er mit Reliefbildern gleichsetzt, die Beispiele der Demut bei Bußübungen darstellen. „Istoria“ hat also nicht nur eine rhe-torische Tradition, sondern wird seit dem 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit bildnerischen Wer-ken gebraucht. Jack M. Greenstein hat auf diesen Gebrauch hingewiesen: „Dante’s description (...) shows that the extension in meaning had a theoretical basis in the figuralness common to both historia and pictorial work“. Alberti on Historia – A Renaissance View of the Structure of Significance in Narrative Painting, in: Viator – Medieval and Renaissance Studies, 21, 1990, S. 272-299, S. 281.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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Porträts, Landschaften oder Kultbilder werden von Alberti ausgeschlossen. Der
„istoria“ liegt stets ein literarischer Stoff zugrunde, der auf den Betrachter zuge-
schnitten ist und in Form und Inhalt der Betrachterrealität, dem Fensterblick und dem
Schnitt durch die Sehpyramide unterliegt.
Zunächst besteht die Malerei aus den drei Bestandteilen „Umschreibung“ (circum-
scrizione), „Komposition“ (composizione) und „Lichteinfall“ (ricevere di lumi)185.
Sie sind dem Produktionsvorgang zugeordnet und beschreiben das Werden des
Kunstwerks in seinen sukzessiven Seinsstufen. Die „istoria“, die sich mit dem Beg-
riff der „opera“ gleichsetzen lässt, ist dagegen das abgeschlossene Werk, das dem
Betrachter gegenübergestellt wird: „Das bedeutendste Werk des Malers ist der Vor-
gang“186 („Grandissima opera del pittore sarà l’istoria“).187
Die Aufgabe der „istoria“ besteht darin, das Gemüt des Betrachters zu erregen, denn
„jenen Vorgang wirst du loben und bewundern können, der seine Reize so schmuck-
reich und anmutig darbietet, daß Gelehrte wie Ungelehrte durch Vergnügen und Ge-
mütsbewegung zur Betrachtung festgehalten werden.188 Alberti gibt an dieser Stelle
die Nähe der Malerei zur Rhetorik, besonders zu Quintilians „Institutio oratoria“,
deutlich zu erkennen. Unter Hinzuziehung des „docere“ bilden „delectare“ und „mo-
vere“ jene drei Grade der Persuasion, welche die Rhetorik als officium oratoris
hat.189 Während das docere auf den Intellekt bezogen ist, können delectare und mo-
vere als diejenigen Bestandteile gelten, die sich an das Gemüt werden. In dieser Ein-
teilung ist bereits ein erster Anhaltspunkt gegeben, warum Alberti von der weiteren
Ausführung des docere absieht. Wenn nämlich das docere des Redners als Gegen-
stück der Dialektik verstanden wurde, und es folglich in enger Verwandtschaft mit
der Philosophie stand, konnte es aus diesem Grund nur bedingt eine breite Öffent-
lichkeit erreichen. Während in der philosophischen Untersuchung gebildete Men-
185 Bätschmann, Oskar: aaO., S. 113. 186 Bätschmann, Oskar aaO., S. 117 und S. 116. Bätschann übersetzt „istoria“ hier mit „Vorgang“. Ich schlage jedoch vor, „istoria“ als „Darstellung von Handlung“ zu verstehen. 187 Während Oskar Bätschmann die „istoria“ aus der „composizione“ entwickelt, unterscheidet Kris-tine Patz die beiden Begriffe. Sie ordnet Umschreibung, Lichteinfall und Komposition gemäß der Rhetorik der „ars“ zu, während „istoria“ dem Begriff des „opus“ nahestehe. Patz, Kristine: Zum Beg-riff der „Historia“ in L. B. Albertis „De Pictura“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 1, 1986, S. 269-287, S. 274. 188 „Sarà la storia, qual tu possa lodare e maravigliare, tale che con sue piacevolezze si porgerà sì ornata e grata, che ella terrá con diletto e movimento d’animo qualunque dotto o indotto la miri“. Bätschmann, Oskar: aaO., S. 128. 189 Patz, Kristine: aaO., S. 277.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
89
schen mit Gebildeten nach der Wahrheit suchen – so argumentiert Quintilian –, muss
der Redner seine Rede nach dem Urteil anderer einrichten, ja er muß dabei öfter vor
ganz Ungebildeten oder jedenfalls mit dieser Art von Wissenschaft Unkundigen re-
den. In Abgrenzung zur Philosophie stellen sich somit delectare und movere als das
eigentliche Aufgabenfeld der Rhetorik dar, auf das sich Alberti in der Definition der
„istoria“ für die Malerei stützt.190
Um das Gemüt des Betrachters zu bewegen, muss die „istoria“ mit entsprechenden
Merkmalen ausgestattet sein:
„Ferner wird ein Vorgang dann die Seele bewegen, wenn die dort gemalten Menschen ihre eigenen seelischen Bewegungen ganz deutlich zu erkennen geben. Aus der Natur, die wie nichts anders begierig ist als nach ähnlichen Dingen, kommt es, dass wir wei-nen mit den Weinenden, lachen mit den Lachenden und leiden mit den Leidenden. Diese seelische Bewegung aber erkennt man an den Bewegungen des Körpers (...) So müssen den Malern alle Bewegungen des Körpers sehr vertraut sein“.
Die dargestellten Personen müssen selbst von den Affekten innerlich erfasst sein; nur
dann können sie diese Affekte auch beim Betrachter hervorrufen. Diese Gemütsbe-
wegung wird durch Körperbewegung ausgedrückt und ermöglicht die Hinführung
des Betrachters zum Bildvorgang. Gestik und Mimik der handelnden Figuren sollen
der zu erzielenden Wirkung der Freude oder des Leidens entsprechen.
Zusammenfassend lassen sich folgende Unterschiede zwischen der oben vorgestell-
ten Malerei und Walls Fotografie feststellen:
1. Während Alberti in seiner Perspektivlehre fordert, den Bildraum auf den Betrach-
ter hin zu organisieren, können bei Wall keine Anhaltspunkte für eine Situierung
des Betrachters gefunden werden. In „Picture for Women“ wird der Betrachter
durch das Spiegelarrangement ausgeschlossen, in seinen Landschaftsdarstellungen
wählt Wall Orte, die sich durch Flächigkeit, Weite und eine streifenförmige Anla-
ge auszeichnen. Das Bildpersonal tritt in den Hintergrund und gibt dem Betrachter
keinen Maßstab an, durch den er sich in ein Verhältnis zum Bildinhalt stellen
kann. Es gibt keinen vorgegebenen Abstand von Betrachter und Bild. Ihm wird
kein Platz zugewiesen, von dem aus sich der Bildraum erschließt und der eine
Hierarchie in der Bildordnung festsetzt. 190 Auf weitere Bezüge von Alberti zur Rhetorik verweist Kristina Patz: aaO., S. 278ff.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
90
2. Die Szenerien in Walls Fotografien zeichnen sich dadurch aus, dass sie hand-
lungsarm angelegt sind. Das Bildpersonal zeigt keine Affekte, die sich durch ex-
pressive Gestik und Mimik ausdrücken. In „Picture for Women“ werden lediglich
zwei Figuren vorgeführt, die in einem Raum stehen. Weder der Gesichtsausdruck
noch die Körperhaltung ermöglichen es dem Betrachter, auf eine innere Bewe-
gung der Figuren zu schließen. Eine Beteiligung des Betrachters am Bildgesche-
hen durch die Evokation von mitreißenden Gefühlen wird ausgeschlossen.
Handlung und Raum, deren Untersuchung die folgenden Kapitel gewidmet sind, ent-
sprechen also nicht der „istoria“. Während das Gemälde bei Alberti eine Einheit dar-
stellt, die dem Betrachter gegenübergestellt wird und als Einzelbild die Totalität der
Welt repräsentiert, bezieht sich Wall auf eine andere Definition dieser Bildelemente.
Der Schnitt durch die Sehpyramide, der als Fensterblick die Betrachtererfahrung von
Raum und Handlung
weiterführt, wird in
Walls Fotografien
unterbrochen.
Es stellt sich nun die
Frage, wie ein bet-
rachterloser Raum
angelegt ist, welche
Voraussetzungen er
besitzt und wie er
begründet wird? Eine
Illustration aus ei-
nem Handbuch, das
die Funktionsweise des Auges darstellt, bietet einen ersten Hinweis. Die Darstellung
entstammt den „Schat der Ongesontheyt“, einer medizinischen Schrift, die 1664 in
Amsterdam von Johan van Beverwyck veröffentlicht wurde.
Abbildung 21: Johan van Beverwyck: Illustration aus dem „Schat der Ongesontheyt“, Amsterdam 1664
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
91
In einer Camera obscura befinden sich zwei Herren, die ein Blatt halten, auf dem
sich die draußen befindliche Landschaft darstellt.191 Sie haben sich zu einer wissen-
schaftlichen Beobachtung versammelt und studieren das Bild, das durch eine Linse
auf das Blatt geworfen wird. Es zeigt die Merkmale, die uns in der Beschreibung der
Landschaftsdarstellungen von Wall, Koninck und Ruisdael bereits aufgefallen sind:
die Unabgeschlossenheit der Szene zum linken und rechten Bildrand hin sowie die
vordergründige Ereigniszone. Der Beschauer wird in keiner Weise berücksichtigt,
seine Anwesenheit hinterlässt keine Konsequenzen für die Komposition. Die flächige
Landschaftsauffassung, die weniger als gestalteter Tiefenraum erscheint, ist ebenso
vertreten wie die streifenförmige Anlage von Wasser und Himmel.
Bezeichnenderweise befindet sich die obige Darstellung der Camera obscura nicht in
einem Traktat über Malerei, sondern in einer medizinischen Schrift, welche die phy-
siologische Funktion des Auges erklärt. Sie illustriert dem Leser den Sehvorgang.
Das Auge empfängt das Bild der Landschaft, so wie es sich auf dem Blatt innerhalb
der Camera abbildet. Die Lichtzeichnung wird nicht von einer subjektiven Wahr-
nehmung beeinflusst, sondern stellt dasjenige dar, was durch die Strahlen transpor-
tiert wird. Das Bild, das durch die kreisförmige Öffnung auf das Blatt geworfen wird,
steht auf dem Kopf und zeigt, wie die Sehdaten auf die Netzhaut treffen, bevor sie
durch das menschliche Gehirn verarbeitet und geordnet werden. Van Beverwycks
Illustration verdeutlicht das Auftreffen des Lichts auf die Retina, ohne dass der Bet-
rachter, der eine Auswahl, einen Standpunkt oder einen Maßstab festlegt, in den Ent-
stehungsprozess eingreift. Indem van Beverwyck die Lichtbrechung innerhalb des
Kreisausschnitts darstellt, führt er den Sehvorgang eines einzelnen Auges vor. Nicht
das binokulare Sehen, das die Welt räumlich erfassbar macht, ist sein Untersu-
chungsgegenstand, sondern das einäugige, monokulare Sehen, das rahmenlose An-
sichten empfängt.
191 Damals gab es zwei Formen der Camera obscura: eine unbewegliche und eine bewegliche Appara-tur. Die unbewegliche war in der Wand oder im Fensterladen eines verdunkelten Raums installiert. Eine kleine Öffnung, die mit einer Linse ausgestattet war, warf das Bild der sonnenbeschienenen Dinge auf ein Papier im Inneren des Raumes. Die bewegliche Variante konnte als Zelt in freier Natur aufgebaut werden.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
92
Hier manifestieren sich die Gedanken Johannes Keplers, dessen Lehre Anfang des
17. Jahrhunderts starke Verbreitung in Holland fand. Sie dient uns im Folgenden als
Grundlage für eine optische Kunst, die als Keplersche Form des Bildermachens vor-
gestellt werden soll. Indem Kepler das menschliche Auge als einen mechanischen
Erzeuger von Bildern und Sehen als Bildherstellung definiert, liefert er das Modell
für eine Kunst, die das Sehen mit der Malerei zusammenspannt. Seine Forschungser-
gebnisse bilden das „Scharnier“ für Kunst und Wissenschaft, in deren Konsequenz
die Malerei des Nordens und ihre ästhetischen Kategorien zu sehen sind. Die Kepler-
sche Bildform liefert ebenso die Grundlage für den Vergleich von Malerei und Walls
Fotografie. Verbindendes Element ist die Keplersche Definition der optischen Bild-
herstellung, das ästhetische Paradigma für eine Kunst, deren Interesse an der Camera
obscura, dem Mikroskop oder Fernrohr als eine spezielle Art der Augen-Kunst zu
werten ist.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
93
D.IV. Das Sehen ohne Betrachter – die „keplersche Sehkultur“192
Die Optik erfährt im 17. Jahrhundert eine tiefgreifende Wandlung. Optische Appara-
turen werden mit Autorität und Wahrheitsanspruch versehen. Was zuvor als täu-
schend und verzerrend gewertet wurde, wird nun als Vehikel genutzt, um die Welt zu
erforschen, um Erkenntnis über die Gesetze der Natur zu erlangen.193 Linsen und
Teleskope ermöglichten es, in eine Welt einzudringen, die dem menschlichen Auge
zuvor verborgen geblieben war.194 Dies wirkt sich auch auf die Kunstproduktion aus.
Hatte die calvinistische Kunstkritik in Holland noch die zweifelhafte Vermittlung
von Informationen durch das Sehen kritisiert und das Gehör für die angemessene
Instanz der Erbauung und Erziehung vorgesehen, so wird nun die Camera obscura
eingesetzt, um die Gesetze der Optik zu studieren und neue Erkenntnisse in der Ma-
lerei zu erlangen.195 Das „Lob des Auges“ ebnet der Keplerschen Sehform die Ak-
zeptanz bei den Künstlern und macht sie zu einer Möglichkeit, den Anforderungen
einer zeitgemäßen Malerei zu entsprechen.
Johannes Kepler verwendet die Camera obscura, um astronomische Vorgänge zu
untersuchen. Sie dient ihm als wissenschaftliches Forschungsinstrument, das die Be-
obachtung von Sonnen- und Mondfinsternissen ermöglicht und die Grundsätze bestä-
tigt, die er in der Mathematik findet. Mit ihr kann er Beobachtungen dokumentieren
und Aussagen über die Strahlenbrechung des Lichts machen, die letztlich den Ko-
pernikanischen Heliozentrismus und die elliptischen Planetenbahnen bestätigen. Um
192 Der Begriff der „Keplerschen Sehkultur“ stammt aus Svetlana Alpers Schrift „Kunst als Beschrei-bung“. Sie zeigt anhand der „Keplerschen Sehkultur“ die spezifische Qualität einer optischen Malerei, die im 17. Jahrhundert in Holland entsteht und weist den Einfluss von Keplers Definition der mensch-lichen Augenfunktion auf die Malerei nach. 193 Svetlana Alpers verweist auf die Autobiografie von Constantijn Huygens aus dem Jahr 1629. Sie gipfelt in einer überschwenglichen Lobrede für Francis Bacon und Cornelis Drebbel. Drebbels Erfin-dung –ein Mikroskop – ermöglicht die Wahrnehmung einer vorher verborgenen Welt. „Denn in der Tat boten sich Objekte, die bis dahin unter die Atome gerechnet wurden, da sie sich dem menschli-chen Auge weithin entzogen, dem Betrachter auf einmal so deutlich dar, dass, wenn völlig unerfahre-ne Leute Dinge erblicken, die sie vorher nie gesehen haben, sie sich zunächst beklagen, dass sie nichts sähen, doch alsbald ausrufen, dass ihnen unglaubliche Dinge vor die Augen treten“. Alpers, aaO., S. 49. 194 Die winzigen Dinge, die früher für das Auge unsichtbar waren, konnten jetzt mit Hilfe von Gläsern beobachtet werden. „Und alles durch unsere Augen unterscheidend, als ob wir es mit Händen berühr-ten, wandeln wir durch eine bis jetzt unbekannte Welt von kleinen Kreaturen, als ob es ein neu ent-deckter Erdteil wäre“, schreibt Constantijn Huygens in seinem Dagwerck. Hier zitiert nach Alpers, Svetlana: aaO., S. 63. 195 Hierauf ist vielfach hingewiesen worden. Besonders: Jongh, Eddy De: Realisme en schijnrealisme in de Hollandse schilderkunst van de 17de eeuw“, in: Paleis voor schone Kunsten (Hrsg.): Rembrandt en zijn tijd, Brüssel 1971, S. 143-194, S. 148.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
94
die grundlegende Frage nach der Zahl, der Größe und der Bewegung der Planeten zu
beantworten, beschäftigt Kepler sich mit der Messgenauigkeit und Zuverlässigkeit
seiner Forschungsinstrumente. So beginnt seine Auseinandersetzung mit den Geset-
zen der Optik mit den Problemen, auf die er bei der Beobachtung einer Sonnenfins-
ternis trifft: Durch die atmosphärische Strahlenbrechung, die Refraktion, erscheinen
die Gestirne an einem Ort, den sie tatsächlich bereits verlassen haben.196 Der Mond-
durchmesser, der sich in seiner Lochkamera abbildete, erschien kleiner als bei ande-
ren Untersuchungen, obwohl er weder seine Größe noch seine Entfernung geändert
hatte. Die scheinbare Veränderung des Monddurchmessers, so argumentiert Kepler
in der 1604 veröffentlichten Schrift „Ad Vitellionem Paralipomena, quibus Astro-
nomiae Pars Optica traditur“, sei ein Problem der technischen Instrumente. Größe
und Form der gebrochenen Strahlenbündel stehen – so seine These – in einer Relati-
on mit der Öffnung der Camera. Die Abbildung, die sich in der Camera zeigt, ist also
abhängig von der Funktion des Beobachtungsmittels, und nur eine genaue Kenntnis
der Optik ermögliche es, gesicherte Aussagen über den Standpunkt der Himmelskör-
per zu machen und eine verfälschte Beobachtung von Sonne und Mond zu vermei-
den.
Keplers Untersuchung beschränkt sich jedoch nicht nur auf wissenschaftliche Be-
obachtungsmittel, sondern beschreibt auch das natürlichste aller Sehinstrumente: das
menschliche Auge. Die Täuschungen, denen das Auge unterliegt, analysiert er im
fünften Kapitel seiner Schrift; sie geben Anlass, den Modus visionis, die Art und
Weise der Augenfunktion, darzustellen. Dass die menschliche Wahrnehmung keine
messgenauen Ergebnisse liefert, bedeutet für Kepler nicht, die Qualität des optischen
Sehapparates insgesamt zu verurteilen. Es ist vielmehr die Aufgabe, durch eine Leh-
re die Ursachen der Irrtümer zu untersuchen und so eine angemessene Würdigung
der Sehapparatur zu liefern. Er beschreibt das Sehen, wie es durch die Formung eines
Netzhautbildes ermöglicht wird. Es kommt durch ein Bild des Gegenstands zustande,
das sich auf der konkav gekrümmten Netzhautfläche bildet. Das Licht wird durch die
Pupillenöffnung gebrochen. Zusammenzug und Weitung der Pupille ermöglichen es,
einen nahen Gegenstand zu fokussieren oder in die Ferne zu blicken.
196 Uns begegnet dieses Phänomen beim Sonnenuntergang: Während die Sonne mit ihrem unteren Rand den Horizont zu berühren scheint, ist sie tatsächlich bereits untergegangen.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
95
Soweit findet man nichts Ungewöhnliches in seinen Ausführungen. Bedeutsam sind
jedoch Keplers Vergleiche und Metaphern, mit denen er das Auge beschreibt:
„Visio igitur fit per picturam rei visibilis ad album retinae et cauum parietem“197. [Das Sehen geschieht also durch Abbildung eines sichtbaren Gegens-tandes auf die weiße gewölbte Wand der Netzhaut.]198
Sehen ist das Herstellen von Bildern. Der Eindruck, der auf der Netzhaut entsteht, ist
Pictura, ein Eindruck, der durch die Sehnerven empfangen wird.199 Kepler formuliert
damit zum ersten Mal in der Geschichte der Theorie des Sehens eine Verbindung
zwischen optischen Sehdaten und einem Bild, das eine vom Beobachter unabhängige
Existenz hat und durch die Sammlung aller Lichtstrahlen in einem Brennpunkt auf
einer Fläche zustande kommt. Das Netzhautbild ist ein Gemälde des gesehenen Ge-
genstandes, das – wäre es möglich – herausgenommen und ans Licht gebracht, be-
trachtet werden könnte.200 Um diese Neuerung möglich zu machen, bedurfte es einer
klaren Unterscheidung zwischen der Welt außerhalb des Auges und der Pictura, dem
Bild, das auf die Netzhaut geworfen wird. Während frühere Sehtheorien davon aus-
gegangen waren, dass die äußerlichen Sehbilder in das Auge eindringen, fügt Kepler
dem Sehvorgang eine neue Differenzierung hinzu und etabliert mit dem Pictura-
Begriff eine weitere Instanz. Im Unterschied zu den Sehbildern, den „Imagines re-
rum“ der Außenwelt, sind die Picturae die Bilder, die von den Sehnerven erzeugt
werden. Er kann dadurch den Sehvorgang, welcher seit der Antike Fragen aufgewor-
fen hat, endgültig auflösen. Das Auge empfängt Strahlen, die sowohl senkrecht wie
schräg einfallen. Von jedem Gegenstand, so schreibt er im zweiten Lehrsatz seiner
„Paralipomena“, gehen unendlich viele Linien an Lichtstrahlen aus. In einer punkt-
weisen Auflösung treffen diese Linien auf das Gesichtsfeld. Sie werden, nachdem
die Hornhaut durchquert wurde, auf die Kristall-Linsenoberfläche geworfen. Jeder
sichtbare Punkt erzeugt einen Lichtkegel; die Summe unendlich vieler Lichtkegel 197 Kepler, Johannes: Ad Vitellionem Paralipomena Quibus Astronomiae pars optica traditur, in: ders.: Johannes Kepler – Gesammelte Werke, hrsg. von Franz Hammer, München 1939, Bd.2, S. 153. 198 Die folgenden Übersetzungen aus Keplers Schrift stammen von der Verfasserin. 199 An einer weiteren Stelle spricht er von „Nam ut pictura, ita visio“. Das Sehen gleicht einem Bild. Kepler, Johannes: aaO., S. 186. 200 „Visio igitur fit per picturam rei visivilis ad album retionae et canuum perietem (...) ut ne minutis-sima quidem puncta negligantur; adeoque quanta est subtilitas visus in qudlibet homine, tanta sit et subtilitas huius picturae intra eius oculus.“ Das Sehen geschieht also durch das Gemälde des gesehe-nen Gegenstandes (....) so dass, falls es möglich wäre, dass sich das Gemälde auf der herausgenom-
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
96
bündelt und durchdringt sich in der Pupille, wo rechts und links sowie oben und un-
ten vertauscht werden. Die Strahlung wird an die folgende hyperbolische Kristall-
flüssigkeit weitergeleitet. Die Picturae der Gegenstände werden also nicht durch ein
Medium, das Sehpneuma, transportiert, wie es die materialistischen Ansätze lehrten,
oder durch Sehstrahlen, die vom Auge ausgesendet werden, aufgenommen.201
Die Picturae gehören weder in den Bereich der Außenwelt, noch verweisen sie auf
eine menschliche Interpretation. Sie sind sowohl von den Gegenständen als auch von
dem Bewusstsein des Betrachters abgelöst. Will man diesen Bildern nacheifern, ent-
stehen Gemälde, die sich durch spezielle Eigenschaften auszeichnen: Sie wirken in-
different und distanziert, unpersönlich und unnahbar. Jede affekthafte Anspielung
der Handelnden, welche das Betrachter-Urteil beeinflussen könnte, wird vermieden.
Statt dessen wird die Objektivität mit Nachdruck ins Bild gesetzt. Der Betrachter
fühlt sich eigentümlich von den Geschehnissen ausgeschlossen und wird dennoch
von der Darstellung in ihren Bann gezogen. Sein Gesichtssinn wird angesprochen,
nicht seine Empfindungen.
Um die Picturae herstellen zu können, arbeitet das Auge wie eine Seh-Maschine.
„Atque hoc machinamento videtur natura obstinuisse, ut plus quam hemisphaerum cerneremus202. [Und mit dieser Maschine scheint die Natur darauf aus zu sein, dass wir mehr als eine Halbkugel sehen.]
Es ist nicht das Auge, das an ein Bewusstsein gekoppelt ist, sondern der leblose, ein-
zelne Sehapparat, dem Kepler in seiner Lehre Aufmerksamkeit schenkt. Seine Lei-
stung war es, das physikalische Problem der Entstehung von Netzhautbildern von
den psychologischen Problemen der Wahrnehmung zu trennen und das Sehen nicht
als perspektivische Organisation eines Betrachterraums zu untersuchen, sondern es
zu „entanthropomorphisieren“203. Die Illustrationen, die er seiner Optik angefügt hat,
belegen Keplers Interesse am isolierten Blick.204 21 Darstellungen zeigen das Auge,
seine Muskeln, die Linse, den Verlauf des Sehnervs sowie Längsschnitte und Quer- menen und ans Licht gebrachten Netzhaut erhalten könnte, ein Mensch mit scharfem Gesichtssinn diese Zeichnung des Gesichtsfelds erkennen würde. Kepler, Johannes: aaO., S. 153. 201 David Lindberg zeichnet die Geschichte der Sehtheorie von der Antike bis Kepler nach. Lindberg, David C.: Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt/Main 1987. 202 Kepler, Johannes: aaO., S. 157. 203 Alpers, Svetlana: aaO., S. 94.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
97
ansichten, jedoch ohne sie mit einem möglichen Besitzer in Verbindung zu bringen.
Im Zentrum von Keplers Untersuchung steht nicht die anatomische Funktion, die wir
in Descartes’ „La Dioptrique“ von 1637 finden, sondern das einzelne Auge.
Dieses Verständnis des isolierten
Blicks begegnet uns nicht nur in
Keplers wissenschaftlichen Stu-
dien, sondern auch in der holländi-
schen Malerei. In einer Zeichnung
des Malers Jacques de Gheyn er-
scheint das isolierte Sehen als Mo-
tiv. Das Blatt wird auf die Mitte
des 17. Jahrhunderts datiert und
zeigt eine unvollendete Skizze.
Eine sitzende Frau wird von zwei
Weinreben eingerahmt; sie ist
nicht vollständig ausgeführt, ihr
Körper wird nur bis zur Hüfte ge-
zeigt. Spiralförmige Ranken, Re-
ben mit Trauben und feinkerbige
Blätter sind detailliert auf das Pa-
pier gezeichnet. In der unteren Hälfte sehen wir einen reifenden Kürbis. Das Blatt
zeigt keinen einheitlichen Entwurf. Während das Gesicht der Frauenfigur mit Rötel
gezeichnet wurde, sind die Weinreben durch eine Federzeichnung entstanden. Und
dennoch besitzt die Zeichnung ein wertvolles Detail: Obwohl de Gheyn die einzel-
nen Skizzen nacheinander anfertigte, hat er zwei vereinzelte Augen von der Überma-
lung ausgespart. Rechts, etwas verborgen über der unteren Rebe und am rechten
Rand des Blattes, erkennt man zwei Augen – isoliert voneinander auf das Blatt ge-
zeichnet. Nicht das Augenpaar, das noch an einen Träger erinnern könnte, sondern
jedes Auge einzeln, weit voneinander entfernt, wird dargestellt. „Das ist das Signum
des aufmerksamen Auges, das dieses Blatt gezeichnet hat“205, kommentiert Svetlana
Alpers die Zeichnung. Es ist die Manifestation der künstlerischen Wahrnehmungsap-
Abbildung 22: Jacques de Gheyn, Skizze, um 1750, Feder- und Rötelzeichnung
204 Kepler, Johannes: aaO., S. 159.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
98
paratur und Verweis auf die Entstehung von Malerei analog der Aufzeichnung durch
Netzhaut und Linse. Die selbstverständliche Binokularität menschlicher Wahrneh-
mung ist außer Kraft gesetzt und dem Mechanismus eines Fotoobjektivs angepasst.
In Walls Fotografie
„Picture for Wo-
men“ wird der opti-
sche Aufzeichnungs-
apparat durch die
Kamera repräsen-
tiert. Wo in de
Gheyns Skizzenblatt
das vereinzelte Auge
zu sehen war, be-
gegnet uns bei Wall
eine Plattenkamera mit auffallend großem Objektiv. Sie befindet sich in der Bildmit-
te und wird durch zwei senkrechte Achsen, die von den Metallstangen zweier Studio-
leuchten stammen, eingerahmt. Rechts und links flankieren Wall und sein Modell die
Kamera. Sie ist auf ein Stativ montiert und befindet sich annähernd auf gleicher Hö-
he mit den zwei Hauptfiguren. Freistehend markiert die Kamera das Zentrum des
Bildes und erscheint als eine weitere Protagonistin der Szene. Sie ist als dritte Figur
ins Bild gesetzt. Das dreibeinige Stativ bildet dabei den „Körper“, während die Bild-
aufzeichnung durch das „zyklopische Einauge“ des Objektivs gewährleistet wird.
Das Objektiv erscheint als herausgelöster Teil des Körpers und entspricht damit der
Isolierung des einzelnen Auges, die für die Kunst des Nordens kennzeichnend war.
Hier trifft sich das holländische Verständnis von der Bildherstellung als autorenlo-
sem Registrieren mit der technischen Ausgangssituation Walls. Die Wirkung von
Walls Fotografien basiert also auf einem Verständnis, das der Bildkultur der nordi-
schen Malerei entspricht.
Abbildung 23: Jeff Wall: Picture for Women, 1979, Großbilddia in Leuchtkasten, 163 x 229 cm
Die Fotografie hält auf einer emulsionierten Schicht das fest, was das Auge auf die
Netzhaut bannt. Die Seherfahrung des vereinzelten Auges, die kennzeichnend für die
Keplersche Bildform ist, wird bei Wall wie bei de Gheyn als Bildmotiv eingeführt.
205 Alpers, Svetlana: aaO., S. 171.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
99
Diese Analogie der Bildherstellung findet sich bei Wall auch in theoretischer Hin-
sicht. Als er nach seinem Bezug auf die Fotografietheorie, speziell nach seiner Hal-
tung gegenüber Susan Sontag, gefragt wurde, äußerte er sich über die „Natur“ der
Kameratechnik:
„Mich überrascht eigentlich, dass das Feld der Fotografietheorie so offen ist im Augenblick. Faktisch ist die Fotografie zu kom-plex, um Gegenstand einer Theorie zu sein. Es ist vermutlich un-möglich, überhaupt eine Theorie der Fotografie zu entwickeln. Dazu ist die Fotografie dem zu nah, was wir mit den Augen se-hen. (...) Die Fotografie ist, weil sie mit Naturgesetzen arbeitet, mit ihren dem Verstehen sich entziehenden Eigenschaften nicht konventionell.“206
In seinem Aufsatz „Zeichen der Gleichgültigkeit“ von 1998 beschreibt er die Fähig-
keit der Fotografie, das Bild der Sichtbarkeit analog der Augenerfahrung zu liefern:
Die Fotografie „kann nicht die Negation von Erfahrung bieten, sondern muss weiterhin die Erfahrung der Abbildung, des Bildes bereithalten. Der fundamentale Schock, den die Fotografie ausge-löst hat, könnte möglicherweise der sein, daß sie eine Abbildung zur Verfügung gestellt hat, die eher so erfahren wurde, wie man die sichtbare Welt erfährt und wie man es nie zuvor gekonnt hat. Eine Fotografie zeigt daher einen Gegenstand mit den Mitteln, mit denen man zeigt, was Erfahrung ist; in diesem Sinne hält sie eine „Erfahrung der Erfahrung“ bereit, und sie definiert dies als Bedeutung der Abbildung.“207
Die Fotografie liefert die bildgewordene Erfahrung des Sehens. Das fotografische
Bild ist die „Erfahrung der Erfahrung“ und bildet dadurch ein Korrelat zur holländi-
schen Malerei, die das Ziel verfolgt, das Sehen vorzuführen. Nicht die neusachliche
„Bauchnabelperspektive“, die im Kapitel B.II.1 über das fotografische Paradigma
vorgestellt wurde, ist für Jeff Wall verbindlich, sondern eine Abbildung, die auf die
optische Fähigkeit des Sehens bezogen wird. Die Kamera ist eine Sehmaschine und
liefert nicht die Negation der Wahrnehmung oder die Erweiterung der menschlichen
Seherfahrung, sondern fixiert dasjenige, was das menschliche Auge optisch wahr-
206 Wall, Jeff, in: Weiß, Hermann (Hrsg.): Fabrications, Frankfurt/Main 1999, S. 201. 207 Wall, Jeff: Zeichen der Gleichgültigkeit - Aspekte der Fotografie in und als konzeptuelle Kunst, in: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika - aktuelle Perspektiven der zeitgenössischen Foto-grafie, Zürich 1998, S. 73-91, S. 90.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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nimmt. Der fotografische Apparat ist eine Sehmaschine, die dem Betrachter zeigt,
wie sein Auge als Aufzeichnungsapparatur funktioniert.
Die Keplersche Bildform ist nicht nur auf die optischen Qualitäten eines Auges be-
schränkt, sondern befasst sich auch mit der materiellen Entstehung des Augenbildes.
In späteren Werken setzt Kepler die Verbindung von Malerei und Netzhautbild fort.
In den „Dioptrice“ von 1611 erklärt er im 45. Kapitel, dass die Netzhaut von farbigen
Strahlen sichtbarer Dinge bemalt worden sei: „Jam vero penicilli omnes omnium
punctorum in lente velut (...)“208. [Nun aber sind alle Pinsel, alle Punkte gleichsam in der
Linse]. Penicilli, Pinsel, wie sie Künstler benutzen, malen die Gegenstände der äuße-
ren Welt auf die undurchsichtige Haut des Augenhintergrundes. „Retiformis tunica
pingitur a radiis coloratis rerum visibilium“209. [Die netzförmige Hülle wird von gefärb-
ten Strahlen unsichtbarer Gegenstände bemalt] Er beschreibt Bilder, die auf die Retina
gemalt werden. Sie werden nicht etwa umrisshaft gezeichnet, sondern mit der Fülle
der Erscheinungen dargestellt. Es sind die bunten Phänomene der Welt, die abgebil-
det werden, Lichtmalerei, die sich farbig darstellt.
Hier zeigt sich eine Verbindung
von Keplerscher Bildform und
Fotografie, die bis in die Ära der
Straight Photography der 20er-
Jahre zu finden ist. Gegnern sowie
Befürwortern dient diese Verbin-
dung als Argument, Pictura und
das Bild, das der Fotoapparat er-
zeugt, als Lichtmalerei zu titulie-
ren. Die Strahlen bilden sich auf beiden Bildträgern quasi von selbst ab, ohne Ein-
fluss des Künstlers, so als sei das Licht der verantwortliche Akteur der Entstehung.
Lichtmalerei ist das Bild, welches das kameraähnliche, passive Auge empfängt. Der
englische Karikaturist George Cruikshank greift den Topos in seiner Zeichnung „Sun
Abbildung 24: George Cruikshank: Illustration, Sun Drawing, 1841
208 Kepler, Johannes: Dioptrice, in: Hammer, Franz (Hrsg.): Johannes Kepler – Gesammelte Werke, Bd. 4, München 1939, S. 368. 209Kepler, Johannes: aaO., S. 372.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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Drawing“ von 1841 auf. Mond und Erde stehen der Sonne Modell, die sich als Male-
rin an der Staffelei versucht.
Die Bildtitel macht deutlich: Es handelt sich bei der Lichtbildnerei um eine neue Art
der Porträtkunst, um ein fotografisches Phänomen.
Doch die Gleichsetzung von Netzhautbildern und fotografischem Verfahren kann
nicht ohne weitere Differenzierungen vorgenommen werden. Es lässt sich zwar die
Nähe der Fotografie zur Keplerschen Bildform herstellen und eine Ähnlichkeit der
medialen Entstehung konstatieren. Als Fiktionalisierungsstrategie, welche den do-
kumentarischen Gehalt der Abbildung in Frage stellt, kann diese Analogie aber nicht
gewertet werden. Erst das kalkulierte Konzept der Malerei, das uns im Kapitel D. mit
dem Begriff des „Aspect“ begegnen wird, bietet die ästhetischen Ressourcen, aus
denen eine fiktional narrative Kunst schöpft.
Betrachtet man die Illustration van Beverwycks sowie Konincks und Walls Land-
schaften, wird deutlich, dass die kompositorischen Übereinstimmungen auf ihrer
gemeinsamen Wurzel als Augen-Kunst beruhen. Die Illustration, die anfangs in die
Diskussion eingeführt wurde, hat sich als eine Art häusliche Inszenierung der Ent-
stehung des Keplerschen Bildes und zugleich als Modell für die holländische
Abbildung 26: Philips Koninck: Flusslandschaf mit ohem Ufer, 1647, Öl auf Leinwand, 96,5 x h
115 7 cmAbbildung 25: Johan van Beverwyck: Illustration aus dem „Schat de Onge-sontheyt, Amsterdam 1664
Abbildung 27: Jeff Wall: Jewish Cemetery, Großbilddia in Leuchtkasten, 1987, 119 x 216 cm
Malerei gezeigt. Wie Walls und Konincks Darstellung ist van Beverwycks Land-
schaft ungerichtet und offen. Alle drei untersuchen die bewusstseinslose Produktion
der Bildträger, so wie sie Kepler in seiner Streitschrift gegen den Astronomen Vitel-
lio formuliert.
„Quomodo idolum seu pictura haec spiritibus visoriis, qui resident in retina et in neruo, coniungatur, et utrum per spiritus
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intro in cerebri cauernas ad animae seu facultatis visoriae tribunal sistatur, an facultas visoria, ceu quaestor ab Anima datus, e cerebri praetorio foras in ipsum neruum visorium et retinam, ceu an inferiora subsellia descendens, idolo huic procedat obuiam, hoc inquam Physicis relinquo disputandum“210 [Wie das Bild oder dieses Gemälde durch Sehkräfte, die in der Netz-haut und im Sehnerv sitzen, verbunden wird, ob es durch einen Luft-hauch hinein in das Gehirn vor das Tribunal der Seele oder das Seh-vermögen geschickt wird oder ob das Sehvermögen, wie ein von der Psyche gegebener Untersuchungsrichter aus dem Sitz des Gehirns heraus auf den Sehnerv selbst und die Netzhaut hinabsteigt – dies, so behaupte ich, überlasse ich den Naturwissenschaftlern zur Erörte-rung]
Es ist die Aufgabe der Naturwissenschaftler, zu untersuchen, wie das Netzhautbild
durch das Gehirn interpretiert wird. Ob das Sehvermögen wie ein von der Seele aus-
gesandter Untersuchungsrichter (Quaestor) sich von der Ratsversammlung des Ge-
hirns aus aufmacht, um dieses Bild zu interpretieren, gehört nicht in den Umkreis
seiner Untersuchung. Sehen bedeutet für Kepler, sich bewusst zu werden, dass die
Netzhaut Reize empfängt. Er demonstriert dies durch seine wissenschaftlichen
Nachweise. Dabei wird das Sehen als totalisierendes, kumulatives Vermögen defi-
niert.
Das Auge kann alles sehen – jedoch mit einer Ausnahme: Kepler geht ebenso wie
später Descartes davon aus, dass das Auge sich nicht selbst sehen kann. Beide setz-
ten dagegen, dass der Wissenschaftler das Auge im „allgemeinen denken“211 kann,
also sein Funktionieren beobachtet und mittels Modellen und Illustrationen die Spur
des Sehens liefert.
Die Keplersche Bildform ist an der Grenze zwischen Natur und Kunst angesiedelt.
Sie wird durch den Astronomen mathematisch definiert und in den Gemälden der
Holländer malerisch umgesetzt. Die Definition seines unpersönlichen Seh-Eindrucks,
der auf die Darstellung der reinen Seh-Daten reduziert wird, schlägt sich in der Dar-
stellungsform der Kunst nieder. Die Gemeinsamkeit von Van Beverwycks Illustrati-
on und Konincks Landschaft zeigt sich in der Art des Sichtbarmachens, in der Weise,
die gewählt wird, um den Bildinhalt zu präsentieren. Die malerische Konsequenz der
210 Kepler, Johannes: Ad Vitellionem Paralipomena Quibus Astronomiae pars optica traditur, in: Hammer, Franz (Hrsg.): Johannes Kepler – Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1941, S. 151f 211 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild – vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, S. 177.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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Keplerschen Bildform liegt in der Rekonstruktion des unvoreingenommenen Sehein-
drucks. Ziel ist es, das Sehen zu sehen, oder wie Wall es formuliert: eine Erfahrung
der Erfahrung. Dieses Ziel ist ein Paradoxon, denn die Produktion von Netzhautbil-
dern ist unmöglich. Bereits die Entscheidung, einen Seheindruck festzuhalten, ist ein
kalkuliertes Konzept, dem ein bewusster Beschluss vorausgeht. Wie in der „Ecriture
automatique“ der Surrealisten das Unbewusste zum Thema der Malerei wird, findet
sich bei der Kunst des Nordens der Versuch, einen kontrollierten Kontrollverlust
darzustellen – nur unter anderen Vorzeichen. Während die „Ecriture automatique“
die Spur einer unzensierten Seelenkunst legt, hat die Kunst des Nordens die Aufga-
be, das optische Pictura-Bild darzustellen. Doch gerade hierin, in der Konstruktion
einer bewussten Bewusstlosigkeit, fußt eine Ästhetik, die als beispielhaft für eine
Kunst des Eindrucks steht. Diese Strategie macht die Werke der holländischen
Künstler zu einer geeigneten Referenz für Jeff Wall.
Das bedeutet keinen Widerspruch zur Autorschaft des Künstlers. Wäre an der Bild-
herstellung kein Künstler beteiligt, der den Gegenstand gemäß seiner Vorstellung
eines autorenlosen Registrierens auswählen und gestalten würde, wären die Werke
dokumentarische Abbilder der physiologischen Bildproduktion. Ihr Platz wäre dann
nicht im Stedelijk Museum, sondern in einer Ausstellung zu anatomischer oder phy-
siologischer Wissenschaftsgeschichte. Stattdessen markieren sie den Grat zwischen
Malerei und Naturwissenschaft und sind zwischen dem reinen Seheindruck und der
kontrollierten Fiktion angesiedelt. Hierin liegt der spezifische Status der Gemälde
begründet. Er macht den Weg für künstlerische Kategorien frei, die sich weniger an
den rhetorischen und erzählerischen Modi orientieren als an der Darstellung der
Sichtbarkeit. Dies bleibt nicht ohne Folgen für den Betrachter: Beim Anblick von
Gemälden, die sich der Kunst des Eindrucks verschrieben haben, ist es unmöglich,
eine Geschichte nachzuerzählen, denn die „istoria“ löst sich in der Sichtbarmachung
der Gegenstände auf.
Keplers Augenmodell ist eine Form der Sichtbarmachung, die dem italienischen
Fenster-Blick, der von Alberti geprägt wurde, gegenübersteht.212 Während auf der
212 Albertis Diktum, dass die Malerei die Welt so repräsentiere, als sehe man sie durch ein Fenster, findet sich nicht nur in Italien, sondern auch in Dürers Darstellung eines Zeichners bei der Arbeit. In Dürers „Unterweysung der Messung“ von 1538 wird die Anfertigung der Aktzeichnung gezeigt. Ein weibliches Modell befindet sich auf einem Tisch, der ein gerastertes Velum besitzt, hinter dem sich
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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einen Seite die Welt durch ein gerahmtes Fenster wahrgenommen wird, dem wir un-
ser Auge zuwenden, tritt auf der anderen Seite das Bild an die Stelle des Auges. Un-
ser Standpunkt bleibt dadurch ungeklärt, und es stellt sich ein Höchstmaß an visuel-
ler Beteiligung für den Betrachter ein.213 Die Gemälde besitzen einen Bildstatus, der
einerseits aus einer Auseinandersetzung mit optischen Beobachtungen resultiert, an-
dererseits eine künstlerische Gemachtheit besitzt. Der Blick wird sehr nahe an das
Bildgeschehen gezoomt, so dass die rahmenlosen Ansichten unmittelbar vor dem
Betrachter stehen. Hieraus entwickelt sich die Faszination, die der Betrachter emp-
findet, wenn er die Werke der Künstler des Nordens erblickt. Für Jeff Walls Arran-
gements bietet sich durch den Rekurs auf die holländische Kunst die Möglichkeit der
Fiktion. Seine Arbeit verweist auf die Zugehörigkeit zu einem alternativen Darstel-
lungsmodus, der nicht mit der Erfindung der Perspektive im 15. Jahrhundert in Ita-
lien assoziiert werden kann.
Eine Zwischenbemerkung zur Präzisierung ist hier jedoch notwendig: Allein der Be-
zug auf die Optik macht nicht den Unterschied der italienischen und holländischen
Malereikonzeptionen aus. In der Forschung ist besonders Vermeers „Ansicht von
Delft“ oftmals mit den Abbildungen der Camera obscura in Verbindung gebracht
worden. Die winzigen Farbpigmente, welche die Schiffe in der „Ansicht von Delft“
beschreiben, wurden als Äquivalente jener diffusen Lichtkreise gelesen, die beim
Bild der Camera obscura um die unscharf eingestellten Lichter gebildet werden.214
Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Vermeer mit den Funktionen der Camera
vertraut war und von ihnen Gebrauch gemacht hat.215 Durch die Benutzung von opti-
schen, bildgebenden Verfahren ist bereits eine Parallele zwischen Walls Fotografien
und der holländischen Kunst zu ziehen. Es wird sich jedoch in der Darstellung der
Bildhandlung und des Bildraums noch zeigen, dass beide mehr verbindet als die
Verwendung optischer Reproduktionsgeräte. Die Sehkultur, der beide angehören,
erschöpft sich nicht in der technischen Ausgangssituation. Allein der Gebrauch opti-
der Zeichner befindet. Das Aktmodell wird durch einen genau definierten Abstand gezeichnet. Der Raster-Blick definiert den Ausschnitt. 213 Michael Fried hat in seiner Studie „Absorption and Theatricality – Painting and the Age of the Beholder“, einige Beispiele dieser Strategie in der französischen Kunst bei Chardin gefunden. Auf deutsch in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985, S. 154-182. 214 Fink, Daniel: Vermeer’s Use of the Camera obscura – A Comparative Study, in: The Art Bulletin, 53, 1971, S. 493-505. 215 Hockney, David: Geheimes Wissen – verlorene Techniken der Alten Meister wieder entdeckt, München 2001.
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scher Geräte kann keine notwendige Bedingung für eine „Kunst des Eindrucks“ lie-
fern. Er verweist zwar auf ein grundlegendes Interesse der Künstler an wissenschaft-
lichen Geräten, erklärt jedoch nicht das kulturelle Milieu und die Bewertung, in die
diese künstlerische Praxis eingebettet ist. Schließlich waren die Linse und die damit
verbundenen Abbildungstechniken seit der Antike bekannt und in Gebrauch. Aristo-
teles berichtet von den optischen Prinzipien der Camera bei der Beobachtung einer
Sonnenfinsternis. Er stellt fest, dass die Sonnenstrahlen, die durch die Löcher eines
Siebes auf den Boden projiziert werden, je nach Größe der Löcher an Schärfe gewin-
nen oder verlieren. Damit ist die Beziehung von der Größe der Öffnung und der
Bildschärfe benannt, die bei Fotoapparaten durch die Blende reguliert wird.216
Auch die Italiener experimentierten mit Linsen. Leonardo da Vinci beschäftigt sich
in seinen Aufzeichnungen des „Codex Atlanticus“ mit der Camera; Giambattista
Della Porta thematisiert sie in der „Magia naturalis“, Daniele Barbaro in der Schrift
„La Practica della Perspettiva“. Doch die Künstler des Südens kommen unter der
Verwendung der Camera obscura zu vollständig anderen Bildlösungen als Jan Ver-
meer, Gerard Dou und Jacques de Gheyn. Obwohl die Praxis der Camera obscura
auch im Süden bekannt war, findet man dort keine Gemälde, die als Anschauungs-
beispiele für die Vorstellung eines autorenlosen Sehens fungieren, und somit der
„Kunst des Eindrucks“ zugehören. Die italienische Kunst entstammt anderen ideen-
geschichtlichen Voraussetzungen. Allein die Untersuchung optischer Gesetze bietet
nicht die Grundlage eines Vergleichs.217
Bedeutsam ist für die vorliegende Studie also weniger der tatsächliche Gebrauch der
Camera obscura als das Vertrauen und die Bewertung, welche die Camera-Bilder im
Holland des 17. Jahrhunderts erfuhren; denn die Ursache für die spezifische Qualität
der holländischen Kunst kann nicht in einem technischen Verfahren gefunden wer-
den, sondern muss in einer Veränderung der ästhetischen Voraussetzungen gesucht
werden. Wenn Künstler die Technik der Camera nutzten, dann aus einem Interesse
an optischen Vorgängen und deren Konsequenzen für ihre Malerei – und gerade dar-
216 Die Erfindung der Camera obscura als Dunkelkammer, ausgestattet mit einer kleinen Lichtöff-nung, geht auf Al-Hazan zurück. In den Schriften des arabischen Gelehrten, der im 10. Jahrhundert das Phänomen der Sonnenfinsternis studierte, hat man die frühesten Beschreibungen einer Camera obscura gefunden. Einen chronologischen Überblick über die technische Entwicklung der Camera liefert Helmut Gernsheim im ersten Teil der Geschichte der Photographie – die ersten hundert Jahre, Frankfurt/Main 1983. 217 Dazu: Edgerton, Samuel Y.: Die Entdeckung der Perspektive, München 2002.
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in liegt ihre Verwandtschaft mit Jeff Wall. Vermeers Bild ist somit nicht eine Kopie
nach einer Darstellung der Camera obscura, sondern vielmehr eine Reflexion über
die Möglichkeiten der Malerei, über die Berührungspunkte zwischen gesehener und
gemalter Welt, denn die Verwendung der Camera obscura bietet für das Problem, das
durch das Wesen der Malerei aufgegeben ist, letztlich keine Lösung.218 Nur der Be-
zugsrahmen, in dem eine Praxis angesiedelt ist, lässt Rückschlüsse auf die Intention
der Verwendung zu.
Seit der der Diskussion um die Kunstwürdigkeit der Fotografie, die in den 70er-
Jahren begann, kreisen die Fragen um die malerischen Vorläufer der Technik. Dabei
haben sich zwei Lager herausgebildet: Die einen vergleichen die Malerei mit der
Fotografie, um im Anschluss deren Kunstwürdigkeit abzulehnen219, die anderen pos-
tulieren eine Ähnlichkeit von Malerei und Fotografie, um sie zu nobilitieren. So un-
terschiedlich die Standpunkte in ihrer Konsequenz sind, so ähnlich ist ihr Argumen-
tationsmuster. Beiden ist gemeinsam, dass nicht die Kunst nördlich der Alpen, son-
dern Albertis Bildtypus zum Vergleich herangezogen wird.
218 Auf die Verbindung von holländischer Malerei und der Technik der Camera obscura hat bereits Sir Josuah Reynolds verwiesen. Die Effekte der Malerei – besonders der Jan van der Heydens – kommen „in ihrer Wirkung der Natur, wie sie durch die Camera obscura gesehen wird“ nahe, schreibt er in seiner Reise nach Flandern und Holland. Zit. nach. Alpers, Svetlana: Kunst der Beschreibung – hol-ländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, S. 84. Ebenso bezieht sich der Kunsthistoriker Eugéne Formentin auf die Camera, wenn er von Ruisdaels Landschaften spricht „Sein Auge hat die Eigentümlichkeit der Camera obscura, es verkleinert, schwächt das Licht und bewahrt den Dingen das genaue Verhältnis ihrer Formen und Farben“. Fromentin, Eugène: Die Alten Meister (Belgien - Hol-land), Weimar 1907, S. 101. „Für die holländischen Künstler, denen es um eine Erkundung der sie umgebenden Welt ging, bedeutete die Camera obscura ein einzigartiges Mittel, um beurteilen zu kön-nen, wie ein wahrhaft natürliches Gemälde auszusehen hätte“, schreibt Arthur Wheelock. History of Photography, 2., New York 1977, S. 101; Ebenso: Ders.: Perspective, Optics and Delft Artists around 1650 – outstanding Dissertations in the Fine Arts, New York 1977. Im Falle Vermeers ist alles, ange-fangen vom Bildaufbau bis zur Wiedergabe der Objekte und dem Gebrauch der Farbe von der For-schung auf die Camera obscura zurückgeführt worden. Bereits 1891 verbindet Joseph Pennell das Größenverhältnis der beiden Figuren in Vermeers Gemälde „Soldat und lachendes Mädchen“ mit dem Hinweis, dass Vermeer optische Apparaturen benutzt habe. Pennell, Joseph: Photography as hin-drance and help to art, in: The Journal of the Camera Club, Vol.V, London 1891, S. 75. Heinrich Schwarz versucht in seinem Aufsatz „Vermeer and the Camera obscura“ nachzuweisen, dass Vermeer sich bei der „Ansicht von Delft“ der Camera immobilis bediente. Schwarz, Heinrich: Art and Photog-raphy – forerunners and influences, New York 1985, S. 119-131, S. 127. Ähnlich argumentieren Charles Seymour und Kenneth Clark. Seymour, Charles: Dark Chamber and Light-Filled Room – Vermeer and the Camera obscura, in: The Art Bulletin, 46, 1964, S. 323-331; Clark, Kenneth: Land-scape into Art, New York 1976. 219 Scruton, Roger: Photography and Representation, in: Critical Inquiry, 7, Autuum 1980, S. 577-603; Sontag, Susan: The Image-World, in: Hardwick, Elisabeth (Hrsg.): A Susan Sontag Reader, New York 1982, S. 349-367.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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Peter Galassi war einer der ersten amerikanischen Kritiker, der zu der Schlussfolge-
rung gelangte, dass die Fotografie nicht nur zur Gattung der Malerei gehöre, sondern
dass ohne die ästhetischen Vorentscheidungen der Malerei Fotografie nicht zu den-
ken sei. Galassis Ausstellung „Before Photography“, die 1981 vom New Yorker Mu-
seum of Modern Art präsentiert wurde, zeigte Gemäldestudien und Landschaften –
fragmentarische, scheinbar unkomponierte Wiedergaben der gesehenen Natur ebenso
wie holländische Innenräume protestantischer Kirchen, die im 17. Jahrhundert ent-
standen waren. Galassis Bildauswahl war überzeugend. Sie bekräftigte die Annahme,
dass eine Spielart der Fotografie auch Parallelen zur impressionistischen Kunst auf-
weise. Die Schlussfolgerung, die er im Katalog nachfolgen ließ, zeigte jedoch ein
völlig gewandeltes Verständnis. Er beschreibt eine Illustration aus Albertis „de Pic-
tura“ und begründet damit die Erfindung der Fotografie als Ableger des linearper-
spektivischen Bildes.220 Der Widerspruch von Ausstellung und Katalogtext zeigt die
Suche, der Fotografie eine Geschichte zu geben. Sie mündete bei Galassi in der Au-
torität der italienischen Kunst, auf die sich die Autoren bis heute berufen.
Sowohl für das Werk von Jeff Wall wie für die Arbeiten anderer Fotografen, die sich
der arrangierten Kunst widmen, wird die italienische Kunst als vorbildlich herange-
zogen.221 Erst die Ausstellungen „Malerei ohne Malerei“, die im Frühjahr 2002 im
Museum der Bildenden Künste in Leipzig gezeigt wurde, hat versucht, das Maleri-
sche in Fotografien, DVDs und Videos jenseits der Festschreibung auf italienische
Malereimodi darzustellen. Sie zeigte neben den „Blind Windows“ von Jeff Wall un-
ter anderem Fotografien von Tom Hunter, Jeremy Blake, Jörg Sasse sowie Videos
von Bill Viola, Marijke van Warmerdam und Peter Friedl. Die Arbeiten wurden – so
220 Galassi bezieht sich in seiner Argumentation ebenso auf Piero della Francesca wie auf Ucello als Vorläufer fotografischer Bilder. 221 Heinz Buddemeier hat auf zwei Entstehungsgeschichten der Fotografie verwiesen. Zum einen sieht er sie in der Logik der Verwissenschaftlichung, die bei Leonardo beginnt, zum anderen entwickelt er die Fotografie aus der Panorama- und Spektakelkultur. Buddemeier, Heinz: Das Foto – Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines neuen Urteils, Hamburg 1981; Buddemeier, Heinz: Panorama - Diarama - Photographie – Entstehung und Einwirkung neuer Medien im 19.Jahrhundert, München 1970. Christine Walter reiht die Fotografien von Jeff Wall ebenso in die Renaissancekultur ein. In ihrer Magisterarbeit „Bildkonzept und Darstellungstechnik bei Jeff Wall unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive“, die 1997 am kunsthistorischen Institut in München entstand, wird der Tiefenraum mit italienischen Piazza-Darstellungen in Verbindung gebracht. Im Katalog zur Aus-stellung „Ansicht – Aussicht – Einsicht“, die im Jahr 2000 in Leipzig gezeigt wurde, parallelisiert Monika Steinhauser die inszenierten Architekturfotografien von Andreas Gursky, Thomas Ruff und Candida Höfer mit Architekturbildern von Piero della Francesco, römischen Ansichten von Giovanni Paolo Pannini oder Francesco Guardi; Steinhauser, Monika (Hrsg.): Ansicht–Aussicht–Einsicht, Leipzig 2000.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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macht das Vorwort deutlich – zusammengestellt, um mit den Wölfflinschen Grund-
begriffen neue Wege einer kunsthistorischen Zuordnung zu finden. Die Zuweisung
einer spezifischen Bildlichkeit der malerischen Fotografie konnte jedoch auch hier
nicht gefunden werden.222 Die besondere Wirkung von Walls Tableaus blieb dadurch
ungeklärt.
Er zeigt „scheinbar unbedeutende, aber doch eigentümlich inszenierte Szenen“223.
Die Spannung, die Walls Bilder
auszeichnet, besteht in ihrem
Verhältnis zu einer malerischen
Sehkultur nordischer Prägung –
ein Merkmal, das er in der Be-
schreibung seiner Arbeit betont.
Wall weist die Kunst der Hollän-
der zwar nicht dezidiert als Vor-
bild aus, beschreibt jedoch genau
die ästhetischen Qualitäten, die
für diese Kunst kennzeichnend
sind: „Das ständige Spiel zwischen journalistischem und dichterischem Schreiben,
(...), ist für mich ein grundlegendes Modell dafür, wie die Fotografie funktioniert.
(...) Deshalb akzeptiere ich nicht, dem Foto subjektive Qualitäten anzudichten, nur
weil sich das fotografische Material manipulieren lässt“224. Die Fotografie soll kei-
nen künstlerischen Stil oder eine spezielle Manier erkennen lassen. Künstler zu sein
und Fotografien zu arrangieren, bedeutet nicht, subjektive Empfindungsqualitäten zu
transportieren. Nicht der genialische Visionär ist vorbildlich, sondern der Künstler,
der die Spur des Keplerschen Bildes verfolgt. Wall formuliert eine Forderung, die
bereits der Holländer Philip Angels 1642 in seinem „Lof der Schilder-Const“ postu-
Abbildung 28: Jeff Wall: The blind Window No.1, 2000, Großbilddia in Leuchtkasten, 199 x 133 cm
222 Luckow, Dirk/Schmidt, Hans-Werner (Hrsg.): Malerei ohne Malerei, Leipzig 2002. Ebenso sei auf die Ausstellung „Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei“, die im Jahr 2000 im Kunstverein Marienbad zu sehen war, hingewiesen. Ohne die Fotografien in ein festgelegtes, italie-nisch-inspiriertes Raster zu ordnen, wurden hier malerische Tendenzen von Jeff Wall, Walter Nie-dermayr, Jörg Sasse, und Heidi Specker versammelt. Berg, Stephan / Hirner, René / Schulz, Bernd (Hrsg.): Unschärferelation – Fotografie als Dimension der Malerei, Ostfildern 2000. 223 Dazu: die Dissertation von Annette Geiger: Urbild und fotografischer Blick – Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, die 2001 am Stuttgarter Institut für Kunstgeschichte bei Professor Wyss entstand. S. 185.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
109
lierte: „Sullen wy het soo maecken dat yder een kann sein om dat het op sodanige
maniere gemaerct is, dat het van die, of die Meester zy? Neen geensins.“225 [Sollen
wir es so machen, dass jedermann sehen kann, dass ein Werk in einer bestimmten Manier
gemacht wurde, und dass es von diesem oder jenem Meister ist? Nein keinesfalls.]226 Nicht
der Stil, die Manier, die Handschrift einer Malerpersönlichkeit steht im Vordergrund,
sondern eine Haltung, die nach Bildern jenseits subjektiver Seelenlandschaften sucht.
Durch ihre Verbindung zur Keplerschen Art und Weise des Bildermachens offenba-
ren sich ähnliche Zielsetzungen in der Kunst der Holländer und der Fotografie Walls.
Es ist eine Kunst, die zwischen dem objektiven Blick des Reporters und dem künstle-
rischen Schöpfertum angesiedelt ist: „Reportage ist nur dann interessant, wenn sie in
einen fiktiven Kontext gestellt wird, aber Fiktion ist nur interessant, wenn sie durch
einen dokumentarischen Charakter aufgewertet wird“227, betont Wall, wenn er davon
spricht, seine Motive nicht zu planen, sondern sie zu finden.228 Eine Analogie zwi-
schen holländischer Malerei und Walls Fotografie ist also nicht nur in der Gestal-
tung, sondern auch in der Wirkung der Kunstwerke zu verzeichnen. Sie macht den
„pictorial impact“229 seiner Kunst aus und ist wesentlicher Bestandteil ihrer artifi-
ziellen Erscheinung. Beiden Darstellungsmodi ist gemeinsam, dass sie an der
Schwelle von gesehener und reflektierter Welt angesiedelt sind. Wall kommentiert:
„Die neue Welt, die sich mir eröffnete, stand offensichtlich in Beziehung zu dem,
was die Malerei schon vollbracht hatte – eine Verschmelzung von Reportage und
Vorstellungswelt“230. Das Fotografische, wie es Jeff Wall skizziert, ist also nicht
eine Eigenschaft einer technischen Entwicklung und Reproduktion, sondern bezieht
sich auf eine künstlerische Fragestellung, die für Malerei wie für Fotografie verbind-
lich ist: Wie kann ein „Bild des Sehens“ geschaffen werden?
224 „Judd plus Flavin plus ein Foto.“ Jeff Wall im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International, 44, 1999, S. 230-245, S. 240. 225 Angels, Philips: Lof der Schilder-Const, Leiden 1642, S. 53. 226 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 227 Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art Los Angeles, Brogher, Kerry (Hrsg.): Jeff Wall, Los Angeles 1997, S. 25. 228 Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents. In: aaO., S. 99. 229 Wallace Ian, in: Institute of Contemporary Arts London (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, Lon-don 1984, S. 1. 230 Wall zitiert nach: Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte – Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/Main, S .93.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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D.V. Der Aspekt – Topos der Kunsttheorie Während im vorangegangenen Kapitel die keplersche Sehform als Ausgangspunkt
meiner Untersuchung beschrieben wurde, soll nun die kunsttheoretische Karriere
dieses Modus beleuchtet werden – schließlich war Kepler Naturwissenschaftler und
kein Künstler. Die Karriere seiner Sehform schlägt sich in einem Begriff nieder, der
aus kunsttheoretischer Perspektive die Besonderheit und das Wesen dieses Konzepts
beschreibt. Es ist der Schlüsselbegriff „Aspekt“, der sich als Topos in der Rezeption
von Keplers optischen Versuchen findet und bald das Genre wechselt, um als Kate-
gorie in der Kunstliteratur in Erscheinung zu treten.
Der „Aspekt“ markiert den Gegenpol zu einer Lehre, die sich für ein projizierendes
Auge ausspricht. Er findet sich in der Kunsttheorie verschiedener Epochen und be-
zeugt eine Verwandtschaft unterschiedlicher malerischer Ausprägungen. Allen ge-
mein ist, dass sie um ein passives Malerauge ringen, das sich vom entwerfenden
Blick absetzt. John Constable und die Impressionisten propagieren dieses empfan-
gende Sehen ebenso wie John Ruskin, der mit seiner „Science of Aspects“ einer Äs-
thetik der Erscheinung das Wort redet. Sie alle formulieren eine Malerei, die für eine
Keplersche Art des Bildermachens eintritt und eine Kunst fordert, die als Prothese
für diesen Blick fungieren soll. Für die Klassifikation der Werke von Jeff Wall erhal-
ten wir dadurch ein Zweifaches: Zum einen werden Walls Fotografien in den Kon-
text einer malerischen Entwicklung eingereiht, welche die Reichweite der „Kunst des
Eindrucks“ vorführt, zum anderen wird erneut deutlich, dass Wall weniger dem Me-
dium verpflichtet ist, als seinen malerischen Verwandten. Die Geschichte der Male-
rei, die sich als Veranschaulichung des Sehens versteht, folgt einer eigenen ästheti-
schen Logik; einer Folgerichtigkeit, in der sich auch die Werke von Jeff Wall einrei-
hen lassen.
Uns begegnet der „Aspekt“ in einem Brief, den Henry Wotton an Francis Bacon
schrieb. 1620 hatte Wotton, der als englischer Botschafter in Den Haag lebte, Kepler
in Linz besucht. Als er seine Verwunderung über die Zeichnung einer Landschaft,
die er in Keplers Arbeitszimmer bemerkt hatte, äußert, berichtet Kepler über den
Entstehungsprozess der Zeichnung. Durch Wottons Beschreibung erfahren wir, wie
Kepler seine mobile Camera obscura eingesetzt hat, und erhalten gleichzeitig den
Schlüsselbegriff dieses Kapitels.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
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„He hath a little black tent (of what stuff is not much importing) which he can suddenly set up, where he will in a field, and it is convertible (like a windmill) to all quarters at pleasure, capable of not much more than one man, as I conceive, and perhaps at no great ease; exactly close and dark save at one hole, about an inch and a half in the diameter, to which he applies a long perspective trunk, with a convex glass fitted to the said hole and the concave taken out at the other end, which extendeth to about the middle of this erected tent, through which the visible radiations of all the objects without are intromitted, falling upon a paper (...); and so he traceth them with his pen in their natural appearance, turning his little tent round by degrees, till he hath designed the whole as-pect of the field“.231
Kepler hat ein kleines schwarzes Zelt, das im Freien schnell aufgebaut werden kann
und sich in alle Richtungen wie eine Windmühle drehen lässt. Es ist vollkommen
abgeschlossen und dunkel und besitzt eine kleine Öffnung, durch die die Strahlen auf
ein Stück Papier fallen. Anschließend zeichnet er die Erscheinung nach und dreht
sein kleines Zelt solange herum, bis er den gesamten Anblick, den „aspect“ der
Landschaft gezeichnet hat.
Die Gesamtansicht setzt sich durch eine sukzessive Addition von Teilansichten zu-
sammen, die in ihrer „natural appearance“ durch die Öffnung tritt. Sie sind
ausschnitthaft und flach, ohne tiefenräumliche Ausdehnung. Setzen wir nun den Lo-
cus Classicus der Kunstliteratur daneben. Nicolas Poussin schrieb im Frühjahr 1642
an Philippe de Noyers, um die Qualität seiner Malerei gegen die Vorwürfe seiner
Gegner zu verteidigen. Der Brief ist Teil von gelehrten Schriften, die Poussin einem
ausgewählten Leserkreis zukommen ließ – meist seinem französischen Auftraggeber
Paul des Chantelou. In der Großen Galerie des Louvre sollen seine Werke frühere
Dekorationen ersetzen. Er ist ebenso wie Annibale Caracci und Domenichino von
Neidern und Intrigen umgeben. Ein richtiges Urteil könne sich de Noyer jedoch nur
bilden, wenn er die Gemälde von Poussin in angemessener Weise betrachten werde:
Man muss wissen, „daß es zwei Arten gibt, einen Gegenstand zu betrachten: einmal ihn einfach anzuschauen, und einen anderen, ihn mit Aufmerksamkeit zu betrachten. Einfach zu sehen ist nichts anderes, als im Auge die Form und Ähnlichkeit der gese-
231 Smith, Logan Pearshall (Hrsg.): The Life and Letters of Sir Henry Wotton, Bd. 2. Oxford, 1966, S. 206. Die kursive Schreibweise des „aspects“ stammt von der Verfasserin.
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henen Dinge zu empfangen. Aber einen Gegenstand zu sehen, indem man ihn betrachtet, heißt – jenseits der einfachen und na-türlichen Aufnahme der Form durch das Auge – mit einem be-sonderen Verfahren die Mittel zu suchen, um dasselbe Objekt gut zu erkennen: So kann man sagen, daß die einfache Ansicht [le Aspect] ein natürlicher Vorgang ist und jener, den ich Durch-sicht [le Prospect] nenne, ein Amt des Verstandes, das von drei Dingen abhängt, nämlich vom Auge, vom Sehstrahl und von der Entfernung des Auges zum Gegenstand. Und es ist diese Kennt-nis, von der zu wünschen wäre, daß diejenigen, die sich einmischen, um ihr Urteil abzugeben, in ihr gut unterrichtet würden“.232
Der „Aspect“ bietet sich dem Auge als natürlicher Vorgang, während der Prospekt
ein „Amt des Verstandes“ ist. Er wird durch den Sehstrahl geliefert, der in der Per-
spektivtheorie durch die Sehpyramide gebildet wird.233 Um einen „Prospekt“, eine
Durchsicht, den Blick durch ein Fenster, zu erhalten, muss sich der Betrachter in
einem genau definierten Abstand vor dem Gemälde aufhalten. Während das Auge
durch den „Aspekt“ die Form passiv empfängt, ist der Betrachter aktiver Bestandteil
der Bildentstehung. Mit dem Begriff „Prospekt“ beschreibt Poussin das Sehen, das
auf intellektuellen Nachvollzug ausgerichtet ist, mit „Aspect“ eine „natürliche Auf-
nahme“ [Operation naturelle], die dem entspricht, was Kepler als „Pictura“, als Netz-
hautbild beschrieben hat. Der „Aspect“ ist das quasi maschinelle Aufzeichnen des
Auges, der Eindruck, den der Künstler von den Erscheinungen der Welt erhält, um
ihn sofort auf dem Gemälde festzuhalten.234
In der Kunsttheorie der Impressionisten wird dieser Eindruck zur maßgeblichen In-
stanz für die Bildgenese. Hier finden wir eine weitere Spielart der Keplerschen Seh-
form. Sie zeigt sich nicht nur im stilbildenden Begriff, der diese Kunst kennzeichnet
– sie ist eine Kunst der Impression –, sondern auch in der malerischen Praxis, die der
232 Bruhn, Matthias: Nicolas Poussin – Bilder und Briefe, Berlin 2000, S. 200f. 233 Carl Goldstein hat Poussins Prospekt-Lehre auf die Perspektivkonstruktionen von Vignola und den „due regole della prospettiva“ zurückgeführt. Einen weiteren Einfluss übte das Manuskript von Mat-teo Zaccolini aus, das Poussin gekannt haben muss. Goldstein, Carl: The Meaning of Poussins Letter to De Noyers, in: The Burlington Magazin, Vol. CVIII, Nr. 754-765, Jan-Dez.1966, S. 233-239. 234 Der fotografische Blick, der sich in den Beobachtungsverfahren und Abbildungstechniken zeigt, ist der Versuch, subjektive Einflussnahme soweit als möglich zu unterbinden. Er findet sich auch in den Gemälden von Jean-Baptiste Chardin und als Topos in den Salonkritiken Denis Diderots. Char-dins Zitate aus dem Repertoire der holländischen Kunst sind nicht zu übersehen und verdeutlichen, dass ihm weniger an einer Weiterentwicklung bestimmter Motive gelegen war, als die Form, die Vi-sualisierbarkeit von Stillleben und Genre zu thematisieren. Seine Motive überraschen weniger, als sie visuell faszinieren. Dazu: Annette Geigers Dissertation: Urbild und fotografischer Blick - Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2001.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
113
Autorität des Auges untersteht. Der reine Seheindruck gelangt zur Bildwürdigkeit, so
dass das impressionistische Gemälde die unmittelbare Fixierung jener visuellen Spur
sein will, die das Motiv auf der Netzhaut des Künstlers hinterlassen hat.
Hier gelangen wir an ein Problem, das bereits bei den Holländern und der Verwen-
dung der Camera obscura deutlich wurde und für den Kunst-Charakter von Jeff
Walls Arbeiten maßgeblich ist. Genauso wenig wie die holländischen Maler Camera-
obscura-Bilder herstellen, arbeiten die Impressionisten fotografisch. Anhand ihrer
Malerei lässt sich deutlich zeigen, worin der Unterschied zwischen einem konzeptu-
ellen Gebrauch des Mediums und einer Fotografie als „Dienstleistung“ besteht.
Fotografien werden von den Impressionisten als Paradigma dokumentarischer Ab-
bildbarkeit, nicht als eigenständiges Werk, wie in den 70er-Jahren, gebraucht. Foto-
grafische, ausschnitthafte Ansichten, die weniger komponiert als zufällig vorgefun-
den erscheinen, dienen ebenso als Inspiration, wie die Alltäglichkeit einer fotogra-
fierten Straßenszene. Edouard Manets „Hafen von Bordeaux“ aus dem Jahr 1871
bezieht sich auf eine Hafendarstellung von Adolphe Braun. Wie die Abbildungen 29
und 30 zeigen, arbeitete Edgar Degas an einem Frauenporträt nach einer Fotografie
von Adolphe-Eugène Disderi; Pierre Bonnard und Gustave Moreau benutzen ebenso
fotografische Vorlagen wie später Fernand Khnopff, Edouard Vuillard, Alphonse
Mucha, Edvard Munch und Pablo Picasso.235 Eine genaue Untersuchung des fotogra-
fischen Ausgangsmaterials offenbart, dass alle gesicherten Vorlagen für die Maler
des Impressionismus fotografische Indices sind.
Sie erfüllen die Funktion, die ihnen qua Dokumentationsmittel zusteht. Sie fungie-
ren, um die Erinnerung einer Reise zu konservieren, um einen historischen Straßen-
verlauf zu dokumentieren oder anstelle der Skizze eine spontane Bildidee festzuhal-
235 Weitere Beispiele liefern Paul Gauguin und Henri Rousseau. Gauguin bezieht sich in dem Gemäl-de „Frau mit Farn“ auf die Fotografie einer Südsee-Insulanerin, Rousseau gewinnt in dem Gemälde „Der Wagen von Père Juniet“ Inspirationen von einer 1906 entstandenen Aufnahme. Erika Billeter hat wichtige Beispiele der fotografisch-malerischen Wechselbeziehung zusammengetragen. Billeter, Erika: Das Selbstporträt im Zeitalter der Photographie – Maler und Photographen im Dialog mit sich selbst, Bern 1985. Ebenso: Schwarz, Heinrich: Art and Photography – Forerunners and Influences, New York 1949; Coke, van Deren: The painter and the photograph – from Delacroix to Warhol, 1966; Stelzer, Otto: Kunst und Photographie – Kontakte, Wirkungen, Einflüsse, München 1966; Schmoll gen. Einsenwerth, Jan A.: Malerei nach Fotografie – von der Camera obscura bis zur Pop Art, München 1971; Baldassari, Anne: Picasso und die Photographie – Der schwarze Spiegel, Mün-chen 1997; Kosinski, Dorothy: The Artist and the Camera, New Haven 2000.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
114
ten.236 Die Fotografien nehmen bei den Impressionisten die Rolle ein, die bisher das
Modell ausgefüllt hatte. Die Künstler isolieren aus dem fotografischen Material eine
Pose, eine Geste oder Haltung und übertragen diese später in das Gemälde.
Abbildung 32: Adolphe-Eugéne Disderi: Porträtfotografie, um 1870
Abbildung 33: Edgar Degas: Frau-enporträt, 1872, Öl auf Leinwand, 90 x 57 cm
Die Fotografie hat nicht den Status eines ebenbürtigen Kunstwerks und stellt die
Malerei somit nicht vor die Aufgabe der Legitimation. Die Fotografien stehen im
Dienst der Mimesis, der sich die bildende Kunst seit dem 18. Jahrhundert mehr und
mehr zu verweigern beginnt und die im 19. Jahrhundert bereits ihre Gültigkeit verlo-
ren hat.237 Die Erfindung der Fotografie kann somit sicherlich als Phänomen gewer-
tet werden, das seine Spuren in der bildenden Kunst hinterlassen hat; für eine Krise
der Malerei kann sie jedoch nicht zur Verantwortung gezogen werden, denn die Im-
pressionisten interessiert an der Fotografie, was sie für ihre Auseinandersetzung mit
den Fragen der Malerei leistet. Hätte die Erfindung des Index’, die Fixierbarkeit des
236 Die Beispiele, die Kirk Varnedoe von Edgar Degas, Gustave Cailletbotte und Edouard Manet anführt, untermauern diese These. Dazu: Varnedoe, Krik: The Artifice of Candor – Impressionism and Photography Reconsidered, in: Art in America, 1, 1980, S. 66-78. 237 Carsten Zelle hat die ästhetische Kategorie des Schönen untersucht und festgestellt, dass seit dem 18. Jahrhundert die Ästhetik einen „Bruch mit sich selbst“ vollzogen hat. Dieser Bruch drückt sich in einem Gegendiskurs zur klassischen Schönheitslehre aus. In dieser Konsequenz werden die Aufgaben der Malerei neu bestimmt; Abbildungsqualitäten treten in den Hintergrund. Zelle, Carsten: Die dop-pelte Ästhetik der Moderne – Revision des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart 1995, S. 7ff.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
115
optischen Eindrucks, die Lösung aller malerischen Probleme bedeutet, dann hätten
die Impressionisten nicht zu Pinsel und Leinwand gegriffen, sondern zu Linse und
Fotopapier, denn ihnen stand die Fotografie, die 1839 für die Öffentlichkeit zugäng-
lich war, bereits zur Verfügung.238
Es ist darum nicht verwunderlich, dass Paul Signac die Geschichte des Neoimpressi-
onismus in seinem Buch „D’Eugène Delacroix au néo-impressionisme“ als maleri-
sche Entwicklung von Eugéne Delacroix über John Constable bis zu John Ruskin
und Georges Seurat beschreibt, ohne auf die Erfindung der Fotografie einzugehen. In
einem zusammenfassenden Aufsatz in der deutschen Zeitschrift „Pan“, die seinen
Artikel 1898 veröffentlichte, betont Signac die Notwendigkeit des Netzhautbildes für
die Malerei: „Die Mischung stets reiner Elemente auf unserer Netzhaut“239 ist das
Vorbild für die Technik der Farbzerlegung, der sich die Impressionisten verschieben
haben. Ästhetisch wird diese Bestimmung – nach Signac – von John Ruskin aufge-
griffen. Ruskins Lehre gilt als Legitimation und historische Rückbindung für den
Impressionismus. Beide verbindet das Interesse an einer Malerei, die sich gemäß der
Keplerschen Bildform am Auge orientiert.
In der Theorie des englischen Schriftstellers, Malers und Kunsttheoretikers John
Ruskin treffen wir erneut auf den Begriff des „Aspects“, der sich hier bereits als äs-
thetische Kategorie etabliert hat. Seine „Science of Aspects“ liefert der Malerei des
Netzhautbildes einen anschaulichen Begriff und erweitert sie zu einer Wahrneh-
mungsgrundlage der Naturphänomene. Ruskin stellt die „Science of Aspects“, die
Wissenschaft der Erscheinungen, den „Science of Facts“, der naturwissenschaftli-
chen Sichtweise, dem Experiment mit der Natur in seiner Schrift „Modern Painters“
gegenüber.
„Es gibt genauso gut eine Wissenschaft von den Erscheinungen der Dinge, wie eine ‚Natur‘-Wissenschaft existiert. Und es ist ge-nauso wichtig, herauszuarbeiten, welche Wirkungen die Dinge auf das Auge oder das Herz machen, wie festzustellen aus wel-
238 Peter Bürger schreibt in seiner „Theorie der Avantgarde“: „Mit dem Aufkommen der Fotografie und der damit gegebenen Möglichkeit der exakten Wiedergabe von Wirklichkeit auf mechanischem Wege, verkümmert die Abbildfunktion der bildenden Kunst“. Dem naheliegenden Schluss, die Abs-traktion der Malerei leite sich aus der Erfindung der Fotografie ab, ist jedoch nicht zuzustimmen. Die Aufgabe der Malerei überstieg immer den Auftrag, Wirklichkeit abzubilden. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974, S. 41f. 239 Ein Nachdruck von Paul Signacs Aufsatz „Neoimpressionismus“ findet sich im Ausstellungskata-log „Farben des Lichts“. Franz, Erich: Farben des Lichts – Paul Signac und der Beginn der Moderne von Matisse bis Mondrian, Ostfildern-Ruit, 1996, S. 377-398, hier: S. 384.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
116
chen Atomen oder Schwingungen der Materie sie bestehen.“240, schreibt er 1842.
Dem „bemühten Blick“241, der sich in bewusster Kontemplation in die Erscheinun-
gen versenkt, eröffnet sich die Bewegung, Gestaltvielfalt und Nuancierung der Na-
tur.242 Um zu dieser Verfasstheit zu gelangen, vor aller künstlerischen Absicht, be-
darf es einer eigenen Wissenschaft, der „Science of Aspects“. Nicht der einzelne
Gegenstand, der seziert werden kann, sondern die unfassbare Fülle von Naturer-
scheinungen liegt Ruskins Ästhetik zugrunde. Er plädiert für eine Naturerforschung
ohne System, eine Naturbeobachtung, die ohne zu klassifizieren die Erscheinungs-
formen der Landschaft erlebt. Wahr ist alle Apperzeption, die sich Natur aneignet
und ihre Vielgestaltigkeit und Veränderbarkeit aufnimmt.243 Die Bäume haben un-
endlich viele Blätter, die Blätter unendlich viele Zacken und Adern, kein Blatt
gleicht dem anderen. Unendlich sind die Vielfalt der Tonigkeit einer Landschaft und
die Verlaufsformen von Wellen – und damit nicht in naturwissenschaftlichen Einzel-
versuchen erfahrbar, in individuellen, partikularen Wahrheiten, sondern nur als Ge-
samtheit der Phänomene.
Um die „Science of Aspects“ zu praktizieren, bedarf es einer „Unschuld des Auges“,
eines ursprünglichen Sehens, das nur die Sehdaten ohne nachfolgende Ordnung auf-
nimmt. 1857 formuliert Ruskin dieses Postulat in seiner Zeichenlehre „The Elements
of Drawing“. Dort heißt es:
„Alles, was wir an der Welt um uns herum wahrnehmen, bietet sich dem Auge dar als eine Zusammenstellung verschiedenfarbi-ger Flecken (...). Die ganze Wirkungskraft der Malerei im Tech-nischen beruht auf unserer Fähigkeit, jenen Zustand zurückzuge-winnen, den man Unschuld des Auges nennen könnte, d.i. eine Art von kindlicher Sehweise, die die farbigen Flecken als solche wahrnimmt, ohne Wissen von ihrer Bedeutung – so wie ein Blin-der sie sehen würde, wenn ihm mit einem Mal die Sehkraft zu-rückgegeben wird.“244
240 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: John Ruskin – Leben und Werk, München 1983, S. 76 241 Kemp, Wolfgang: aaO., S. 76. 242 Die Idee der Plenitudo, der göttlichen Mannigfaltigkeit der Welt, reicht bis zu Platon zurück, den Ruskin viel gelesen hat. Sie erscheint bei den englischen Neuplatonikern des 18. Jahrhunderts, bei-spielsweise Richard Hooker, und ist fortan in der europäischen Geistesgeschichte präsent. Dazu: Kemp, Wolfgang: aaO., S. 70ff. 243 Ruskins Ästhetik basiert auf der Verteidigung der Malerei William Turners, der in seine Land-schaften Wolken, Bäume – kurz Naturerscheinungen idealtypisch dargestellt hat. 244 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: aaO., S. 113.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
117
Die Aufgabe der Malerei besteht darin, dem Betrachter das Erlebnis eines vorzivili-
sierten Sehens zu ermöglichen, das sich an den optischen Gegebenheiten der Wahr-
nehmung orientiert. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, der Physik, Botanik
und Optik bieten eine Möglichkeit, sich gegen die Ziele der akademischen Malerei
abzugrenzen, denn ideale, klassische Künstler malten nicht „wie wir sahen, sondern
was nach ihrer Meinung nach ein hübsches Bild gab“.245 So finden wir auch in
Ruskins Schriften Zeugnisse einer wissenschaftlichen Tätigkeit. Er untersucht die
Lichtbrechung und die Reflexion von Gegenständen im Wasser, die Ablenkung, Ein-
und Ausfallswinkel der Lichtstrahlen sowie die Spiegelungen von Objekten.246 Die
Ergebnisse hält er in Notizbüchern fest, um die Umsetzung in den malerischen Zeug-
nissen zu überprüfen. „Der ganze Wert ihres [der Kunst] Zeugnisses beruht (...) auf
der Wahrhaftigkeit des einen Wortes, das vorangegangen ist: Vidi – ich habe
gesehen“247. Entsprechend scharf fällt seine Kritik an der etablierten Kunstwahr-
nehmung aus: „Man fragt einen Kunstkenner, der ganz Europa abgelaufen hat, wie
das Blatt der Ulme geformt sei. Kaum einer wird es wissen, und doch jede Land-
schaft redselig kritisieren (...)“248, merkt er bereits als 24-Jähriger an.
Möglicherweise hat Ruskin an eine Zeichnung von John Constable gedacht, als er
diese Zeilen niederschrieb. Im Gegensatz zu den Kritikern gehört der Künstler
Constable zum Kennerkreis der Naturphänomene. Seine Studien zeigen eine genaue
Beobachtung der Erscheinung, so wie es Ruskin gefordert hat. Die Spiegelungen des
Lichts auf der nassen Vegetation, die vorüberziehenden Wolken, die feine Struktur
der Grashalme, jedes Detail der Landschaft wird in seiner Malerei aufgezeichnet, so
dass Constable dem Vorwurf einer mangelnden Beobachtungsgabe nicht ausgesetzt
werden kann. Constable zeigt in seiner Zeichnung „Elm tree“ von 1821 den Aus-
schnitt einer Ulme. Der Baum wird nicht in der Gesamtheit seiner Größe dargestellt,
sondern auf den Schaft mit schuppiger Rinde reduziert. Jede Einzelheit der Baumrin-
de wurde sorgfältig studiert und für bildwürdig erklärt. Doch über den weiteren
Wuchs des Baumes erhalten wir keine Auskunft. Der Baum nimmt prononciert die
245 Ruskin, John: Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung – Moderne Maler, Leipzig 1902, S. 91. Zur Verbindung von Ruskins Kunsttheorie und der Entwicklungsgeschichte der Fotografie siehe auch Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit, in: ders.. Die aufgehobene Zeit – Die Erfindung der Photographie durch Henry Fox Talbot, Berlin 1988, S. 39-60. 246 Kemp, Wolfgang:, aaO., S. 82. 247 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: aaO., S. 112. 248 John Ruskin, zitiert nach Kemp, Wolfgang: aaO., S. 73.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
118
Mittelachse des Bildes ein. Constable
zeigt eine rahmenlose Ansicht, die auf
eine Komposition mit flankierendem
Beiwerk verzichtet. Hier finden sich die
Merkmale eines malerischen Stils wie-
der, welcher der Keplerschen Sehform
entstammt: die Detailgenauigkeit der
Darstellung, die „offene“ Komposition,
die Positionierung des Bildgegenstands
im Vordergrund, die Zurückweisung
einer ausgedehnten Tiefenräumlichkeit
und der Verzicht darauf, den Bildge-
genstand aus der Fenster-Sicht darzustellen.
Abbildung 31: John Constable, Elm Tree, 1821
Das Bild zeigt nur einen Ausschnitt,
einen Aspekt der Gesamtansicht des
Baumes. Constable macht dem Be-
trachter bewusst, dass sich der Baum
über das willkürliche Rechteck des
Blattes erstreckt und er nur dasjenige
zu Papier gebracht hat, das im Be-
reich seines Gesichtfelds in Erschei-
nung getreten ist, dass die Zeichnung
keinen vollständigen – möglicherwei-
se – idealen Entwurf einer Ulme vorführt, sondern nur eine Teilansicht aufzeichnet.
Nüchtern, bloß registrierend, ohne die Gesamtheit erfassen zu wollen, hat der Maler
den Gegenstand ins Bild gesetzt. Die Nahsichtigkeit gewährt dem Auge des Künst-
lers, nur soviel aufzuzeichnen, wie es seine physiologische Beschaffenheit erlaubt.
Die „Science of Aspects“, die sich in der Summe einzelner Teilansichten ausdrückt,
wie sie Ruskin propagiert, wird hier vorweggenommen.
Abbildung 32: Jeff Wall: Clipped Branches - East Cordova St., 1999, Großbilddia in Leuchtkasten, 85, 3 x 102,5 cm
Stellen wir Constables „Elm tree“ einer Fotografie von Wall zur Seite, wird deutlich,
dass beiden Ansichten Ähnlichkeiten in der stilistischen Auffassung des Bildgegen-
standes zugrunde liegen. Walls Fotografie „Clipped Branches, East Cordova St.,
Vancouver“ von 1999 beschränkt sich ebenfalls darauf, den rauhen Stamm eines
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
119
Baumes zu zeigen. Constables Ulme befindet sich in einem Park, Walls Baum inmit-
ten eines asphaltierten Trottoirs, doch bei beiden erhalten wir keine Auskunft über
die weitere Beschaffenheit des Baumes; lediglich die Textur der rauhen Rinde wird
uns vorgeführt. In den beiden begrenzten Ansichten finden wir Keplers Einzeler-
scheinung wieder, die er in seiner mobilen Camera-Apparatur erzeugte. Constable
und Wall lösen aus dem „Prospekt“ der Erscheinung den „Aspekt“ des Eindrucks.
Der Zeichnung sowie der Fotografie gelingt dadurch, dem linearperspektivischen
Raum, der auf die Erschließung einer Gesamtansicht ausgelegt ist, eine Alternative
gegenüberzustellen, die sich in der arrangierten Komposition ausdrückt. Hier liegt
nicht das Modell des binokularen, anthropomorphen Sehens zugrunde, das dem
menschlichen Streben zugeordnet wird, Ursache, Wirkung und Abgeschlossenheit zu
liefern, sondern das vereinzelte Auge, das als Sehmaschine einen Gegenstand suk-
zessive abtastet und die Einzelteile nach optischen Gesetzen abbildet – ohne Inter-
pretation des Seheindrucks.
Für die Fragestellung nach Walls Fiktionalisierungsstrategien lässt sich nun Folgen-
des feststellen: Die Kunst des Eindrucks, der auch Walls Fotografien zugerechnet
werden, folgt einer künstlerischen, ästhetischen und malerischen Logik, die im 17.
Jahrhundert in der holländischen Malerei zu finden ist und sich im 19. Jahrhundert
durch die Impressionisten ausprägt.249 Sie findet ihren Niederschlag in einer Kunst-
theorie, die sich auf den Begriff des Aspekts bezieht und formuliert die Ziele einer
Malerei, die den schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Vorstellung dieser Wirk-
lichkeit darstellen will. Für diese Kunst gilt, was Gottfried Boehm für Cézanne for-
muliert hat: „Prima vista sehen wir Dinge oder Sachverhalte, keine Sehdaten. Es be-
darf einer höchst künstlerischen Einstellung, um dergleichen überhaupt zu gewahren.
Sehdaten kann jeder nur sehend an sich selbst beobachten.“250
Die Strategie, die bei Keplers Bildform ihren Anfang nimmt, ist letztlich für einen
Ablösungsprozess von einer rhetorischen Organisation des Bildes verantwortlich. Sie
steht am Anfang einer Kunst, die Malerei unter ihrer spezifischen Qualität in den
249 Die Beziehung der Holländer zu den Impressionisten ist nicht als lineare Folge zu verstehen. Der Vergleich beruht auf malerischen Grundbegriffen, die im Sinne der Wölfflinschen Lehre in verschie-denen Epochen auftreten können. Unter dieser Voraussetzung sind auch die Äußerungen von Piet Swillens zu verstehen, der im Bezug auf die aufgesetzten Lichter in Vermeers Gemälden von einem „impressionistic realism“ spricht. Swillens, Piet T.A.: Johannes Vermeer – Painter oft Delft, Utrecht 1950, S. 178. 250 Boehm, Gottfried: Paul Cézanne – Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt/Main 1988, S. 31.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
120
Vordergrund stellt und als visuelles Ereignis dem Betrachter gegenübertritt. Diese
künstlerische Strategie versucht nachzuspüren, wie die Sehinformation auf die Netz-
haut trifft. So, wie es der Holländer Samuel van Hoogstraten gefordert hat: dass „die
sichtbare Welt sich selbst in einer besonderen Weise darbietet“251.
Der Fotografie als Medium kann per se keine künstlerische Qualität zugesprochen
werden. Nur der Gebrauch, der sich in einer Arbeit ausdrückt, kann auf eine künstle-
rische Strategie verweisen. So zeichnen sich die Fotografien von Wall durch Merk-
male aus, die Wiedererkennbarkeit gewährleisten und die Werke für den Betrachter
beim ersten Anblick in die Nähe der Kunst rücken. Seine Strategie ist dabei von ei-
nem künstlerischen Stil zu unterscheiden. Stil ist nach der Vorstellung subjektiver
Schöpfungskraft die Kategorie, welche Kunst erzeugt und sich in Malerei als typi-
sche Gemachtheit ausdrückt. Die Keplersche Form des Bildermachens lehnt jegli-
chen Ausdruck einer subjektiven Künstlermanier ab. Das Streben, Bilder als Wahr-
nehmungsprothese zu entwickeln, ist das Verbindliche, was alle Kunstwerke, die
sich dem Eindruck verschrieben haben, eint und Wiedererkennbarkeit gewährleistet.
Mit Walls Werken tritt zum ersten Mal in der Geschichte der Fotografie eine Kunst
auf den Plan, welche nicht nur den Gebrauch der Fotografie in ein künstlerisches
Umfeld verlagert – das wurde innerhalb der Fotografiegeschichte oftmals prakti-
ziert252 –, sondern malerische Strategien, Kompositionselemente und Darstellungs-
weisen von Raum und Fläche innerhalb der Fotografie so anwendet, dass sich die
Eigenschaften des Mediums mit den Zielen einer speziellen Ausprägung der Malerei
in Übereinstimmung bringen lassen können: maschinelles Aufzeichnen und kalku-
liertes Kunstkonzept. Mit den Prinzipien der Malerei zu operieren, hatte bereits die
bildmäßige Fotografie der Piktorialisten und des Fin de Siècle versucht. Doch ihre
Kunst unterscheidet sich von den Werken, die in der Tradition der Keplerschen Seh-
form stehen, an einem zentralen Punkt: Der Piktorialismus bezieht sich nicht auf ein
autorenloses, entanthropomorphisiertes Sehen. Die Künstler arbeiten zwar mit Retu-
schen und Inszenierungen und versuchen ebenfalls das Medium von seiner wissen-
schaftlichen und dokumentarischen Aufgabe zu befreien und es für die bildende
Kunst fruchtbar zu machen, trennen jedoch das Registrieren des Bildapparates nicht
251 Hoogstraten, Samuel van: Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – Anders de zichtbae-re Werelt, Rotterdam 1678, S. 33. Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 252 Beispiele liefern die Collagen von Hannah Höch, Marcel Duchamp und Christian Boltanski.
D. DER AUSGESCHLOSSENE BETRACHTER – GRUNDLAGEN EINER OPTISCHEN KUNST
121
von der subjektiven Wahrnehmung.253 Die bildmäßige Fotografie des 19. Jahrhun-
derts versteht den künstlerischen Einsatz des Mediums als Stimulans für subjektive
Empfindungen, in deren Dienst Unschärfe als Stilmittel eingesetzt werden.254
Walls Werke sind also nicht mit den Erzeugnissen der Piktorialisten zu vergleichen,
sondern stehen im Umkreis einer spezifischen künstlerischen Haltung, die mit dem
Topos des „Aspekts“ nachgezeichnet wurde.255 Der formalen Gestaltung – der Flä-
chigkeit und den Teilansichten – entspricht die Reduktion des Bildgeschehens. Die
Handlung der Bilderzählung ist meist stillgelegt, die Figuren erscheinen in ihrer Tä-
tigkeit versunken und werden vollkommen absorbiert.
253 Neben diesem Unterschied sind die Themen, denen sich Künstler wie Oscar Gustave Rejlander und Henry Peach Robinson widmen, mythologischen oder allegorischen Ursprungs und haben nichts mit den genrehaften Szenen oder Landschaften gemein, die wir bei den Holländern und Jeff Wall finden. 254 Die Fotografien von Heinrich Kühn geben dafür ein Beispiel. Kühn benutzt die Weichzeichnung als programmatische Verfahrensweise, um eine individuelle Empfindung und Erlebniswahrheit zu vermitteln. Es geht „die Besinnung der bildmäßigen, der künstlerischen Photographie dahin, den erlebten Eindruck als das von einer Persönlichkeit subjektiv Empfundene durch eine kräfteverteilen-de, die Vielgestaltigkeit ordnende Vereinfachung in eine klare und deshalb eindrucksvolle Form zu fassen“, beschreibt Heinrich Kühn die Fotografie in seinem Beitrag zur Frage der weichzeichnenden Objektive. In: Photographische Rundschau und Mitteilungen, 61, 1924, S. 193. 255 Dennoch gehört es zu einem wissenschaftlichen Allgemeinplatz, die inszenierte Fotografie der 80er-Jahre durch den Ansatz des 19. Jahrhunderts zu erklären. Christine Walter widmet den piktoria-listischen Bildformen einen Exkurs, da die „Fotografen des Piktorialismus dennoch großen Einfluss auf das Werk zeitgenössischer Fotokünstler haben“. Walter, Christine: Bilder erzählen – Positionen inszenierter Fotografie, Weimar 2002, S. 63ff; Die Magisterarbeit, Positionen inszenierender Photo-graphie – historische und zeitgenössische Entwicklung, die am Stuttgarter Institut für Kunstgeschichte 1997 von Ulrike Weipert angefertigt wurde, stellt die fiktional narrative Fotografie ebenfalls in die Tradition der Piktorialisten.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
122
E. Erzählung oder Schilderung?
Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, dass Walls Fotografien gestalterische Analogien
zur Malerei des Nordens aufweisen. Durch die „Feineinstellung“ der Untersuchung
soll nun der spezifische Status seiner Kunst untersucht werden. Es stellt sich die Fra-
ge nach weiteren Charakteristika, um ein engmaschiges Raster für die Einordnung
seiner Werke zu erstellen. Sind Walls Fotografien erzählerisch, anekdotisch, zeitlich
organisiert, oder werden sie durch die Arbeit an einem großen Zyklus zusammen-
gehalten? Während die grobe Zuordnung in die keplersche Sehkultur es ermöglichte,
der Debatte um Fotografie zwischen Malerei und technischer Dokumentation eine
neue Perspektive zu liefern, werden nun die innerbildlichen Konsequenzen beleuch-
tet. Walls Großdias sind als Tableaus angelegt. Sie stehen in der Tradition der auto-
nomen Tafelbilder; jede einzelne Bildeinheit wird als abgeschlossenes Werk behan-
delt. Keine seiner Arbeiten besitzt seriellen oder zyklischen Charakter und unter-
scheidet sich dadurch von den sequentiellen oder seriellen Arbeiten der indexikali-
schen Kunst, die ich oben in Rekurs auf Rosalind Krauss’ Fotografietheorie näher
bestimmt hatte. Wenig Personal findet sich in den Bildern, in überschaubaren Grup-
pen haben sich die Protagonisten zusammengefunden. Meist sind es Personenkons-
tellationen von zwei bis maximal vier Personen. Sie sitzen auf einer Wiese, sind mit
der Lektüre eines Buches beschäftigt oder spazieren eine Straße entlang. Allen Dar-
stellungen ist eine zeitlich organisierte Handlung in einem spezifischen Raum ge-
meinsam.
Raum und Zeit sind seit der modernen Zeitphilosophie und ihrem Vordenker Imma-
nuel Kant Bedingungen für Möglichkeiten, die Gegenständlichkeit von Gegenstän-
den zu bestimmen. Zeit ist dabei kein externer Gegenstand oder eine Eigenschaft wie
Farbe, Härte oder Geruch, die wissenschaftlich untersucht werden können. Zeit ist
ein konstitutives Anordnungsschema der sinnlichen Wahrnehmung, das selbst zwar
nich wahrnehmbar ist, jedoch für das menschliche Erkennen und den Gegenstands-
bezug notwendig ist. In der aktuellen Debatte der Zeitphilosophie werden zwei para-
digmatische Argumentationsmodelle diskutiert: Zum einen das kantische Verständ-
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
123
nis zum anderen Martin Heideggers Zeitphilosophie, die er in „Sein und Zeit“ formu-
lierte.256
Zeit und Raum, die in diesem Kapitel untersucht werden, stellen sich jedoch als
Möglichkeiten einer malerischen Darstellung von Handlung dar. Nicht der moderne
Zeitbegriff oder die zeitliche Wahrnehmung der Bildwerke ist im Folgenden verbind-
lich – schließlich werden Werke der bildenden Kunst in aufeinanderfolgenden Au-
genbewegungen wahrgenommen und somit in einem zeitlichen Nacheinander rezi-
piert.257 Es stellt sich vielmehr die Frage, wie die Wirkung der Wallschen Tableaus
erklärt werden kann – erscheinen die Menschen, die in seinen Fotografien auftreten,
doch seltsam entrückt, einem zeitlichen Verlauf enthoben. Eine Antwort liefert der
Rückgriff auf die vormoderne Kunsttheorie, die in diesem Kapitel referiert werden
soll. Es stellt sich dabei heraus, dass Wall nicht auf einen Zeitbegriff, wie er sich in
der Moderne herausgebildet hat, Bezug nimmt, sondern auf einen malereitheoreti-
schen Begriff von Zeit, wie wir ihn in den Traktaten der Holländer finden.258 Samuel
van Hoogstraten gebraucht den Begriff „tijd“, um seinen Schülern eine angemessene
Darstellungsform zu erklären. Er thematisiert Zeit als die malerische Organisation
von Handlung.259 Zeitlichkeit wird in der vormodernen, holländischen Kunst nicht
256 Zur Einordnung der Zeittheorien von Kant und Heidegger in die Diskussion des modernen Zeit-denkens siehe Janich, Peter: Die Konstitution der Zeit durch Reden und Handeln, in: Ars Semeiotica, 19, 1996, S. 133-147; Sandbothe, Mike: Die Verzeitlichung der Zeit – Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt 1998; Beuthan, Ralf / Sandbothe, Mike: Zeit – Kant, Hegel bis heute 19./20. Jahrhundert, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004. 257 Ernst Gombrich bemerkt dazu: „Auch das Lesen eines Bildes ist ein Prozeß, der in der Zeit vor sich geht, und zwar braucht er sehr viel Zeit“. Gombrich, Ernst: Bild und Auge, Stuttgart 1984, S. 43. Der Bereich, in dem wir scharf sehen, umfasst 2 Grad. Diese Beschränkung des Sehwinkels wird dadurch kompensiert, dass der Blick ruckartig von einem Fixationspunkt zum nächsten springt. Dazu: Monty, Richard A. / Senders, John W. (Hrsg.): Eye Movements and Psychological Processes, New York 1976, S. 323-345. 258 Seit 1800 begegnet uns Zeit in verschiedenen Erscheinungsweisen in der bildenden Kunst. Sie ist nicht mehr nur an die Darstellung von Handlung gebunden, sondern zeigt sich als Produktionszeit, Rezeptionszeit oder als ikonografisches Motiv. Als Produktionszeit zeigt sie sich in Gemälden der Impressionisten, in Pollocks Malerei oder einer verfallenden Dieter-Krieg-Skulptur sowie in der Dau-er einer Performance. Als Motiv erscheint Zeit in der Moderne als Thematisierung von Transitorik, beispielsweise in den naturwissenschaftlichen Studien Goethes. Dort wird versucht, das meteorologi-sche Phänomen zu fassen, das Ephemere und den transitorischen Übergangscharakter der Wolken zu thematisieren. Dazu: Haus, Andreas / Hofmann, Franck / Söll, Änne (Hrsg.): Material im Prozess – Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2001. 259 Van Hoogstraten thematisiert in seinem Malereitraktat Zeit im Sinne einer Schilderung von Hand-lung. In den Büchern, die der Muse Clio und der Muse Erato gewidmet sind, spricht er von den Er-fordernissen der Historie. Er nennt dabei eine inhaltliche Wahrhaftigkeit der Darstellung, die Wah-rung des Dekorums sowie die Bevorzugung erhabener Motive, um bei dem Betrachter innere Be-wegtheit zu erzeugen. Czech, Hans-Jörg: Im Geleit der Musen – Studien zu Samuel van Hoogstratens
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
124
als Thema, sondern vielmehr als akzidentielle Konsequenz, die sich aus der Darstel-
lung entwickelt, verstanden. Es wird keinerlei Bezug auf einen tatsächlichen Zeit-
fluss genommen, wie er sich in der Erfahrung des Betrachters manifestiert, sondern
innerhalb rhetorisch-poetologischer Kategorien der Schilderung oder Erzählung von
„Istoria“ diskutiert. Im Folgenden soll dieses Verständnis als ikonische Zeit themati-
siert werden. Sie zeigt sich in der innerbildlichen Darstellung, in den dargestellten
Bewegungs- und Kompositionsformen sowie in den Handlungszusammenhängen.
Ikonische Zeit ist unabhängig von der Wahrnehmung des Betrachters, sie existiert
allein auf dem Tableau und ist das Ergebnis einer künstlerischen Setzung, einer ma-
lerischen Organisation der Bildhandlung. Sie stellt eine bildimmanente Struktur dar,
an der sich die Bewegungen des Bildpersonals und Vorgänge des Gemäldes aufzei-
gen lassen. Ikonische Zeit zeigt sich entweder als Erzählung oder Schilderung, stellt
sich jedoch nicht mit den künstlerischen Mitteln der Faktur oder bearbeiteten Ober-
fläche dar.260 Ikonische Zeit ist ein ästhetisches Phänomen, eine künstlerische Be-
antwortung der Frage, wie Malerei eine Handlung anschaulich machen kann. Die
Untersuchung der ikonischen Zeit ist in den Gemälden, die für die Analyse herange-
zogen werden, weniger als Motiv greifbar, denn als Gegenstand der Darstellung, der
in seiner Zeitlichkeit geschildert wird.261 Anders als bei der seriellen Reihung oder
der technischen, medialen Umsetzung von Zeitlichkeit finden wir die ikonische Zeit
in den Szenerien; sie zeigt sich als Schilderung von Handlungsabläufen. Sie ist dabei
keine ikonografische Größe – wie etwa im Vanitas-Stillleben – sondern wird als
kunsthistorische Kategorie, welche die folgerichtige Bilderzählung untersucht, ver-
standen. Ikonische Zeit begegnet uns in der vormodernen Malerei als Handlung.
Während in der akademisch-italienischen Tradition eine Abfolge von Momenten
dargestellt wird, schildern die Künstler des Nordens stillgelegte Augenblicke. Sie
verzichten darauf, die Szene in einer phasenlogischen Abfolge von Ereignissen dar-
zustellen und lösen den Augenblick aus seiner zeitlichen Folge. Das Resultat ist eine
Malereitraktat Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – Anders de zichtbaere Werelt (Rot-terdam 1678), Münster 2002, S. 69-115ff. 260 2003 ist zu diesem Thema die Magisterarbeit „Vom bewegten Motiv zum verzeitlichten Medium – Verzeitlichungstendenzen in der europäischen Landschaftsmalerei zwischen 1780 - 1860“ von Sylwia Chomentowska am Stuttgarter Institut für Kunstgeschichte entstanden. 261 Der ikonischen Bildzeit und ihrer Untersuchung in der Kunstgeschichte widmet sich Lorenz Ditt-mann mit seinem Aufsatz „Der folgerichtige Bildaufbau – eine wissenschaftsgeschichtliche Skizze“. In: Hülsen-Esch, Andrea / Körner, Hans / Reuter, Guido (Hrsg.): Bilderzählungen – Zeitlichkeit im Bild, Köln 2003, S. 1-23.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
125
Kunst, die einerseits äußerst realistisch wirkt, andererseits nicht an die Erfahrungen
des Betrachters anzuknüpfen scheint. Dieser Effekt, der auch bei den Werken von
Jeff Wall zu konstatieren ist, soll im Folgenden dargestellt werden.
Es ist das Ziel, eine „Ikonographie des Augenblicks“262 für die holländische Malerei
zu entwickeln und somit die Eigentümlichkeit der Wallschen Kunst näher zu
bestimmen. Denn gerade in Walls Bezugnahme auf die vormoderne Strategie, Hand-
lung zu schildern, zeigt sich der fiktionale Charakter seiner Fotografien. Zeit und
Raum werden als die Formkategorien Handlung und Tiefe, also als Darstellungsprin-
zipien verstanden, deren Untersuchung die jeweiligen Eigenschaften von Erzählung
und Schilderung begreifen lässt. Diese Modi durchdringen sich und bilden gemein-
sam einen Chronotopos. Der Chronotopos, ein von dem Literaturwissenschaftler
Michail Bachtin geprägter Begriff, bezeichnet eine Verschmelzung räumlicher und
zeitlicher Merkmale.263 Im Chronotopos verbinden sich räumliche und zeitliche Ei-
genschaften zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen, zu einer Erzählung, wie wir
es in der Analyse der italienischen und französisch-akademischen Kunst kennenler-
nen werden, oder zu einer Schilderung, wie sie die Holländer und Wall entwickeln.
Ziel wird es im Folgenden sein, malerische Formulierungen von Chronotopoi vorzu-
stellen. Der Chronotopos für die Kunst des Nordens und die Fotografien von Jeff
Wall ist die Schilderung, während der Chronotopos für die italienische Kunst und
ihre akademischen Nachfahren die Erzählung ist.
E.I. Handlung – Dauer oder Moment?
Die Protagonisten in den Fotografien von Jeff Wall begegnen uns, während sie mit
der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten beschäftigt sind. Ein Mann lauscht an einer
Tür, wischt den Boden eines Raums, schließt einen Schrank auf oder spaziert eine
Straße entlang. Es sind scheinbare Schnappschüsse, die einen Zeitpunkt eines Ver-
laufs „einfrieren“ oder einen fruchtbaren Moment innerhalb einer Geschichte isolie-
ren und die Zufälligkeit einer Situation vorführen. Wie in Kapitel B.I. bis B.IV. ge-
262 Dazu: Thomsen, Christian W. / Holländer, Hans (Hrsg.): Augenblick und Zeitpunkt – Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984. Besonders: Hollän-der, Hans: Zur Zeit-Perspektive in der Malerei, in: aaO., S. 175-197. 263 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman – Untersuchungen zur historischen Poetik, Frank-furt/Main 1989, S. 8.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
126
zeigt wurde, basieren Walls Fotografien jedoch auf einer kalkulierten, oftmals ge-
probten Inszenierung, so dass eine Schnappschuss-Ästhetik für sein Werk ausge-
schlossen werden kann.264 Wie, wenn nicht mit der Zeitstruktur eines Schnappschus-
ses, können die Handlungen des Bildpersonals in ihrer spezifischen Struktur also
beschrieben werden?
Abbildung 33: Jeff Wall: Volunteer, 1996, Schwarz-Weiß-Fotografie, 207 x 274
cm
Walls Fotografie „Volunteer“ von 1996 zeigt einen Mann, der den Boden eines Ge-
meinschaftsraumes reinigt – vielleicht in einer sozialen Einrichtung. In der Ecke be-
findet sich eine provisorische Küchenzeile, Stühle stehen vor einer Wand mit Fotota-
pete, alltägliche Gegenstände wie Zeitungen, Plüsch-Spielzeug oder Geschirr sind zu
sehen. Der Mann ist ganz auf die Verrichtung der Tätigkeit konzentriert. Er blickt
auf den Boden und verfolgt die Bewegung des Reinigungsgeräts. Seine Augen schei-
nen fast geschlossen, sein Körper bewegungslos zu sein. Er zeichnet sich durch eine
augenblickliche Unbewegtheit aus. Wie lange er sich schon in diesem Raum befin-
det, und wann er seine Tätigkeit vollenden wird, kann genauso wenig gesagt werden,
wie dasjenige, was er zuvor getan hat oder danach tun wird. Die Situation scheint 264 Darum ist Rolf Lauters Vergleich von Walls Fotografien mit den Werken von Beat Streuli falsch. In seinem Essay über die „Identitäten des Selbst und des Anderen“ vergleicht er die „zum Stillstand verdammten und fixierten Personen“ mit den Protagonisten des Schweizer Künstlers. Streuli fotogra-fiert jedoch keine inszenierten Szenen, sondern Menschen, die sich unbeobachtet in öffentlichen, städtischen Räumen bewegen. Lauters, Rolf, in: ders. (Hrsg.) Figures and Places, München 2002, S.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
127
einem zeitlichen Verlauf enthoben zu sein. Wall schildert keinen Zeitpunkt, der aus
einer Reihe von Momenten isoliert wird, sondern hebt den zeitlichen Verlauf einer
Handlung durch künstlerische Mittel auf. Die Handlungen seiner Protagonisten sind
dabei nicht in einen temporalen Verlauf integriert, sondern dehnen sich zu einem
Moment von undefinierbarer Dauer.
Diese Strategie zeigt sich auch
in der Inszenierung von Hand-
lung in holländischen Gemäl-
den. Vergleicht man „Volun-
teer“ mit einem Gemälde von
Jan Vermeer, bemerkt man eine
ähnliche Struktur der zeitlichen
Organisation: Beide Künstler
schildern eine alltägliche Hand-
lung, die sich durch ein re-
gungsloses Verharren auszeich-
net. Vermeer Gemälde „Die
Milchmagd“ von 1660 zeigt
eine schlichte Genreszene, die
von einer jungen Frau dominiert wird. Sie gießt Milch aus einem Krug in eine
Schüssel, die vor ihr auf dem Tisch steht. Auf diesem Tisch befinden sich weiterhin
ein Korb mit Brot, ein Krug und einige Backwaren. Auf den ersten Blick scheint das
Gemälde lediglich eine Genreszene, angesiedelt in einem Wirtschaftsraum, zu illust-
rieren. Doch wie bei Walls „Volunteer“ stellen sich Schwierigkeiten ein, wenn man
die vorgeführte Handlung nachzuerzählen versucht. Die Vorlagen erlauben es nicht,
eine Geschichte zu spinnen, die sich nach einer Logik von Ursachen und Wirkung
entwickelt. Haltung und Gesichtsausdruck der Milchmagd sind durch Neutralität
geprägt. Wie bei Walls „Volunteer“ sind ihre Augenlider gesenkt. Die Protagonistin
blickt regungslos auf die fließende Milch und nimmt keinen Kontakt zum Betrachter
auf. Ihre gesamte Erscheinung, das heißt sowohl die innere wie die äußere Haltung,
ist auf die Tätigkeit fixiert.
Abbildung 34: Jan Vermeer: Die Milchmagd, um 1658, Öl auf Leinwand, 45,5 x 40,6 cm
25; Zu Streuli: Städtische Galerie Esslingen, Damsch-Wiehager, Renate (Hrsg.): „Dicht am Leben –
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
128
Die Milchkanne wird von der Magd leicht gekippt, so dass die Milch an der unteren
ausgebuchteten Kante in einem schmalen Strahl in den Tontopf fließt. Im ersten
Moment wird dadurch ein zeitliches Moment assoziiert – buchstäblich ein Zerfließen
von Zeit, eine Abfolge mehrerer Momente. Auf den zweiten Blick erscheint der
Milchstrahl jedoch eigentümlich statisch. Es bleibt dabei unklar, wie viel Milch noch
in der Kanne ist oder ob der Topf bereits gefüllt ist. Der Blick in den Krug wird
durch eine große runde Öffnung freigegeben. Gleichzeitig bleibt der Betrachter je-
doch im Unklaren, wie viel Flüssigkeit sich noch in ihm befindet. Weder der Zweck
der Handlung noch die Konsequenzen werden von Vermeer geschildert. Der Künst-
ler beschränkt sich darauf, den Anblick des Fließens darzustellen.
Das einförmige, „stehende“ Fließen der Milch wird durch die kompositorische Anla-
ge des Gemäldes verstärkt. Sowohl die Bilddetails wie das gesamte Gefüge basieren
auf einer statischen Komposition. Der ruhige, geradlinige Verlauf des Milchstrahls
wird in der vorderen, hell aufleuchtenden Falte der Tischdecke wiederholt. Sie endet,
angeschnitten, am Bildrand in der linken Hälfte des Vordergrunds. Der Hintergrund
ist durch einen starken Hell-Dunkel-Kontrast von Wand und Kleidung gekennzeich-
net. Die Milchmagd ist zur lichtdurchfluteten Seite plastisch modelliert, während
ihre rechte Körperhälfte mit dem hellen Flächenwert der Wand kontrastiert wird.
Hier begegnet uns eine collagenartige Wirkung, welche auch die Männerfigur von
Walls „Volunteer“ auszeichnet. Die scharfe Kontur beider Personen hebt sich flächig
vom Hintergrund ab; sie sind nicht in den Tiefenraum einbezogen, sondern erschei-
nen als applizierte Bildmotive. Während Wall diese Wirkung durch Studioleuchten
erzeugt, welche die Szene von rechts oben beleuchten, entwickelt Vermeer diesen
Effekt durch einen feinen weißen Strich, der entlang der Schulter und des Rückens
verläuft.265 Keine ausladende Gestik lenkt den Betrachter von der Beobachtung der
Figuren ab, wenige ikonographische Anspielungen zerstreuen die intensive Betrach-
tung der Tableaus.266 Ikonische Zeit als Verlauf wird ausgeschaltet. Eine Handlung,
Close to Life“, Ostfildern-Ruit 1995. 265 Wheelock, Arthur: Vermeer & the Art of Painting, New Haven, London 1995, S. 65. 266 Der Vermeer-Forscher Arthur Weelock konnte durch Röntgenaufnahmen nachweisen, dass das Gemälde ursprünglich mit einer Landkarte auf der Rückwand der Kammer versehen war. Für die endgültige Fassung hat Vermeer jedoch das ikonographische Repertoire auf ein Minimum begrenzt. Der Fußwärmer, der sich auf dem Boden hinter der Magd befindet, ist von ihm in Verbindung mit der Emblem-Literatur gedeutet worden. Bei Roemer Visschers Buch „Sinnepoppen“ von 1614 findet sich der Fußwärmer („Mignon de Dames“) als Verweis auf Liebe. Die kleinen Cupido-Figuren auf dem Boden-Fries der Kachel unterstützen diese These. Dazu: Wheelock, Arthur: aaO., S. 69f und S. 110.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
129
die sich auf den ersten Blick als ein Moment zeigt, der in eine Kette von abfolgenden
Ereignissen eingepasst ist, wird mittels künstlerischer Mittel überwunden.
Auch andere Werke
von Wall weisen diese
zeitliche Handlungs-
struktur auf. Wall hat
in der Fotografie „In-
somnia“ von 1994
eine Küche als Schau-
platz gewählt. Wir
blicken in einen Bild-
raum, der im Hinter-
grund durch einen
hellgrünen Einbau
abgeschlossen wird und im Vordergrund einen über Eck gestellten Tisch mit einem
Stuhl zeigt. Rechts befindet sich ein Kühlschrank, links steht ein Herd. Unter dem
Tisch liegt regungslos ein Mann. Er trägt eine Sporthose und ein gestreiftes Hemd.
Der Mann hat sich auf die Seite gedreht, den Arm unter dem Kopf angewinkelt und
blickt aus dem Bild. Die Pose, die an einen Schlafenden erinnert, erscheint in diesem
Interieur ungewöhnlich, würde der Titel nicht auf den Zustand der Bildfigur verwei-
sen: Wall zeigt eine Mann, der keinen Schlaf findet. Seine Augen sind zwar geöffnet
sind, doch er verharrt in der liegenden Pose. Die Gedanken des Schlaflosen folgen
ebenso wenig wie bei Vermeers „Lautenspielerin“ von 1664 dem, was seine Augen
wahrnehmen. Während die Lautenspielerin aus dem Fenster zu blicken scheint267,
sind die Augen des Mannes auf das gerichtet, was sich vor seinem Gesichtsfeld ab-
spielt.
Abbildung 35: Jeff Wall: Insomnia, 1994, Großbilddia in Leuchtkas-ten, 173 x 214 cm
Doch beide zeigen keinerlei Reaktion auf die visuelle Wahrnehmung, sondern sind
damit beschäftigt, sich auf das zu konzentrieren, was dem Betrachter verborgen
bleibt. Bei der Lautenspielerin sind es die Töne des Musikinstruments, das sie gerade
267 In der kunsthistorischen Literatur ist der Blick aus dem Fenster als Beobachtung der Straße gedeu-tet worden. Die Lautenspielerin erwartet eine Reaktion auf ihr Spiel. Sie hat jedoch die Noten auf dem Tisch noch nicht aufgeschlagen, sondern ist damit beschäftigt, die Saiten des Instruments zu stimmen. Walsh, John / Sonnenburg, Hubert von: Vermeer, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, 4, 1973.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
130
stimmt, bei „Insomnia“ sind es die Gedanken, die den Protagonisten der Szene be-
schäftigen.
Beide sind auf sich und ihre Tätigkei-
ten bezogen, sie treten durch ihre
Blicke nicht mit ihrer Umgebung in
Kontakt. In Stille und Zurückgezo-
genheit befinden sie sich in reduzier-
ten Interieurs, die keinen Hinweis
darauf geben, zu welcher Tageszeit
sich die Szenen abspielen. Das Ta-
geslicht dringt zwar bei Vermeer
durch die Scheibe, letztlich bleibt
eine genaue Bestimmung des Zeit-
punkts unmöglich. Der Innenraum
und die Gegenstände werden nicht in
der Erscheinungsfarbe des flüchtigen,
verstreichenden Momentes dargestellt, sondern in einem diffusen Streulicht, das den
Raum gleichmäßig erhellt. Es ist nicht das Arretieren eines verstreichenden Augen-
blicks, sondern die Darstellung einer unbestimmten Dauer. Bei Wall ist das Tages-
licht vollständig ausgeschlossen. Obwohl der Raum ein Fenster besitzt, verhindert
die gegenüberliegende Wand das Eindringen des natürlichen Lichtes. Der Titel legt
nahe, dass es Nacht ist, eine elektrische Lampe spiegelt sich im Küchenfenster. Doch
die Lichtregie der Szene verweist auf zusätzliche Strahler, die dem Raum den ge-
wünschten Lichteffekt geben. Ihr Schein spiegelt sich in den Wölbungen der Kü-
chenschränke. Der Betrachter wird damit über die tatsächlichen, natürlichen Licht-
verhältnisse im Unklaren gelassen. Die Szene spielt sich nicht in einem Zeitraum ab,
der sich an der Betrachter-Erfahrung orientiert, sondern in einen zeitlosen Kunst-
raum. Auffälliges Merkmal dieser Kunsträume ist die räumliche Enge, in der sich die
Personen befinden. Die zeitliche Verdichtung der Handlung findet in der räumlichen
Dimensioniertheit ihre Entsprechung. Die Möbel bilden dabei ein Kompositionsge-
füge, in das die Figuren eingepasst sind. Die starke Nahsicht zeigt einen fokussierten
Raumausschnitt. Dieser begrenzte Raum verhindert eine ausladende Gestik und breit
angelegte Erzählformen. In diesen eng dimensionierten, verstellten Kammern können
Abbildung 36: Jan Vermeer: Die Lautenspie-lerin, um 1664, Öl auf Leinwand, 51,4 x 45,7 cm
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
131
sich keine ausladenden Handlungszusammenhänge entwickeln. Wall zeigt diese
Verkürzung des Handlungsraums in der Pose des liegenden Mannes. Sein Körper
erstreckt sich fast über die gesamte Bilddiagonale, so dass er von den Gegenständen,
die sich in der Küche befinden – besonders durch den Tisch – eingerahmt wird.
Vermeer verfolgt diese Strategie bei der Lautenspielerin, indem er weit auseinander
liegende Gegenstände durch ein direktes Nebeneinander in die Fläche bannt. Der
Löwenkopf des Stuhls im Vordergrund erscheint dicht neben der Schulter der jungen
Frau. Ebenso wird der Knauf der Kartenstange im Hintergrund sehr nah an die
Schulter gerückt. Der Raum zwischen dem Tisch und der Rückwand besitzt dabei so
wenig Ausdehnung, dass man sich fragen muss, wie die Frau mit der Laute dahinter
Platz findet. Die Ausarbeitung des Stuhls vor der Wand und die Verkürzung der Bo-
denplatten verraten jedoch Vermeers Kenntnis der räumlichen Gesetze und zeigen,
dass der Künstler in diesem Gemälde mit der Verunklärung perspektivischer Regeln
arbeitet, um das räumliche Arrangement mit der zeitlichen Darstellung zu kombinie-
ren. Der Betrachter wird Zeuge einer Szene, die keinem definierten Verlauf folgt.
Bei Vermeers „Brieflesende[m] Mädchen am offenen Fenster“ wird die Situation aus
einem narrativen Zusammenhang gelöst. Vor einem geöffneten Fenster sehen wir
eine junge Frau, die mit der Lektüre eines Briefes beschäftigt ist.268 Wieder ist der
Gesichtsausdruck der Protagonistin durch die geschlossenen Augen gekennzeichnet,
und ihr Körper wird von einer Rahmung aus Möbeln, Teppichen und Vorhängen
umschlossen. Wir können nicht in die Sphäre der Briefleserin eintauchen. Selbst die
Spiegelung in der Fensterscheibe offenbart keine weitere Ansicht der jungen Frau,
sondern verdoppelt nur den Ausdruck zurückgezogener Versunkenheit. Uns bleibt
verwehrt, den Inhalt des Briefes zu erfahren, denn Vermeer schildert das inhaltliche
Zentrum der Handlung als Vakuum. Die Ereignisse und Vorgänge, von denen der
268 Das Briefmotiv kommt bereits Anfang des 17. Jahrhunderts in der holländischen Malerei vor. Während zuvor das soziale Ereignis im Vordergrund stand, werden Mitte des 17. Jahrhunderts Frauen und Männer allein in einem Innenraum beim Lesen oder Schreiben von Briefen gemalt. Die konzent-rierte Versunkenheit der Briefschreiber wird beispielsweise von Gabriel Metsu und Vermeer themati-siert.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
132
Brief handelt, bleiben für uns unsicht-
bar; keine Zeile des Schriftstücks kann
vom Betrachter entziffert werden. In-
dem Vermeer den Betrachter von der
Handlung ausschließt und ihm die An-
teilnahme am Bildgeschehen verwehrt,
verweist die Bilderzählung auf sich
selbst zurück.269 In Stille und Zurück-
gezogenheit wird eine sehr privat an-
mutende Umgebung geschildert, in
welche der Betrachterblick eindringt.
An der rechten Bildseite fällt ein zu-
rückgezogener Vorhang auf, der weni-
ger zur Intensivierung der privaten
Atmosphäre eingesetzt wird, sondern
als Trompe-l’oeil den Eindruck erwecken soll, vor dem Gemälde angebracht zu sein.
Die Vorhangstange verläuft zwar am oberen Bildrand des Gemäldes, scheint jedoch
über die Begrenzung des Bildgeviertes hinauszugehen.270 Der Vorhang, der von
Vermeer nachträglich in die Komposition eingefügt wurde, markiert die Grenze zwi-
schen dem Betrachterraum und dem Bildraum.271 Die komplexe Doppeldeutigkeit
der Augentäuschung – schließlich ist auch der Vorhang gemalt – soll im Moment
nicht weiter verfolgt werden; sie wird während der Analyse des Guckkasten-Motivs
in Kapitel E.V. weitere Perspektiven der illusionistischen Malerei aufzeigen. Vorerst
gilt es festzuhalten, dass Vermeer durch diese Augentäuschung zwei voneinander
getrennte Sphären des Gemäldes vorführt: einerseits die spezifische Situation inner-
halb des Gemäldes, andererseits die Betrachtersituation außerhalb des Bildes.272
Abbildung 37: Jan Vermeer: Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657, Öl auf Leinwand, 83 x 64,5 cm
269 Dazu: Alpers, Svetlana: aaO., S. 321-342. 270 Im Holland des 17. Jahrhunderts waren Bild-Vorhänge üblich. Sie dienten dazu, die Gemälde vor Licht und Schmutz zu schützen oder sie nur an ausgewählten Tagen zu zeigen. Netta, Irene, aaO., S. 120. 271 Röntgenaufnahmen haben auf dem Gemälde in der rechten Tischhälfte einen Römer sichtbar ge-macht. Der Vorhang war somit nicht von Anfang an Teil des Gemäldes. Meyer-Meintschel, Annalie-se: Die Briefleserin von Jan Vermeer van Delft – zum Inhalt und zur Geschichte des Bildes, in: Jahr-buch der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, 11, 1978/79, S. 91-99, S. 95. 272 Die Verfasstheit des beobachtenden Betrachters wird in Kapitel E näher untersucht werden. Sie ähnelt dem voyeuristischen Blick eines Guckkastenbetrachters.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
133
Beide folgen einer eigenen Logik von Raum und Zeit. Vermeer erschafft dadurch
eine eigenständige Bildrealität, die nur scheinbar der Alltäglichkeit des gegebenen
Sujets und den damit verbundenen zeitlichen Modalitäten entspricht. Er zeigt einen
abgetrennten Kunst-Raum, der auch ohne den Betrachterblick existiert.
Auf diesen Effekt bezog
sich Wall während der
Präsentation seiner ersten
Einzelausstellung in Van-
couver 1978. Dort zeigte
er das Groß-Dia „The
Destroyed Room“ im
Erdgeschoss der Nova
Art Gallery.273 Er instal-
lierte die Fotografie in
gleicher Höhe mit dem
Schaufenster, so dass die
Flaneure vom Bürgersteig
aus in den erleuchteten
Innenraum blicken konnten. Die Fotografie wurde von zurückgezogenen Vorhängen
flankiert, die den Blick auf das Kunstwerk freigaben. „Illuminated at night it also had
the effect of implying an illusory space within“274, beschrieb ein Besucher den Ein-
druck der Inszenierung und formulierte so die fiktionale Wirkung des Raumgefüges.
Wall kommentiert: „The picture was planned in reference to the patterns of meaning
identified with the window display and movie and theater sets, and intended to ar-
ticulate disturbing social imagery in terms of the fascinating generated by beautiful
objects or commodities positioned within those carefully regulated modes of repre-
sentation“.275 Die Inszenierung verweist auf die Trennung von Betrachter-Realität
Abbildung 38: Jeff Wall: Ausstellungsansicht, Nova Art Gallery, Vancou-ver 1978
273 „The Destroyed Room“ ist Walls erste Fotoarbeit, die mit fiktionalen Arrangements spielt. Das Tableau zeigt einen verwüsteten Innenraum, der von einer Frau bewohnt wurde. Wahllos sind Kleider aufeinandergetürmt, Schubladen aufgerissen, Matratzen aufgeschlitzt. Das Großdia zeichnet sich, obwohl es die Spuren des zuvor stattgefundenen Zerstörungsaktes zeigt, durch seine Handlungslosig-keit aus. Unbewegt, wie in einem Stillleben sind die Dinge angeordnet. 274 Wallace, Ian, in: Institut for contemporary Arts, London (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, Lon-don 1984, S. 26. 275 Jeff Wall in: Hirshhorn Museum and Sculpture Garden / Smithsonian Institution (Hrsg.): Direc-tions 1981, S. 30 - 31, S. 30.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
134
und eigengesetzlicher Fiktionalität des Kunstwerks. Das Bildjetzt unterliegt bei Wall
keinem Zeitfluss. Der „illusory space“ besitzt eine autonome Zeitstruktur, die sich
als Stilllegung von Handlung ausweist. Der Vorhang verhält sich zu der Fotografie
wie der Rahmen zum Bild: Während der Rahmen an unserer Welt Teil hat, zeigt das
Bild eine Öffnung in eine andere Wirklichkeit.
Wall und Vermeer schildern gedehnte Momente und verfolgen das Ziel, das Bildge-
schehen zeitlichen Abläufen zu entziehen, es aus narrativen, textuellen Gesamtzu-
sammenhängen zu lösen und stattdessen die Autonomie des Bildes zu stärken.276 Sie
wählen keine Höhepunkte einer Handlung aus, um eine kausale Folge darzustellen
und die Bildzeit in einem Vorher und Nachher zu definieren. Der dargestellte Mo-
ment lässt nicht auf einen Verlauf schließen, auf eine Handlung, aus der er resultiert,
sondern zeichnet sich vielmehr durch das Ausschalten von Handlung aus. Die Zeit-
struktur der Werke erinnert daher eher an ein Stillleben und nicht an die Erzählung
einer Geschichte. Eine Nacherzählung mit zeitlicher Folge ist zudem bei den darge-
stellten Szenen unmöglich. Das Bildgeschehen verweist immer wieder auf sich zu-
rück und stellt sich durch Ruhe und anschauliche Intensität dem Betrachter dar. Der
gegenwärtige Augenblick öffnet sich keinem Davor und Danach. Ikonische Zeit er-
scheint in einer stetigen, unveränderbaren Dauer. Sie zeigt sich als Dehnung eines
Einzelmoments, welcher der epischen oder dramatischen Erzählung von Handlung
gegenüberstehen. Als „stehendes Bild“ 277, dessen Bildzeit dem gedehnten Moment
unterliegt, lässt sich Walls Fotografie wie folgt beschreiben:
1. Er verzichtet darauf, eine Bildhandlung vorzuführen, die als Isolierung eines En-
zelmoments aus einer Kette und Perpetuierung von Augenblicken besteht.
2. Die Bildhandlung besitzt keinen Beginn. Sie markiert weder einen Mittelteil oder
eine Schlusssequenz und setzt somit die Zuweisung eines „Vorher“ oder „Nach-
her“ außer Kraft.
3. Die Fotografie unterliegt daher keiner Bildzeit, die eine zielgerichtete Handlungs-
richtung vorgibt und auf den kausalen Gesetzen von Ursache und Wirkung beruht.
4. Die Bildhandlung entzieht sich dadurch einem betrachterorientierten temporalen
Verlauf. 276 Den Begriff des „gedehnten Moments“ verdankt die Autorin der Textkritik von Professor Reinhard Steiner vom kunsthistorischen Institut der Universität Stuttgart.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
135
E.II. Exkurs: Malerei als Erzählung
Um Walls ästhetische Kategorien einzugrenzen, sollen seine Fotografien nun mit
Gemälden kontrastiert werden, welche die Darstellung einer Erzählung behandeln.
Es ist die Errungenschaft der italienischen Kunst, die Möglichkeiten einer maleri-
schen Erzählung ausgelotet zu haben. Im Zentrum dieser Kunst liegt der Text; von
ihm empfangen die Künstler und Theoretiker ihre Direktiven. Von dort aus werden
die Aufgaben und Ziele der Malerei bestimmt – und das in zweifacher Weise: Nicht
nur, dass sich die Ikonographie der profanen und religiösen Historie auf eine beleg-
bare Textstelle bezieht und so die „zweifelhafte“ Augenkunst nobilitiert, auch das
Figurenarrangement und die Bildperspektive werden für einen Betrachter ausge-
wählt, der sich in der Aneignung von Texten geschult hat. Der zentrale Begriff der
Malerei ist die „Storia“, das Motiv einer bildnerischen Handlung. Die „Storia“ ist die
Komposition eines Vorgangs, die bildliche Darstellung von Vorgängen durch han-
delnde und gefühls-ergriffene Figuren. Zu einer Storia wirken Komposition und Er-
findung zusammen. Beide schaffen ein Gemälde, das eine zusammenhängende Szene
mit menschlichen Figuren in körperlicher und seelischer Bewegung in einem Raum
zeigt.278 Diese Erzählung ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Handlung in einem
sukzessiven Ablauf dargestellt wird. Sie kann – buchstäblich – gelesen werden. Ihre
Organisation ist also an den lesenden Nachvollzug der Darstellung gebunden. Sie
definiert einen Moment oder eine Abfolge von Zeitpunkten und ist durch die klare
Scheidung von Vorausgegangenem und Nachfolgendem gekennzeichnet. Eine ikoni-
sche Erzählung ist ohne die Kriterien der Konsekution und Kausalität nicht zu den-
ken. Das Erzählte ist dabei eine zeitlich organisierte Handlungssequenz, in der min-
destens eine Figur einen dynamischen Situationswechsel erlebt.279 Ihr wesentliches
Moment ist die zeitliche Abfolge von Geschehnissen.280 Die ikonische Erzählung
277 Jeff Wall benutzt diesen Ausdruck in einem Interview. Ein Maler des modernen Lebens – Ge-spräch zwischen Jeff Wall und Jean-Francois Chevrier, in: Lauter, Rolf: aaO., S. 175. 278 Prinz, Wolfram: Die Storia oder die Kunst des Erzählens in der italienschen Malerei und Plastik des späten Mittelalters und der Frührenaissance 1260 - 1460, Mainz 2000. 279 Stempel, Wolf-Dieter: Erzählung, Beschreibung und historischer Diskurs, in: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 325-346. 280 Die Standard-Lexika der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte bezeichnen sowohl die schriftliche wie die visuelle Darstellungsform als Erzählung.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
136
wird durch das punktuelle Aufzählen verschiedener Stadien bestimmt, die insgesamt
eine abgeschlossene Handlung darstellen. Trotz visueller Simultanität soll die Vor-
stellung von verschiedenen nacheinander ablaufenden Phasen zu einem Gesamter-
eignis erreicht werden. Der Betrachter wird dabei zum sukzessiven Begreifen des
Dargestellten angeleitet. Durch die Zentralperspektive und den Rekurs auf rhetori-
sche Strategien der Darstellung haben die italienischen Künstler Möglichkeiten ent-
wickelt, um eine phasenlogische Handlung darzustellen.
In der Malerei begegnen uns zwei Arten der Erzählung: zum einen das epische be-
ziehungsweise prosaische Erzählen, das eine Handlung in der Abfolge nacheinander
folgender Momente beschreibt, zum anderen das dramatische Erzählen, das sich auf
die Darstellung eines Augenblicks beschränkt.
E.II.1. Das epische Erzählen
Episches Erzählen zeigt sich im mittelalterlichen Zyklus und im autonomen Tafelbild
der Neuzeit. Während im Zyklus die übergeordnete Teleologie – meist die christliche
Heilsgeschichte – die Einzelszenen verbindet, beginnen sich in der italienischen
Kunst um 1300 neue Formen des bildnerischen Erzählens zu etablieren.281 Die Bil-
derzählung wird nicht aus unselbständigen Einzelteilen zusammensetzt, sondern ent-
steht durch die Aufwertung singulärer Szenen.282 Nicht der Beziehungssinn der Ein-
zelteile innerhalb eines komplexen Bildsystems, sondern die Binnenstruktur des Bil-
des wird zum Hauptanliegen. Wesentlichen Anteil besitzt dabei die Erforschung der
räumlichen Tiefe, die durch Giottos dynamisierte Handlungsräume vorbereitet wird.
Der dreidimensionale Bildraum ermöglicht später die perspektivisch organisierte
Erzählung des Renaissancebildes. Kastenartige Anlagen, Treppen, verschiedene Ge-
schosse, Fenster, Türen und Vorplätze konstruieren Räume, die das Bildgeschehen
dem Betrachter vermitteln. Durch Giottos Fresken der Arenakapelle werden Grund-
281 Die Strukturen des mittelalterlichen Erzählens zeigen sich in Sequenzen, Folgen und Typologien. Diese drei Momente hat Wolfgang Kemp für „das Fenster des verlorenen Sohns“ in Chartres, in Bourges und anhand des Marburger Teppichs ausgearbeitet. Kemp, Wolfgang: Sermo Corporeus – die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987. 282 Felix Thürlemann verweist auf die Wichtigkeit der Nebenszenen. Er setzt die Nebenszenen in Bezug zur Gesamthandlung. Thürlemann, Felix: Geschichtsdarstellung als Geschichtsdeutung, in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Der Text des Bildes – Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzäh-lung, München 1989, S. 89-108.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
137
figurationen und Erzählarchitekturen gefunden, die im 15. Jahrhundert als Tiefen-
räume etabliert werden.283
Die Bilderzählung ent-
steht durch die Beziehung
des Bildpersonals inner-
halb einer Handlung, die
ihr Korrelat in der Zuwei-
sung eines bestimmten
Raums findet. Damit
markieren die Erzählun-
gen in Giottos Fresken
den Übergang vom zu-
sammengesetzten Zyklus
zum selbständigen Tafel-
bild.284
Abbildung 39: Giotto: Erweckung des Lazarus, 1304, Fresko, Arenakapelle in Padua
Die Zeitstruktur der „Erweckung des Lazarus“ in der Arenakapelle liefert ein frühes
Zeugnis der narrativen Kunst Italiens. Die Binnenhandlung wird durch eine klare
Unterscheidung von vorgängigen, gegenwärtigen und nachfolgenden Szenen be-
stimmt. Giottos „Erweckung des Lazarus“ zeigt die malerische Übersetzung der bib-
lischen Textstelle aus dem Johannesevangelium. In der linken Bildhälfte ist der seg-
nende Christus zu sehen, dem eine Gruppe gegenüber steht. Sie flankiert den in Bin-
den gehüllten Lazarus, der nach seiner Erweckung aus dem Grab gestiegen ist. Vor
Christus knien Maria und Martha. Giotto hat sich auf die Darstellung von vier präg-
nanten Zeitpunkten des 11. Kapitels beschränkt. Er verbindet das Moment des Wun-
ders mit dem sich darum spannenden Handlungszusammenhang und setzt bei Marias
Klage um den verstorbenen Lazarus ein. Damit bezieht er sich auf die Worte Jesu in
den Versen 43 bis 45: „Hebet den Stein ab!“, „Lazarus komm heraus!“ und „Löset
283 Der Erzählraum wird durch Räume und durch die Beziehungen zwischen diesen konstituiert. Ent-weder durch die Beziehung von Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum oder zwischen Bildraum und Betrachterraum. Kemp unterscheidet zwischen Handlungsöffnungen und Schauöffnun-gen der Fresken. Die ersteren regeln die bildinterne Kommunikation, die letzteren die Kommunikati-on zwischen Betrachter und Bildhandlung. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler – zur Bilderzäh-lung seit Giotto, München 1996, S. 29f. 284 Dazu: Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler – Zur Bilderzählung seit Giotto, München1996.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
138
die Binden und lasset ihn gehen“285. Die Bilddarstellung zeigt ungleichzeitige Sze-
nen, die simultan auf dem Fresko erscheinen und zu einer abgeschlossenen Erzäh-
lung verbunden werden. Wir sehen Christus, wie er die Worte an Lazarus richtet, wie
der Grabstein weggetragen wird, wie Lazarus – aus dem Grab entstiegen – die Bin-
den gelöst werden. Zuletzt zeigt Giotto die Reaktion der Juden auf das Wunder, das
mit Erstaunen und Entsetzen wahrgenommen wird. Hier gewinnt die Gliederung ei-
ner zeitlichen Folge, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint, ein an-
schauliches Beispiel. Die Komposition, die sich an der Leserichtung von links nach
rechts orientiert, stellt eine abgeschlossene Geschichte dar.286 Der besondere Charak-
ter des Bildaufbaus liegt darin, dass in diesem „die prägnante szenisch sinntragende
Konstellation nicht als ein absolut gesetzter zeitlicher Ausschnitt, sondern als Ereig-
nis in der Zeit visualisiert wird“287. Das Ereignis bezieht sich sowohl inhaltlich wie
strukturell auf die epische Textvorlage und reiht verschiedene Momente mit Anfang
und Ende aneinander. Im Gegensatz zur dramatischen Bilderzählung stellt Giotto
nicht einen einzelnen Augenblick, sondern einen Verlauf von Einzelmomenten dar.
285 Die Bibel nach der Übersetzung von Martin Luther, Johannes 11, 39-44. 286 Imdahl verweist auf die Stellung der Zwischenfigur im Fresko. Durch ihre Geste fungiert sie als Verbindung der einzelnen Momente: „Es ist evident, dass diese Figur in einem formalen, bildrhythmi-schen Sinne zwischen Christus und Lazarus vermittelt, darüberhinaus ist ihre doppelseitige Gebärde auch von narrativer Bedeutung.“ Imdahl, Max: Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos, in: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): aaO., S. 166. Zur Leserich-tung in der Malerei: Badt, Kurt: Modell und Maler bei Jan Vermeer – Probleme der Interpretation, Köln 1961, S. 38f. Der Bildteil links unten wird als Kompositionsanfang ausgebildet, die Bildmitte dient der Entwicklung des Themas, während der Bildteil rechts den Schluss markiert. 287 Imdahl, Max: aaO. S. 173.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
139
D.II.2. Das dramatische Erzählen
Das dramatische Erzählen, das sich durch die Rezeption der aristotelischen Poetik
bei Tizian entwickelt, bildet eine Variante der malerischen Narration. Es zeigt eine
affekt-rhetorische Fundierung des Gemäldes, die in der Kunsttheorie von Alberti und
Ludovico Dolce ihre Entsprechung findet. Während in der epischen Erzählung die
Momentabfolge den Verlauf einer Handlung verbindet, ist es in der dramatischen
Erzählung der affekthafte Einzelmoment, der in seinem entscheidenden Höhepunkt
gezeigt wird. Tizians Gemälde des „Martyrium des Petrus Martyr“, das heute nur
noch als Stich von Martino Rota erhalten ist, verdeutlicht den venezianischen
Malereidiskurs und die Inventio der
dramatischen Storia. 1530 wird das
Altarblatt von der Scuola di San
Pietro Martire in Auftrag gegeben.
Es zeigt die Märtyrerszene, in der
Petrus von einem Räuber
niedergestreckt wird. Tizian
verlagert die Szenerie an einen
Waldrand. Der Scherge holt zum
entscheidenden Schlag gegen Petrus
aus; die Randfigur, Fra Domenico
ergreift voller Schrecken die Flucht.
Sein Gesicht drückt Furcht und
Entsetzen aus, denn er hat die
heilsbringende Botschaft des
Martyriums noch nicht erkannt.
Währenddessen reißt der Himmel
auf. Engel schweben mit einer Märtyrer-Palme zwischen den Ästen der Bäume
Petrus entgegen, der am Boden liegt und das Schauspiel am Himmel erblickt. Die
Bewusstheit, mit der Petrus der Bedeutung des Martyriums gewahr wird, visualisiert
Tizian durch seinen erkennenden Blick und den Zeige-Gestus auf die himmlische
Erscheinung. Petrus erkennt die Sendung der Engel, durch die die Annahme seines
Blutopfers durch Christus indiziert wird. Nicht der Augenblick des Todes, sondern
Abbildung 40: Tizian, Martyrium des Petrus Martyr, 1530, Öl auf Leinwand
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
140
der sinnträchtige Moment davor, in dem der Gemarterte der himmlischen
Erscheinung gewahr wird und erkennt, dass sein Opfer angenommen wird,
verdeutlicht Tizian und unterstützt diesen Eindruck, indem er den Märtyrer zeigt, wie
er mit dem Zeigefinger der linken Hand das „Credo“ in den Sand zu schreiben
beginnt.288 Bezeichnender Weise bleibt das Martyriumswerkzeug, das Schwert, bis
auf ein ornamentales Detail des Knaufs verdeckt und lenkt nicht von der
„poetischen“ Organisation der Bildhandlung ab.
Es ist die „Storia“, die den verbildlichten Moment mit dem dramatischen Höhepunkt
der Handlung vereint. Der transitorische Charakter des Gemäldes wird deutlich, und
der Handlungsmoment wird genau bestimmbar. Der Ausschnitt markiert zugleich
den Höhepunkt und die Folge der Legende, denn Tizian beschränkt sich nicht nur auf
die Darstellung der gegenwärtigen Szene, sondern zeigt dem Betrachter durch die
Erkenntnis des Märtyrers auch das „Danach“ der Legende. Dem Betrachter wird
deutlich, was auf diesen Zeitpunkt folgt: die Aufnahme Petrus’ in den Kreis der
Heiligen.
Tizians erste monumentale Storia ermöglicht durch die Struktur der Handlung die
Emphase des Augenblicks. Sie ist synchron angelegt und visualisiert einen
Ausschnitt aus einer diachronen Handlung, die nicht nur das Potential hat, dem
Betrachter durch die wirkungsmächtigen Bilder die ganze Storia vor Augen zu
führen, sondern auch ihm durch die Intensität der gezeigten Handlungsmomente die
Geschichte emotional näher zu bringen. Albertis Forderung, die an die Übernahme
der rhetorischen und poetischen Topoi durch die Malerei geknüpft ist, findet in
Tizians Gemälde ihre Entsprechung289: „Der Zweck der Malerei aber sei, dass der
Künstler sich dadurch viel mehr Gunst, Wohlwollen und Ruhm als Reichthümer
erwerbe. Jene Maler werden dies erreichen, deren Werke nicht bloß die Augen,
sondern auch das Gemüth des Beschauers ergreifen“290. Emotion kann nur durch die
288 Partricia Meilmann schlägt den Schreibegestus oder die priesterliche Geste vor, die auf die Liturgiereform zu Beginn des 16. Jahrhunderts verweist. Meilmann, Patricia: Titian’s „Saint Peter Martyr Altarpiece“ and the Development of Altar Painting in Renaissance Venice, Ann Arbour 1989, S. 273ff. 289 Dazu: Warncke, Carsten-Peter: Sprechende Bilder – sichtbare Worte – Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, S. 25.; ebenso: Mühlmann, Heiner: Ästhetische Theorie der Renaissance – Leon Battista Alberti, Bonn 1981. 290 Alberti, Leon Battista: Della Pittura, in: Janitschek, Albert (Hrsg.): Albertis Schrift Della Pittura, München 1981, S. 80.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
141
lebendige Handlung ausgedrückt werden; beide beleben den Erzählstoff und wirken
auf den Betrachter.
So relevant zwar Albertis Ausführungen über die Rolle und Bedeutung der Affekte,
der Invention und des Decorums waren, so wenig Anregung bot seine Schrift für das
malerische Problem der zeitlichen Handlungsorganisation.291 Schließlich hatte sich
die ästhetische Forderung nach der Einheit von Zeit und Raum, in der das Gemälde
als eine Bühne aufgefasst wird, auf der alle handelnden Personen in einer logischen
Beziehung zum visualisierten Augenblick stehen, noch nicht durchgesetzt.292 Dies
ändert sich mit Tizians Bildlösung, die sich vor der Folie der aristotelischen Poetik
charakterisieren lässt293: Die Forderung nach einem totalen Umschwung der
Handlung, der sich in Aristoteles’ Peripetie-Konzeption ausdrückt, liefert dem Maler
den idealen Referenzpunkt für die Lösungen des genuin bildlichen Problems der
Simultaneität.294 Tizian setzt genau jene Peripetie ins Bild, die nach Aristoteles die
größte Wirkung auf den Betrachter ausübt.295 Er verbindet den dramatischen
Wechsel mit der Erkenntnis der dargestellten Figur, ohne den Moment des Todes
darzustellen, und verlagert den weiteren Verlauf des Martyriums in die
Vorstellungswelt des Betrachters. Durch die aristotelische „anagnorisis ek
peripeteias“, die Wirkung, die mit Erkenntnis verbunden ist, macht Tizian aus einer
Legende einen Stoff, dem der Anspruch auf kathartische Wirkung sicher ist. Durch
291 Valeska von Rosen belegt diese Beobachtung durch Albertis Beschreibung des Gemäldes „Opferung der Iphigenie“. Alberti erwähnt mit keinem Wort – im Gegensatz zu Ludovico Dolce – welcher Moment der Handlung verbindlich ist, sondern interessiert sich allein für die Darstellung der Affekte. Von Rosen liefert eine schlüssige Argumentation, die den Einfluss der aristotelischen Poetik auf den venezianischen Malereidiskurs darstellt. Rosen, Valeska von: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in den Werken Tizians – Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Berlin 2001, S. 177, besonders das Kapitel „Eine wirkungsmächtig geformte Handlung: Die Erzählstrategie des „Martyrium des Petrus Martyr“, S. 141-203. 292 Rosen, Valeska von: aaO., S. 170. 293 In ihren Analysen der Erzählstrategien in Raffaels römischen Historienbildern machten bereits Kurt Badt und Rudolf Preimesberger das aristotelische Peripetie-Konzept für die Malerei fruchtbar. Badt, Kurt: Raphaels „Incendio del Borgo“, in: Journal of the Warburg and Courtrauld Institutes, 22,1959, S. 35-59; Preimesberger, Rudolf: Tragische Motive in Raffaels Transfiguration, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 50, 1987; S. 88-115 294 „Der Umschlag tritt mit einer gewissen Plötzlichkeit ein, dieses Merkmal, das von Aristoteles nicht eigens hervorgehoben wird, ergibt sich sozusagen aus der Sache selbst“, schreibt Manfred Fuhrmann in der Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 30. Im Übrigen hat das Adjektiv „peripetes“ auch die Bedeutung des „plötzlich Hereinbrechenden“. 295 Bereits 1481 erschien in Venedig die lateinische Übersetzung des arabischen Kommentars zur Poetik von Averroes. Anfang der 80er-Jahre begannen Ermolao Barbaro und Angelo Poliziano das Studium des griechischen Originaltextes im Zuge ihres Unternehmens, den Corpus der aristotelischen Schriften zu übersetzen und zu kommentieren, so dass 1491 Gregorio Comanini in seiner Kunsttheorie auf die Einhaltung der Einheit von Handlung und Ort aufmerksam machte und damit Parallelen von Malerei und Drama benannte.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
142
diese Zuspitzung stellt Tizian das Martyrium besonders wirkungsvoll dar und kann
gleichzeitig dessen Glaubensinhalt anschaulich machen. Er formt die „Legende
dichterisch, indem er sie um das Mögliche und Wahrscheinliche erweitert“.296 Hans
Körner hat in seiner Studie zur Kompositionstheorie gezeigt, wie gut sich die
aristotelische Forderung nach der Einheit der Handlung auf die Malerei übertragen
ließ, ohne dass das von Alberti gelegte theoretische Fundament aufgegeben werden
musste. 297
D.II.3. Der fruchtbare Moment
Das zentrale Problem der Malerei, eine linear fortlaufende Handlung darzustellen,
wird von Tizian durch die Wahl eines punktuellen Zeitausschnitts gelöst. Dieser
Kunstgriff, der es dem Betrachter ermöglicht, das Vorausgegangene und Folgende
eines Geschehens zu imaginieren, begegnet uns in Lessings „fruchtbarem Moment“
wieder. In seiner Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“
formuliert Lessing eine normative Ästhetik, welche die medienspezifischen
Gegebenheiten der Malerei, Plastik und Poesie berücksichtigt: „Die Malerei kann in
ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung
nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende
und Folgende am begreiflichsten wird“298, schreibt Lessing im 14. Kapitel, in dem er
die „Raumkunst“ der Malerei von der „Zeitkunst“ der Dichtung unterscheidet. Doch
was beim ersten Lesen als nahtlose Rezeption der venezianischen Malereitheorie
erscheint, weist bei näherer Untersuchung grundlegende Unterschiede auf. Während
im 16. Jahrhundert keine prinzipielle Differenzierung zwischen Dichtkunst und
Malerei vorgenommen wurde299 und die Horazische Sentenz „Ut pictura poesis“ zum
296 Das Tertium Comperationis für eine Verbindung der antiken Tragödientheorie mit der Malerei ist das Mimesis-Konzept. Dichtung ist für Aristoteles die Mimesis von Handlungen bzw. handelnder Personen. Dazu: Rosen, Valeska von: aaO., S. 167. 297 Körner, Hans: Auf der Suche nach der wahren Einheit – Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und der Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert, München 1988. 298 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 2001, S. 115. 299 Dass Alberti bei der Entwicklung seines Historienbild-Konzeptes die Poetik des Aristoteles heranzieht, meint Pierluigi Lanza. Lanza, Pierluigi: Leon Battista Alberti – Filosofia e teoria dell´arte, Mailand 1994, S. 124f. Die Entwicklung und letztliche Ausdifferenzierung der Künste legt Paul Oskar Kristeller dar. Für die Entwicklung der Ästhetik aus den Kategorien der Poetik ist Gethmann-Sieferts Einführung hilfreich. Gethmann-Sieferts, Annemarie: Einführung in die Ästhetik, München 1995.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
143
geflügelten Wort für eine Konvertierbarkeit des einen in das andere Medium
geworden war, beginnt bei Lessing diese Überzeugung an Kraft zu verlieren.300 Die
Aufmerksamkeit verlagert sich auf eine Bestimmung der Unterschiede, die Dichtung
und Malerei voneinander trennen. Nicht mehr das Verhältnis der Künste zueinander,
sondern die Autonomie der Kunstarten ist nun das Ziel.
Die Diskussion, die mit einem kurzen Traktat Shaftesburys in England einsetzt und
in Frankreich einen reichen Niederschlag vor allem in der kritischen Reflexion über
Poesie und Malerei bei Abbé Du Bos findet, wird in Deutschland durch Lessing
ausführlich, wenn auch mit gewisser Verzögerung rezipiert.301 Er hat den Vergleich
der Kunstgattungen zu einem System ausgebaut und seine Überlegungen im
„Laokoon“ 1766 publiziert. So lässt sich Lessings Schrift als Schlusspunkt einer
längeren Sequenz verstehen, die den Ansatz einer vergleichenden Medientheorie
liefert.302 Poesie und Malerei streben darin nach Illusionismus. Beide – so macht
Lessing bereits in den ersten Zeilen der Vorrede klar – „stellen uns abwesende Dinge
als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen und beider
Täuschung gefällt“303. Sie unterscheiden sich jedoch in der Art der Zeichen, mittels
derer die Täuschung vollzogen wird. Während die Malerei Figuren und Farbe im
Raum benötigt, artikuliert die Dichtkunst Töne in der Zeit.
Anders als in der Sprache, die als Zeichensystem grundsätzlich über den narrativen
Modus verfügt und bei der die Beschränkung auf das Narrative ein ästhetisches
Gebot darstellt, kann die Malerei nur Körper in einem Nebeneinander im Raum
darstellen. Dennoch ist ihr das Moment der Zeitlichkeit nicht vollständig versperrt:
Denn „alle Körper existieren nicht allein in einem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblick ihrer Dauer [...] in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden, und kann die Ursache einer folgenden, und
300 Auch wenn sich in den Renaissance-Poetiken diese Konvertierbarkeit herausgebildet hat und die Rede von der Verwandtschaft der Künste bis in die Zeit des Barock vorherrschend ist, so existiert parallel dazu auch immer der Gegentopos vom Paragone, dem Wettstreit der Künste. Dazu: Buch, Hans Christoph: Ut pictura poesis – Die Beschreibungskunst und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972, S. 10-25. 301 Dazu Stierle, Karlheinz: Das bequeme Verhältnis – Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums, in: Gebauer, Gunter: Das Laokoon-Projekt – Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23-58. 302 Vor allem Herder hat mit seiner vehementen Kritik entscheidend dazu beigetragen, dass die Diskussion in andere Bahnen gelenkt wurde. 303 Lessing, Gotthold Ephraim: aaO., Vorrede, S. 3.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
144
sonach gleichsam das Centrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper“304.
Der Darstellung von Handlung innerhalb der Malerei ist demnach ein Verhältnis von
Ursache und Wirkung eingeschrieben. Der fruchtbare Moment, der „nicht fruchtbar
genug gewählet werden kann“305 markiert einen einzelnen Realzeit-Moment, der
durch die Einbildungskraft des Betrachters zu einer Bildhandlung mit Gesamtheit
synthetisiert wird. Denn Handlung wird von Lessing teleologisch gedacht und zielt
darauf ab, in ihrer Gesamtheit begriffen zu werden.306 Dieser Vorstellung entspricht
die fotografisch gelungene Schnappschuss-Aufnahme, die einen einzelnen Zeitpunkt
isoliert und dem Betrachter anzeigt, was nach der Versiegelung dieses fotografischen
Momentes zu erwarten ist. Man findet diesen „fruchtbaren Moment“ in der
kriegsberichterstattenden Dokumentarfotografie, in Robert Capas Bildern, die
während des spanischen Bürgerkriegs entstehen, oder bei Eddie Adams’ Vietnam-
Berichterstattung. Sowohl der „Tod eines Milizionärs“ wie die Exekution des
vietnamesischen Rebellen erhalten ihre schockierende Eindrücklichkeit, indem eine
Momentaufnahme den dramatischen Höhepunkt darstellt und dem Betrachter die
Vollendung der Szene überlassen wird.307
Was bedeutet dies nun für die Bilderzählung? Welches Verständnis von Zeit
unterlegt Lessing seiner Augenblicksemphase? Dem ästhetischen Kunstgriff des
fruchtbaren Moments liegt die Annahme zugrunde, dass jede Bewegung in eine
Unendlichkeit korrelierbarer Zeit- und Raumpunkte aufgelöst werden kann; zum
Stillstand gebracht werden kann sie nur dadurch, dass die Dauer auf den untersten
Grenzwert eines unendlich kurzen Augenblicks reduziert wird.
304 Lessing, Gotthold Ephraim: aaO., S. 114. 305 Lessing, Gotthold Ephraim: aaO., S. 23. 306 Lessing hat den Begriff der Handlung in der kleinen Schrift „Vom Wesen der Fabel“ präzisiert. Er setzt ihn von der Begebenheit ab und schreibt: „Eine Handlung nenne ich eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen“, fehlt einer Folge von Veränderungen diese Zielgerichtetheit, so „fehlt ihr das, was sie eigentlich zu einer Handlung macht und kann richtig zu sprechen, keine Handlung, sondern muß eine Begebenheit heißen“. Lessing, Gotthold Ephraim:Vom Wesen der Fabel, in: Lachmann, Karl / Muncker, Franz (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessing – Sämtliche Schriften, Stuttgart 1883, S. 430. 307 Dieser Effekt ist auch in anderen Medien zu finden. Wenn die Zuschauer eines Hitchcock-Filmes alle im gleichen Augenblick den Atem anhalten, so verhalten sie sich, wie Lessing es von ihnen erwartet hätte. Denn Spannung wird durch einen Zustand erzeugt, in dem der Betrachter die Handlung nach und nach in einer bestimmten Reihenfolge erfährt und dadurch das Bevorstehende in angst- oder lustvoller Erwartung antizipiert.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
145
Folglich kann die Malerei, deren Figuren in einem augenfälligen Sinn unbeweglich
sind, von einem Bewegungsgeschehen nie etwas anderes darstellen als den
scheinbaren Stillstand eines einzigen Augenblicks.308 Dieser Gedanke geht von der
grundlegenden Prämisse aus, dass es sich bei der Malerei um ein natürliches
Zeichensystem handelt, bei dem zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine
strukturelle Ähnlichkeitsrelation zu bestehen habe und Zeit in einem Korrelat zum
Erfahrungswert des Betrachters steht. Für die Bilderzählung hat dies zur
Konsequenz, dass nicht mehr die textabhängige Darstellung den Verlauf vorgibt, die
sich an den „Spielregeln“ der Poetik oder Rhetorik orientiert, sondern die Erfahrung
der Realzeit. Nur wenn der technische Kunstgriff und die Darstellungsmittel selber
transparent bleiben, das heißt wenn die Handlungszeit sich dem Erleben des
Betrachters angleicht, wird die ästhetische Täuschung gewährleistet. Das spezifisch
Neue an Lessings Malereitheorie ist, dass er die Kategorie der Zeit einführt und das
Bild-Jetzt der Wahrnehmungsgegenwart des Betrachters entsprechend definiert, ohne
der Malerei und Plastik eine poetologische Ästhetik, wie es bei Tizian der Fall war,
zugrunde zu legen. Der fruchtbare Augenblick ist dabei ein diskreter Zeitpunkt, der
aus der perlenschnurartigen Anordnung herausgenommen wird, auf die Logik der
linearen Reihung zurückweist und in Kausalität und Konsekution eingebunden ist.
Ikonische Zeit wird somit immer als Verlauf gedacht.
Für die aufgeführten Gattungen malerischer Erzählung gilt, dass sie sich an einem
zeitlichen Verlauf orientieren, der sich in Sukzessionen darstellt. Entweder werden
alle Momente dieser Sukzession vorgeführt oder nur einer, der in der
Einbildungskraft des Betrachters die Handlung vollendet. Vergleicht man nun die
ermittelten Parameter der erzählenden Malerei mit den Werken Vermeers und Walls,
wird deutlich, dass beide Künstler sich weder auf eine literarische Vorlage beziehen,
noch eine narrative Folge darstellen. Sie praktizieren eine Kunst, deren Eigenschaft
den französischen Kritiker Theophile Bürger-Thoré Mitte des 19. Jahrhunderts dazu
veranlasste, Vermeer als „Sphinx“309 in der Kunstgeschichte zu bezeichnen. Die
308 „Die Schnelligkeit ist eine Erscheinung zugleich im Raume, als in der Zeit. Sie ist das Product von der Länge des ersteren und der Kürze des letzteren“ schreibt Lessing in den Paralipomena. Zitiert nach Giuliani, Luca: Laokoon in der Höhle des Polyphem, in: Poetica, 28, 1996, S. 1-47, hier: S. 41. Lessing steht damit in der Tradition der Bewegungstheorie des 18. Jahrhunderts. Dazu Friedrich Kaulbach, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, S. 872 - 875. 309 Bürger-Thoré, Theophile: Van der Meer de Delft, in: Gazette des Beaux-Arts, 21, 1866, S. 297-330.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
146
Faszination von Vermeers Kunst liegt weniger im Sujet als in der Hermetik. Seine
Gemälde berichten nicht von bedeutungsvollen Ereignissen der Weltgeschichte, die
in Historienbildern ihren Platz haben, sondern beziehen sich auf einen
Darstellungsmodus, der erst Mitte des 17. Jahrhunderts seine breitere Entfaltung
findet. Das holländische Interieur beginnt sich zwischen 1620 und 1630
herauszubilden und erfährt ab 1640 eine Veränderung, an der sich auch Vermeer
beteiligt: Aus den vielfigurigen Gesellschaften werden kleine Gruppen von wenigen,
maximal vier, Personen. Dabei wird der Augenblick seiner zeitlichen
Veränderbarkeit entzogen – die Protagonisten verharren in der Bewegungslosigkeit.
Zeit erscheint hier als dauernde Wiederholung der Gegenwart. Es handelt sich um
eine Schilderung, ein Aggregat, ein Eindampfen der Darstellung. Weder sind die
Gemälde momentane Erscheinungsbilder, die einen flüchtigen Augenblick bannen,
noch ist die Zeitstruktur ablaufend und vergänglich. Statt dessen wird der Betrachter
mit einer Permanenz des Geschehens konfrontiert.
Diese Arretierung des Augenblicks, die so kennzeichnend für Vermeers Malerei ist,
bildet auch für die zweite Generation der metafiktionalen Fotografen die geeignete
Vorlage. Der 1965 geborene Engländer Tom Hunter rekurriert in der Arbeit „Woman
reading“ auf Vermeers „Brieflesende Frau“ von 1662. Er verzichtet ebenfalls darauf,
eine narrative Abfolge darzustellen. Das Bildjetzt besitzt keine zeitlichen oder
inhaltlichen Perspektiven. Wir werden Zeugen einer Szene, deren Bildpersonal nicht
für den Betrachter, sondern „für sich“ agiert. Weder wird uns der Text des Briefs
vermittelt, noch können wir auf andere Weise an seinem Inhalt partizipieren. Er ist
allein an die Protagonistin der Szene adressiert, die in diesem versunkenen Moment
unabhängig vom Betrachter existiert. Es scheint so, als würde sich die Szene auch
ohne den Zuschauer ereignen. Die „durative Präsenz“310, welche die Handlung
kennzeichnet, ist dabei nicht der Zeitlichkeit enthoben, sie spielt sich nicht in einer
absurden Verkehrung von Ursache und Wirkung ab, sondern verweist auf eine
andere Definition von Bildzeit. Gerade durch den Vergleich mit den oben erwähnten
310 Perpeet, Wilhelm: Von der Zeitlosigkeit der Kunst, in: Jahrbuch für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 1, 1951, S. 1-28. „Von der Zeitlosigkeit der Kunst zu sprechen hat nur Sinn, wenn dem Begriff der Zeitlosigkeit auch ein zeittranszendierender Bedeutungsgehalt korrespondiert“. Perpeet lehnt den Begriff der Zeitlosigkeit bezogen auf ein Kunstwerk ab. Perpeet, Wilhelm: aaO., S. 14.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
147
narrativen Organisationen von Handlungsabläufen kann die Dehnung der Handlung
als Dauer beschrieben werden.
Hunter, Wall und Vermeer wählen Tätigkeiten, die ein Minimum an
Bewegungsabläufen zeigen. Ihre Bilder und Fotografien erzählen nicht, sondern
schildern ein Geschehen in seiner Zuständlichkeit. Nicht die erzählerische
Anspielung steht hier im Vordergrund, sondern deren visuelle Realisierung. Bereits
in der frühen niederländischen Kunst macht sich diese Eigenart bemerkbar. „An
herkömmlichen Maßstäben gemessen, ist die Welt des reifen Jan van Eyck statisch“,
so beschreibt Erwin Panofsky die „Arnolfinihochzeit“ in seiner Studie über die
Niederländer.311 Dagobert Frey spricht in Bezug auf Vermeers Milchmagd von
einem schleichenden Ablauf der Zeit, der durch die Gleichförmigkeit der Handlung
erzeugt wird und den Eindruck von Dauer bewirkt.312
Abbildung 41: Tom Hunter: Woman Reading, 2000, Fotografie
Abbildung 42: Jan Vermeer: Brieflesende Frau, 1662, Öl auf Leinwand
311 Panofsky, Erwin: Early Netherlandish Painting, Cambridge/Massachussets, 1953, Bd1, S. 182. 312 Frey, Dagobert: Das Zeitproblem in der Bildkunst, in: Frey, Gerhard (Hrsg.): Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 212-235. Heinrich Theissig bezieht sich in seiner Studie „Die Zeit im Bild“ ebenfalls auf Vermeers „Milchmagd“. Er nimmt das Gemälde zum Anlass, um auf die Zwitterhaftigkeit der Zeitlichkeit in Malerei zu verweisen. Das Herausströmen der Milch signalisiert einen Ablauf. Gleichzeitig ist der Milchkrug bis heute nicht geleert, da das Werk seinem Wesen nach unveränderlich ist. Eine eindeutige Bestimmung des Zeitbegriffs bleibt jedoch aus. Theissig, Heinrich: Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987; siehe auch die Rezension des Buchs von Petra Wilhely, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 33/2, 1988, S. 306-313.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
148
Lorenz Dittmann stellt für Vermeers „Junge Frau mit Perlenhalsband“ fest:
„Vermeers Kunst macht dagegen ausdrücklicher als alle vorangegangenen den Augenblick sichtbar. (...) In moralisierender Auslegung ist das Werk ein Sinnbild von Eitelkeit und Vergänglichkeit, ein Vanitas-Bild, und der Augenblick ein Sinnbild der Flüchtigkeit, Vergänglichkeit von Zeit. Aber die gelassene Ruhe des Vermeerschen Bildes weiß nichts von solcher Flüchtigkeit. Augenblick ist hier kein bloßer Moment, kein Zeitpunkt, sondern in sich zu einer rhythmischen Gestalt gegliedert (...). Ihren Blick wendet die Frau dem einfallenden Licht entgegen, aber zugleich in die Dunkelheit des Spiegels.“313
Das Charakteristikum dieser Kunst ist, dass sie nicht wie ein aufgeschlagenes Buch
gelesen oder wie ein Theaterstück nachvollzogen werden soll. Die
Sinnzusammenhänge der holländischen Malerei werden in einer anderen Weise
vermittelt. Während der Betrachter eine Erzählung liest, wird er bei Vermeer auf das
Sehen reduziert. Svetlana Alpers hat dafür den Begriff der Beschreibung geprägt.314
Alpers findet die Bedeutung der Gemälde in der Oberfläche der Kunstwerke. Die
Bedeutung ist weder abwesend, noch ist sie jenseits der Werke – in Texten – zu
finden. Stattdessen zeigt sie sich in der handwerklichen Gestaltung der Objekte, in
der Gestaltung des Sichtbaren. Was in der Malerei repräsentiert wird, zeichnet sich
durch ein Ineinanderfallen von Vorstellung und Darstellung aus. Die Bilder der
Malerei sind ebenso Teil einer Kulturproduktion wie das Fernrohr, das Mikroskop
und die Camera obscura; sie sind Teil einer empirischen Erforschung der Welt und
erheben dadurch Wahrheitsanspruch.
Ein weiterer Blick auf die Gemälde von Vermeer und die Fotografien von Jeff Wall
zeigt jedoch, dass der Begriff der Beschreibung die Spezifik der ikonischen Zeit
nicht erfasst.
Der Begriff der Beschreibung – Svetlana Alpers gebraucht das englische describing –
bezeichnet einen Vorgang, der in einem zeitlichen Nacheinander geschieht. Er
bezieht sich buchstäblich auf das Nacheinander eines schriftlichen Verfassens von
313 Dittmann, Lorenz: Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 112-114. 314 Irene Netta bezieht sich in ihrer Analyse der Zeitstruktur der Vermeerschen Gemälde auf Alpers’ Untersuchung. Unter Beschreibung versteht sie jedoch weniger die detaillierte Stofflichkeit der Gegenstände als die innerbildliche Organisatioin von Handlung, die Stilllegung der motivischen Situation und die Emotionslosigkeit der Mimik. Netta, Irene: Das Phänomen der Zeit bei Jan Vermeer
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
149
Texten oder den mündlichen Vortrag. Der Modus, in dem eine Beschreibung
angeeignet wird, ist entweder ein lesender oder hörender; in beiden Fällen ist er
jedoch auf eine Abfolge hin angelegt. Der Begriff der Beschreibung entzieht sich
zwar dem Rekurs auf rhetorische Produktions- und Wirkungsästhetik innerhalb der
holländischen Malerei, löst aber nicht die Frage nach der spezifischen zeitlichen
Organisation der Handlung und den spezifischen malerischen Effekten, die innerhalb
dieser Werke erzeugt werden. Es wird zwar die Vermittlung einer Geschichte ohne
poetische Fundierung dargestellt, die Fiktionalität der Darstellung bleibt dennoch
unberücksichtigt.
Eine weitere Dimension der Beschreibung findet sich in der Descriptio oder
Ekphrasis. Sie bildet eine literarische Gattung, die bildende Kunst zum Anlass
nimmt, um Prosa oder Poesie zu verfassen. Das Problem der Ekphrasis kreist um die
bildschöpferischen Fähigkeiten der Sprache. Der Zuhörer soll quasi zum Zuschauer
gemacht und dabei die Zeigefähigkeit der Sprache ausgelotet werden. Die
Möglichkeiten der Ekphrasis, die sich aus der Rhetorik entwickelt haben, umfassen
dabei die Beherrschung verschiedener Darstellungshöhen, die Erzeugung
emotionaler Wirkungen, Persuasion und die Vergegenwärtigung eines Sachverhalts
durch Klarheit, Deutlichkeit und Anschaulichkeit. Ekphrasen „wollen aufzeigen und
nicht abschildern“315. Sie lenken den Blick des Betrachters auf Kontraste, in denen
sich punktuell ein Gesamteindruck manifestieren lässt. In der Ekphrasis nähert sich
Literatur der Malerei aus dem Blickwinkel der geschriebenen oder gesprochenen
Sprache an.
Da in der Ekphrasis die Wirkungen der Malerei in das Medium der Sprache
übertragen werden, ist ihre Tradition hier nicht weiter zu verfolgen. Lediglich der
Beginn der Ekphrasis mit der Beschreibung des Schildes des Achill von Homer in
der
„Odyssee“ wird uns weiter beschäftigen, denn diese Beschreibung wird in der
holländischen Kunstliteratur bearbeitet werden. Der Ursprungsmythos bildet einen
zentralen Topos innerhalb der Malereitheorie und bestimmt den Status der Malerei
van Delft – eine Analyse der innerbildlichen Zeitstrukturen seiner ein- und mehrfigurigen Interieur-Bilder, Hildesheim 1996, S. 114. 315 Boehm, Gottfried: Einleitung – Wege der Beschreibung, in: Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.) Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung – Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 35.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
150
als Schilderung. Die Schilderung einer Handlung impliziert ebenfalls einen zeitlichen
Ablauf. Im Gegensatz zur Beschreibung entstammt der Begriff jedoch einer
malerischen Tradition. Er ist damit auf Simultaneität, Dauer und Verweilen
ausgerichtet und charakterisiert die Darstellung einer Handlung aus malerischer,
textunabhängiger Perspektive.
E.III. Malerei als Schilderung
Um die Parameter von Walls Arbeit darzustellen, soll nun die bildimmanente
Tradition genauer justiert werden, denn ihre Struktur – die der Schilderung – erzeugt
die fiktionale Wirkung der Fotografien. Der holländische Bildbegriff hat seine
Voraussetzungen in der Schilderung. Sie bestimmt das spezielle Arrangement der
Bildzeit und liefert das Vokablular, um Walls Fotografie zu beschreiben.
E.III.1. Der Schild des Achill als Ursprung der Malerei
Wie erklärt sich diese „Ästhetik der Dauer“, die sich in holländischen Gemälden
findet? Was unterscheidet sie von einer Kunst als Erzählung und was qualifiziert sie,
für die postmoderne Fotografie als Bezugspunkt zu fungieren? Die Antwort auf diese
Frage liegt in dem Begriff, der sich in den Niederlanden für Malerei gebildet hat.
Malerei ist „Schilderij“, der Maler ist der „Schilder“, malerische Qualität wird als
„schilderachtig“ beschrieben. Die Autoren der kunsttheoretischen Traktate sprechen
von der „Hooge Schoole der Schilderkonst“ oder widmen sich dieser im „Schilder-
Boeck“. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts werden im niederdeutschen
Dialektgefüge und in der holländischen Hochsprache der Schild des Ritters, das
bemalte Wirtshausschild und die Tafel des Malers mit demselben Wort
bezeichnet.316 Dabei ist der Schild die Grundlage einer speziellen Ausprägung von
Malerei – nicht nur etymologisch, sondern auch in seiner Funktion und
316 Emmens, Jan .A.: Rembrandt en de regels van de Kunst, Amsterdam 1979, besonders S. 152 - 68; De Pauw-de Veen, Lydia: bijdragen tot de studie van de wordenschat in verband met de schilderkunst in de 17de eeuw, Ghent 1957; Dies.: De begrippen „schilder“, „schilderij“ en „schilderen“ in den zeventiende eeuw, Brüssel 1969.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
151
Beschaffenheit.317 Er begegnet uns als Topos, in der Organisation der Gilde-Künstler
und in den Gemälden selber und verweist dadurch auf das Selbstverständnis der
Künstler des Nordens. Die Praxis und Wahrnehmung der „schilderachtigen“ Malerei
orientiert sich an den ursprünglichen Eigenschaften des Mediums. Dabei werden die
Kategorien anderer Künste weniger nachgeahmt, als die mediale Unabhängigkeit der
Malerei hervorgehoben. Ihre Kategorien leiten sich nicht aus der textähnlichen
Lesbarkeit ab, sondern basieren auf der simultanen malerischen Gestaltung von
Handlung, deren Konsequenz die Ausschaltung von nacheinander folgenden
Ereignissen ist. Malerei als Schilderij besitzt einen eigenen Modus, der die
Detailgenauigkeit betont, die Gegenstände durch die Reflektion von Licht modelliert,
die Oberfläche und Ausschnitthaftigkeit herausstellt und Handlung aus logischer
Folge isoliert.
Der erste Kunsttheoretiker des Nordens, der das Wort „schilderachtig“ verwendet, ist
Karel van Mander. In seinem Schilder-Boeck, das 1604 als erstes kunsttheoretisches
Traktat innerhalb der Niederlande publiziert wird, gebraucht er den Begriff neun
Mal. Seine Schrift, die großen Einfluss auf die Malerei ausübte, wurde in 18 der
größten niederländischen Bibliotheken des 16. und 17. Jahrhunderts aufgeführt.318
Im Gegensatz zum holländischen Begriff „pittoresk“, der sich durch die Rezeption
der venezianischen, nicht-akademischen Kunst entwickelte, bezeichnet
„schilderachtig“ sowohl eine malerische Kategorie als auch die Verfassung der
Künstler.319 Der Begriff erscheint in zwei Ausprägungen: In der ersten bedeutet er
„in der Art der Maler“, er beschreibt die Eigenschaften des Künstlers. Van Mander
betont, dass Maler mit einer noblen Gesinnung ausgestattet sind und mit sittsamer
Bescheidenheit das Gemüt des Betrachters ansprechen. Malerei soll bescheiden und
ohne Neid ausgeführt werden. Neben diesen Ratschlägen, die an Künstler in der
317 Eine Verbindung von Wappenschild und Malerei lässt auch der Begriff „Tableau“ zu. Gemälde wurden in den Inventaren ebenso als Tableau bezeichnet wie die Wappenschilde der Ritterorden. 318 Hahn, Andreas: „...dat zy de aanschouwers schynen te willen aanspreken“ – Untersuchungen zur Rolle des Betrachters in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, München 1996, S. 48. 319 Der Begriff „pittoresco“ findet sich zuerst bei Vasari in der Beschreibung verschiedener malerischer Techniken. Doch erst Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt er in den Traktaten an Bedeutung zu gewinnen. Bezeichnenderweise ist er in den ersten beiden Ausgaben (1611 und 1623) der florentinischen „Accademia della Crusca“ nicht zu verzeichnen, sondern wird mit Nachdruck erst bei Marco Boschini verwendet. Der Venezianer spricht 1660 vom „pittoresco“ als Ausdruck gestischer und pastoser Malweise; das „Pittoresco“ wird seitdem in Verbindung mit „Colore“ verwendet. Bakker, Boudewijn: Schilderachtig – Discussions of a seventeenth-century term and concept, in: Simiolus,24, 1995, S. 148.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
152
Ausbildung adressiert sind, kann sich bei van Mander der Begriff auch auf die
Ausführung der Gemälde beziehen.
Er verwendet ihn bei den Malern Cornelis Cornelisz und Cornelis Molenaer.
Cornelisz hatte ein Stillleben angefertigt, dessen „bloemen soo wel en schilderachtig
waren ghedaen“320, dass er nach seiner Fertigstellung das Gemälde nicht verkaufen
wollte – bei den Gemälden von Cornelis Molenaer notiert van Mander, dass er nie
zuvor „fraeyer en schilderachtiger“321 Landschaften gesehen hatte. In beiden Fällen
lobt er also die „schilderachtig“ Qualitäten der Malerei und setzt sie in Beziehung zu
Darstellungen der Natur. Bei Cornelisz mit dem Stillleben, bei Molenaer mit der
Landschaft, also mit zwei Gattungen, die in der Hierarchie der Malerei auf den
unteren Stufe rangieren. Malerische Gestaltung wird also mit Kunst assoziiert, deren
Stoff nicht von der Historie stammt, sondern Gegenstände des Alltags und der
lebensweltlichen Wirklichkeit darstellt. Nicht die Organisation für einen
intellektuellen Nachvollzug steht im Vordergrund, sondern die Darstellung von
Landschaft und Stillleben „naer het leven“. Der Auftrag, den die Landschaft oder das
Stillleben erfüllen sollen, unterscheidet sich von der Historienmalerei und lässt die
Relevanz anderer Kategorien zu, die nicht in Abhängigkeit von Texten dargestellt
werden.
Neben den gattungsspezifischen Ausführungen führt van Mander einen
richtungsweisenden Topos an, der dem Status der Schilderij eine neue Perspektive
hinzufügt. Er beschreibt in der Vorrede zu seinen Viten der Maler den Ursprung der
Malerei. Nach dem er das 15-teilige Gedicht „de Grondt“ mit lehrreichen
Anweisungen für angehende Maler vorgetragen hat, beginnt er die Geschichte der
Malerei zu entwickeln und setzt bei den „antycke doorluchtighe Schilders“322 ein.
Deren Darstellung „so wel Zwecken“323 dienen soll. Van Mander zitiert dabei
verschiedene Textstellen der „Ilias“ von Homer. Ziel ist es, darzulegen, was „al
historie op den Schilden geschildert“324 wurde. Er beginnt im 5. Buch der „Ilias“.
Dort tritt Minerva auf, die mit dem Harnisch des Jupiters gewappnet ist und den
Schild mit der Darstellung der Gorgonen trägt. Sodann führt van Mander den Schild
320 Ein Reprint von van Manders Viten findet sich in Miedema, Hessel (Hrsg.): The lives of the illustrious Netherlandish and German painters, Doornspijk 1984, S. 428. 321 Miedema, Hessel: aaO., S. 429. 322 Untertitel der Vorrede von Mander, Karel van: Het Schilder-Boeck, Amsterdam 1618, o.S.. 323 Mander, Karel van: aaO., o.S.. 324 Mander, Karel van: aaO., o.S..
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
153
Agamemnons an, um daraufhin ausführlich die Gestalt des Schildes von Achill zu
beschreiben: Patroklos ist tot durch die Hände Hektors. Auf jene Nachricht stimmt
Achill mit denen, die bei ihm im Zelt sind, die Totenklage an, die bis zu seiner
Mutter Thetis in die Tiefe des Meeres klingt. Achill wird den Tod des Patroklos
rächen und im Kampf sterben. Doch zuvor muss er den nächsten Morgen abwarten,
um von seiner Mutter eine neue von Vulkan geschmiedete Rüstung zu bekommen,
deren Schild in der Beschreibung van Manders die größte Aufmerksamkeit gewidmet
ist. Er beginnt ihn – nach dem Vorbild Homers – ausführlich „vor den Augen“ des
Lesers darzustellen.
Achills Schild zeigt den Himmel mit Sonne, Vollmond und Sternbildern, das Meer
und die Erde, auf der zwei Städte zu sehen sind. Die eine befindet sich im Frieden, in
der anderen herrscht Krieg. Dazu kommen bukolische Szenen, Darstellungen der
Wein- und Getreideernte und der Tanz von jungen Männern und Mädchen, unter
denen ein Sänger die Saiten schlägt. Van Mander lobt die „vercieringhen van
Inventien“325, die Darstellung der Wiese, des Himmels, der See, der Städte und lobt
die „historien (...) van wonder affecten“, so dass das „beste Schild van der werelt (...)
hadde die dingen al uyt te beelden“326. Die Beschreibung nimmt ein Viertel der
gesamten Vorrede ein, der Schild des Achill allein 85 Zeilen, er bildet das
Hauptthema der Vorrede.
Van Mander versucht, die Malerei in diesem Kapitel als eine der Artes liberales zu
etablieren.327 Er führt den Schildtopos in der Vorrede ein, die dem Kapitel als
richtungsweisende Zusammenfassung vorangestellt ist. Diese Zusammenfassung hat
die Funktion, auf die Kernfrage des Schilder-Boeck hinzuweisen und muss daher als
programmatische Vorbemerkung zu den Viten der italienischen, niederländischen
und deutschen Maler verstanden werden. Der Schildtopos wird dabei als Teil eines
Geschichtsmodells verwendet, das durch die Viten weiterentwickelt wird. Das
Schilder-Boeck, das als Konkurrenzprojekt zu Vasaris Vitensammlung angelegt ist,
325 Mander, Karel van: aaO., o.S.. 326 Mander, Karel van: aaO., o.S.. 327 Bakker notiert dazu: It can hardly be a coincidence that van Mander presents the schilderachtig decoration of Achilles’ shield as the earliest known painting (...) It is difficult to think of a better way of buttressing his argument that painting should be given the status of a liberal art. In: Simiolus, 24, 1995, S. 151.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
154
soll ihn – im Sinne einer Aemulatio – in einem literarischen Wettstreit übertreffen.328
Dabei ist die Entwicklung der Malerei durch Blüte und Verfall gekennzeichnet und
endet mit einer „Translatio studii“ der italienischen Kunst an den Norden. Nachdem
die Malerei in der Renaissance in Florenz zu neuer Blüte gelangt ist, verbreitet sie
sich und tritt ihre Statthalterschaft an den Norden ab. Italien ist lediglich eine
Durchgangsstation.329 Die nordischen Maler sollen die Kunst zu neuer Größe führen
und ihre Überlegenheit gegenüber der Kunst des Südens sichern. Diese neue Blüte
steht jedoch in der Tradition einer antiken Malerei, die sich rühmen kann, bereits bei
Homers Schild des Achill angelegt gewesen zu sein.
Die Qualität der Malerei, ihr Selbstverständnis und ihre Aufgabe werden durch van
Manders Argumentation deutlich. Der Schildtopos steht für die Versetzung einer
dreidimensionalen Szene in die zweidimensionale Flächigkeit des Gemäldes und
führt die Mittel der Raumkunst vor. Der Nachvollzug der Geschichte geschieht nicht
in der Folge einer Erzählung, sondern in der simultanen Schilderung. Malerei ist hier
dem Text vorgängig. Die Beschreibung, die in einer zeitlichen Abfolge steht,
orientiert sich an den medialen Gesetzen der Malerei. Bezeichnenderweise gewährt
van Mander der Landschaft auf dem Schild des Achill viel Raum. Er widmet sich der
profanen Szenerie, die keine mythische Handlung vorführt. Weder der Schild, der die
Fratze der Gorgonen zeigt, noch der Schild des Agamemnon werden in dieser
Ausführlichkeit erwähnt.
Van Manders Argument für die Nobilitierung der Malerei basiert auf einer medialen
Analogie zwischen dem Schild aus dem Epos Homers und der zeitgenössischen
Kunst, die weniger als Zeitkunst, denn als Raumkunst wahrgenommen wird. Die
Konsequenz für eine Kunst, die in dieser Tradition steht, ist die Stilllegung von
Handlung zugunsten einer Gleichzeitigkeit von sinnlichen Eindrücken. Die
Strukturen der Schilderung finden sich auch in van Manders Text. Seine Ekphrasis
dient zum einen der Wertschätzung der Malerei, zum anderen wird der Schild für den
Leser visualisiert. Van Mander greift dabei auf Homers Beschreibung zurück,
328 Dazu Müller, Jürgen: Concordia Pragensis – Karel van Manders Kunsttheorie im Schilder-Boeck, München 1993, S. 24. 329 Der Translatio-Gedanke ist das strukturgebende Element von van Manders Kunsttheorie. Er greift auf diesen Gedanken immer wieder zurück: „Schließlich ist die Malkunst (...) eine sehr alte Kunst. Es scheint, als ob sie ursprünglich mit allen anderen Künsten (...) aus Chaldäa über Ägypten nach Griechenland, von dort nach Rom und so bis hierher gekommen ist und verbreitet wurde“, übersetzt Jürgen Müller van Manders Vorrede. Müller, Jürgen: aaO., S. 37.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
155
skizziert die Landschaft und lobt die Darstellung der Städte, ohne auf die Entstehung
des Schildes einzugehen. Nicht die Verbindung von Entstehung und Beschreibung
sind für van Mander von Bedeutung, sondern das Verweilen in der Beschreibung
einer malerischen Schilderung. Im Gegensatz zu Lessing, der in der
Schildbeschreibung den „Homerischen Kunstgriff“ sieht, aus der „langweiligen
Malerei eines Körpers das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen“, steht für
van Mander der Nachvollzug der Schilderij im Vordergrund. Während Homer den
Entstehungsprozess des geschmiedeten Schildes in die Konsekution des Verses
überführt, konzentriert sich van Mander lediglich auf eine Wiedergabe der
Darstellung. Er beschreibt ein Bild.
Der Verlauf des Textes wird stillgestellt. Er führt damit ein literarisches Stilmittel
ein, das durch die Ausschaltung von Handlungsabläufen auf eine andere mediale
Beschaffenheit, auf die des Bildes, rekurriert. Wie in der „Ilias“ von Homer, der 130
Hexameter verwendet, um dem Leser Achill und seine Rüstung vor Augen zu führen,
gebraucht van Mander die Beschreibung, um Abläufe auszuschalten.330 Ebenso wie
im 18. Gesang der „Ilias“ wird Handlung durch die Imagination eines Bildes
stillgelegt. Bei Homer erscheint ein Bild inmitten eines sprachlichen Vollzugs. Seine
Ekphrasis markiert nicht nur den Beginn einer literarischen Gattung, sondern
schildert das Geschehen aus der Perspektive der Raumkunst, denn er beschreibt ein
Bild, das auf einem Rundschild angebracht wurde.331 Die Ekphrasis bewirkt
Verlebendigung und gesteigerte Evidenz, stellt die Zeit still und schafft Gegenwart
im Gefüge der sprachlichen Tempi und ihrer verfließenden Sukzession.332
Die Karriere der literarischen Schilderung, die Anleihen von der Malerei nimmt,
zeigt sich sowohl in der Literaturgeschichte wie in der Gegenwartsliteratur.
Wir finden sie in der Poesie und Dichtungstheorie von Johann Jacob Bodmer und
Johann Jacob Breitinger im 18. Jahrhundert333 und in der jüngeren Literatur, welche
330 Erika Simon bezieht das Nacheinander der Beschreibung auf den Entstehungsprozess. Damit hat Homer die Gattungsgrenze zwischen Poesie und Bildender Kunst virtuos aufgehoben. Simon, Erika: Der Schild des Achilleus, in: Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung – Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 123-141. 331 Dazu: Simon, Erika: aaO., S. 135f. 332 Boehm, Gottfried: Einleitung – Wege der Beschreibung, in: Boehm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (Hrsg.): aaO., S. 13. 333 Pfotenhauer, Helmut: Die nicht mehr abbildenden Bilder – zur Verräumlichung der Zeit in der Prosaliteratur um 1800, in: Poetica, 28, 1996, S. 324-355; Besonders: Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder – zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur, München 2002,
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
156
die fiktive Bildbeschreibung in Romanen und Novellen als Stilmittel aufgreift.334
Dort wird sie als sprachliches Äquivalent der malerischen Schilderung eingesetzt; sie
charakterisiert einen Text, der so geschrieben ist, wie ihn ein Maler darstellen würde.
E.III.2. Der Maler als neuer Phidias
Neben der
Kunsttheorie gibt
die malerische
Praxis des
Nordens über die
Schilderij
Auskunft. Avant
le lettre stellt van
Eyck in dem
Madonnengemäld
e für den
Kanoniker van
der Paele von 1436 die Entstehung des Tafelbildes als Schild dar und bestätigt die
Analogie von Ritter-Schild und Künstler-Schild.335 Die thronende Madonna wird
links vom heiligen Donatian, rechts von van de Paele als Stifterfigur und dem
Heiligen Georg flankiert. Sie spiegelt sich in dessen goldglänzender Rüstung in
mehrfacher Wiederholung. Doch nicht nur die Figuren, die der Betrachter auf dem
Gemälde wahrnimmt, treten auf der Rüstung Georgs in Erscheinung, sondern auch
van Eyck selber, der sich vor dem Gemälde befindet. Auf dem Schild, das der
Abbildung 43: Jan van Eyck: Van der Paele Altar, Tempera auf Holz, 1436
Kapitel 3.2.: Die Ordnung der Repräsentation – Bodmer/Breitingers „Die Discourse der Mahlern“, S. 142-165. 334 Die Untersuchung von Bildbeschreibungen – besonders von Fotografien – in literarischen Texten ist in den letzten Jahren forciert betrieben worden. Eine Auswahl: Erwin Koppen: Literatur und Photographie – über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung, Stuttgart 1987; Zetzsche, Jürgen: Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen – zum Werk von Uwe Johnson und Jürgen Becker, Heidelberg 1994; Krauss, Rolf H.: Photographie und Literatur – zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 2000. 335 Preimesberger, Rudolf: Zu Jan van Eycks Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, LIV, 1991, S. 459-489
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
157
Heilige um seine linke Schulter geschnallt hat, zeigt sich das Selbstporträt des
Künstlers. Auf der spiegelnden Innenseite erscheint zwischen den stark verzerrten
Reflexionen das winzige Spiegelbild zweier Männer, von denen der vordere einen
roten Chaperon und ebensolche Strümpfe trägt. Die räumliche Lage deutet an, dass
die beiden Männer ungefähr vor der Mittelachse stehen und jene Betrachterposition
einnehmen, die van Eyck bereits in der „Arnolfinihochzeit“ von 1434 eingeführt hat.
Dass in der „Arnolfinihochzeit“ mit der Spiegelung eine Signatur in das Werk
gesetzt wurde, deutet die Inschrift, die sich auf dem Spiegel befindet, unzweifelhaft
an.336
Der Schluss liegt nahe, dass es auch hier er selbst ist, der vor dem eigenen Bild
stehend, die Wirklichkeit des Im-Bild-Gezeigten bestätigt. Der Maler, der auf dem
kleinen Schild gespiegelt wird, ist zugleich der
Schöpfer des großen Schildes. Die Spiegelung auf
dem Schild des heiligen Georg nimmt die Rolle einer
Visitenkarte für den Berufsstand des malenden
Künstlers ein. Wie in der Darstellung von van
Manders Schildertopos begegnet dem Betrachter hier
eine Anspielung auf eine malereitheoretische, antike
Legende. Van Eyck hat sich in kühner Allusion auf
das Selbstbildnis des Phidias bezogen, das in der Vita
des Perikles genannt wird. Plutarchs Schrift, die im
15. Jahrhundert in lateinisch gelesen wurde, berichtet,
dass Phidias auf dem Schild der von ihm geschaffenen
Athena Parthenos sich selbst und Perikles dargestellt
habe.337 Der Bildhauer Phidias, der seit Plinius auch
als antiker Maler gesehen werden kann, hatte seine künstlerische Signatur in Form
einer Miniatur-Malerei auf dem Schild verewigt.338 Diese Begebenheit wird von
Abbildung 44: Jan van Eyck: Van der Paele Altar, Detail mit Spiegelung des Künstler auf dem Schild des heiligen Georg
336 Die Spiegelmetapher soll hier nicht weiter untersucht werden. Belting äußert sich in seiner Analyse von van Eycks Gemälden, die er auf den Begriff des Speculum und der Speculatio von Nicolaus von Kues zurückführt. Dazu: Belting, Hans / Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes – das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 75. 337 Preisshofen, Felix: Phidias-Daedalus auf dem Schild der Athena Parthenos, in: Jahrbuch des deutschen Archäologischen Instituts, 89, 1974, S. 50-69, S. 50f. 338 Plinius berichtet in der Naturalis Historia davon, dass Phidias seine künstlerische Laufbahn als Maler begonnen hat. König, R. (Hrsg.): Plinius – Naturalis Historia XXXV, §54, München 1978, S. 48f.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
158
Dion Chrysostomos erweitert, indem er hinzufügt, dass dies in versteckter Form
geschehen sei. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter in der konkaven
Wölbung des Schildes das Selbstporträt van Eycks. Die Legende, die von den
Kommentatoren als Künstlerlist und Künstlerstolz gewertet wurde339, verweist
gleichzeitig auf die schöpferischen Fähigkeiten van Eycks und seines Berufsstands,
dessen Status durch den Rekurs auf die antike Schild-Legende nobilitiert wird. Van
Eyck ist der Erfinder einer gelungenen Fiktion, die nicht textuell, sondern nur visuell
wahrgenommen werden soll.
Für die weitere Argumentation sind nun die medialen Möglichkeiten der Schilder-
Kunst interessant. Malerei, die ihren Ursprung aus der Gestaltung von Schildern
bezieht, verweist nicht auf eine Lesart, die in der Erschließung von Texten geübt ist,
sondern auf eine genuin malerische Aneignung. Wappen- oder Kampfschilde, die im
16. und 17. Jahrhundert nördlich der Alpen enstehen, sind anders organisiert als
textabhängige Gemälde. Diese Funktion wirkt sich auf die Gestaltung aus, die sich
von der erzählenden Malerei und ihrer Orientierung an der Satzfolge eines Buchs
unterscheidet. Die Anordnung der Szenerie muss nicht zwangsläufig von links nach
rechts erfolgen, sondern kann konzentrisch angelegt sein. Die Komposition kann
somit als Addition simultaner Einzelszenen arrangiert werden und sich auf die
Darstellung weniger Figuren beschränken, da die Handlung nicht in epischer Breite
ausgeführt werden muss – so wie es das Bildkonzept bei Wall vorlegt. Der
Bildaufbau von „Picture for Women“, „Insomnia“ und „Volunteer“ sowie Vermeers
Gemälde haben gezeigt, dass die Künstler nicht nach Leserichtung von links nach
rechts komponieren, sondern die Figuren in das Zentrum der Darstellung bringen.
Keine ergänzenden Nebenszenen lenken von den zentralen Bildfiguren ab, so dass
die Geschehnisse auch kompositorisch zusammengezogen werden.
E.III.3. Die Tradition des Handwerks
Als letztes Argument für eine „Ästhetik der Dauer“ im Gegensatz zu einer gelehrten
Ästhetik der Erzählung soll nun die handwerkliche Tradition der holländischen
Malerei untersucht werden. Durch den Status, die Organisation und das
339 Cicero hat in den „Tusculanae Disputationes“ die Phidias-Legende als das Streben der Maler nach Ruhm beschrieben, denn auch die Handwerker wünschten, dass nach ihrem Tod ihr Name geehrt
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
159
Selbstverständnis der holländischen Gilde-Künstler zeigen sich zum einen Parallelen
zur Fotografen-Ausbildung, zum anderen kann die Kunstfertigkeit der meisterhaften
Oberflächendarstellung charakterisiert werden.
In der Niederländer-Forschung wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die
Maler eher mit den Handwerkern identifizierten als mit den literarisch gebildeten
Eliten der italienischen Kunst.340 Der handwerkliche Aspekt der Kunst wird im
Gegensatz zu den akademischen Ausbildungen betont.341 Technische Gemachtheit,
Könnerschaft und die Beherrschung eines illusionistischen Realismus’ stehen im
Norden in der Tradition der kunstvollen Ausführung durch die Meister. Während die
Gründung der italienischen Akademie sich bereits im 16. Jahrhundert vollzogen
hatte, sind die Holländer bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in Gilden organisiert,
deren Mitglieder sich aus unterschiedlichen Sparten zusammensetzen. „All
diejenigen, die ihr Brot verdienen mit der Malkunst, sei es mit feinen Pinseln oder in
Öl oder Wasserfarben, Glasmacher, Glasverkäufer, Töpfer, Draperiemacher,
Besticker, Metallstecher, Bildhauer in Holz oder Stein, Schwertscheidenmacher,
Kunstdrucker, Buchverkäufer, Druck- und Gemäldeverkäufer“, werden in der Gilde-
Liste des heiligen Lukas in Delft aufgeführt.342 Neben den Malern finden sich hier
also vor allem Kunsthandwerker der unterschiedlichsten Sparten, deren
Gemeinsamkeit sich im Gilde-Zeichen widerspiegelt: Hier begegnet uns der
Schildertopos als Logo einer Berufsgruppe wieder. Der Schild ist das Signum der
Gilde-Künstler von Haarlem und wird als großes Schild, das drei kleine Schilde
umfasst, dargestellt. Der „Schilder“ ist derjenige, der mit handwerklicher Perfektion
seine Werke ausführt, mit hochrangiger realistischer Wiedergabe der Oberflächen
würde. 340 Priece, John L.: Culture and Society in the Dutch Republic During the 17th Century, New York 1974. 341 Svetlana Alpers untermauert diese These mit dem Hinweis auf Francis Bacons Systematik des Wissens. Im Anhang des „Novum Organum“ von 1620, im „Parasceve“, befasst sich Bacon mit der Natur. Er rechnet die Kunstfertigkeiten des Menschen zu denen der Natur. Die Künste finden sich in diesem System nicht bei den „Artes mechanicae“, sondern bei nichtmechanischen, praktischen Tätigkeiten. Musik, Kochen, Backen, Wollherstellung, Weben, Färben und Gärtnerei bilden eine Einheit von Fertigkeiten, die ohne mathematische Basis in der Beobachtung der Natur gründen. Die Malerei ist im Parasceve als Handwerk vermerkt. Alpers, aaO., S. 189f. 342 Die Delfter Gilde folgte ebenso wie die Gilden in Rotterdam, Leiden und Utrecht den Bestimmungen, die in Amsterdam 1579 formuliert wurden: „Maler, Glasmacher, Bildschnitzer, Figurenschnitzer, Bortenmacher, Tapisserieweber, Lehmwerker und alle anderen, die mit Pinsel und Farbe umgehen können“. Dazu Norrth, Michael: Kunst und Kommerz im Goldenden Zeitalter – zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1992, besonders das Kapitel: „Rekrutierung und soziale Stellung der Kunstmaler“, S. 77-100; auch: Alpers, aaO., S. 203.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
160
und technischem Know-How. Die Seiden Terborchs, die Teppiche Gerrit Dous, die
detaillierte Wiedergabe des Brots bei Vermeers „Milchmagd“ zeugen von der
Zurschaustellung dieser Darstellungskunst.
Mit Ausnahme weniger Berufsgruppen blieb die Lukas-Gilde in Delft, der auch
Vermeer zugehörte, von 1550 bis 1750 unverändert.343 Lediglich innerhalb der
Gilden vollzog sich eine Differenzierung der Berufsgruppen, die sich in einer
Spezialisierung der verschieden Gattungen zeigte. Während der italienische
Künstleringenieur durch die Beschäftigung mit Mathematik und Optik eine
Nobilitierung der Malerei betrieb, um sich vom Handwerk abzuspalten, wurden bei
den niederländischen Künstlern innerhalb der Gilde Hierarchien gebildet, in der sich
der Maler an der
obersten Position unter den Handwerkern verstand.344 So bildet sich Mitte des 17.
Jahrhunderts eine begriffliche Differenzierung von Kladschilder (Grobmaler) und
Fijnschilder heraus, die jedoch nicht auf einen neuen Status der Malerei verweist,
sondern unterschiedliches Format und Ausführung betrifft. Nicht die qualitativen
Unterschiede, sondern lediglich verschiedene Anwendungsbereiche von
Wirtshausschildern und Gemälden werden benannt. Der vermehrte Gebrauch der
unterschiedlichen Begriffe in der Jahrhundertmitte reflektiert zwar ein Bewusstsein
von Differenzierung in Sachen Oberflächen-Gestaltung, die Verbindung der edlen
Goldschmiedearbeit mit dem Gemälde durch Zurschaustellung von Virtuosität und
Darstellungskunst wird dabei jedoch nicht in Frage gestellt. Auch die Entlohnung der
Künstler gibt ein anschauliches Zeugnis. Die Kosten der Gemälde wurden häufig in
der Relation zur Ausarbeitung berechnet. Die Arbeitszeit orientierte sich an der
Realisierung und nicht an dem Entwurf eines Gemäldes; Künstler änderten ihre
Berufe, wenn sie Aussicht auf weitere Verdienstmöglichkeiten hatten. Der
Porträtmaler Ferdinand Bol gab die Malerei auf, weil er eine gute Heiratspartie
gemacht hatte; Meindert Hobbema hat nach seiner Ernennung zum städtischen
Eichmeister keine Gemälde mehr angefertigt.
343 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts gibt es auch in den Niederlanden Künstlergruppen, die sich von den Gilden distanzieren. Einerseits beginnt die akademisch-italienisch geprägte Kunst, sich gegen die Kunst mit Handwerkertradition abzusetzen und fordert die Durchsetzung neuer künstlerischer Lehrvorstellungen – so die Den Haager Pictura-Gruppe – andererseits separieren sich Künstlergruppen aus marktpolitischen Gründen von den Zünften.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
161
Ebenso agierten die Fotografen Anfang des 19. Jahrhunderts. In Preußen herrschte ab
1810 völlige Gewerbefreiheit, so dass sich jedermann als Fotograf niederlassen
konnte, wo immer er ein Geschäft vermutete. Während sich die Erforschung der
fotografischen Technik im 18. Jahrhundert noch in kleinen Wissenschaftszirkeln
abspielte, in denen unterschiedliche Forschergruppen mit chemischen Versuchen und
optischen Apparaturen experimentierten, wurde das fotografische Verfahren im 19.
Jahrhundert einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Durch den Verkauf des
fotografischen Patentes von Louis Jacques Mandé Daguerre an den französischen
Staat konnte sich jedermann in öffentlichen Vorträgen die Arbeitsweise der
Apparaturen erklären lassen und die fotografische Technik erlernen. Der Besuch
wurde mit einem Diplom belohnt, mit dem man nachweisen konnte, dass man
Daguerres Schüler war. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Ausbildung zum
Fotografen institutionalisiert. Durch die Nachfrage nach unterschiedlichen Techniken
und den verschiedensten Aufgabenstellungen verlangte die Klientel nach
ausgebildeten Handwerkern und Technikern, die meist als „Lehrlinge“ in den
Ateliers versierter Fotografen ausgebildet wurden.345 Diese Lehrpraxis findet sich
noch heute in den mehrjährigen Praktika, die viele Abiturienten vor einem Studium
bei einem Fotografen absolvieren.
Neben der praktischen Lehre bildeten sich Mitte des Jahrhunderts Institutionen, in
denen das Wissen um die fotografischen Verfahren weitergegeben und ein mediales
beziehungsweise künstlerisches Selbstverständnis entwickelt wurde. Zum einen sind
es Amateurvereine346 und Berufsverbände, die mit Zeitschriften an die Öffentlichkeit
treten – die „Deutsche Photographen-Zeitung“, die „Photographische Chronik“, die
„Photographische[n] Nachrichten“ oder „Das Atelier des Photographen“ sind die
344 Die Beschäftigung mit Astronomie, Mathematik und Optik hatte zur Aufgabe, die Teilhabe an den Wissenschaften zu ermöglichen. Dazu: Kristeller, Paul Oskar: Das moderne System der Künste, in: ders.: Humanismus und Renaissance II, München 1971, S. 164-206. 345 In Deutschland ist es Hermann Krone, der als erster den Versuch machte, die Ausbildung zum Fotografen zu institutionalisieren. Er eröffnete 1853 in Dresden ein fotografisches Atelier, dem eine eigene Lehranstalt angeschlossen war. Krone hat dieses Privat-Institut bis 1869 geführt. Ab 1870 war er Dozent für Fotografie am Polytechnikum in Dresden. Krone war der erste staatlich angestellte Lehrer für Fotografie in Deutschland. 346 Die ersten offiziellen Vereine gründeten sich 1851 und 1854 in Frankreich. Es entstehen die „Société Hèliographique de Paris“ und die „Société Photographique de France“. Wenn auch anfangs ohne Statuten und festem Programm, findet sich hier bereits ein Modell, nach dem nahezu alle späteren Vereinsgründungen erfolgen sollten. Dazu: Hoerner, Ludwig: Allgemeiner Deutscher Photographen-Verein – Gründung und Werdegang, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 13,1984, S. 3-11, besonders S. 4.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
162
Mitteilungsorgane der Berufsfotografen, die in Weimar, Halle und Berlin erscheinen.
Zum anderen sind es die Technischen Hochschulen, die Fotografen als Dozenten in
die Lehre mit einbeziehen. An den Technischen Hochschulen, die oftmals aus den
Kunstgewerbeschulen hervorgegangen waren, wurden fotochemische Laboratorien
eingerichtet, in denen die Studenten begleitend zu den Hauptstudiengängen
Fotokurse belegen konnten.
Die Amateurfotografen hatten sich um 1900 so weit mit der Produktion von Kunst
im akademischen Sinne identifiziert, dass sie den Begriff des Berufsfotografen als
negative Folie für ihr soziales Selbstverständnis einführten. Daraufhin wurde in den
meisten Vereinigungen die prekäre Situation der Fotografie als Berufsinhalt klar.347
Die Amateure waren technisch wie gestalterisch den Berufsfotografen überlegen,
und die Salonkunst nahm die Fotografie in ihre Hallen auf. Die Zugehörigkeit des
Berufsstandes regelte man im Jahr 1900 daher für die deutschen Fotografen im Reich
einheitlich: Alle Fotografen wurden in den Handwerkskammern
zusammengeschlossen. 1902 bildeten sich die ersten fotografischen Innungen. 1904
gründete man den „Centralverband des Deutschen Photographen-Handwerks“; „seit
1904 ist die Fotografie in den deutschsprachigen Ländern ein Handwerk“348.
Dennoch blieb der Status des Fotografen zwischen Künstler, Handwerker und
Techniker problematisch. Die Gründung von fotografischen Gesellschaften nach dem
Ersten Weltkrieg zeigt, dass das „Stigma des technischen Machwerks“349 durch die
„kreative Kraft“ der Autoren-Fotografen überwunden werden sollte und
repräsentative Institutionen als Identifikationsmodelle für die Fotografen immer noch
fehlten. Wenn man nicht den Akademien angehören wollte, musste man sich in
eigener Regie organisieren. Eine Alternative zu den akademischen Lehranstalten
boten Vereinigungen aus privater Initiative. Durch Produzenten, Industrielle und
Händler, die sich etwa in der „Gesellschaft der Photographen“, die noch heute
347Sachsse, Rolf: Ausbildungswege zur Fotografie, München 1981, S. 13f. 348Sachsse, Rolf: aaO., S. 13. 349Kräussel, Lothar: Fotografie zwischen Kunsthandwerk und Kunsthandwerk – die Geschichte und Entwicklung der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner seit 1919, Stuttgart 1992, S. 5. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigt die Gründung der „Gesellschaft Deutscher Lichtbildner“ das problematische Selbstverständnis der Berufsfotografen auf: Die Gesellschaft, die 1919 ins Leben gerufen wurde, verfolgte den Zweck, die Berufsarbeit des Fotografen, der nun als Lichtbildner apostrophiert wurde, zu veredeln. Dazu auch: Sachsse, Rolf: Die Arbeit des Fotografen – Marginalien zum beruflichen Selbstverständnis deutscher Fotografen 1920-1950, in: Fotogeschichte – Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 4, 1982, S. 55-61, hier: S. 56f.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
163
existiert, zusammenschlossen, wurde das Berufsbild geprägt. In der Nachfolge der
Technischen Hochschule findet sich die Ausbildung zum Diplom-Designer an den
Fachhochschulen. Die Ausbildung gemäß der Fotoschulen spiegelt sich in den
Bundesfachschulen, die mit einer Gesellen- oder Meisterprüfung abgeschlossen
werden. Erst Anfang der 70er- Jahre werden auch an den Kunstakademien
Professuren an Fotografen vergeben.350 In Deutschland wurde an der Kunstakademie
in Düsseldorf 1976 der Lehrstuhl mit dem Fotografen Bernd Becher besetzt. Dieser
Lehrstuhl bildet die Grundlage für eine künstlerische Fotografie, die mit den Becher-
Schülern internationale Erfolge feiert.
Die Sozial- und Institutionalisierungsgeschichte der Fotografie zeigt die Nähe zum
Kunstgewerbe auf. Der Status, der ihr zugesprochen wird, ähnelt demjenigen, der für
holländische Maler innerhalb der Gilden bestimmend war. Die Schilderij befindet
sich ebenso wie die Fotografie in der Nähe des Kunstgewerbes; die technische und
handwerkliche Könnerschaft wird bei beiden vorausgesetzt und mitgedacht.
Gleichzeitig sind beide Medien durch eine Distanz zu den Akademien und etablierten
Universitäten und Colleges gekennzeichnet. Das ist kein Mangel – ganz im
Gegenteil: Gerade dadurch qualifiziert sich die holländische Malerei und kann mit
den Mitteln der Fotografie von Jeff Wall fortgesetzt werden. Der kunstferne Status
des Mediums knüpft nicht an den etablierten akademischen Konnotationen an und
bietet Wall zu Beginn seiner Karriere die Möglichkeit, sich von einer Kunsttheorie
abzusetzen, die sich in Nordamerika etabliert hatte. Der titanische Schöpfergeist des
„abstract expressionism“, der in der Tradition der klassischen Moderne stand, zielte
auf die Schaffung eines Werkes, das sich durch die subjektive Geste auszeichnet und
auf einen individuellen Bilderkosmos bezieht. Wall lehnte diese Haltung ab. Er
knüpfte an die Fotografie die Hoffung, „daß sie wirklich über die ‚bürgerliche Kunst‘
hinausgehen würde – Pollock beispielsweise kam einem immer mehr wie
‚bürgerliche Kunst‘ vor“351, erklärt er 1989 in einem Interview.
350 Das Bauhaus in Dessau besitzt eine Sonderstellung. Hier wurde durch die Lehrer Lazlo Moholy-Nagy und Walter Peterhans die Fotografie vertreten. Es ist jedoch nicht außer Acht zu lassen, dass alle Bauhauskunst – gemäß Gropius’ Manifest – im Handwerk verwurzelt sein sollte und die Institution 1919 aus der Kunstgewerbeschule hervorging. Der Lehrplan von 1931 führt in der zweiten und dritten Stufe die Fotoabteilung auf. Hier sollte „der Übergang vom technischen Experimentieren zum freien Arbeiten unter Berücksichtigung der speziellen Anforderungen der Reklame und Reportage“ erlernt werden. Dazu: Fricke, Roswitha (Hrsg.): Bauhaus Fotografie, Düsseldorf 1982. 351 Jeff Wall im Interview mit Serge Guilbaut, in: Stemmrich, Gregor: aaO., S. 193.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
164
Die Nähe zum Handwerk ist also kein Qualitätskriterium; sie beschreibt keine gute
oder schlechte Kunst, sondern offenbart ihre Ziele und Aufgaben. In einer Kunst, in
der die sichtbare Ausarbeitung, die Delikatesse im Umgang mit Farbe und stofflicher
Beschaffenheit, im Vordergrund steht, ist qualitätvolle Malerei weniger von der
rhetorischen Persuasion als von malerischer Meisterschaft abhängig. Nicht der Text
diktiert die Mittel, sondern die Malerei gibt die Möglichkeiten der Kunst vor. Die
Schilderij des Nordens ist nicht darauf ausgerichtet, von Betrachtern gelesen zu
werden, sie ist keine Illustration von schriftlichen oder mündlichen Erzählungen,
sondern soll angesehen werden. Das soll ihren Wert nicht schmälern, denn wie
Svetlana Alpers gezeigt hat, wird die Erforschung der Welt im Norden gerade durch
die empirische Aneignung von Wissen vollzogen. In der Schilderij finden wir die
kompositorischen und gestalterischen Vorentscheidungen, die eine spezifische
Gattung der bildenden Kunst betreffen.
Ihr Selbstverständnis begründet den ästhetischen Wert und die
Fiktionalisierungsstrategien, die von den Gegenwartskünstlern aufgegriffen und in
unterschiedlichen Medien verarbeitet werden. Die Stilllegung von Handlung, die
weder dem fruchtbaren Moment noch dem Schnappschuss entstammt, zeigt sich in
einem Begriff von Handlung, der sich nicht an der Wahrnehmung des Betrachters
orientiert. Dieser gedehnte Moment bildet eine Kategorie der Bildzeitlichkeit, die in
der Kunst Vermeers ihren Ausdruck findet und es ermöglicht, vermeintliche
Wahrheitslieferanten wie Fotografie oder Video als künstlerische Fiktionen
erscheinen zu lassen.
Die Darstellung von Dauer in der Malerei Vermeers oder den Fotografien Jeff Walls
liefert eine Grunddimension ästhetischer Wahrnehmung. Sie liefert dem Blick, der
mit interesseloser Aufmerksamkeit die Szenerie verfolgt, eine schildernde
Darbietung – und gerade darin wird ihre Ästhetik deutlich. Zum einen wird eine
realistische Welt, die mit den Sehgewohnheiten des Betrachters übereinstimmt,
geliefert: Weder die Stofflichkeit der Farbe noch perspektivische Absurditäten stören
den Blick. Andererseits erscheint sie dem Verlauf von Zeit und Handlung enthoben.
Sie repräsentieren eine Welt, die wir nur visuell nachvollziehen können, die unserer
zwar ähnlich ist, sich ihren Maßstäben aber gleichzeitig entzieht.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
165
Die Geschichten bieten sich nur unserem Auge dar, sie können weder verstanden
noch missverstanden werden. Ihre Qualität liegt gerade im Ausbleiben und in der
Erleichterung von Sinn.
Die „Ästhetik der Dauer“ führt eine Verknappung vor, die nicht diskursiv
nachvollzogen werden soll, sondern als Scheidung der Sinne vom Sinn praktiziert
wird. Die oben beschriebene Dauer liefert den Rahmen für eine Kontemplation als
ästhetische Praxis. Da bisher kein Begriff gefunden wurde, welcher dieser
Darbietung einen autonomen Platz innerhalb der Künste weist, soll hierfür der
Begriff „Schilderung“ dienen.352 Im Folgenden sollen zwei Positionen
zeitgenössischer Künstler und ihre malerischen Mechanismen der Schilderung sowie
die Karriere einer „Ästhetik des gedehnten Moments“ vorgeführt werden.
E.IV. Die Stilllegung der Handlung als Strategie zeitgenössischer Künstler
Während das Schweizer Künstlerduo Theresa Hubbard und Alexander Birchler
Menschen in öden, verlassenen Zimmern auf Fotografien bannt, arbeitet Ute
Friederike Jürß mit Videos. Sie greift auf das ästhetische Phänomen der Dauer
zurück, um den Film, der qua Medium nicht ohne eine zeitliche Abfolge zu denken
ist, in ein fiktionales Arrangement zu überführen. Dies geschieht in zweifacher
Weise: Einerseits werden Inszenierungen, die auf Pressefotografien zurückgehen, als
Arrangements deutlich, andererseits unterläuft sie die Authentizität des Videofilms
durch eine „malerische Brechung“, die sich dem oben dargelegten Stilmittel der
Dauer bedient. Durch den Kontrast zweier Klassen, der Zeit- und der Raumkunst,
wird das bewegte Bild aus dem dokumentarischen Kontext gelöst und in die Nähe
352 Das begriffliche Fassen erzählerischer Malerei ist immer wieder in der Abhängigkeit vom gesprochenen oder geschriebenen Text beschrieben worden. Das ikonische Erzählen kann sich nur durch die Folie des textlichen Erzählens behaupten. Selbst Wolfgang Kemp, der die Bilderzählung intensiv untersucht hat und sie als kunsthistorischen Sachverhalt in die Forschung eingeführt hat, schreibt im Vorwort einer Aufsatzsammlung „Der Text des Bildes“: „Für die nachfolgenden Analysen werden wir von einer Konzeption ausgehen, die dem bildnerischen Werk einen autonomen Status und zwar den Status eines Textes zuspricht, das heißt, wir postulieren, für das bildnerische Werk – im folgenden Bildtext genannt – grundsätzlich die gleiche Autonomie als primärer Erzeuger von Bedeutung wie für den Sprachtext“. Kemp zitiert hier einen Autor der Aufsatzsammlung. Kemp, Wolfgang: Der Text des Bildes – Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung, München 1989, S. 7.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
166
der Fiktionalität, der Kunst, gerückt. Jürß konfrontiert die Dauer der Schilderung mit
den technischen Voraussetzungen des Films.
E.IV.1. Ute Friederike Jürß – „You Never know the whole Story“
Jürß’ Videoarbeit „You never know the whole Story“ aus dem Jahr 2000 besteht aus
drei Projektionen, die jeweils eine Wand des Ausstellungsraumes einnehmen. Die
Einzelbilder werden durch monumentale Inszenierungen bestimmt, in denen das
Bildpersonal in reduzierten Gruppen auftritt. Überlebensgroß wird eine
dunkelhaarige Zivilistin ins Bild gesetzt, die mit einem Kopftuch bekleidet ist. Neben
ihr stehen zwei vermummte Männer – der eine in Tarnkleidung und mit einer
Maschinenpistole bewaffnet, der andere ist durch die Dunkelheit der Szene nur
schemenhaft zu erkennen. Allen Bildern ist gemein, dass sie an die Berichterstattung
des Bildjournalismus’ erinnern. Es scheint sich um Begebenheiten von öffentlichem
Interesse zu handeln. Ob es sich in den Abbildungen um Aufnahmen von politischen
Krisengebieten oder Momente eines persönlichen Schicksals handelt, bleibt jedoch
unklar.
Ute Friederike Jürß stellt in ihrer Arbeit Pressefotografien der „New York Times“
nach. In ihren Schwarz-Weiß-Videos, welche die Erscheinung von Zeitungsbildern
nachahmen, inszeniert
sich die Künstlerin
selbst. Dabei bedient
sie sich einer
professionellen
Maskenbildnerin und
verwandelt sich in
jede der auf den
Zeitungsfotografien
abgebildeten Figuren.
Sie eignet sich das
Aussehen, den
Gesichtsausdruck und die jeweilige Pose an und filmt sich in einer Blue-Box, deren
blauer Studiohintergrund es ermöglicht, Personen so aufzunehmen, dass in der
Abbildung 45: Ute Friederike Jürß: You never know the whole Story, 2000 Video mit Endlosschleife
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
167
Nachbearbeitung eine nahezu spurlose Montage des unterschiedlich produzierten
Videomaterials gelingt. Mit Hilfe der Bearbeitungssoftware „Inferno“, die auch in
Filmen wie „Matrix“ oder „Mission Impossible“ verwendet wird, fügt sie
anschließend die Bildteile zusammen.
Die Figuren sind minutenlang unbewegt. Ab und zu nimmt der Betrachter einen
Wimpernschlag oder ein fast unmerkliches Zittern der Hand wahr. Die
monumentalen Brustbilder werden für eine Sekunde aus ihrer Unbewegtheit gerissen
und dem Betrachter wird erst in diesem Moment klar, dass er keiner Fotografie,
sondern einer Videopojektion gegenübersteht. 353 Die Bewegungen folgen keiner
spezifischen Logik. Eine zeitliche Einordnung der Handlung schlägt fehl. Der
Betrachter kann keine Geschichte, die sich auf ein inhaltliches Ziel entwickelt,
erkennen. Jürß bezieht sich auf eine „Ästhetik der Dauer“, indem sie die Videos zwar
als zeitlich organisierte Bilderfolge darstellt, diese jedoch aus einem Handlungsfluss
der Bildszenerie isoliert. Die Zeit, die verstreicht, ist diejenige, die das Video
benötigt, um die gespeicherte Information auf die Ausstellungswand zu projizieren.
Sie verweist lediglich auf das mediale Ausgangsmaterial, den filmischen Vortrag.
Jürß thematisiert den Stillstand in seiner medialen Brechung. Das Innehalten der
Personen tritt aus dem Ablauf des Mediums. Die fotografische Aufnahme und das
filmische Bild führen sich gegenseitig ad absurdum. Was für den Film ein typisches
Merkmal ist – die Bewegung – wird hier künstlich unterdrückt, indem die Figuren so
regungslos wie möglich vor der Kamera posieren. Wir erleben die Darstellung eines
Stillstandes und nicht, wie im filmischen Medium sonst, die Darstellung der
Bewegung. Jürß sprengt die Grenzen der Gattung und schafft dadurch Fiktion. Für
die ikonische Bildzeit hat das zur Konsequenz, dass dadurch die Handlung als
permanente Dauer erscheint. Es sind bewegte Standbilder, deren dokumentarische
Bildrhetorik durch die Inszenierung gebrochen wird. Wie Jeff Wall bestimmt Ute
Friederike Jürß die Ausstattung, Kostüme und Requisiten, verändert und manipuliert
das Ergebnis durch Nachbearbeitung. Wie die Akteure in Walls Aufnahmen verharrt
sie in den Videobildern auf der Schwelle zwischen Handlung und Innehalten. „In
ihrem demonstrativen Innehalten schwanken die Figuren zwischen Handlung und
353 Die technisch machbare Sichtbarkeit einer extrem gedrosselten Geschwindigkeit, die vom Künstler Douglas Gordon anstrebt wird, ist hier nicht gemeint. Gordon hatte 1998 Alfred Hitchcocks „Psycho“ auf eine Abspieldauer von 24 Stunden gedehnt und auf eine Leinwand projiziert.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
168
Versunkenheit“354; ein belehrender oder erfreuender Sinn wird in dieser Inszenierung
nicht geliefert. Sie befinden sich in einem Schwebezustand zwischen Erwartung und
Erstarrung. Die Künstlerin überführt das dokumentarische Pressematerial in eine
paradoxe Inszenierung, in ein ästhetisches Niemandsland.
E.IV.2. Theresa Hubbard/Alexander Birchler – „Gregor’s Room“
Die Amerikanerin Teresa Hubbard und der Schweizer Alexander Birchler arbeiten
seit 1990 zusammen. Sie produzieren Videos und großformatige Fotografien, welche
die Lebenswelt eines fiktionalen Charakters darstellen. In den fast lebensgroßen
Fotografien der Serie „Gregor’s Room“ von 1999 findet sich der Betrachter in einem
verstaubten,
kleinbürgerlichen
Ambiente wieder. Der
Hauptakteur Gregor
sitzt verlassen und
gedankenverloren auf
dem Bett, auf einem
Stuhl oder inspiziert
den Raum mit einer
Taschenlampe.
Es ist das Zimmer, in
dem nach Kafkas
Erzählung „Die
Verwandlung“ der Handelsvertreter Gregor Samsa nach und nach zu einem Insekt
mutiert. Doch das Künstlerduo bezieht sich weniger auf den Plot der Geschichte als
auf die atmosphärische Schilderung des Zimmers. „Sein Zimmer, ein richtiges nur
etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten
Wänden“355. Minutiös wurde eine Kulisse gebaut, Kostüme und Requisiten
abgestimmt und Darsteller ausgewählt, um dem literarischen Schauplatz
Abbildung 46: Theresa Hubbard/Alexander Birchler: Gregor’s Room, 1999, Fotografie
354 Frohne, Ursula: Reality Bytes – Medienbilder zwischen Fakt und „Fake“, in: Museum Neuer Kunst (Hrsg.): Ute Friederike Jürß – You never know the whole Story, Karlsruhe 2000, S. 11-51, hier: S. 25. 355 Raabe, Paul: Franz Kafka – Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/Main 1987, S. 56.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
169
beziehungsweise seinen atmosphärischen Konnotationen so nahe als möglich zu
kommen.
Gregor sitzt auf dem Bett, hinter ihm liegt die geöffnete Aktentasche. Kein Gegen-
stand des Raumes verweist auf die Befindlichkeit seines Bewohners. Eine
gewöhnliche Blümchentapete und ein ordentlich gemachtes Bett unterstreichen die
Anonymität des Zimmers, die sich in der Indifferenz von „Gregors“ Gesicht
widerspiegelt. Seine Augen sind verschattet, sein Gesicht ausdruckslos. Vielleicht
lauscht er den Geräuschen, welche durch den kleinen Spalt zwischen Tür und
Rahmen dringen, vielleicht hört er auf die Worte seiner Mutter. Wir wissen es nicht;
wir können nur konstatieren, dass es sich um eine Schilderung eines Zustandes von
undefinierbarer Dauer handelt. Hier begegnet uns die Aufhebung von Zeit durch
einen kalkulierten Stillstand. Die Artifizialität der Fotografien wird durch eine
„Ästhetik des Stillstands“ erzeugt, welche die Bildhandlung stoppt und jedes
Geschehen suspendiert. „Hubbard und Birchler geht es um diesen ‚toten Punkt‘, den
Augenblick des Nicht-Mehr wie des Noch-Nicht“356. Dabei bezieht sich das
Künstlerduo auf Kafkas Erzählung – jedoch nicht, um diese zu illustrieren, sondern
um den Fotografien eine fiktionale Handlung zu Grunde zu legen. Während sich
Wall auf die Bildercodes von Malerei bezieht und Ute Friederike Jürß auf
Pressematerial Bezug nimmt, ist es bei Hubbard/Birchler die Verwendung einer
literarischen Erzählung, welche die Fotografie als Dokument der Wirklichkeit
aushebelt.357 Dieses Konzept findet in der formalen Gestaltung seine Entsprechung,
in einer unbestimmten Handlung, die aus dem Erzählfluss ausgeschlossen wird.
Die Protagonisten werden bei Tätigkeiten beobachtet, denen kein Ereigniswert
zukommt. Selbstversunken, „absorbiert“ verfolgen sie ihre Tätigkeit, so dass der
Betrachter zu der Überzeugung gelangen muss, der Realität beizuwohnen.358
356 Schenk-Sorge, Jutta: Teresa Hubbard und Alexander Birchler, in: Kunstforum International, Band 147, Nov. 1999, S. 362. 357 Wall bezieht sich in ähnlicher Weise in seiner Documenta-Artbeit „Invisible Man“ auf eine literarische Vorlage. „Invisible Man“ ist der Titel eines Romans von Ralph Ellisons. 358 Diese Nicht-Handlungen hat der Theoretiker Michael Fried in Bezug auf Chardin „Absorption“ genannt. Siehe Fußnote Nr. 76
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
170
E.V. Tiefe – Guckkasten oder Raumbühne? Während wir zuvor die ikonische Zeit, ihre Merkmale und Wirkungen untersucht
haben, soll nun die Analyse des Bildraumes in den Arbeiten von Jeff Wall im Vor-
dergrund stehen. Neben den Landschaftsdarstellungen bilden Interieurs einen
Hauptblock seiner Arbeit und bestimmen seit Ende der 70er-Jahre sein künstleri-
sches Schaffen. Die Interieurs werden von Wall mit wenig Personal ausgestattet;
meist sind es nur zwei, maximal drei Protagonisten, die beiläufigen Tätigkeiten
nachgehen. Wie oben gezeigt wurde, sind sie oftmals in ihrer Tätigkeit versunken
und gehen keinen Kontakt mit der Außenwelt ein. Dieser Abgeschlossenheit ent-
spricht eine immer wiederkehrende Auffassung von Raum. Die Großdias zeichnen
sich durch eine Bildinszenierung aus, die sich in zweifacher Weise charakterisieren
lässt und den Ausgangspunkt bildet, von dem aus im Folgenden die fiktionale Wir-
kung von Walls Fotografien erneut beleuchtet wird: Zum einen wird der Blick nahe
an das Bildgeschehen herangeführt, so dass sich der Eindruck einer
Türschwellensituation einstellt. Zum anderen sind die Interieurs so angelegt, dass
der Betrachter sukzessive die Raumfolge erkunden kann. Nicht der Fenstertopos,
wie ihn die italienische Kunst vorsieht, ist für dieses ästhetische Arrangement
vorbildlich, sondern das Türmotiv nördlicher Prägung. Wir blicken in einen Raum
und werden von den Künstlern auf unsere Position an der Türschwelle verwiesen.
Der synkopierende Blick ermöglicht die Erschließung eines Bildraums, in dem der
Betrachter nicht vorgesehen ist.
Die Verbindung beider Momente ist nur scheinbar ein Paradox, denn Wall orien-
tiert sich an den Raumlösungen des holländischen Guckkastens. Dort wird der Be-
trachterblick durch Gucklöcher zwar in die Szenerie einbezogen, gleichzeitig je-
doch auf seine Position als Voyeur verwiesen. Als außenstehender Beobachter lie-
fert der Guckkastenstil und -effekt weniger eine Anweisung für einen gelehrten
Nachvollzug einer Handlung als die Offerte eines ästhetischen Schauspiels. Ein
Schauspiel, dessen stilistisches Repertoire sowohl für die Wirkung der holländi-
schen Interieurmalerei als auch für Walls Fotografien kennzeichnend ist. Diesem
spezifischen Raumgefüge korrespondiert eine spezifische Zeitstruktur, die unter
E.I. erläutert wurde. Beide bilden den Chronotopos der Schilderung, der sich im
Gegensatz zur Erzählung in den Werken Walls und der holländischen Künstler
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
171
durch die Guckkastensituation manifestiert. Der Guckkasten, wie er im Holland des
17. Jahrhunderts erfunden und gebraucht wurde, gibt uns nach der folgenden Unter-
suchung Merkmale an die Hand, welche die genetische Verwandtschaft zwischen
der Malerei der Holländer und der Fotografie Walls um eine weitere Perspektive
bereichern und seine Strategien der Fiktionalisierung deutlich klassifizierbar ma-
chen lassen.
E.V.1. Der Blick ins Innere – Türschwellen- statt Fenstersicht
Walls Großdia „Odradek, Táboritska 8, Prague, 18 July 1994“ von 1994 zeigt ein
junges Mädchen, während es die letzen Stufen einer Treppe im Untergeschoss eines
Wohnhauses hinuntersteigt. Die staubige Treppe wird von einem Geländer abge-
schlossen, dessen schmiedeeiserne Balustrade beschädigt ist. Fleckiger Putz be-
deckt die Wände. Der Betrachter befindet sich an der Türschwelle, die zum Trep-
penhaus des Ge-
bäudes führt. Er
steht dem Mäd-
chen gegenüber
und überblickt das
verschachtelte
Arrangement der
Gänge und Ni-
schen.
Die räumliche
Disposition des
Treppenhauses
wird durch drei Achsen, welche in die Tiefe führen, gegliedert. Die erste Raumach-
se wird durch den Treppenlauf gebildet, die zweite liegt zwischen dem Lauf und
einem massiven Pfeiler, während die dritte die linke Bildhälfte dominiert; sie mar-
kiert einen Gang, der zu einem Türrahmen führt. Ob die Tür geöffnet ist, kann man
nicht erkennen, sie liegt in der Dunkelheit. Neben den Raumachsen erscheinen auf
der Fotografie Türen und Fenster. Eine kleine Tür deutet den Zugang zum Keller
Abbildung 47: Jeff Wall: Odradek Táboritska 8, Prague, 18 July 1994, 1994 Großbilddia in Leuchtkasten, 298 x 229 cm
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
172
an, während eine weitere sich in der rechten Bildhälfte befindet. Sie nimmt fast die
gesamte Höhe des Tableaus ein und wirkt gegenüber der Größe des Mädchens mo-
numental. Ein massiger Pfeiler, weiß gestrichen mit ocker abgesetztem Sockel, be-
stimmt die Komposition. Er fungiert als blickteilendes Element und definiert die
räumliche Tiefe des Ganges.
Dieses Kompositionselement bestimmt auch andere Fotografien Walls. Es zeigt
sich in dem Großdia „Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelo-
na“ von 1995. Hier findet sich die blickteilende Senkrechte als Pfeiler, der das
Tableau durchschneidet und in zwei asymmetrische Flächen teilt. Der Raum wird
rechts durch ein spiegelndes Fenster abgeschlossen. Links markiert eine Onyxwand
zusammen mit den Stühlen und einem Teppichstreifen eine Zone. Da der Blick
sowohl auf die Onyxwand als auch auf die Glasscheibe freigegeben wird, scheint
das Foto unterschiedliche Ansichten zu vereinigen und aus verschiedenen
Betrachterstandpunkten montiert worden zu sein.359
Abbildung 48: Jeff Wall, Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, 1999, Großbild-dia in Leuchtkasten, 187 x 356 cm
Beide Fotografien Walls besitzen im Vordergrund einen schmalen Streifen, der
schräg angeschnittene Bodenplatten zeigt. 359 Vergleicht man Walls Fotografie mit Abbildungen, die für die Presse 1929 während der Welt-ausstellung fotografiert wurden, so fällt auf, dass letztere nicht auf Vielansichtigkeit angelegt sind.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
173
Die Zone im Vordergrund erscheint dabei von einer leicht erhöhten Position aus
fotografiert worden zu sein, während der restliche Bildbereich, besonders die De-
cke des Pavillons aus der Untersicht zu sehen ist. Das Tableau erscheint dadurch
seltsam zusammengesetzt. Der Raum wird nicht von einer klar definierten Position
aus dargestellt, sondern als Aggregat unterschiedlicher Teilansichten, die nur durch
einen synkopierenden, wandernden Blick erfasst werden können. Sowohl die blick-
teilende Pfeilerkonstruktion als auch die Weitwinkelfunktion des Kameraobjektivs
unterstützen diesen Eindruck der Bildmontage.
Der Vergleich von „Odradek“ und „Morning Cleaning“ mit einem Gemälde des
holländischen Künstlers Nicolaes Maes von 1657 verdeutlicht ein ähnliches Inte-
resse an räumlichen Dispositionen. Auch bei Maes begegnet uns das Pfeilermotiv.
„Die lauschende Magd“ steht auf der letzten Stufe einer Treppe und hat sich an den
Schaft eines Pfei-
lers gelehnt. Von
ihm gehen zwei
Arkaden aus,
welche die Rah-
mung für weitere
Räume bilden.
Rechts öffnet
sich das Bild in
einen überwölb-
ten Gang, in dem
sich ein Paar und
ein weiteres
Zimmer befinden. Links bildet – wie bei Walls „Odradek“ – die Treppe eine Ver-
bindung zu einem weiteren Raum. Der Blick des Betrachters wird in ein verschach-
teltes Gefüge von Zimmern geführt, die nicht nur in einer Enfilade hintereinander
angeordnet sind, sondern sich auch nach rechts und links öffnen. Es sind räumliche
Aggregate, die das Auge des Betrachters zu einer abwechslungsreichen Bewegung
Abbildung 49: Nicolas Maes: die lauschende Magd, 1657, Öl auf Leinwand
Der Pavillon wird nicht mit einem Weitwinkelobjektiv abgelichtet, sondern als Raum mit eindeuti-gem Kamera- und Betrachterstandpunkt definiert.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
174
durch die sich kreuzenden Gänge, Ansichten und Raumöffnungen einladen.360 Da-
bei zeigt sowohl das holländische Gemälde wie die Fotografien Walls die Eigenart,
den Ausblick aus Fenstern und Türen auf eine Landschaft zu verstellen. Entweder
wird der Durchblick durch eine Spiegelung verhindert, durch den Seifenschaum des
Putzmittels verunklärt oder durch die rahmenden Granitplatten gebremst – ein Phä-
nomen, das bereits kennzeichnend für die dunklen Fenster der Raumschachtel von
„Picture for Women“ war. Der Blick wird stattdessen an der Oberfläche der Wände
entlang geführt und kann das räumliche Gefüge des Interieurs nicht verlassen.
Diese Strategie hat Wall in der Fotografie „Swept“ aufs Äußerste ausgereizt. Der
Blick, der sich an Albertis Fenstertopos orientiert, wird hier nicht nur verunklärt,
sondern unmöglich
gemacht. Fenster
sind mit Brettern
vernagelt, innen
überdecken Holz-
latten die Rahmen.
In der Fotografie
„Swept“ sehen wir
in einen abge-
schlossenen
Raumkasten, in
dem Handlung
nicht wie durch ein Fenster oder auf einer Bühne dargeboten wird, sondern Tiefen-
räumlichkeit durch eine Türsituation definiert wird. Der holzfarbene Türrahmen,
der den Rand der rechten Bildhälfte darstellt, beschreibt die Position des Betrach-
ters. Sie ähnelt der des Großdias „Odradek“, in der sich der Beobachter an der Tür-
schwelle wiederfindet. Zwar deutet ein Schattenwurf, der die rechte Ecke des Rau-
mes ausfüllt, eine weitere Öffnung an, lässt diese jedoch nicht erkennen – nicht das
Fenster, sondern der Blick durch die Tür sind für dieses Raumarrangement verbind-
Abbildung 50: Jeff Wall: Swept, 1995, Großbilddia in Leuchtkas-ten, 249 x 191 cm
360 Dieses Phänomen zeigt sich auch in Zeichnungen und Gemälden Pieter Saenredams. Seine „In-nenansicht der Burenkriche“ von 1636 wird durch einen Pfeiler im Vordergrund beherrscht. Der Pfeiler bildet das Scharnier zweier Ansichten. Um die Zeichnung zu erfassen, muss man jede An-sicht einzeln betrachten. Es ist unmöglich, die rechte und linke gleichzeitig zu sehen. Dieses additi-
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
175
lich. Dies unterstreichen auch die Maße der Fotografien. Mit einer Höhe von 249
beziehungsweise 191 Zentimetern besitzen die Bildkästen „Odradek“ und „Swept“
eine Größe, die eher der Erfahrung einer Türschwelle als einer Fenstersituation
entsprechen.
Die verschachtelte Raumanlage wird bei allen Gemälden und Interieur-Fotografien
entweder durch einen schmalen Streifen oder einen Rahmen im Vordergrund einge-
leitet. Dabei wird das Geschehen sehr nahe an den Bildvordergrund geholt und er-
zeugt eine Absorption des Blicks. Dieser Zoom-Effekt, der im Holland des 17.
Jahrhunderts durch eine spezifische Auffassung von Perspektive entwickelt wurde,
bezieht seinen Reiz aus einem „voyeuristic viewing“361, welches sowohl für die
Guckkästen als auch die zeitgleiche Malerei charakteristisch ist. Der Zoom-Effekt
offenbart dem Betrachter eine Szenerie und ermöglicht ein Höchstmaß an visueller
Teilnahme; er wird zum heimlichen Augenzeugen, der die Geschehnisse – unbe-
merkt durch die Protagonisten – von
der Türschwelle aus beobachten kann.
Abbildung 11: Rogier van der Weyden: Johannesaltar, 1450, Öl auf Holz, 77 x 48 cm
Die Malerei des Nordens hat bis zum
17. Jahrhundert bereits ein reiches Re-
pertoire an Bildlösungen zusammenge-
tragen, in der diese Schwellensituation
des Betrachters thematisiert wird. Die
verschachtelten Räume, die Walls und
Maes’ Bilder auszeichnen, haben ihre
Vorläufer in den diaphanen Bild-
Architekturen der spätmittelalterlichen
Malerei. Es ist die Kunst Rogier van
der Weydens, in der die Verwendung
der Tür und des Portals als architekto-
nisches Raumelement in die Interieur-
Malerei eingeführt wird. Der linke
ve Verfahren zeigt sich sowohl in der „Innenansicht der Kirche St. Bavo in Haarlem“ von 1636 wie in der „Innenansicht der Kirche St. Laurens in Alkmaar“ von 1636. 361 Brusati, Celeste: Artifice and Illusion – The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chi-cago 1995, S. 207.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
176
Flügel des Johannesaltars von 1450 zeigt im Vordergrund Maria mit dem Johan-
nesknaben und Zacharias, den Mann der Elisabeth. Beide Figuren befinden sich vor
einem Steinportal, das den Ausblick in eine Kammer freigibt. Der Rahmen im Vor-
dergrund, der von Erwin Panofsky als „diaphragm arch“362 bezeichnet wurde, mar-
kiert eine Raumzone. Eine Tür in der linken Bildhälfte erweitert die bürgerliche
Kammer um ein weiteres Zimmer. Hier werden die Lösungen, die für die Blüte des
Motivs im 17. Jahrhundert einen unerschöpflichen Vorrat bilden, vorbereitet; denn
die Raumarrangements der flämischen Malerei gelten in der Zeit des 17. Jahrhun-
derts als klassisch; sie können als exemplarische Trouvaillen verwendet werden
und fungieren als autorisierte Bezugsgrößen. Im Unterschied zur späteren Interi-
eurmalerei wird das Rahmenmotiv hier jedoch weniger als Betrachterstimulans,
denn als inhaltliche Scheidung zweier Sphären benutzt. Im Gegensatz zur genrehaf-
ten Kammer ist bei van der Weyden die Zone im Vordergrund als Kirchenportal
ausgewiesen. Ihr ist die religiösen Thematik vorbehalten, während im Hintergrund
sich das Genre abspielt. Das „reine Interieur“, in der das Türmotiv als ästhetische
Grenze vorgeführt wird, hat sich hier noch nicht etabliert. Es ist eine Erfindung des
17. Jahrhunderts, das für diese Bildgattung den Begriff „Doorkijkje“ gefunden hat.
Der „Durchblick“, so lässt sich der Begriff „Doorkijkje“ übersetzen, wird erst im
17. Jahrhundert zum eigenständigen Gemälde. Das „Doorkijkje“ wird durch die
spezielle Betrachtersituation an der Türschwelle charakterisiert, die wir in Maes’
und Walls Werken bereits analysiert haben und findet seine kunsttheoretische Ko-
dierung in den Traktaten von Philip Angel und Isaeck van Aelst. Angel liefert mit
seiner Schrift „Lof der Schilderkunst“ von 1642 eine wichtige Quelle zum Ver-
ständnis der holländischen Kunst. Es sind weniger die schriftlichen Anweisungen,
die auf den Türtopos verweisen, als die Personifikationen der Malerei, die dem
Traktat vorangestellt sind. Die Titelseite von Angels „Lof der Schilder-Konst“ zeigt
Pictura als Pallas Athene auf einem Postament. In der rechten Hand trägt sie Pinsel,
Palette und einen Malstock, mit der linken Hand hält sie ein „Doorkijkje“, das
durch einen überwölbten Säulengang gebildet wird und die typische Verschachte-
lung der Räume zeigt.
362 Panofsky, Erwin: Early Netherlandish Painting, Cambridge/Massachusetts 1953, Bd.1, S. 184.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
177
Auf der rechten Seite des Arkadengangs findet sich eine Säule, die den Rahmen für
die Komposition definiert – wie in Walls Fotografie „Swept“ liefert sie den An-
schnitt der Raumenfilade. Unvermittelt führen beide Künstler in das Bild ein und
zeigen eine menschenleere Architektur, die sich in räumlicher Weite erstreckt.
Stellen wir nun das Titelblatt der „Perspective par Samuel Marolys“ von Isaeck van
Aelst der Personifikation der Malerei des „Lof der Schilderkonst“ gegenüber, so
offenbart sich eine weitere Dimension der holländischen Perspektivkunst: Pictura
befindet sich neben der Personifikation der Geometrie auf einem Sockel. Wie bei
Angels trägt sie die Insignien der Malerei, Palette, Pinsel und ein Gemälde mit dem
charakteristischen verschachtelten Raumarrangement – soweit nichts Ungewöhnli-
ches. Der Sockel, auf dem sich Pictura befindet, zeigt jedoch ein rechteckiges Pa-
Abbildung 53: Isaeck van Aelst: Perspecti-ve par Samuel Malo-rys, Illustration der Pictura
Abbildung 52: Philip Angel: Lof der Schil-derkonst, Amsterdam 1642, Frontispiz mit Illustration der Pictura
neel mit einer Zeichnung. Es ist die „Construzione legittima“, die perspektivische
Rasterkonstruktion mit ausgewiesenem Augenpunkt, welche die Grundlage für die
Fenstersicht Albertis bildet. Das italienische Fensterschema wird hier dem hollän-
dischen Türtopos gegenübergestellt, die albertianische Theorie der malerischen
Praxis des Nordens. Picturas Attribut ist ein eigenständiges Gemälde, die Zeich-
nung auf dem Sockel ist die Illustration einer Theorie. Während die Zeichnung das
theoretische Fundament liefert, zeigt das „Doorkijkje“ die Praxis der Künstler. Wie
bei van Mander scheint van Aelst das Motiv des Wettstreits der Kulturregionen, die
„Translatio studii“ des Südens und Nordens aufgegriffen zu haben. Die Fenster-
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
178
rahmung ist zwar neben die Türrahmung gestellt, aber diese ist es, die das neue
Attribut und die Autorität der neuen, holländischen Malerei begründet.
Diese malereitheoretische Fundstelle macht den Unterschied zwischen der Kunst
des Nordens und der Malerei des Südens besonders deutlich: Es ist der Blick in
einen Illusionsraum, der im Gegensatz zum Fenstertypus italienischer Prägung,
Raumöffnungen als Orte der Handlung anbietet, die man durch eine Türöffnung
wahrnimmt. Fenster und Türen präsentieren sich zwar beide als Hiatus in der
Wandoberfläche, unterscheiden sich jedoch in der Art und Weise der Durchbre-
chung. Während das Fenster die Wand durchstößt, vermittelt die Türschwelle den
Blick in einen weiteren Raum. Das Fenster öffnet das Innere nach außen, die Tür
definiert den Blick von außen nach innen. Und mehr noch: Nicht nur die Augenbe-
wegung von Außen nach Innen, sondern auch der Blick von einem Interieur ins
andere verleiht der Malerei ihre charakteristische Konnotation. Es geht um die Tür
in einer Wand zwischen zwei Räumen oder Kammern. Die Grenze, die sie darstellt,
ist von einer gänzlich anderen Art als die des Fensters, welche den Ausblick auf die
außenstehende Wirklichkeit rahmt.
Zu den Meistern der „Doorkijkjes“ gehören Nicolas Maes, Jan Steen, Pieter de
Hooch, Emanuel de Witte, Jan Vermeer und Samuel van Hoogstraten. Die Kunst
des Dodrechter Malers und Theoretikers van Hoogstraten ist für die weitere Unter-
suchung von besonderer Wichtigkeit, denn in seinem Werk treffen sich sowohl das
Türmotiv wie der synkopierende Blick, der das „Abtasten“ einer Schilderung er-
möglicht. Dieser Blick gewährleistet das Zusammensetzen der Bilder, die scheinbar
aus unterschiedlichen Ansichten montiert wurden und eine sich verändernde Au-
genbewegung verlangen – so wie es in der Weitwinkelaufnahme von Walls „Mor-
ning Cleaning“ durch die asymmetrischen Raumachsen und den teilenden Pfeiler
vorgegeben wurde. Das schrittweise Erfassen der Bildhandlung und das Türmotiv,
das die Fotografien „Odradek“ und „Morning Cleaning“ verbindet, findet seine
frühe Vorformulierung in van Hoogstratens Guckkästen. Sein Guckkasten wird im
Folgenden als Modell vorgestellt, um die Sehkultur und die visuellen Modalitäten
zu verdeutlichen, denen auch Walls Werk unterliegt.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
179
Von den sechs Guckkästen, die
noch vorhanden sind, liefert der
Londoner „Perspektikas“ aus
dem Jahr 1666 die Möglichkeit,
illusionistische Malerei in ihrer
Beziehung zum Auge zu verste-
hen. Van Hoogstratens hölzerner
Guckkasten ist auf einem Posta-
ment angebracht und zeigt die
Innenansicht eines Interieurs. Die
Längsseite ist heute mit einer
durchsichtigen Folie versehen;
ursprünglich diente die vordere
Kastenöffnung nur der Belich-
tung der Innenraumszenerie und
war mit transparentem Papier beklebt. Der Kasten ist 58 Zentimeter hoch und 64
Zentimeter breit. An den schmalen Seiten ist jeweils ein Guckloch angebracht, wel-
ches das Beobachten der Szenerie ermöglicht. Das Innere ist an fünf Seiten bemalt.
Im Vordergrund sehen wir einen zentralen Innenraum mit rautenförmig verlegten
schwarzen und weißen Kacheln. Wir sehen einen Stuhl mit rotem Bezug. Neben
den Türrahmen kann man Gemälde, Landkarten und Spiegel erkennen. An einer
Garderobe hängen Mäntel, ein Degen und ein Hut. Außerdem befinden sich weitere
Stühle im Raum. Von diesem zentralen Eingangsbereich fächern sich mehrere
Zimmer auf, so dass der Betrachter insgesamt in neun weitere Räume blicken kann.
Man sieht durch Rahmen, Fenster oder offen stehende Türen und erblickt ein viel-
gestaltiges Raumgefüge vor sich, das abwechslungsreiche Ansichten bereithält.
Auffallend ist die Asymmetrie der Raumgliederung. Die Durchblicke werden durch
Wände gebildet, die den Bildausschnitt in zwei ungleiche Hälften teilen, so dass
sich die Schilderung nicht auf einen Blick zu einer Gesamtansicht synthetisieren
lässt. Hier begegnet uns die Raumkonstellation wieder, die wir im Kapitel D.II. in
den Gemälden und Fotografien beschrieben haben: eine Addition von Blickpunk-
ten, deren zusammenhängende Schilderung durch eine wechselnde Augenbewe-
gung gewährleistet wird.
Abbildung 54: Samuel van Hoogstraten: Guck-kasten, 1666, 58 x 64 cm
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
180
Obwohl Fenster dargestellt werden und Türen geöffnet sind, ist es nur sehr be-
grenzt möglich, die Außenwelt des „Dutch interior“363 im Guckkasten wahrzuneh-
men. Entweder ist das Fenster durch eine angrenzende Mauer verbaut oder der
Blick aus einem Türrahmen angeschnitten. Offenbar liegt der Reiz nicht in der Ges-
taltung einer weitläufigen Tiefe, sondern in der Augentäuschung der verschachtel-
ten Innenräume. Dem Betrachter wird eine Abfolge von rahmenlosen Ansichten
offeriert, die nacheinander angeschaut werden können. Der Betrachter folgt ihnen
durch ein sukzessives Sehen. Seine Konzentration wird dabei durch spielerische
Irritationen forciert: Ist das gerahmte Objekt nun ein Spiegel, eine weitere Rauman-
sicht oder lediglich ein Schatten?
Hier fehlt, anders als bei Gemälden, jeder Maßstab für die Regulierung des opti-
schen Eindrucks. Das isolierte Auge kann durch das Guckloch einen deutlich aus-
gewiesenen Gesichtskreis wahr-
nehmen. Die Teilnahme des Be-
trachters am Bildgeschehen wird
durch ein intensives Beobachten
gewährleistet – ähnlich dem Blick
durch ein Schlüsselloch. Dank des
heute noch erhaltenen Postaments
kann man die Höhe der Gucklö-
cher genau bestimmen. Tatsäch-
lich befinden sie sich auf der Höhe
der Schlüssellöcher von alt-
holländischen Türen.364 Die Be-
obachtersituation, die uns oben in
der Beschreibung des Maes-
Gemäldes begegnete, kann somit als voyeuristischer Blick tituliert werden, der von
den Gegenständen und räumlichen Verschachtelungen affiziert wird.
Abbildung 55: Samuel van Hoogstraten: Guck-kasten, 1666, Detail
Der Guckkasten ist sicherlich keine Erfindung der Holländer. Wir kennen Hinweise
von Vasari, dass Alberti Gemälde herstellte, die in Kästen angeschaut werden
363 Brusati, Celeste: aaO., S. 103. 364 Schneede, Uwe M.: De wonderlijke Perspectifkas, in: Artis – Zeitschrift für alte und neue Kunst,1966, 7, S. 25-28.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
181
konnten und Berichte von Carlo Ridolfi über die Methode des Modell-Theaters von
Tintotetto. Diese Guckkästen unterscheiden sich jedoch in Funktion und Gebrauch
von denjenigen holländischer Provenienz. Tintoretto fertigte Figürchen an, um ihre
Licht- und Schattenwirkung in entsprechenden Kammern aus Holz oder Karton zu
studieren. Seine Kasten-Szenerien wurden von außen beleuchtet und konnten durch
Öffnungen beobachtet werden.
Im 17. Jahrhundert wird diese Tradition der Modellbühne in Frankreich von Nico-
las Poussin weitergeführt, der in seiner zweiteiligen „Grande Machine“ Wachsfigu-
ren von 15 Zentimetern Höhe arrangierte. In Pose und Draperie aus Papier oder
Tuch komponierte er die Figuren als Vorlage für seine späteren Historiengemäl-
de.365 Zuerst entstand die Zeichnung nach dem Modell-Theater, daraufhin wurde
die Malerei geschaffen. Der erste Teil der Grande Machine, Architekturminiaturen
und Landschaften, fungierte als Träger für Figürchen, der zweite Teil bestand aus
einer fünfseitigen Kiste, die über die Bühne mit dem Figurenpersonal und die Ar-
chitektur gekippt wurde.366 Öffnungen ermöglichten die Inszenierung verschiede-
ner Lichtwirkungen und die Beobachtung perspektivischer Verkürzungen. Der
französisch-akademische Guckkasten hatte zur Aufgabe, die Gesetze der Perspekti-
ve zu veranschaulichen sowie das Studium des Faltenwurfs und der Beleuchtung zu
ermöglichen. Als Modellbühne diente er zudem der Vermittlung zwischen Zeich-
nung und Gemälde. Hier konnten Malerei und Zeichnung so ineinander greifen,
dass die Disposition, das Zwischenergebnis, das der Ausführung des Gemälde vor-
angestellt war, als Vorgang gegenseitiger Korrektur zwischen Zeichnung und Mo-
dellansicht entwickelt werden konnte. Für die Bildgenese, in welcher der Aspekt
durch den vernünftigen „Prospect“ geläutert wird, kann die Modellstudie somit zur
Verkörperung des Urteilvermögens werden.367 Sie ist als diskursiver Akt angelegt
und liefert die rationalen Vorentscheidungen für die späteren Ausführungen in Öl.
365 Anthony Blunt hat anhand der Zeichnungen Poussins die Funktion des Modelltheaters beschrie-ben: Dem Maler diente die Modellszene zur Erfassung und Überprüfung der Komposition. Blunt führt dafür vier Zeichnungen der „Taufe“ von 1646 an. Blunt, Anthony: The Drawings of Nicolas Poussin, London 1979. 366 Oskar Bätschmann hat die Modellbühne von Poussin aufgrund von Berichten Le Bond de La Tour und Roger de Piles rekonstruiert. Bätschmann, Oskar: Dialektik der Malerei von Nicolas Pous-sin, Zürich 1982, S. 36-38; über den Gebrauch von Wachsfiguren und Modellszenen im 16. Jahr-hundert informiert Julius von Schlosser: Aus der Bilderwerkstatt der Renaissance, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 31, 1913, S. 111-118. 367 Vergleiche: Kapitel C.II..
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
182
Der Gegensatz von italienischen und französisch-akademischen Perspektivkästen
zur Guckkasten-Malerei holländischer Provenienz zeigt sich in Funktion und
Gebrauch. Während der Guckkasten für Poussin lediglich als Studienobjekt und
Vorstufe zur Bildfindung diente, ist der holländische Guckkasten ein eigenständi-
ges Werk. Er wird nicht als Hilfsmittel eingesetzt, sondern besitzt eigene ästheti-
sche Parameter, die mit denen der Malerei vergleichbar sind. Während Poussin Fi-
guren in den Kästen arrangiert, zeigt der holländische Guckkasten an allen Schau-
seiten Malerei. Für ihn gilt, was bereits für die Malerei gesagt wurde: Jeder Darstel-
lung eines Innenraums liegt die Vorstellung eines Zimmers zugrunde, dessen vierte
Wand entfernt worden ist. Die fehlende Wand wird schließlich durch die Oberflä-
che des Bildes ersetzt. Die Türen und Durchbrüche stellen dabei einen Hiatus in-
nerhalb der Welt der „Kultur“368 dar – ohne Verweis auf die Außenwelt. Dieser
Unterschied ist für den Status der Malerei entscheidend. Er macht den Guckkasten
in der holländischen Kultur zu einem eigenständigen „Sehstück“, zur Malerei, wel-
che die Kunstfertigkeit des Malers vorführt.
E.V.2. Sukzessive Blickbewegung und Distanzpunktverfahren
Kehren wir zu den Augenbewegungen des Betrachters zurück. Worauf bezieht sich
van Hoogstraten? Welche ästhetischen Vorentscheidungen führen zu einem derarti-
gen Raumarrangement? Welche Parameter liegen dieser Wirkung zugrunde und
welche Konsequenzen bedeuten sie für den genetischen Status der Kunst?
Jede der fünf Kastenflächen ist als separate Tafel mit eigener Perspektive angelegt,
die nur durch ein Nacheinander erfasst werden kann. Samuel van Hoogstraten
nimmt in seinem Buch „Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – An-
ders de Zichtbaere Werelt“ zwei Mal auf diesen synthetisierenden Blick Bezug.
Das rund 400 Seiten starke Malereitraktat erschien 1678 in Rotterdam und umfasst
eine Einführung in die Grundlagen der Malerei. 19 Stiche illustrieren die Kapitel,
die jeweils einer der neun Musen gewidmet sind.369
368 Stoichita, Victor I.: aaO., S. 63. 369 Hans-Jörg Czech hat van Hoogstratens Traktat historisch-systematisch analysiert. Sowohl die Entstehungsbedingungen wie die Verschränkung von formaler Gestaltung und Inhalt werden be-schrieben. Dadurch wird deutlich, dass Hoogstratens Traktat das Modell einer systematischen Lehr-
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
183
Van Hoogstraten beschreibt die visuelle Wahrnehmung, deren Verständnis den
Malern das Zeichnen von Objekten erleichtern soll. Damit die Schüler die Gesetze
der Malerei lernen, müssen sie die Grundlagen des Sehvorgangs verstehen:
„Eerstelijk hebben wy arn te merken, dat wy met onze oogen rondom ons zien, en desweegen geen rechte linie kann getrogen worden, die op alle plaetsens onze oogen eeven nah is; maer wel een kromme, als en omtrek van een kring, waer van het middel-punt in ons oog is“370
[Wir müssen zuerst anmerken, dass wir unseren Blick rundherum schweifen lassen und darum keine gerade Linie zwischen uns und den Gegenständen gezogen werden kann, die immer den gleichen Abstand hat; sie ähnelt eher dem Umriss eines Kreises, dessen Mittelpunkt un-ser Auge ist.371]
Wenn wir den Blick schweifen lassen, wird unser Augenpaar in eine kreisförmige
Bewegung versetzt. Es befindet sich im Mittelpunkt eines sphärischen Feldes und
erschließt das begrenzte Gesichtsfeld in einer schrittweisen Bewegung. Die Objekte
werden dabei in unterschiedlichen Abständen und in einem „kromme[n]“, „als en
omtrek van een kring“ wahrgenommen, in einer ringförmigen Anlage, wie sie in
Holland Anfang des 17. Jahrhunderts in einem Perspektivdiagramm von Jan Vre-
deman de Vries dargestellt wurde. Jan Vredeman de Vries, der wohl einflussreichs-
te Theoretiker im Holland des 17. Jahrhunderts hat seinen Traktaten über perspek-
tivische Bildkonstruktionen zahlreiche Illustrationen beigefügt.372 In seiner Schrift
„Perspectiva“ von 1604 zeigt er zwei Figuren, welche die Grundlagen seiner Geo-
metrie verdeutlichen.
anstalt darstellt. Jedes Musenbuch verkörpert eine Schulklasse, in der ein fest umrissener Ausbil-dungsabschnitt absolviert wird. Czech, Hans-Jörg: Im Geleit der Musen – Studien zu Samuel van Hoogstratens Malereitraktat Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst – Anders de zicht-baere Werelt (Rotterdam 1678), Münster 2002. 370 Hoogstraten, van: aaO., S. 34. 371 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 372 Brusati verweist darauf, dass Vredeman sich auf die frühe Perspektiv-Literatur des flämischen Naturwissenschaftlers Jean Pélerin bezieht. Pélerins „De Artificiali Perspectiva“ von 1504 war das erste Traktat, das in gedruckter Form erschien. Er beschreibt darin das Auge als ein bewegliches Brennglas, das Licht empfängt und in einer konvexen Linse bündelt. Der Maler solle diesen opti-schen Gesetzen folgen und sie in seinen Gemälden umsetzen. Dazu: Brusati, Celeste: Artifice and Illusion – The Art and Writung of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, S. 186. Dazu auch: Kemp, Martin: Science of Art – Optical Themes in Western Art from Brunelleschi to Seurat, New Haven 1990, S. 64-68.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
184
Abbildung 56 zeigt ein Quad-
rat aaaa, dessen perspektivi-
sche Verkürzung durch vier
Distanzpunkte, die an einer
äußeren Kreislinie „orizon“
angebracht sind, erzeugt wird.
Hier findet sich die Zirkelbe-
wegung des wandernden Au-
ges, die van Hoogstraten be-
schrieben hatte.373 Der Bet-
rachter wird im Scheitelpunkt
von vier sich kreuzenden Ge-
raden, im Mittelpunkt des Quadrates, situiert. Die Objekte, die sich seinem Ge-
sichtsfeld darbieten, werden durch eine Summierung von unterschiedlichen Ansich-
ten wahrgenommen, so wie es die Seherfahrung des Guckkastens nahelegt. Durch
die vier Distanzpunkte zeigt Vredeman, wie ein Gegenstand sowohl in seiner opti-
schen Verkürzung, als auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt werden
kann. Die Schnittpunkte der Geraden, die von den Distanzpunkten ausgehen, mit
den Kreislinien zeigen jeweils unterschiedliche Gesichtsfelder.
Abbildung 56: Jan Vredeman, Illustration aus der Schrift „Perspectiva“ von 1604
Eine weitere Besonderheit von Vredemann de Vries’ Lehre liegt darin, dass er den
Augenpunkt nicht in einem bestimmten Abstand vor dem Bild lokalisiert, sondern
auf der Bildfläche selbst. Durch diese Auffassung von Perspektive wird die unmit-
telbare Nähe des Beobachterblicks erzeugt, die sich als Schwellensituation zeigt
und in den Tableaus von Nicolas Maes und Wall vorgeführt wird. Dieser Zoom-
Effekt ist die Folge der Distanzpunkt-Perspektive, welche die zweite Figur in Vre-
demans’ „Perspectiva“ darstellt. Sie zeigt eine Projektion des kreisförmigen Mo-
dells von Abbildung 56 in die Fläche. Der Augenpunkt aus dem sich die Verkür-
zungen ableiten, befindet sich an der Horizontlinie (orizon). Er ist in Vredemanns
Zeichnung als halbes Auge gekennzeichnet und wird von zwei Distanzpunkten (e
373 „Aegaende d´eerste Figure van den groont-regel der Perspective, naer den aert by consideratie, als hier in dese ronde voor gestelt wort, ende op dese ooge punten geteckent is by letter a, volgende de originelle linie int ronde , naer het omdrayen des persoons ghesichts, die sijnen standt heeft opt middelste vier cant“ Vredeman de Vries, Hans: Perspectiva, zit. nach. Brusati, Celeste: aaO., S. 309. Dazu auch Kemp, Martin: aaO., S. 108-119.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
185
und f) in gleicher Höhe flankiert. In ihnen bündeln sich strahlenförmig Diagonalen
und stecken ein
Gesichtsfeld
von jeweils 13
Grad ab. Die
Diagonalen
sind mit 16
nummerierten
Punkten auf
einer Basislinie
verbunden.
Dadurch erge-
ben sich Recht-
ecke, die sich in die Tiefe verkürzen und die räumliche Darstellung der Bildobjekte
eines Gemäldes vorführen. Im Unterschied zu Alberti fordert Vredeman keinen
Betrachter, der vor dem Gemälde situiert ist und von dessen Augenpunkt die Ver-
kürzungen konditioniert werden, sondern eine betrachterlose Darstellung, deren
Perspektive bildimmanent entwickelt wird. Bezeichnender Weise ist das gebräuch-
liche Wort für Perspektive im Norden „Deurzig-“ oder „Doorzichtkunde“, das nicht
die Darstellung eines Gegenstandes mit Rücksicht auf seine räumliche Beziehung
zum Betrachter meint, sondern die Art und Weise, wie die Erscheinung an der
Bildoberfläche dargestellt wird.374
Abbildung 57: Jan Vredeman: Illustration aus der Schrift „Perspecti-va“ von 1604
Der Augenpunkt des Betrachters wird nicht in einem bestimmten Abstand vor dem
Bild lokalisiert, sondern auf der Bildfläche selbst. Die Bildobjekte erscheinen dabei
ebenso realistisch verkürzt wie in Gemälden italienischer Prägung, unterscheiden
sich jedoch in ihrer Wirkung. Während das italienische Modell an eine körperliche
Betrachterpräsenz gebunden ist, funktioniert die holländische Perspektivlehre nach
den optischen Gesetzen, die sich auf das isolierte Auge beziehen.375
374 Im siebten Buch von Samuel van Hoogstraetens „Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilder-konst: Anders de Zichtbaere Werelt“, das 1678 in Rotterdam erschien, spricht er „van de Deurzig-kunde“. Hoogstraten, Samuel van: aaO., S. 273. Im Wortstamm findet sich eine Übereinstimmung mit der Bildgattung der „Doorkijkjes“. Die „Durchsichten“ sind nach dem perspektivischen Verfah-ren konstruiert, dem der Tür-, nicht der Fenstertopos zugrunde liegt. 375 Svetlana Alpers hat darauf hingewiesen, dass das holländische Distanzpunktverfahren auch im Sinne der italienischen Zentralperspektive gehandhabt werden kann. Vignola, der es als „construzi-
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
186
Das isolierte Auge, das mit einem Gesichtsfeld ausgestattet ist, zeigt sich in einem
weiteren Abschnitt in van Hoogstratens „Inleyding“. Während er den Leser über
die Wahrnehmung einer Kugel belehrt, beschreibt er den Horizont, wie er in Vre-
demans Illustration (Abb. 57) erscheint – als eine Teilansicht, die das Auge in ei-
nem 90-Grad-Gesichtsfeld registriert:
„Als by voorbelt, een ronde kloot of kogel vertoont en ronde kring, en een eenigen Orizont of zechteind, howel wy met hand en verstandt en oneydich getal begrijpen: welke ronden omtrek noch schaers de helft naer ons oogen toe bevangt; voornement-lijk, als zy wat groot, of zeer naby is. Een yeglijk weet zeer wel, dat wy in zee zinde, wel den Orizont, maer niet de helft des we-rels zien (...)“376
[Eine Kugel erscheint beispielsweise als ein Kreis mit einem einzelnen Horizont oder einer einzelnen Ansicht; wir wissen jedoch durch Hand und Verstand, dass der kreisförmige Umriss aus einer Vielzahl solcher Ansichten besteht und dass der kreisförmige Umriss vor unseren Au-gen kaum die Hälfte einer Kugel umschreibt, vornehmlich, wenn sie sehr groß ist oder sich sehr nahe bei uns befindet. Jedermann weiß, wenn man auf See ist, sieht man nur den Horizont und nicht die Hälfte der Welt (...)]377
Die runde Kontur einer Kugel wird scheinbar durch eine Ansicht gebildet. Tatsäch-
lich ist der gesamte Umriss jedoch eine Addition verschiedener Aspekte. Wir kön-
nen ein Objekt nicht auf einen Blick erfassen, sondern setzen seine Erscheinung
nacheinander zusammen. Das wird bei sehr großen Objekten besonders deutlich.
Van Hoogstraten gibt für die Ansicht des Einzelaspekts folgendes Beispiel: Von
einem Schiff aus bietet sich der Horizont nicht als Gesamtansicht, nicht als „helft
des werels“, sondern lediglich als Teilansicht dar. Um diese These zu verdeutli-
chen, wählt er einen Gegenstand, der sehr weit vom Auge entfernt ist.378 Diese
Teilansichtigkeit erscheint bei Vredeman zwischen den beiden Distanzpunkten. Er
hat den Horizont als verbindende Gerade zwischen die Punkte E und F gezogen. Im
Quadrat abcd der Grundlinie begegnet uns das Gesichtsfeld (zichteind) des isolier-
ten Auges, das Gesichtsfeld, das in van Hoogstratens Beispiel beschrieben wird. one legittima“ in Italien einführt, hat es im Sinne Albertis „manipuliert“ und auf eine Ansicht zuge-schnitten. Das Verfahren fordert dies jedoch nicht, sondern erlaubt mehrere Schrägansichten. Al-pers, Svetlana: aaO., S. 126. 376 Hoogstraten, Samuel van: aaO., S. 34. 377 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
187
Die 16 Punkte auf der Grundlinie repräsentieren unterschiedliche Gesichtsfelder,
die nacheinander eingenommen werden können. Erst die Addition der einzelnen
Gesichtsfelder ermöglicht eine komplette Ansicht. Eine Darstellung von Gegens-
tänden analog zum Fensterblick, wie es Alberti forderte, ist damit nicht zu verein-
baren.
Albertis Modell des Sehens, wie er es in „Della Pittura“ beschreibt, kann mit der
holländischen Distanzpunktkonzeption nicht verwirklicht werden. Albertis Sehpy-
ramide geht von einem definierten Punkt aus, der durch die Augen des Betrachters
vor dem Bild gebildet wird. Das bewegliche Auge van Hoogstratens und Vrede-
mans nimmt die Welt jedoch nicht mittels eines festgelegten Punktes wahr, sondern
konstituiert eine Summe von Teilansichten, in welcher sich der Horizont als Gerade
ohne Krümmung darstellt. Das hat für den Status und die Definition von Malerei
weit reichende Konsequenzen. Im italienischen Gemälde wird der Erfahrungsraum
des Betrachters durch die Logik der Perspektive erweitert. Kontinuierlich wird die
Welt des Betrachters weitergeführt und erhält seine maßstäbliche Relation durch
den Betrachterstandpunkt. Ziel ist das „movere“, die emotive Beteiligung des Be-
trachters, nicht die distanzierte Teilhabe am Bildgeschehen. Barocke römische De-
ckenfresken – beispielsweise Andrea Pozzos „Eintritt des Heiligen Ignatius in das
Paradies“ von 1681 in S. Ignazio – verdeutlichen diese fließende Bewegung. Die
Architektur wird erst durch die Malerei vollendet und zeigt einen illusionistischen
Himmel, wie man ihn durch Albertis Fenster sehen könnte. Die holländischen Ge-
mälde unterschieden sich sowohl in ihrer Genese wie in ihrem Status von diesem
Modell. Während das Deckenfresko von Pozzo als Konsequenz des Architekturer-
lebnisses in der Kirche dargeboten wird, führen die Guckkästen ein „Eigenle-
ben“379.
378 Doch auch Objekte, die „zeer naby“ sind, können lediglich bruchstückhaft wahrgenommen wer-den. Van Hoogstraten meint dabei mikroskopische Ansichten, wie man sie durch die Untersuchung von Insekten kennt. 379 Van Hoogstraten, selbst ein Meister der Trompe-l’oeil-Kunst, attackiert den Illusionismus italie-nischer Kirchendecken. Er tadelt im Kapitel 10 der Inleyding die Meister, die vortäuschen, dass sich die Kirchendecke dem Himmel öffne, anstatt Architektur zu sein. Hoogstraten, Samuel van: aaO., S. 140.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
188
Es sind in sich geschlossene und verschränkte Raumeinheiten, deren Reiz darin
liegt, sich einerseits dem Betrachter zu zeigen – schließlich sollen die Gemälde
visuell wahrgenommen werden –, andererseits unabhängig von ihm zu existieren.
Die Strahlen der Sehpyramide sind
hier durchtrennt. An ihre Stelle tritt
das bewegliche Auge, das als eine
Apparatur der Bildaufzeichnung
losgelöst vom Körper agiert. Da-
durch erscheint der Raum nicht als
Fortsetzung, sondern als Fiktion
einer anderen, analog konzipierten
Welt. Der Guckkastenraum besteht
ohne Bezug auf den tatsächlichen
Betrachterraum. Er kann nur auf-
merksam beobachtet, jedoch nicht
vereinnahmt werden. Das Distanz-
punktverfahren ist die malerische
Legitimation der Keplerschen Bild-
form. Die rahmenlosen Ansichten
und die betrachterlose Tiefenräumlichkeit entsprechen der Definition von Keplers
Netzhautbildern, die das begrenzte Gesichtsfeld darstellen. Um eine Ansicht eines
Guckkastens zu liefern, werden diese rahmenlosen „Aspekte“ durch verschachtelte
Zimmeransichten zusammengefügt. In Walls Fotografie „Morning Cleaning“ er-
möglicht die Weitwinkelaufnahme die Verbindung von Raumteilen, die das Auge
anschließend nur in einem sukzessiven Blickwechsel erfahren kann. Das Resultat
ist bei Wall wie bei den Holländern das gleiche: die Spur der entanthropomorphi-
sierten keplerschen Sehkultur, in der Bilder jenseits subjektiver Intentionen defi-
niert werden. Wall knüpft an diese Seherfahrung an, um Orte und Handlungen aus
ihrer technisch determinierten Indexikalität in den Bereich der Fiktion zu überfüh-
ren. Er bezieht sich dabei nicht auf die Traktate der holländischen Künstler und
forscht ebenso wenig nach den optischen Funktionen des Auges. Der Eindruck ei-
ner Bildmontage wird bei Wall durch den Standpunkt der Kamera, das Objektiv
oder die manipulative Bildbearbeitung erzeugt
Abbildung 58: Andrea Pozzo: Deckenfresko von 1681 in S. Ignazio
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
189
Die Wirkung, die er erzielt, zitiert jedoch Methoden der Malerei. Wall arbeitet mit
Effekten, die in der Kunst der Holländer als visuelle Strategien etabliert wurden:
Einerseits wird dabei jedes Detail offenbart, andererseits wird ein abgeschlossener,
abgeschirmter Raum
vorgeführt, der ei-
gengesetzlich exis-
tiert. Man wird Zeuge
einer Szenerie, ob-
wohl man als Bet-
rachter im Gemälde
nicht vorgesehen ist.
Der Kastenraum, wie
ihn die Figur 56 der
Perspectiva von Vredeman zeigt, liefert somit das stilistische Vokabular sowohl für
die oben vorgestellten Fotografien wie für den Perspektivraum von „Picture for
Women“. Das Arrangement der Fotografie greift diese Negierung des Betrachters
durch die Spiegelung auf. Das Bild entwickelt sich von innen nach außen – wo bei
Vredeman der innerbildliche Augenpunkt angebracht ist, hat Wall die Kamera posi-
tioniert. Obwohl die perspektivische Organisation des Fotos Tiefe suggeriert, ist der
Kastenraum durch das Distanzpunktverfahren ohne einen vorgängigen Betrachter
konzipiert – eine Strategie, der sich Wall bedient, um Fotografie mit der Wirkung
der Malerei auszustatten:
Abbildung 59: Jeff Wall: Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, 1999, Großbilddia in Leuchtkasten, 187 x 356 cm
Denn „lange Zeit musste man (...) gegen die traditionelle Ästhetik der Fotografie streiten, die vom Gedanken des Faktischen aus-geht, und gegen den Anspruch der Faktizität, den die Fotografie sowohl in der Kunst als auch außerhalb von ihr erhebt. Ich weise diesen Anspruch nicht zurück, aber ich glaube nicht, dass man auf ihn eine Ästhetik der Fotografie – der Fotografie als Kunst – gründen kann (...) Das habe ich zum Teil dadurch zu erreichen versucht, dass ich die Beziehung der Fotografie zu anderen Kunstformen hervorgehoben habe, vor allem zur Malerei“380.
380 Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys. „Die Fotografie und die Strategien der Avantgarde“, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, S. 138-141, hier S. 139.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
190
E.VI. Der Guckkastenraum als Strategie zeitgenössischer Künstler
Der Guckkastenraum findet sich in den Arbeiten von Thomas Demand, Lois
Renner und Sam Taylor-Wood in zweifacher Weise. Zum einen beziehen sich die
Künstler auf das Interieurmotiv. Wir sehen Badezimmer, Büroräume, noble
Etagenwohnungen oder Ateliers. Zum anderen ist der Guckkastenraum Bestandteil
der Bildentstehung: Demands und Renners Bildräume sind Fotografien von
Guckkastenmodellen, die als dreidimensionale Vorlagen für die Kamera angefertigt
wurden. Sie beziehen sich auf den Kasten als künstlerisches Artefakt. Aus Pappe,
Karton, Holz, Textil oder Metall haben die Künstler Modelle in einem
Miniaturmaßstab gezimmert, um sie später kunstvoll ausgeleuchtet mit der Kamera
zu „porträtieren“. Während sich bei van Hoogstraten das visuelle Erlebnis in der
Dreidimensionalität des Kastens abspielt, überführen Demand und Renner das
Modell in eine zweidimensionale Fotografie. Beide benutzen Miniaturräume als
Fotovorlage, erzielen jedoch fotografische Fiktion durch unterschiedliche Effekte.
Während Demand den Betrachter durch sterile, aseptische Künstlichkeit irritiert,
wird der Blick bei Renners Fotografien durch unmögliche, unrealistische
Gößendimensionen gestört. Die Londoner Künstlerin Sam Taylor-Wood greift in
ihren langestreckten Fotografien auf die Erfahrung des synkopierenden Blicks
zurück. Einzelne Szenen werden additiv aneinandergereiht und sind nur durch ein
Abschreiten des Ausstellungsraums zu erfassen. Diese Arrangierungsstrategien
sollen im folgenden Kapitel näher bestimmt werden.
E.VI.1. Thomas Demand – „Salon“
Demands Fotografie „Salon“ von 1997 ist als Auftragsarbeit für das „New York
Times Magazine“ entstanden. Sie zeigt ein kleines, enges Zimmer im New Yorker
Rotlichtmillieu der 70er-Jahre. Die Fenster sind mit schwarzen Tüchern oder Folien
verhängt. Links sieht man eine Liege, auf ihr liegt eine ausgepackte Rolle Kleenex.
Rechts steht ein Tischchen mit einem Heizlüfter, daneben ein Stuhl mit
Aschenbecher. Oben rechts befindet sich eine kleine rote Lampe, die mittels eines
Schalters am herabhängenden Kabel angeknipst werden kann. Während Wall durch
die Stilllegung der Handlung die Bilderzählung eliminierte, verzichtet Demand auf
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
191
Schauspieler, die in seinen Fotografien agieren. Demands Innenräume scheinen
zwar Bewohner zu haben – man entdeckt Aschenbecher, Schreibmaschinen,
Kaffeetassen und Büroutensilien – tatsächlich sind in seinen Großfotografien
jedoch nie Menschen zu sehen.
Das „New York Times Magazine“ hatte 19 Fotografinnen und Fotografen gebeten,
Arbeiten zum Times Square anzufertigen, jenem alten Vergnügungsviertel in New
York City. Demand entschied sich, die Geschichte des Platzes mit der Zeitung zu
verknüpfen, die dem Ort ihren Namen gegeben hatte. Er ließ sich 700 Fotos aus den
Archivbeständen des Magazins kommen, die aus Reportagen über den Platz
stammten und wählte eine Fotografie, die 1971/72 während einer Razzia –
angeordnet von der New
Yorker Stadtregierung –
entstanden war. Sie zeigt einen
Massagesalon und
dokumentiert das triste Leben
hinter den tristen Fassaden des
Times Square. Anschließend
baute Demand den abgebildeten
Raum aus Papier, Pappe und
Kunststoff nach, um ihn zu
fotografieren.381 Seine Arbeiten
basieren also auf Fotografien,
die in Pappmodelle
umgewandelt werden, welche
wiederum als Vorlagen für
monumentale Großfotografien dienen. Demand isoliert die Bildinformationen und
rekonstruiert sie in einem anderen Medium.382 Das Resultat sind Fotografien, die
Abbildung 60: Thomas Demand: Salon, 1997, Fotografie
381 Auf Seite 58 des „New York Times Magazine“ vom 18. Mai 1997 wurde Demands Arbeit publiziert. Das Pressefoto wurde, nachdem es durch Demands „Fiktionsfilter“ bearbeitet wurde, wieder in den Bilderkreislauf des Magazins überführt. 382 Bei der Arbeit „Raum“ bezieht sich Demand auf eine Dokumentarfotografie, die das Führerhauptquartier nach dem Bombenattentat auf Hitler zeigt; „Scheune“ geht auf eine Fotovorlage von Jackson Pollocks Atelier auf Long Island zurück, „Das Badezimmer“ rekurriert auf das Titelbild des „Spiegel“, das den toten Uwe Barschel in der Badewanne eines Hotelzimmers zeigt. Demand hat das Badezimmer nachgebaut, allerdings den toten Körper und einige Details der „Spiegel“-Fotografie weggelassen.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
192
sich durch eine spezifische Anonymität und Synthetik auszeichnen. Die
Modellnachbauten wirken verlassen und gestellt – wie stilllebenhafte
Arrangements, deren Objekte jeden Hinweis auf die Privatheit der Bewohner
verbergen. Wenn auch im Titel nicht ausgewiesen, erfährt der Betrachter schnell,
dass die Fotografien nicht Ablichtungen realer Räume sind, sondern sich auf eine
konstruierte Architektur beziehen: Die Buchdeckel in der Fotografie tragen keine
Titel, bei den Zigarettenschachteln fehlt die Aufschrift. Die perfekte Glätte der
Oberfläche und die Schattenlosigkeit der Gegenstände lässt die Fotografien
künstlich und steril wirken. Jedes erzählerische Detail wird getilgt. „Alle narrativen
Indizien führen ins Nichts“383.
Wie Lois Renner arbeitet Demand mit dem Effekt des Trompe-l’oeils, das
fotografische Dokumentation suggeriert, vom Betrachter aber als listenreiche
Augentäuschung entlarvt werden kann.
E.VI.2. Lois Renner – „Atelier“
Der Salzburger Künstler Lois Renner fotografiert seit über zehn Jahren sein Atelier.
Von seiner Künstlerwerkstatt hat er ein Modell im Maßstab 1:10 angefertigt, das je
nach aktueller Ausstattung verändert wird. Auf der Abbildung 61 erscheint es mit
winzigen Möbeln und Skulpturen, ein anderes Foto zeigt ein Metallgestänge und
handwerkliches Gerät, die neuesten Aufnahmen sind mit Miniaturpostern, welche
die Funktion von Gemälden übernehmen, ausgestattet. Neben Renners
Ateliermodell existieren Miniaturnachbauten vom Dachboden seines Elternhauses
in Salzburg und seinem ersten Wiener Domizil. Die minutiös nachempfundenen
Miniaturmodelle aus Holz zeigen Treppenläufe, Pfeilerkonstruktionen und
Geschosseinteilungen. Selbst der Verlauf der Leuchtkörper wird von Renner
detailliert übernommen.
383 Wetzel, Michael: Der Tatort als Baustelle, in: Kunstverein Freiburg im Marienbad (Hrsg.): Thomas Demand, Freiburg 1998, S. 20.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
193
Renners Großfotografie „Atelier“ aus dem Jahr 2001 ist auf eine Aluminiumplatte
aufgezogen. Man sieht in einen zweigeschossigen Raum, der durch eine Treppe
verbunden ist. Im Untergeschoss erkennt man eine Werkbank, einen Stuhl und
einen Holzbock. Das Obergeschoss
wird von einem Wassily-Sessel,
einem Gipsabguss des
Barberinischen Fauns und dem
Selbstporträt des Künstlers
bestimmt. Vergleicht man die
Größendimensionen der Einzelteile,
fallen die absurden Maßverhältnisse
sofort ins Auge: Das Stativ im
Vordergrund erscheint im Vergleich
zum Treppenlauf und den Stühlen
monumental. Allein die
Justiervorrichtung nimmt soviel
Platz ein, wie die Sitzfläche des
Stuhls. Ebenso zerstört der
riesenhafte Zollstock auf dem Holzbock die Illusion, es könne sich um ein
dokumentarisches Foto handeln. Einer fragilen Kugelschreibermine wird
zugemutet, sie könne die Last der Querverstrebung unterhalb der Skulptur
aufnehmen, der monumentale Barberinische Faun reicht in Renners Atelier fast
unter die Decke.
Abbildung 61: Lois Renner: Atelier, 2001, Fotografie
Auf weiteren Atelierfotografien finden sich Gemälde von Rembrandt oder
Bildzitate von Joseph Beuys und Marcel Duchamp. Renner stattet wie van
Hoogstraten die Interieurs mit Kunstwerken aus, die der Betrachter aus anderen,
musealen Zusammenhängen kennt. Den Faun, Rembrandt-Gemälde oder andere
Kunstzitate in einer Künstlerwerkstatt anzutreffen, ist ungewöhnlich. Der Kontrast
von Museum und Atelier ermöglicht es Renner, dem Betrachter die Fotografie als
Arrangement vorzuführen. Die Skulptur kann nur eine Kopie, das Gemälde nur eine
Postkarte oder ein Zeitungsausschnitt sein. Damit entziehen sich die Fotografien
ihrer Funktion als Fensterausblicke, die den Betrachterraum weiterführen. Ihre
absurden Größenverhältnisse entsprechen nicht den gewohnten Maßstäben der
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
194
Betrachterwelt. Tatsächlich könnte der Betrachter sich in diesen Räumen
unmöglich bewegen. Er wird auf seine körperliche Ausgeschlossenheit
zurückverwiesen und kann den Raum lediglich visuell erobern. Dabei gehen
Renner und Demand über die Rauminszenierung von Wall hinaus. Während Wall
durch Inszenierung das fiktionale Potential der Fotografie ausschöpft, arbeiten
Demand und Renner mit der Konstruierung neuer Modellrealitäten. Sie übertragen
van Hoogstratens Kastenraum in die Fläche der Fotografie und entwickeln
„Metabilder“384 des Guckkastens.
E.VI.3. Sam Taylor-Wood – „Five Revolutionary Seconds X“
Sam Taylor-Wood ist Mitte der 90er-Jahre durch das Interesse gegenüber den
„young British Artists“ in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten.385 Im Gegensatz
zu Demand und Renner beschäftigt sie sich nicht ausschließlich mit Fotografie.
Neben Videoinstallationen arbeitet sie mit DVDs und Filmprojektionen. Oftmals
werden ihre Arbeiten auch von einer Audioinstallation begleitet. Die
Großfotografie „Five Revolutionary Seconds X“ gehört zu einer Serie von zehn
Panoramafotografien, die zwischen 1995 und 1998 entstanden sind. Ungewöhnlich
ist zunächst das Format, das sich über eine Höhe von 72 Zentimetern und eine
Breite von 757 Zentimetern erstreckt. Die Bilder, die jeweils einen einzelnen Raum
zeigen, sind mit einer Panoramakamera aufgenommen, die sich in fünf Sekunden
einmal um die eigene Achse dreht. Auf diese Umdrehung (engl. revolution) bezieht
sich auch der Titel der Arbeit. Es handelt sich um die 360-Grad-Aufnahme eines
Raumes, die Taylor-Wood nicht als panoramatische Rundumsicht präsentiert,
sondern als flächigen Streifen auf der Wand installiert.
384 Der Begriff des Metabildes geht auf Thomas Trummer zurück. Er spricht von der Fotografie als „Metabild der Malerei“. Dazu: Huck, Brigitte: Aller Anfang ist Renner, in: Frame – the state of the art, 11, April/Mai 2002, S. 116. 385 Sam Taylor-Wood vertritt die Nachfolgegeneration von Sherman und Wall. Sie bezieht sich auf Shermans metafiktionale Strategien, indem sie Gemälde alter Meister auf heutige Verhältnisse überträgt. „Wrecked“ von 1996 liegt Caravaggios „Abendmahl“ zugrunde.
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
195
Abbildung 62: Sam Taylor-Wood: Five Revolutionary Seconds X, 1995, Fotografie, 72 cm x 757 cm
Die Fotografie zeigt ein lichtdurchflutetes Loft, großzügige Wohnräume, die mit
Designermöbeln ausgestattet sind. Auf dem Couchtisch findet sich eine Vase mit
Lilien. Ein weiterer Raum zeichnet sich durch Einbauten, ein „Eams-Büro“ und
eine Wandplastik aus. Die Fotografie zeigt insgesamt fünf Räume, deren Grenzen
nahtlos ineinander übergehen. Dennoch fluchten einige Geraden von Türen und
Bildern an einigen Stellen, während sie an anderer Stelle bildparallel verlaufen. Die
Fotografie vermittelt durch ihre Komposition den Eindruck, aus verschiedenen
Fragmenten zusammengesetzt zu sein. Durch die Vielzahl von verschiedenen
Perspektiven wirkt der Bildstreifen wie eine Montage. Hier begegnet uns das
ästhetische Vokabular des Guckkastens wieder, das sich bei van Hoogstraten und
Wall in den raumteilenden Vertikalen und den Ausblicken in verschiedene Zimmer
zeigte.
Der synkopierende Guckkastenblick wird durch das ausgeprägte Querformat
aufgegriffen. Die Länge der Fotografie verlangt, dass das Tableau Szene für Szene
abgeschritten wird, so dass sich die gesamte Fotografie durch eine additive Reihe
von Ansichten erschließt. Durch die großflächige Anlage müssen mehrere
Standpunkte bei gleich bleibender Entfernung zur Fotografie eingenommen
werden. Die Kamera zeichnet den Raum so auf, wie er durch das Auge in
Vredemans Diagramm, Abbildung 56, wahrgenommen wird. Auge und Kamera
bilden den Mittelpunkt und erschließen den Raum durch die Drehung um sich
selbst. Analog zu van Hoogstratens Horizontbeschreibung bietet sich die Fotografie
von Sam Taylor-Woods für den Betrachter dar. Der Betrachter bewegt sich vor der
Horizontlinie wie vor der Fotografie. Die Breite des Tableaus kann nur durch den
Wechsel des bildparallelen Standpunkts erreicht werden.
Diese Komposition wird durch die Schilderung der Handlung aufgegriffen. Im
ersten Moment wird der Eindruck erzeugt, die Fotografie zeige eine Reihe von
E. ERZÄHLUNG ODER SCHILDERUNG?
196
kausal und chronologisch verknüpften Handlungen. Tatsächlich ist jedoch jede
Person isoliert: Eine Person sitzt vor einer geöffneten Tür, ein Paar befindet sich
auf der Couch, während eine Frau, nur mit Unterhose und Trägerhemd bekleidet,
mit dem Rücken zum Betrachter steht. Obwohl sich die einzelnen Szenen in einem
Nacheinander erschließen, verzichtet Taylor-Wood darauf, eine Geschichte mit
Anfang, Mitte und Ende zu erzählen. Die Verbindung der einzelnen Bilder
funktioniert nicht als kausale oder zeitliche Folge. Damit erschießt sich für den
Betrachter keine durchgängige Erzählung. Es handelt sich um eine Anti-Erzählung,
um eine „dysfunktionale Narration“386.
386 Sam Taylor-Wood gebraucht diesen Begriff, wenn sie von der Organisation der Schilderung in ihren Fotografien spricht. Dazu: Rosenthal, Stephanie (Hrsg.): Stories – Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst, München 2002, S. 125.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
197
F. „Die Augen betrügen“ – die Ästhetik der Schilderung
In diesem letzten Kapitel soll die Ästhetik der Schilderung eine grundlegende Be-
stimmung erhalten. Welche Funktion haben die Mechanismen, die als Kennzeichen
der Schilderung herausgearbeitet wurden? Wie lässt sich die Ästhetik des Nordens
beschreiben, und worin liegen die Übereinstimmungen mit der Fotografie der Post-
moderne?
Zu diesem Zweck verweilen wir noch einen Augenblick bei van Hoogstratens Guck-
kasten. Er ist nicht nur für die Vorgabe der synkopierenden Bilderschließung vor-
bildlich, sondern auch durch die motivische Darstellung des Bildthemas. Man findet
eine kalkulierte Blickregie zwischen den Bildfiguren, deren Aufgabe es ist, das Be-
obachten und das Beobachtetwerden darzustellen und die Verfasstheit des außenste-
henden Zuschauers widerzuspiegeln. Die Blicke, welche die Akteure innerhalb des
Kastens austauschen, entsprechen der
Betrachtersituation vor dem Bild und
liefern somit ein weiteres Indiz, um die
Artifizialität und den Status der nordi-
schen Kunst zu bestimmen. Obwohl der
Betrachter körperlich vom Geschehen
des Guckkastens ausgeschlossen ist,
wird sein Blick durch Nahsichtigkeit
affiziert. Wenn man durch das linke
Guckloch blickt, erkennt man eine jun-
ge Frau, die in das Lesen eines Buchs
vertieft ist und durch eine Fensterschei-
be von einem Mann mit Hut beobachtet
wird. Sie ist ganz in ihrer Tätigkeit ver-
sunken und nimmt den Beobachter
nicht wahr. Konzentriert und passiv Abbildung 63: Samuel van Hoogstraten: Guckkasten, Mitte 17. Jahrhundert, Detail
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
198
sitzt sie auf einem Stuhl, während die stehende männliche Figur durch das Fenster
blickt.387 Die Blickkonstellation stellt sich dem Betrachter dabei als eine Triangula-
tion dar; als ein Dreieck, dessen Scheitelpunkt durch den Betrachter gebildet wird.
Der Betrachter sieht sowohl die Frauenfigur als auch den beobachtenden Mann.388
Zum Vergleich nochmals Walls Fotografie „Picture for Women“: Wall verkörpert
darin einen Mann, der in der rechten Bildhälfte stehend eine junge Frau im Vorder-
grund beobachtet. Die Relation der Blicke ist asymmetrisch – er ist aktiv, sie passiv
– und besteht aus einem komplexen Arrangement zwischen dem Betrachter und der
motivischen Blickorganisation innerhalb der Fotografie. Während der Mann sich der
jungen Frau zuwendet – er scheint fast auf sie zuzugehen – steht sie, ohne Kontakt
aufzunehmen, unbeweglich an der Holzplatte. Er beobachtet, sie wird beobachtet –
ebenso wie in der Zimmeransicht des Guckkastens.389 Es ist eine intensive Blick-
konstellation zwischen Mann und Frau, die nicht erst in den 70er-Jahren im Zuge
einer feministischen Bilderkritik thematisiert wurde, sondern bereits bei van
Hoogstraten etabliert ist.
Beide Künstler – Hoogstraten wie Wall – wiederholen die Betrachtersituation als
Bildmotiv im Guckkasten, beziehungsweise im Tableau. Analog der Türschwellen-
Situation nimmt der Betrachter das „Innenleben“ des Guckkastens wahr. Er ist nur
auf die visuelle Wahrnehmung beschränkt, wird jedoch Zeuge einer Szenerie, in der
seine Verfasstheit motivisch aufgegriffen wird. Der Mann am Fenster und der beo-
oyeu-
ey,
387Celeste Brusati verweist in diesem Zusammenhang auf die Venus-Ikonographie. Die Attribute der Venus befinden sich auf dem Stuhl in der Eingangszone, zwischen den Türen. Dort liegt eine Perlen-schnur und ein Kamm, die Brusati dazu veranlassen von einer „gendered imagery inside the box“ zu sprechen. Brusati, Celeste: aaO., S. 181. 388 Thomas Clark hat diesen Begriff für die Beschreibung der Blickkonstellation in „Picture for Wo-men“ geprägt. Er verweist in seiner Beschreibung auf die Situation des isolierten Auges: „Bei gewis-sen Bildern kommt es auf eine Art Positionssystem an, das aus einem Dreieck besteht (...) Die Trian-gulation bezieht den Betrachter als einheitliches Element mit ein, als Auge“. Clark, Thomas J.: Reprä-sentation, Mißtrauen und kritische Transparenz – Eine Diskussion mit Jeff Wall, S. 189-243, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 210. Zur Blickkonstellation siehe auch Thierry de Duves Dia-gramm zu „Picture for Women“ in seinem Aufsatz „The Mainstream and the Crooked Path“, in: Duve, Thierry de / Pelenc, Arielle / Groys, Boris: Jeff Wall, London 1996, S. 31. 389 Walls Blickregie ist von feministischer Seite gedeutet worden. Diese Interpretation ist sicherlich zulässig, denn das Foto weist bereits im Titel („Picture for Women“) darauf hin, dass es sich dezidiert an Frauen wendet. Wall hat die von Laura Mulvey angeregte Diskussion um den männlichen, vristischen Blick verfolgt. In ihren Artikeln in der Zeitschrift „Screen“ vertritt Mulvey die These, dass Frauen in Erzählungen männlicher Autoren als Sexualobjekte thematisiert werden. Dazu: MulvLaura: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Dies.: Visual and Other Pleasures, Indiana 1989; Walter, Christine: Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie – Eileen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood, Weimar 2002, S. 118.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
199
bachtende Künstler sind die innerbildlichen Stellvertreter des Betrachters. Wir bli-
cken mit der gleichen Motivation auf die Szenerie wie die männlichen Protagonisten
auf die weiblichen Figuren, werden zum einen vom Anblick affiziert und bleiben
doch ausgeschlossen.
Gemeinsam ist also beiden Arbeiten, dass sie metafiktional angelegt sind. Sie zeigen
eine Reflektion über die Bedingungen der Bildentstehung und führen diese dem Bet-
rachter deutlich vor Augen. Jeder bildende Künstler muss sich mit den Möglichkei-
ten der Malerei oder Fotografie auseinandersetzen, kennen, was bereits entwickelt
wurde, und nach eigenen Lösungen suchen. Doch in der Kunst des Nordens zeigt
sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Metafiktion, die über den etablierten Auf-
gabenbereich der Malerei hinausreicht. Nicht nur die Darstellung eines Themas ist zu
bewältigen, sondern gleichzeitig ein Hinweis auf den malerischen Diskurs zu liefern.
Die Innenräume des Guckkastens sind nicht nur mit Möbeln ausgestattet, sondern
zeigen über den Türen und an den Wänden Gemälde und Landkarten. Diese Bild-
elemente werden nicht zur Komplettierung des Innenraums eingesetzt, sondern besit-
zen ein inhaltliches Programm. Das Gemäldeinventar erschließt eine weitere Dimen-
sion des Guckkastens: Ein Landschaftsgemälde befindet sich über der Tür zum
Schlafzimmer, zwei Gemälde flankieren die Tür neben der Garderobe, ein weiteres
findet sich in der
rechten Kastenhälfte,
im Zimmer zwischen
dem Eingangsbe-
reich und der lesen-
den Frau. Es zeigt
den „Wettstreit von
Apollo und Pan“,
während das Gemäl-
de im Flur „Minerva
als Siegerin über die
Ignoranz“ themati-
siert. Beide Gemälde gehören zum Bilderkanon der enzyklopädischen Bildergalerien,
die sich als Pictura-Allegorien seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Holland finden
Abbildung 64: Willem Haecht: Das Atelier des Apelles, um 1630, Öl auf Holz, 105 x 149,5 cm
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
200
lassen und referieren auf Ovids „Metamorphosen“.390 Pictura erscheint darin inmit-
ten einer Vielzahl von Gemälden, die bis unter die Decke eines Saals gehängt sind –
beispielsweise in Willem van Haechts „Atelier des Apelles“ von 1630.391 Dieses
Gemälde zeigt Pictura, die von Apelles gezeichnet wird. Beide Gemälde, sowohl der
„Wettstreit von Apollo und Pan“ wie das „Urteil der Minerva“, finden sich hier. In-
dem van Hoogstraten die bekannte Kombination der Kunstkammerdarstellung wählt,
macht er sein Verständnis der Malerei deutlich. Das Gemäldepaar wird von ihm we-
gen seiner programmatischen Bedeutung gewählt. Midas bevorzugte Pan und wird
für sein Urteil mit Eselsohren bestraft – mit dem Zeichen für Ignoranz und einen
ästhetischen Irrtum, während Apollo von van Hoogstraten als überlegener Triumpha-
tor dargestellt wird. Van Hoogstraten kontrastiert das Gemälde des Wettstreits mit
dem der Minerva und zelebriert dabei den Sieg der Malerei und der Repräsentation
über die Ignoranz.
Bildermachen wird bei van Hoogstraten also durch einen Meta-Diskurs kommentiert.
Indem er Bilder in Bildern darstellt, verweist er auf das Selbstverständnis der Male-
rei. Bei Wall zeigt sich dieser Meta-Diskurs durch die Malereizitate. In „Picture for
Women“ scheint das Gemälde von Edouard Manet durch, so dass die Inszenierung
der Fotografien durch den Palimpsest deutlich zu Tage tritt.392 Während van
Hoogstraten ein ikonographisches Programm bemüht, um die Lesart der Kunst vor-
zugeben, zitiert Wall andere Meister. Es sind zwei Methoden, die einem Ziel folgen:
durch Metafiktion den Sinn und Zweck der Malerei zu erweitern, nicht nur Inhalte
vorzuführen, sondern einen Sinn jenseits der malerischen oder fotografischen Hand-
lung zu offenbaren – und zwar keinen religiösen, liturgischen, historischen oder bio-
grafischen, sondern lediglich einen artistischen Sinn. Die Bewusstwerdung der Male-
rei, die Entstehung einer modernen Konzeption des Bildes wird von van Hoogstraten
vorgeführt: Das neue Bild ist ein Objekt, das für eine andere Art der Kontemplation
inia-i,
nce bis
390 Dazu: Winner, Matthias: Die Quellen der „Pictura-Allegorien“ in gemalten Bildergalerien des 17. Jahrhunderts, Köln 1967; Filipczak, Zirka: Picturing Art in Antwerp – 1500-1700, Princeton 1987. Celeste Brusati sieht das Gemäldeprogramm von van Hoogstraten in der Tradition der Künstlerhäuser von Vasari und Rubens. Die fiktive Wohnarchitektur des Guckkastens sei ein Künstlerhaus en mture, das durch das Gemäldeprogramm auf Rubens Antwerpener Wohnhaus referiere. Dazu: BrusatCeleste: aaO., S. 179. Ebenfalls: Hüttinger, Eduard (Hrsg.): Künstlerhäuser von der Renaissazur Gegenwart, Zürich 1985. 391 Das Gemälde „das Atelier des Apelles“ von Willem van Haecht zeigt Pictura, die von Apelles gezeichnet wird. Neben den Gemälde „Wettstreit von Apollo und Pan“ und „Urteil der Minerva“ findet sich hier noch das Programmbild „Christus heilt den Blinden“.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
201
bestimmt ist als eine Ikone; es ist für die ästhetische Versenkung konzipiert und ba-
siert auf der Erfindung der reinen Malerei. Van Hoogstraten befindet sich im „Zeital-
ter der Kunst“, das auf das „Zeitalter des Bildes“393 folgt und einen neuen Status des
Gemäldes begründet. Während van Hoogstraten reflexive Momente in das Bild ein-
baut, um dem Tableau, das der kultischen Funktion enthoben ist, einen neuen ästheti-
schen Aufgabenbereich zu sichern, beschäftigt sich Wall damit, den indexikalischen
Charakter der Fotografie zu überwinden.
Beide Künstler verbindet die Aufgabe, eine Kunst zu schaffen, die dem etablierten
Medium durch bildimmanente Kunstgriffe eine Ästhetik verleiht. Dabei bilden die
Gemälde und Fotografien einerseits die Wirklichkeit ab, schildern Situationen und
Handlungen, andererseits besitzen sie eine Dimension, welche die Überlegungen zur
Produktion dieser Schilderung mit einschließt. Die doppelte Blickregie, die dem Bet-
rachter seine eigene Verfasstheit vorführt, und der bildimmanente Diskurs der Meta-
fiktion kennzeichnen die Ästhetik der Schilderung. Sie führt die beiden Parteien, die
an der Bildentstehung beteiligt sind, zusammen: den Betrachter, der gespiegelt wird,
und den Bildschöpfer, der Auskunft über sein kalkuliertes Konzept gibt.
F.I. Der ehrliche Betrug – „Fictional narrative“?
Van Hoogstraten und Wall begehen dabei einen Betrug. Beide sind Meister der Täu-
schung, die den Betrachter durch den „schönen Schein“ des Kunstwerks reizt. Durch
den perfekten Illusionismus der Fotografie und der Malerei, welche weder das Medi-
um, noch die Flachheit des Bildträgers thematisieren, werden die Arbeiten zum Ä-
quivalent der Wirklichkeit. Sie betrügen, und gerade dadurch üben ihre Bilder eine
Faszination auf den Betrachter aus. Die Anekdote, die der Hoogstraten-Schüler Ar-
nold Houbraken berichtet, gibt darüber Auskunft, wie dieser Betrug vor sich geht:
1651 führt van Hoogstraten am Wiener Hof drei seiner Werke dem Kaiser vor.
392 Vergleiche: Kapitel C.II.. 393 Beide Begriffe entstammen Hans Beltings Studie über die Geschichte des Gemäldes. Belting, Hans: Bild und Kult – eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
202
Die Reaktion des Kaisers zeigt angenehme Überraschung und die Wertschätzung von
Hoogstratens Arbeit:
„Toonde zich de Keizer daar op verlieft te wezen, die het zelfde lang bezag, doch echter zich bedrogen vont, en daar op zeide: dit ist der eerste Maler die mir betrogen heeft. En liet hem voorts aanseggen: dat hy tot straf voor dat betrog dat stuk niet zou wederom krygen, maar hy het voor altyt wilde bewaren, en in waarde houden.“394 [Der Kaiser erwies sich darin verliebt zu sein; er besah dasselbe lange, fand sich jedoch betrogen und sagte: das ist der erste Maler, der mich betrogen hat. Er ließ ihm weiterhin sagen: Dass er das Stück aus Strafe für den Betrug nicht wiedererhal-ten solle, sondern er es für immer bewahren und in Ehren halten wol-le“.395]
Wie kann der Kaiser aber Genuss daran finden, getäuscht zu werden? Die Erklärung
liegt in der ästhetischen Gestalt des Betrugs. Nur, wenn die Täuschung entlarvt wer-
den kann, ist sie gelungen und wird
vom Betrachter geschätzt.396 Der Kai-
ser hat den Betrug aufgedeckt, nach-
dem er das Gemälde einige Zeit be-
trachtet hatte. Er hat die Inszenierung
offengelegt und will zum Andenken an
diese ästhetische Erfahrung das Gemäl-
de van Hoogstratens behalten.
Abbildung 65: Samuel van Hoogstraten, Kabinett-Tür, 1655, Öl auf Holz
Zu den Gemälden, die van Hoogstraten
während seiner Wiener Zeit malte, ge-
hört auch die Darstellung einer Kabi-
netttür aus dem Jahr 1655. Sie vermit-
telt einen Eindruck von der Malerei, die
den Kaiser begeisterte. An einer Holz-
394 Houbraken, Arnold: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, Amsterdam 1680. Herausgegeben von Piet T.A. Schwillens, Maastricht 1943, S. 124. Diese typische Künstleranekdote besitzt einige Authentizität. Ein augentäuschendes Gemälde von van Hoogstraten aus dem Jahr 1655 gilt als das früheste erhaltene Beispiel und scheint noch in Wien gemalt worden zu sein. Es trägt die Aufschrift „Empfangen den 12. Feber 1655 von S. v. Hoogstraten Wien“. 395 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 396 Darauf verweist auch Hans Holländer. Er macht die Entlarvung der Wahrnehmung für die Faszina-tion der Anamorphosen verantwortlich. Holländer, Hans: anamorphotische Perspektiven und cartesia-nische Ornamente – zu einigen Gemälden von Jean Francois Niceron, Festschrift für Günther Weydt, München 1972, S. 53-72.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
203
tür sind mehrere Gegenstände befestigt: ein Tuch, ein Pinsel und eine hängende Ta-
sche, die einen Kamm, einen Schwamm und einen Brief beinhaltet. Die Maserung
des Holzes und jedes Detail der Schrauben wurde festgehalten. Der Faltenwurf des
Tuches wurde ebenso detailliert abgebildet wie die feine Ornamentik der Taschen
und die Textur des Schwammes und der Pinselborsten. Das Gemälde zeigt sich da-
durch der Gemälde-Gattung der „Bedriegertjes“ zugehörig. Diese Art der Malerei
stellt nicht nur die technische Virtuosität der Meister dar, sondern gleichzeitig die
Narretei der Augen – nicht nur die Kabinetttür und die Gegenstände werden abgebil-
det, sondern auch der Betrug, der durch die Illusion begangen wird. Die Täuschung
ist hier eine Strategie der Metafiktion. Sie führt einerseits eine Realität vor, weist
diese jedoch im nächsten Moment als künstlerische Gemachtheit aus. Die Kunst
schafft Bilder und ästhetische Realitäten; die Entdeckung, durch sie betrogen worden
zu sein, wird zur Kategorie für eine gelungene Malerei. Der holländische Dichter Jan
Vos hat diese Erfahrung in zwei Zeilen dargestellt. In einem Gedicht, das Mitte des
17. Jahrhunderts in Amsterdam erscheint, beschreibt er ein Historiengemälde in der
Annahme es sei ein Naturding. Plötzlich erschrickt er und entdeckt seinen Irrtum, um
sofort die Leistung des Künstlers entsprechend zu loben: „Ik mies, o spijt! Ik mies:
de verf bedriegt mijn oogen / ’t Penseel der schilderkunst heeft ongemeen vermoo-
gen.“397[Ich irre, oh Jammer! Ich irre: die Farbe betrügt mein Auge. Der Pinsel der Male-
rei hat ein ungemeines Vermögen.]
Um den schönen Schein als positive Qualität der Malerei bemessen zu können, be-
durfte es einiger Vorentscheidungen, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts getroffen
wurden. Die Reflektion über Kunst, die Constantijn Huygens um 1630 in die private
Autobiografie seiner Jugend einfügte, wurde zwar von den Gedanken um den Betrug
der Kunst, beziehungsweise um die Wahrheit ihrer Darstellung, getragen; Huygens
tadelte jedoch die Künstler, die der schlichten Natur eine Maske vorhielten und eine
übertrieben lebendige Darstellung forcierten.
397 Jan Vos zitiert nach Weber, Gregor: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes – Jan Vos und sein „Zee-ge der Schilderkunst“ von 1654, Hildesheim 1991, S. 98. Weber führt weitere Beispiele an. Ein Ge-mälde mit dem Thema „Evas Apfelbiss“ spornt Jan Vos in einem weiteren Gedicht zum Vergleich seines und ihres Irrtums an: „ Wie? Ich irre. Ich sehe eine Tafel erscheinen. Wurde Eva durch die Schlange, ich wurde durch die Farbe betrogen. Vergib mir diese Sünde; der Betrug ist ungemein. Die Größe der Kunst macht diese Untat klein“. ders.: aaO., S. 99.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
204
Einerseits lobte Huygens die Darstellungen Rembrandts und Lievens, bezog sich
jedoch auf Tacitus, um die Malerei, die an Täuschung grenzt, negativ zu bewerten.
Die Ambivalenz von Kunst und Täuschung ist bei Huygens noch deutlich zu spü-
ren.398 Erst Ende der 30er-Jahre findet sich das Lob für eine Kunst als Täuschung in
der Schrift „De Pictura Veterum Libri Tres“, in der Franciscus Junius den Betrug
positiv beschreibt:
„Of the sweet allurements of picture, and how we suffer our heart wittlingly and willingly to be seduced and beguiled by the fame, many examples might be alleadged here, if it were not generally known that a good picture is nothing else in it selfe but a delusion of our eyes“399.
Ein gutes Gemälde liefert die perfekte Täuschung des Auges. Um dies zu erreichen,
bedarf es der Fähigkeit des Künstlers, die Natur nachzuahmen. Das notwendige
Komplement der Täuschung ist somit die Imitation. Nur die Dinge, die mit einem
Höchstmaß an Ähnlichkeit gestaltet sind, können den Betrachter im ersten Moment
über ihre malerische Existenz hingwegtäuschen. Die Mechanismen der Täuschung
müssen von den Künstlern beherrscht werden, denn nur durch Könnerschaft kann das
Auge des Betrachters genarrt werden.400
Es gibt im Holland des 17. Jahrhunderts jedoch zwei Arten der Naturnachahmung,
die von den Kunstschriftstellern propagiert werden. Bei beiden Parteien muss der Stil
im Sinne der wahrhaftigen Darstellung gebraucht werden; sowohl die Anschaulich-
keit als auch die Verbindung von Wahrem, Wahrscheinlichem und Möglichem muss
gewährleistet sein. Mimesis stellt dabei ein Gebot der Kunst dar und dient ihrer Wir-
kung und Lesbarkeit. Dieser Aristotelischen Grundregel folgen sowohl die Klassi-
zisten wie ihre Gegner; die Mittel jedoch, durch die diese Wirkung erzeugt wird,
unterscheiden sich. Zum einen propagieren Klassizisten wie Gerard de Lairesse,
Joost van den Vondel und Jan de Bisschop, die „electio“, die bedachte Wahl der ab-
zubildenden Gegenstände, um dem „Ideal“ näherzukommen. Der Künstler ist dabei
durch die Auswahl der schönsten Teile befähigt, die Natur in gereinigter Form ohne
398 Weber, Gregor: aaO., besonders das Kapitel I.V. „Wider die calvinistische Kunstkritik“. 399 Junius, Franciscus: The Painting of the Ancients, London 1638, S. 54. 400 „Maar ik zeege dat een Schilder, diens Werk het ist, het gezigt te gedriegen, ook zoo veel kennis van der natuur der dingen moet hebben, dat hy gropndig verstaet, waer door het oog bedroogen wort“ [ich aber sage, dass ein Maler, dessen Werk den Gesichtssinn betrügen soll, so viel Kenntnis von der Natur der Dinge haben muss, dass er gründlich versteht, wodurch Augen betrogen werden]. Hoogstra-ten, Samuel van: aaO., S. 273-275.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
205
deren Unvollkommenheiten nachzuahmen und dadurch zu übertreffen. Ein „gutes“
Gemälde zu erzeugen, bedeutet gleichzeitig das Decorum und das Aptum zu wahren,
also Kategorien anzuwenden, die aus der antiken Poetik stammen und die Maßstäbe
für eine gelungene und vor allem den Stilen gemäße Darstellung bereitstellen. Zum
anderen schlägt der Dichter Jan Vos vor, nicht den antiken Autoritäten zu folgen und
damit von der Wahrheit abzuweichen, sondern die Natur so darzustellen, wie sie sich
dem Auge offenbart, nicht idealisiert, sondern wie sie erscheint.
Wir haben Vos bereits kennengelernt, wie er in einem Gedicht die täuschende Wir-
kung eines Gemäldes lobte. Nun soll er als Zeuge für einen holländischen Realismus
angeführt werden, dessen Kunsttheorie im 17. Jahrhundert eine Alternative zur klas-
sichen Auffassung bereithält. Er steht in einer Art holländischen „Querelle des An-
ciens et des Modernes“ gegen die Vormacht antiker Autoren und entwirft eine
Kunstlehre, die sich nicht durch das Erlernen von Regeln auszeichnet, sondern durch
Erfahrung und Übung.401 Die Aristotelische Trias von Natur, Unterricht und Übung
wird von Vos zwar zitiert, steht jedoch im Dienst einer schlichten unverfälschten
Nachahmung der Natur, die nicht durch ein Regelwerk eingeschränkt werden darf. In
seinem epischen Gedicht „Zeege der Schilderkunst“ von 1654 stattet er den Maler
mit schöpferischen Qualitäten aus und verweist auf die illusionistischen Qualitäten,
die der schlichten Naturnachahmung eigen sind. Die Malerei hat das Vermögen „le-
bende Bilder“ zu erzeugen: „Dus zag Natur haar schepsels weeder leeven/Door verf,
vol vlees en blodt, op’t vlak paneel“402. [So sah Natur ihre Geschöpfe wieder leben,
durch Farbe voll Fleisch und Blut, auf der flachen Tafel.]
Der Maler gleicht einem Schöpfer, der die Natur auf der Tafel wieder erschafft und
sogar übertrifft, denn im Gegensatz zu den „lebenden Bildern“ der Natur sind die des
Künstlers unvergänglich. Welcher Art diese Malerei sein soll, offenbart jedoch erst
die Kontroverse um Rembrandt van Rijn. Vos nimmt dabei eindeutig zugunsten des
Künstlers Stellung. Rembrandt, der von den Klassizisten als „Ketzer der Malerei“403
betitelt wurde, schuf Werke, die der Kritiker Adries Pels als regellos und damit
kunstlos beschreibt. Sie richten sich – laut Pels – nicht nach einem antiken Kanon, 401 Weber, Gregor: aaO., S. 119. 402 Zit. nach: Weber, Gregor: aaO., S. 163. 403 Der Ausdruck „eerste Kétter in de Schilderkunst“ wird von Jan A. Emmens und Götz Pochat ange-führt. Emmens, Jan A.: Rembrandt en de regels van de kunst, Amsterdeam 1979, S. 90; Pochat, Götz:
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
206
sondern orientieren sich lediglich am Augenschein. Rembrandt habe das Modell für
eine Leda oder Danae in den Missgestalten einer Waschfrau oder Torftreterin ge-
sucht und damit die Grenzen von „genus medium“ und „genus sublime“ nicht deut-
lich getrennt. Diese Regellosigkeit zeigt sich besonders im Inventar des Ateliers:
Harnische, Dolche, Pelz- und Faltenkrägen, die Rembrandt auf Trödelmärkten fand,
zieren sein Atelier und werden verwendet, um anschließend als Kleidung die edlen
Körper eines Scipio oder eines Cyrus zu bedecken. Für Pels bedeutete das eine Ver-
mischung der Stile, ein Verstoß gegen das Gebot der Angemessenheit.
Es ist kein Zufall, dass eben jene Gegenstände, die Pels Kritik auslösten, bei Jan Vos
nun als Requisiten im Atelier der Malerei, die als Allegorie dargestellt wird, zu fin-
den sind.404 Vos hatte Rembrandts Atelier vor Augen, als er diese Requisitensamm-
lung der Malerei in seinem Stück „Zeege der Schilderkunst“ beschrieb. In Rem-
brandt fand man also den Antipoden der klassizistischen Malerei, in Jan Vos den
Gegner der idealistischen Dichtung.
Vos verstand sich selbst, nicht ohne Stolz, als Vertreter einer bürgerlichen Kunst,
deren vorrangiges Ziel die Erweckung der Verwunderung und die Affizierung des
Betrachters war. Der „Realismus“ soll durch die vollkommene, unbeschönigte Imita-
tion der Wirklichkeit eine Fesselung des Betrachters erreichen. Die vollkommene
Nachahmung der Natur erweckt dabei den Affekt der Verwunderung, einen reflexi-
ven Akt der Kunstrezeption und erhält bei Vos als Verbindungsglied zwischen Ethik
und Ästhetik eine besondere methodische Bedeutung. In der Admiration, die in der
Tradition des antiken „Staunens“ steht, werden durch die Kunstfertigkeit eines Wer-
kes die Emotionen des Betrachters geweckt.405
In der Hierarchie der Malereigattungen, wie sie der Idealist Gerard de Lairesse später
aufstellte, wird die Vorliebe Vos’ für den bürgerlichen Stil, mit dem „genus medi-
um“ identifiziert. Gregor Weber hat herausgestellt, dass der „genus medium“ Ende
des 17. Jahrhunderts der Genremalerei zugesprochen wird. Die Malerei hat nun die
Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie – von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 349. 404 Vos schreibt: „Hier hängen Schilde, verrostete Schwerter, hier liegt ein Totenkopf, dort ein Men-schenknochen. Hier prunkt ein Löwenfell. Etwas weiter Bücher in altem Einband. Was jeder verwor-fen hat, kommt hier wieder in Stand. Die Kunst erwählt bisweilen verachtete Dinge“. Dazu Weber, Gregor: aaO., S. 134f. 405 Hierzu besonders: Weber, Gregor: aaO., Kapitel VII. „Die Sonderstellung der Verwunderung“. S. 231-242.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
207
Aufgabe, Sitten und Charaktere unter besonderer Berücksichtigung der Affekte dar-
zustellen.406 Ihr wird der mittlere Stil zugeordnet, der das „delectare“ zur Aufgabe
hat, während das permovere mit der heroischen Historiendarstellung auf den „genus
sublime“ abboniert ist.
Diese Grenzziehung findet sich bei Vos Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht. In
dem Zeitraum, in dem Vermeer die „Milchmagd“ porträtiert, die „Briefleserin“ malt
oder Nicolas Maes’ „Lauschende Magd“ entsteht, gibt es noch kein striktes Regle-
ment der Stile und keine eindeutige Zuweisung von Thema der Darstellung und Mo-
dus der Ausführung. Gregor Weber hat gezeigt, dass Vos einen realistischen Darstel-
lungsmodus gerade auch für die Historienmalerei einfordert und die unbeschönigte
Darstellung in den Dienst der seelischen Affizierung des Betrachters stellt. Die Ver-
bindung von Thema und Stil ist somit eine spätere Forderung der Kunstkritk. Der
„Realismus“ wird Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht auf die Darstellung des
Volkstümlichen bezogen, sondern dient der Befriedigung der Augenlust. Das Postu-
lat des „lebenden“ Bildes dient zur Verwunderung und Überzeugung des Betrachters
vor dem Hintergrund eines alle Gattungen der Kunst betreffenden Realismus’ der
holländischen Kunst.407 Das Gedicht „Zeege der Schilderkunst“ liefert damit die
Basis für eine Kunsttheorie, welche das Gebot, die „zichtbare natur“ zu malen, ver-
anschaulicht. Es gibt in Holland die Forderung nach einer Kunst, die spezifisch hol-
ländische Züge trägt und die in ihrem Realismus die optische Erscheinung nobilitiert.
Dieser Realismus bildet die Grundlage für die Ästhetik der Schilderung, die ihren
täuschenden Reiz aus dem Wechselspiel von künstlerischer Gemachtheit und imitie-
render Naturnachahmung erhält. Wie in Walls Fotografien tritt dabei das Medium im
Dienst der Mimesis in den Hintergrund, denn nur, wenn der Eigenwert der Farbe und
die spezifischen Möglichkeiten der Technik unterdrückt werden, kann sich der meta-
pikturale Diskurs und damit die Ästhetik des „ehrlichen Betrugs“ einstellen. Der
„Realismus“ darf dabei nicht mit dem Begriff verwechselt werden, den das 19. Jahr-
hundert für die holländische Kunst geprägt hat. Realismus ist hier die kunstvolle Imi-
406 Dazu auch der Aufsatz von Hans-Joachim Raupp: Ansätze zu einer Theorie der Genremalerei in den Niederlanden im 17. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46, 1983, S. 401-418. 407 So schreibt Jan Bialostocki über die Kunst des holländischen Malers: „Auch die Geschichte und die Allegorie stellt er wie eine Wirklichkeit und nicht wie ein Ideal dar“. Bialostocki, Jan: Einfache Nachahmung der Natur und oder symbolische Weltschau – zu den Deutungsproblemen der holländi-schen Malerei des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, XLVII, 1984, S. 421-438, hier: S. 434.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
208
tation und die artistische Selbstauskunft der Künstler, keine sozial motivierte Gesell-
schaftsstudie.
Der Rembrandt-Schüler van Hoogstraten hat in einer Schlüsselbemerkung seines
Malereitraktats die Ästhetik des Nordens zusammengefasst und liefert damit eine
Kategorie, die uns im Teil C.V. dieser Arbeit bereits beschäftigt hat. Sie beschreibt
die spezifische Beschaffenheit des Kunstwerks der Schilderung: „Want een volmaek-
te Schilderij is als een Spiegel van de Natuer, die de dingen, die niet en zijm, dot
schijnen te zijn, en op een geoorlofde vermelelijke en prijke wijze bedriegt“ 408. [Ei-
ne vollkommene Malerei ist ein Spiegel der Natur, welcher die Dinge, die nicht existieren,
erscheinen lässt, und zwar in einer Weise, die Vergnügen bereitet.409]
Die Malerei bildet die Dinge der Natur ab; sie erschafft sie zwar neu auf der Lein-
wand, aber nicht als Verdoppelung, sondern als Schein. Philostratus war hier für van
Hoogstraten vorbildlich, andernorts sind es Zeuxis und Parhasios, doch hinter der
Rechtfertigungsstrategie durch die etablierten antiken Malerei-Topoi zeigt sich der
originäre Charakter der holländischen Malerei: Sie schafft eine fiktionale Welt, die
durch mimetische Nachahmung Ähnlichkeit besitzt, sich durch die Scheinhaftigkeit
jedoch als Kunstwerk ausweist. Dadurch bereitet die Malerei, die man in van
Hoogstratens Gemälden und seinem Guckkasten vorfindet, Vergnügen.
Zum Vergleich soll hier das Zitat des amerikanischen Theoretikers Douglas Crimp
aus seinem 1979 entstandenen Aufsatz „Pictures“, das anfangs zur Charakterisierung
von Walls Arbeiten eingeführt wurde, dienen. Douglas Crimp schreibt: „We do not
know what is happening in these pictures, but we know for sure, that something is
happening, and that something is a fictional narrative. We would never take these
photographs for being anything but staged“410.
Wir nehmen eine Schilderung wahr, die sich im ersten Moment als Beschreibung der
Wirklichkeit darbietet. Im gleichen Moment zeigt sie sich jedoch als fiktional narra-
tiv, also als nur scheinbar erzählerisch. Was Hoogstraten als „schijnen“ charakteri-
siert, tritt bei Douglas Crimp als „fictional narrative“ auf. Die Dinge scheinen in ih-
rer mimetischen Struktur auf den ersten Blick eine Erzählung im Sinne einer doku-
mentarischen Abbildung darzustellen, offenbaren jedoch auf den zweiten Blick ihren
408 Hoogstraten, Samuel van: Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 25. 409 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. 410 Crimp, Douglas: aaO., S. 179.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
209
rein ästhetischen Charakter. Wäre Crimp bei dem Adjektiv „narrative“ von einer
Erzählung ausgegangen, wie sie in der Literatur auftritt411, so hätte er nicht die Vo-
kabel „fictional“ davor setzen müssen. Der Ausdruck „fictional narrative“ dient ihm
hier, um die zweiwertige Relation der Fotografie zur Wirklichkeit zu beschreiben:
Die Inszenierung der Fotografie wird dadurch bestimmt, dass sie einerseits in den
Kategorien der Betrachtererfahrung verfährt und von einer Schilderung (engl. „narra-
tion“) ausgeht, die mit den etablierten Kategorien von Raum und Zeit arbeitet, diese
jedoch durch ästhetische Strategien als Schein enlarvt.
„Like ordinary snapshots, they appear to be fragments: unlike those snapshots, their
fragmentation is not that of the natural continuum“, schreibt Douglas Crimp weiter
und macht deutlich, dass das Wortpaar „fictional narrative“ zwei komplementäre
Bereiche vereint: Die Arbeiten referieren im ersten Moment auf die Struktur realer
Zeitverhältnisse, um im zweiten Moment ihre Erfundenheit und Inszenierung anzu-
zeigen. Beide Autoren beschreiben also das gleiche Phänomen, die gleichen ästheti-
schen Kategorien und verdeutlichen, wie der ästhetische Mechanismus der Schilde-
rung funktioniert. Sie formulieren eine Ästhetik des Erscheinens, die sich aus dem
Wechselspiel von Wahrheit und Illusion, künstlerischem Werk und Abbild speist.
Für die Fotografie wie das Gemälde ist dabei Folgendes verbindlich: Sie sind selbst
nicht das, was sie darstellen.
Obwohl die Autoren fast 300 Jahre trennen, beschreiben sie einen ähnlichen Prozess
und bestimmen die Grundlagen der Kunst als ästhetischen Schein. Die Werke, die sie
charakterisieren, beziehen ihren Wert nicht aus der Lieferung wahrheitsgemäßer In-
formationen. Nicht die Übermittlung von Sachverhalten ist das Ziel, sondern die
Darstellung einer quasi realen Welt. An sie wird nicht der Anspruch gestellt, Daten
zu liefern, die sich mit den Kategorien „wahr“ oder „falsch“ beziehungsweise „Lü-
ge“ oder „Tatsachenbericht“ klassifizieren lassen. Hier werden Sonderstellungen
innerhalb der sonst geltenden Gesetze der Welt zugebilligt, die von den Werken zwar
zeitweise überschritten, aber nicht dauerhaft aufgehoben werden können. Ein Muse-
umsbesuch ist beispielsweise zeitlich begrenzt, und selbst wenn man seine Ersparnis-
se in „einen Wall“ investiert hat – die ästhetische Rezeption wird dadurch be-
411 Im Englischen bedeutet „Narration“ sowohl Schilderung von Sachverhalten, die auf Tatsachen beruhen wie künstlerische Fiktion.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
210
schränkt, dass man einet Tätigkeit nachgeht und die Welt in einem funktionalen
Vollzug erfährt.
Doch wie ist es möglich, dass man an dem Gefallen findet, dessen Wahrheit zweifel-
haft ist?412 Van Hoogstraten und Douglas Crimp, der erste Theoretiker der inszenier-
ten Fotografie, thematisieren den Urspung dieses Wohlgefallens: In den Kunstwer-
ken wird eine Wirklichkeit vorgeführt, deren Bezugsgrößen im Erscheinen liegen.413
Gerade, wenn die Werke der Kunst eine wahrscheinliche Gegenwart imaginieren,
deren Relationen im ersten Moment mit der Betrachtererfahrung korrespondieren,
wird ermöglicht, eine Wirklichkeit wahrzunehmen, die diese mögliche Gegenwart
zwar vor Augen führt, sich ihr gleichzeitig aber spielerisch entzieht. In diesem Spiel
wird die Aufmerksamkeit, die man dem ästhetisch Erscheinenden entgegenbringt,
zugleich zu einer Aufmerksamkeit für sich selbst, denn die ästhetische Wahrneh-
mung hält eine Bewusstseinsmöglichkeit bereit, ohne die der Betrachter ein weit ge-
ringeres Gespür für die Gegenwart des Lebens hätte. Dabei ist der ästhetische Blick
für den Betrachter frei verfügbar; er ist eine Spielart der Wirklichkeitsaneignung,
kulturell erworben und als Wahrnehmungsvollzug nicht von einem modernen Be-
wusstsein zu trennen.
Walls Fotografien und die Malerei der Holländer haben nicht nur die Gestaltung von
Raum und innerbildlicher Handlung gemeinsam, sondern auch den „ehrlichen Be-
trug“. Beide rufen damit auch eine ähnliche Betrachterhaltung hervor: Das Erstaunen
des österreichischen Kaisers angesichts der augentäuschenden Malerei von van
Hoogstraten findet sich in anderen Worten in unserer Gegenwart auch in der Rezep-
tion von Walls Werk:
„Er bearbeitet Themen, von denen jeder von uns zu wissen glaubt, worum es geht und doch werden wir durch die Art der Realisie-rung auf ein Terrain zurückgestoßen, das uns fremd ist (...), er
412 Die Geschichte der Kunst, genauer gesagt der Dichtung, hat gezeigt, dass erst durch ein Wissen um die Fiktion, Kunst als ein Drittes zwischen Wahrheit und Lüge anerkannt wird. Erst seitdem es einen Wahrheitsbegriff gibt, an dem sich aufzeigen lässt, ob die Aussagen abweichend oder überein-stimmend sind, lässt sich der fiktionale Charakter eines Kunstgegenstandes bestimmen. Heinz Schlaf-fer bestimmt den Beginn dieser Fragestellung in Platons Dialog „Ion“. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen – die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frank-furt/Main, 1990, S. 45f. 413 Die folgenden Ausführungen finden sich ausführlich in der Publikation von Martin Seel. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München 2000.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
211
suggeriert, das einfach nur aufgenommen zu haben, was da war.“414
So beschreibt im Jahr 2001 der Kunstkritiker Bernd Reiß die Wirkung, welche die
Werke von Wall auf ihn ausüben. Allein in dieser Fremdheit liegt die Qualität der
Gemälde und Fotografien – jenseits davon, sich in Begriffen ausdrücken zu lassen.
Walls Fotografien verlangen vom Betrachter eine aufmerksame Wahrnehmung. Sie
bleiben jedoch „in den Dingen unbestimmbar“ und werden dadurch zu einem Rätsel.
Ihre enigmatische Wirkung liegt darin begründet, dass sie sich nicht mit den Erfah-
rungswerten der Betrachter in Übereinstimmung bringen lassen. Im Gegensatz zum
Auktionator, der gerade Walls Fotografien taxiert, kann sich der ästhetische Blick
dieser Fremdheit hingeben und sie als Genuss empfinden.
Beide Künstler – sowohl van Hoogstraten wie Jeff Wall – sind „ehrliche Betrüger“ –
nur unter anderen Vorzeichen: Während van Hoogstraten seine „Bedriegertjes“ als
mimetische Nachahmungen mittels der malerischen Lasur vorstellt, benutzt Wall die
mimetischen Eigenschaften der Fotografie, um sie in die fiktionale Welt der Kunst-
werke zu überführen. Der eine lässt die Malerei als Dokument erscheinen, der andere
das Dokument als Malerei.
Diese Gemeinsamkeiten sollen nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen. Schließ-
lich hat Wall durch seine Arbeit einen Beitrag zur Kunstgeschichte in der Postmo-
derne geleistet und ist nicht ein Plagiator bereits entwickelter Lösungen. Während er
die Inszenierungstrategien und das Thema des Scheinhaften, in denen die Fotogra-
fien dargestellt sind, mit der Kunst der Holländer teilt, ist das Medium unterschied-
lich. Er arbeitet mit einer Kamera, also tatsächlich mit einer technischen Apparatur,
die in ihrer Entwicklungsgeschichte zum Reproduktionsmedium schlechthin gewor-
den ist. Ihre Kardinalkategorie ist im 20. Jahrhundert der Index, der als Spur, Berüh-
rung oder referentielle Kontinuität gesehen wird.
Der Index wird zur Signatur der Moderne, die durch Abdrucktechniken der Farbe
oder des Pinselstrichs künstlerische Authentizität propagiert und in der Fotografie
eine Technik vorfindet, die dem Anspruch Genüge tut, die verborgenen Strukturen
der Welt aufzudecken.
414 Reiß, Bernd: Die Konstruktion einer scheinbaren Wirklichkeit – Räume, Blicke, Paraphrasen, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures and Places, München 2001, S. 184 und S. 194.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
212
Mitte März 1916 schreibt Oskar Schlemmer in sein Feldtagebuch:
„Das haben die Franzosen, so wie sie uns in der Aviatik voraus waren, voraus erkannt und erfunden: Fliegeraufnahmen der Pho-tographie, die die Welt von oben in nie gesehener Art wiederge-ben, Felderflächen und Formen, dazu die immense photographi-sche Tonwirkung, das hat die Franzosen darauf gebracht, von der Welt des Sichtbaren wiederum die Kraft des Neuen und Unerhör-ten zu holen. Es ist das Phantastischste, Phantasie-Anregendste, was ich mir denken kann. Es ist vor allen Dingen in der Fläche, dem Ein und Alles der Malerei, die nun einmal diese als Mittel ih-res Ausdrucks nimmt.“415
Die Moderne sieht in der Fotografie die Möglichkeit, das vorher Unsichtbare aus der
Wirklicheit zu extrahieren. Die Strukturen der Welt bilden sich dabei gewissermaßen
selbst ab – in Farben und Formen. Dem setzt Wall das postmoderne Konzept der
Inszenierung entgegen.416 Im Gegensatz zur Avantgarde wird nun nicht mehr ver-
sucht, die Spur der Wirklichkeit freizusetzen, eine unsichtbare, möglicherweise geis-
tige Organisation der Welt freizusetzen, sondern das mimetische Abbild als eine
denkbare Möglichkeit zu imaginieren. „Ich habe in der Regel keine Idee, weil ich
nicht glaube, dass es einer Idee bedarf. Bei der Fotografie braucht man eben etwas
zum Fotografieren. Dies muss etwas Reales sein oder zumindest etwas denkbar Rea-
les, das sich der Kamera darbieten könnte...“417, bestimmt Wall seine Arbeit und
macht dabei deutlich, dass er sich auf den klassischen Topos der Mimesistheorie
bezieht. Der postmoderne Charakter seiner Arbeit wird dabei besonders deutlich,
wenn er sich von dem Diktum der Abstraktion avantgardistischer Kunst distanziert
und auf eine vormoderne Kategorie von Malerei verweist. Wall zitiert die Aristoteli-
sche Formel von der Möglichkeit der Handlung innerhalb eines Kunstwerks. Ein
künstlerisches Werk führt Handlungen vor, die zwar mit den Relationen der Betrach-
terwelt operieren, dabei aber keinen Wahrheitsgehalt beanspruchen. Sie sind mög-
415 Oskar Schlemmer in: Tut Schlemmer (Hrsg.): Briefe und Tagebücher, München 1985, S. 47. 416 Walls Gegenposition zu Avantgarde beschreibt er in einem Interview, in dem er sein Vorbild Edo-uard Manet und die „Malerei des modernen Lebens“ gegen die klassische Moderne ausspielt: „So scheint es mir, daß das allgemeine Programm der Malerei des Modernen Lebens (...) die bedeutendste evolutionäre Entwicklung in der westlichen modernen Kunst ist, und daß der Angriff der Avantgarde darauf um eben dieses Programm kreist, und zwar als eine Gegenposition, die kein neues allgemeines Programm ins Leben rufen kann.“, Jeff Wall in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): aaO., S. 189-243. 417 Jeff Wall im Gespräch mit Bernd Reiß. Reiß, Bernd: Die Konstruktion einer scheinbaren Wirk-lichkeit – Räume, Blicke, Paraphrasen, in: Lauters, Rolf (Hrsg.): Figures and Places, München 2001, S. 186.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
213
lich, wahrscheinlich, aber nicht mit dokumentarischer Sicherheit belegt.418 Mimesis
der Natur bedeutet nicht, dass Kunst die Natur kopiert und ihre Inhalte verdoppelt;
Aristotelische Mimesis bezieht sich auf die Darstellung von Möglichkeiten, die nicht
mit den Kategorien wahr/falsch zu fassen sind. Hatte die Fotografie bis in die 70er-
Jahre versucht, zu dokumentieren oder den abstrakten und gegenstandslosen Darstel-
lungsmöglichkeiten des Mediums nachzuspüren, beschreibt Wall eine Kunst, die sich
von diesen Strategien deutlich absetzt. Seine Fotografien gehören zu einer anderen
Gattung der bildenden Kunst und paraphrasieren die Möglichkeiten eines scheinba-
ren Wirklichkeitsillusionismus’, der im Dienst der Nachahmung steht und seit dem
18. Jahrhundert nicht mehr zu den Paradigmen der Malerei gehört. Er macht eine
vormoderne künstlerische Praxis fruchtbar und begründet damit eine Neuorientie-
rung innerhalb der Fotografie der Postmoderne.
Was in den Werken erscheint, ist die künstlerische Inszenierung; Jeff Wall zeigt an
der Kunst das Künstlerische. Man merkt den Werken an, dass sie eigens dafür herge-
stellt wurden, um die ästhetische Wahrnehmung des Betrachters zu wecken. Die
Kunst zeigt sich als Kunst und zwar nicht, indem sie die Mittel ihrer Herstellung
vorführt – das wäre eine indexikalische Strategie –, sondern, indem sie Mimesis be-
treibt, diese überbietet und gleichzeitig durch künstlerische Strategien aufhebt. Hier
umfasst die ästhetische Wahrnehmung beides: sowohl die spezifischen Eigenschaften
der Objekte wie ihren ästhetischen Vollzug. Das kalkulierte Täuschen und Enttäu-
schen steht am Anfang der autonomen Malerei, die sich von ihren kultischen Ver-
pflichtungen verabschiedet hat, und erscheint bei Wall in motivischer und techni-
scher Hinsicht. Er zeigt diese täuschende Strategie dem Betrachter noch durch ein
weiteres Merkmal der Arbeiten an: Die transparenten Fotografien sind Groß-Dias
und befinden sich vor Neonröhren, die in einem Kasten angebracht sind. Die Bilder
besitzen zwar ein eigenes Bildlicht, die Schilderung wird im Ausstellungsraum je-
doch nur durch das Leuchten der Röhren erkennbar. Wall paraphrasiert dabei den
ästhetischen Schein seiner Arbeit und macht deutlich, dass sie nur durch das buch-
stäbliche Erscheinen existieren. Der Bildkasten funktioniert dabei als ein Stück der
418 Aufschlussreiche Ergebnisse zur Aristotelischen Mimesis ergab die Kontroverse zwischen Günther Bien und Hans Blumenberg. Bien, Günther: Bemerkungen zur Genesis und ursprünglichen Funktion des Theorems von Kunst als Nachahmung der Natur, in: Bogawus - Zeitschrift für Literatur, Kunst, Philosophie, 2, 1964, S. 26-43. Blumenberg, Hans: Nachahmung der Natur - zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium generale,10, 1957, S. 266-283.
F. „DIE AUGEN BETRÜGEN“ – DIE ÄSTHETIK DER SCHILDERUNG
214
Wirklichkeit, das das visuelle Feld abgrenzt. Wie bei jedem Gemälde begründet hier
der Rahmen die Identität der Fiktion. Er zeigt den Beginn eines anderen Raums an
und gibt dem Betrachter den Hinweis, dass das Bild als Fiktion gelesen werden soll.
Wall potenziert dabei die Lichtsituation, wenn das bildimmanente Beleuchtungslicht
auf die „Selbstlichtigkeit“ der Röhren trifft und macht deutlich, dass seine Fotogra-
fien über den Transport von Informationen hinausgehen. Durch die Selbstlichtigkeit
wird klar, dass wir nicht vor einer Fotografie stehen, sondern vor der Darstellung
einer Fotografie als Kunstwerk.
G. SCHLUSSBETRACHTUNG
215
G. Schlussbetrachtung
Was zeichnet die Fotografien des kanadischen Künstlers Jeff Wall aus? Dieser Frage
wurde in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Walls Fotografien wurden
beschrieben, analysiert und eingeordnet. Es galt zu klären, inwieweit sich Walls
Arbeit „Picture for Women“ von der Gegenwartskunst der 60er- und 70er-Jahre
unterscheidet und wie diese Verschiedenheit für den Betrachter deutlich gemacht
wird. Nicht nur die monumentalen Maße, die Verwendung eines Diafilms und die
perfekte Pose der Schauspielerin führen in der Fotografie „Picture for Women“
Walls Strategie vor, sondern auch die Figuration und die Verwendung eines Spiegels.
Durch die Figuration, welche ein Manet-Gemälde paraphrasiert, löst sich Wall von
den Signalen indexikalischer Kunst. Die ikonische Referenz seiner Fotografien
beschwört ein Bild herauf, das durch eine Inszenierung arrangiert wird und einen
Medienwechsel erlebt. Durch den Spiegel setzt sich Wall als Autor ins Werk, fügt
eine metafiktionale Ebene ein und wendet sich gegen die indexikalische Fotokunst
der Concept Art. Kein Mediendiskurs bestimmt Walls Schaffen, sondern die Arbeit
am Tableau, an der gestalteten, abgeschlossenen Bildeinheit. Für diese Kunst wurde
das Attribut „fictional narrative“ verwendet. Es stammt aus einem Aufsatz des
Kunstkritikers Douglas Crimp, der 1979 die ersten arrangierten Fotografien in den
USA beschreibt.
Jeff Wall arbeitet mit den Konnotationen des etablierten Tafelbildes, das eine
kunsthistorische Betrachtung verlangt. Im Gegensatz zur performativen Kunst, zur
Objektkunst und Installation kehrt er zu einem konventionellen Format zurück, das
einen Vergleich mit der Malerei nahelegt. Durch „vergleichendes Sehen und
Beschreiben“ konnte die Malerei nördlich der Alpen als malereitheoretisches
Dispositiv herangezogen werden. Es hat sich herausgestellt, das Walls fotografische
Technik mit dem malerischen Blick der holländischen Künstler verwandt ist. Ebenso
wie die Maler setzt er Bildakzente, die den Betrachter auf eine spezielle Kondition
des Sehens verweisen: auf die Keplersche Form des Bildermachens.419
Die Funktion des Auges wird bei Kepler zum methodischen Paradigma, das sich in
der Kunstgeschichte, bei den Holländern, den Impressionisten und letztlich bei Jeff
419 Svetlana Alpers ist zu widersprechen, wenn sie die Keplersche Bildform als indexikalisches Zeichen benennt. Malerei kann nicht per se als Index kategorisiert werden. Walls Fiktionalisierung liegt darin, dass er Kategorien, die für die Malerei gelten, auf die Fotografie überträgt. Svetlana, Alpers: aaO., S. 107.
G. SCHLUSSBETRACHTUNG
216
Wall findet. Durch den Begriff des Aspektes wurde diese kalkulierte Bildgenese
nachgezeichnet und das Repertoire der Kunst, die sich dem Aspekthaften
verschrieben hat und durch eine spezielle Blickregie den Betrachter am
Bildgeschehen beteiligt, dargelegt. Es ist eine Blickorganisation, deren Aufgabe es
ist, den Betrachter weniger durch einen intellektuellen Nachvollzug zu bewegen, als
seine „Augenlust“ zu befriedigen.
Dieser Bildkomposition korrespondiert die Gestaltung von Handlung und räumlicher
Tiefe. Die Stilllegung der Handlung, die für die Szenerien im Werk von Wall
kennzeichnend sind, zeigen sich auch bei Vermeer – besonders in dessen Gemälde
„die Milchmagd“. Eine Dehnung von Momenten ist für diese Malerei und Fotografie
typisch und führt dazu, dass beide als Schilderung zu kategorisieren sind. Handlung
wird dabei nicht als Erzählung vorgeführt, sondern als Darstellung, die aus dem
genuinen Formenvokabular der Malerei entwickelt wird. Um die Unterschiede von
Schilderung und Erzählung deutlich zu konturieren, wurden drei Möglichkeiten der
bildnerischen Erzählung dargestellt. Das epische und das dramatische Erzählen
zeigen ebenso wie eine Kunst, die nach der Formel des fruchtbaren Moments
gestaltet ist, ein klar definiertes Davor und Danach innerhalb der Bildhandlung. Im
Gegensatz zu dieser Kunst sind die Darstellungsformen nördlich der Alpen nicht am
Text orientiert, sondern erhalten ihre Gesetze durch das Nebeneinander der
Darstellungen auf dem antiken Schild des Achill. Er begründet in Karel van Manders
Schilder-Boeck die Tradition der Malerei als Schilderung. Der Schildtopos findet
sich auch bei Van Eycks „van der Paele Altar“ und im Wappen der Gilden. Er
verweist auf die Organisation der Zünfte und offenbart eine weitere Parallele von
Fotografie und holländischer Malerei: Beide werden als Handwerk gewertet.
Anschließend wurde die Strategie der Stilllegung bei weiteren zeitgenössischen
Künstlern aufgezeigt. Ute Friederike Jürß sowie Theresa Hubbard und Alexander
Birchler setzen die Stilllegung ein, um das Video beziehungsweise die Fotografie als
Fiktion auszuweisen. Die Analyse ihrer Arbeiten schließt den Komplex der
Bildzeitlichkeit ab.
Die räumliche Gestaltung von Walls Fotografien zeichnet sich durch eine
guckkastenartige Wirkung aus. Die Protagonisten befinden sich in einem
abgeschlossenen Raum, der oftmals durch vertikale Verstrebungen geteilt wird. Die
Bildräume besitzen eine indifferente Wirkung, die durch den Rekurs auf die
holländische Lehre des Distanzpunktverfahrens erläutert werden konnte. Dabei ist
G. SCHLUSSBETRACHTUNG
217
das Gemälde nicht nach der Albertischen Fenstersicht ausgerichtet, sondern wird in
der Tiefenräumlichkeit durch einen innerbildlichen Augenpunkt organisiert. Zudem
ist die Darstellung durch ein sukzessives Erfassen der Szenerie gekennzeichnet.
Auch bei anderen zeitgenössischen Künstlern finden sich der Guckkastenraum oder
die synkopierende Blickrichtung. Lois Renner und Thomas Demand bauen Räume
als Miniaturmodelle nach und übertragen die Guckkastenansichten in Fotografien,
während Sam Taylor-Wood durch langgestreckte Arbeiten dem Betrachter ein
sukzessives Abschreiten der Fotografie abverlangt.
Es galt zu erklären, durch welchen ästhetischen Mechanismus Walls Fotografien
einen Reiz auf den Betrachter ausüben, denn Kunst mit Fotografie gab es bereits
durch die neu-sachliche Fotografie von August Sander, die Mehrfachbelichtungen
von Hans Richter und die Montagen von El Lissitzky und Alexander
Rodtschenko.420 Doch dort wurden entweder Gegenstände in einer surrealen
Komposition zusammengefügt oder als Versatzstücke der Wirklichkeit montiert. In
beiden Fällen wurde der Abbildcharakter der Fotografie konterkariert. Stattdessen
präsentiert Jeff Wall quasi reale Bildwelten, denen man nur auf den zweiten Blick
ansieht, dass ihr Realismus die Augen betrügt. Sie scheinen im ersten Moment eine
dokumentarische Aufnahme zu liefern, lösen aber dieses Versprechen durch die
Stilllegung der Handlung und den Guckkastenraum nicht ein. Ihre Ästhetik vollzieht
sich in einem Modus des „als ob“. Der Tableaucharakter, der durch die Rahmung
und die konventionelle Präsentation als „Tafelbild“ von Wall vor Augen geführt
wird, gewährleistet dabei eine „ästhetische Grenze“421, die anzeigt, was Bild ist und
was Nicht-Bild ist. Sie veranlasst den Betrachter nach Signalen der Fiktionalität in
den Fotografien zu suchen. Die „ästhetische Grenze“ oszilliert in den Fotografien
von Jeff Wall zwischen Dokumentation und Fiktion und hinterlässt dadurch eine
Fremdheit, die zugleich fasziniert und irritiert.
420 Der Ausstellungskatalog, der anlässlich des 50-jähigen Jubiläums der Werkbundausstellung „Film und Foto“ 1979 erschien, versammelt verschiedene Positionen der frühen Fotokunst. Steinorth, Karl: Internationale Ausstellung des Deutschen Werkbunds „Film und Foto“ – Stuttgart 1929, Stuttgart 1979. 421 Dazu: Michalski, Ernst: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, Berlin 1932, S. 145-214.
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Siegrist, Roland (Hrsg.): Echt und falsch – Die Wahrheit im Medienzeitalter, Mainz
2000.
White Cube (Hrsg.): Tom Hunter, Ostfildern-Ruit 2003.
Literatur zu Jeff Wall
Ausstellungskataloge
Vischer, Theodora / Naef, Heidi: Jeff Wall – Catalogue raisonné 1978-2004, Basel
2005
Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): Jeff Wall –
documenta 11 – Plattform 5, Ostfildern-Ruit 2002.
Goetz, Ingvild (Hrsg): Matthew Barney, Tony Oursler, Jeff Wall, Hamburg 1996.
Institute for contemporary Arts (Hrsg.): Jeff Wall – Transparencies, London 1984.
Krempel, Leon (Hrsg.): Camera elinga – Pieter Janssens begegnet Jeff Wall,
Framkfurt/Main 2002.
Kunsthalle Düsseldorf (Hrsg.): Jeff Wall – Restoration, Düsseldorf 1994.
Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Christian Boltanski, Neo Rauch, Luc Tuymans,
Jeff Wall, James Welling, Wolfsburg 2003.
Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Monumente der Malancholie – Noboyoshi Araki,
Jeff Wall, Wolfsburg 1998.
Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Jeff Wall – Landscapes and other Pictures,
Wolfsburg, 1996.
Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, Frankfurt/Main 2002.
LITERATURVERZEICHNIS
240
Musée d’art contemporain de Montréal (Hrsg.): Jeff Wall – Oeuvres 1990-1998,
Montreal 1999.
Museo nacional Centro de Arte Reina Sofia (Hrsg.): Jeff Wall, Madrid 1994.
Museum of Contemporary Art Los Angeles / Brogher, Kerry (Hrsg.): Jeff Wall, Los
Angeles 1997.
Museum für Gegenwartskunst Basel (Hrsg.): Jeff Wall – Fotografien des modernen
Lebens, Basel 1998.
Museum für Gegenwartskunst Basel (Hrsg.): Jeff Wall – Young Workers, Basel
1987.
Museum moderner Kunst Wien (Hrsg.): Jeff Wall – Photographs, Köln 2003.
Städtische Galerie im Lenbach-Haus (Hrsg.): Jeff Wall – Space and Vision,
München, 1996.
Hirshhorn Museum and Sculpture Garden / Smithsonian Institution (Hrsg.):
Directions 1981, Washington, D.C., 1981.
Zeitschriftenartikel / Aufsätze
Ammann, Jean-Christoph: Jeff Wall – Odradek, Taboritskà 8, Prag, in: Giessener
Beiträge zur Kunstgeschichte, 10, Dettelbach 1997, S. 332-342.
Ammann, Jean-Christoph: Jeff Wall, in: ders.: Bewegung im Kopf – vom Umgang
mit der Kunst, Regensburg 1993, S. 167-169.
Bonnet, Anne-Marie / Metzger, Rainer: Eine demokratische Kunst, eine bougeoise
Tradition der Kunst – ein Gespräch mit Jeff Wall von Anne-Marie Bonnet und
Rainer Metzger, in: Artis – Zeitschrift für neue Kunst, 2, Feb./März 1995, S. 46-51.
Bryson, Norman: Jeff Wall – enlightment boxes, in: Art/Text, 56, Februar/April
1997, S. 56-63.
Dickel, Hans: Im Licht der Bilder – der Platz des Betrachters im Werk von Jeff Wall,
in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Köln 1996,
S. 69-83.
Emslander, Fritz: Jeff Wall, in: Bilstein, Johannes / Winzen, Matthias (Hrsg.): Seele
– Konstruktionen des Innerlichen in der Kunst, Nürnberg 2004, S. 132-133.
Gardner, Belinda: Lakonie der Landschaft – ein Gespräch zwischen Belinda Gardner
und Jeff Wall, in: neue bildende Kunst, 4, August/September 1996, S. 34-43.
LITERATURVERZEICHNIS
241
Kuspit, Donald B.: Looking up at Jeff Wall’s modern Appasionamento, in: Artforum
International, 7, Vol.20, March 1982, S. 52-56.
Müller, Jürgen: Progressive Universalpoesie des Medienzeitalters, in: Texte zur
Kunst, 14, Juni 1994, S. 174-170.
Rollmann, Barbara: Kunst hat viel mit Würde zu tun – Interview zwischen Barbara
Rollmann und Jeff Wall in: Süddeutsche Zeitung, Nr.130, 10. Juni 1997, S. 16.
Schor, Gabriele: Der gefrorene Augenblick, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 267, 19.
April. 2003, S. 57.
Wagner, Anselm: Jeff Wall – Fotografie als "tableau vivant", in: Noema Art Journal,
42, August/September/Oktober 1996, S. 84-93.
Watson, Scott: Canada Dry – zweimal sechs Künstler aus Vancouver, in:
Wolkenkratzer Art Journal, 2, März/April 1988, S. 28-33.
Monographien/Interviews/Texte von Jeff Wall
Duve, Thierry de / Pelenc, Arielle / Groys, Boris (Hrsg.): Jeff Wall, London 1996.
Joly, Jean-Baptiste: Die Photographie in der zeitgenössischen Kunst, Stuttgart 1990.
Jeff Wall im Gespräch mit Boris Groys. „Die Fotografie und die Strategien der
Avantgarde„, in: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, Frankfurt/Main 2002, S.
138-141.
Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents, in: Jeff Wall – Transparencies, New York,
1987, S. 99.
Jeff Wall im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum International, 44,
1999, S. 230-245.
Wall, Jeff: Unity and Fragmentation in Manet, in: Parachute, 35, 1984, S. 5-7.
Wall, Jeff: Einheit und Fragmentierung bei Manet, in: Stemmrich, Gregor: Szenarien
im Bildraum der Wirklichkeit, Dresden 1997, S. 235-248.
Weitere Quellen:
Interview mit Jeff Wall im Rahmen der Fernsehreihe „contacts/kontaktabzüge„ –
Wall/Bustamente, ausgestrahlt in Arte Deutschland, 2000.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1, 3, 4, 13, 24, 32, 33, 43, 46, 47, 60, 61, 62: die Verfasserin. Abb. 2: Krauss, Rosalind: Das Fotografische – eine Theorie der Abstände, München 1998. Abb. 5, 6: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Werk, Berlin 2000.
Abb. 7, 15, 17, 19, 21, 27; 28, 34, 35, 37, 48, 49, 50, 59: Lauter, Rolf (Hrsg.): Figures & Places, München 2001
Abb. 9, 10: Loreck, Hanne: Cindy Sherman – Geschlechterfiguren und
Körpermodelle, München 2002.
Abb. 12: Jooss, Birgit: Lebende Bilder – zur körperlichen Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999. Abb. 14: Janus, Elisabeth (Hrsg.): Die Rache der Veronika – aktuelle Perspektiven der zeitgenössischen Fotografie, Zürich 1998. Abb. 15: Foucault, Michel: Velàzquez, Las Meninas – die Hoffräulein, in: [ohne Herausgeber]: Velàzquez – Las Meninas, Frankfurt/Main 1999. Abb. 16: Metzger, Rainer: Kunst in der Postmoderne – Dan Graham, Köln 1994.
Abb. 22, 23, 25, 39, 56, 57: Alpers, Svetlana: Kunst der Beschreibung – holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985. Abb. 36, 38, 41: Netta, Irene: Das Phänomen der Zeit bei Jan Vermeer van Delft – eine Analyse der innerbldlichen Zeitstrukturen seiner ein- und mehrfigurigen Interieurbilder, Hildesheim 1996. Abb. 40: Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.): Jeff Wall – Landscapes and other Pictures, Wolfsburg, 1996. Abb 42: Rosen, Valeska von: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in den Werken Tizians – Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Berlin 2001. Abb. 44, 45: Belting, Hans: Bild und Kult – eine Geschichte des Bildes vor der dem
Zeitalter der Kunst, München 1993.
Abb. 51, 52, 53, : Stoichita, Victor I.: Das selbstbewußte Bild – Beginn der
Metamalerei, München 1998.
Abb. 55: Schneede, Uwe M.: De wonderlijke Perspectifkas, in: Artis – Zeitschrift für
alte und neue Kunst, 7, 1966, S. 25-28.
Abb. 58: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?; München 1994.
Abb. 64: Hüttinger, Eduard (Hrsg.): Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur
Gegenwart, Zürich 1985.
Abb. 65: Brusati, Celeste: Artifice and Illusion – the Art and Writings of Samuel van
Hoogstraten, Chicago 1995.