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Ein zweiter (und längst überfälliger) Bericht aus Indien Unglaublich, wie die Zeit vergeht! Jetzt sind bereits acht Monate meines Freiwilligendienstes um und der zweite Zwischenbericht aus Indien ist seit zwei Monaten überfällig. Tut mir leid, aber hier passiert die ganze Zeit über einfach so unglaublich viel, dass ich kaum die Zeit finde, neue Blog-Einträge zu verfassen, geschweige denn einen umfangreicheren Bericht, der die vergangenen Monate einigermaßen strukturiert zusammenfassen soll. „Besser spät als nie“ ist also das Motto dieses zweiten Berichts – passt eigentlich sowieso ganz gut zur indischen Denk- und Lebensweise. Da der Countdown nun aber läuft (am 19. April waren es noch genau 100 Tage bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland) und die Zeit ja bekanntlich niemals still steht, mache ich mich nun doch nochmal an die Arbeit, bevor ich mich in den Sommerurlaub verabschiede. In Bezug auf meinen Alltag in der Gastfamilie hat sich eigentlich kaum etwas geändert, deshalb stehen dieses Mal vor allem die Entwicklungen im Projekt sowie ein Ausblick für meine verbleibende Zeit in Indien im Fokus dieses Berichts.

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Ein zweiter (und längst überfälliger) Bericht aus IndienUnglaublich, wie die Zeit vergeht! Jetzt sind bereits acht Monate meines Freiwilligendienstes um und der zweite Zwischenbericht aus Indien ist seit zwei Monaten überfällig. Tut mir leid, aber hier passiert die ganze Zeit über einfach so unglaublich viel, dass ich kaum die Zeit finde, neue Blog-Einträge zu verfassen, geschweige denn einen umfangreicheren Bericht, der die vergangenen Monate einigermaßen strukturiert zusammenfassen soll. „Besser spät als nie“ ist also das Motto dieses zweiten Berichts – passt eigentlich sowieso ganz gut zur indischen Denk- und Lebensweise. Da der Countdown nun aber läuft (am 19. April waren es noch genau 100 Tage bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland) und die Zeit ja bekanntlich niemals still steht, mache ich mich nun doch nochmal an die Arbeit, bevor ich mich in den Sommerurlaub verabschiede. In Bezug auf meinen Alltag in der Gastfamilie hat sich eigentlich kaum etwas geändert, deshalb stehen dieses Mal vor allem die Entwicklungen im Projekt sowie ein Ausblick für meine verbleibende Zeit in Indien im Fokus dieses Berichts.

Die Entwicklungen in der Kanchugodu Higher Primary School

Dass es zu Beginn des Freiwilligendienstes gar nicht so einfach war, sich in das Projekt und die damit verbundenen Aufgaben einzufinden, habe ich bereits im ersten Bericht erwähnt. Inzwischen kann ich aber zum Glück behaupten, dass ich die meisten meiner Schüler recht

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gut kenne, ihre Stärken und Schwächen einigermaßen einschätzen kann und mich mit den teilweise doch recht verwirrenden und nicht immer ganz einleuchtenden Strukturen des indischen Schulsystems vertraut gemacht habe. Dadurch gab es inzwischen auch erste, wenn auch noch so kleine Erfolge zu feiern. Nach wie vor lasse ich zu Beginn der jeweiligen Unterrichtsstunde einen Schüler oder eine Schülerin nach vorne kommen, um das Datum an die Tafel zu schreiben. Für viele der Schüler ist es daher inzwischen kein Problem mehr, mir den richtigen Wochentag und das entsprechende Datum zu nennen und während in manchen Klassen lieber keiner nach vorne kommen mag, wird in anderen sogar darum gestritten, wer heute an die Tafel schreiben darf. Auch bezogen auf die gesamte Unterrichtsstruktur gibt es nach den ersten doch recht chaotischen Monaten nun endlich mehr Ordnung; in den einzelnen Klassen habe ich jeweils Themenblöcke eingeführt, die wir dann über mehrere Wochen hinweg bearbeitet haben. Da im Dezember aufgrund des School Days nahezu der gesamte Unterricht ausfiel (s. erster Zwischenbericht bzw. entsprechender Blogeintrag), konnte ich mein ursprünglich für diesen Monat angesetztes Thema „Weihnachten“ nicht umsetzen. Den Unterricht hatte ich aber bereits vorbereitet und da ich es eine spannende Idee fand, dieses Thema mit meinen allesamt hinduistischen Schülern zu bearbeiten, verlegte ich die geplanten Stunden einfach in den Januar. Tatsächlich war ich dann mehr als überrascht, als meine Schüler bei einer ersten wilden Stichpunkt-Sammlung an der Tafel bereits einiges an Hintergrundwissen bewiesen (Mary, Joseph, Jesu, Weihnachtsbaum etc. waren für sie keine neuen Begriffe). In den darauffolgenden Stunden erarbeiteten wir – je nach Können und Leistung der einzelnen Klassen – Schritt für Schritt die

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biblische Weihnachtsgeschichte (die ich etwas vereinfacht ausdrucken und laminieren lassen hatte), die Geschichte von Rudolf, dem kleinen Rentier mit der roten Nase, sangen das dazugehörige Lied und malten Weihnachtsbilder aus.

Anfang Februar konnten wir dann in allen Klassen mit neuen Themenblöcken beginnen. In der 4. und 5. Klasse versuchte ich, den Schülern das Lesen der Uhr beizubringen – durch ein paar einfache Vokabeln (Zeit, Uhr, Stunde, Minute, Sekunde, großer Zeiger, kleiner Zeiger), Ablese-Übungen an der Tafel, das Basteln von eigenen Uhren aus bunter Pappe und zum Abschluss dem Spiel „race against time“ (Rennen gegen die Zeit). Dabei würfelten die Kinder ihre Spielfiguren über ein selbstgemaltes Spielfeld, das mit vielen kleinen Uhren versehen war und mussten dann die richtige Zeit des entsprechenden Uhrenfeldes ablesen. Gaben sie die richtige Antwort, durften sie auf ihrem Feld bleiben; lagen sie falsch, mussten sie zwei Felder zurückgehen. Um das Ganze noch etwas unterhaltsamer und abwechslungsreicher zu gestalten, führte ich außerdem noch Sonderfelder ein, bei deren Betreten der betreffende Schüler eine Spezialaufgabe lösen musste (z.B. eine Runde über den Schulhof rennen, ein Lied vorsingen, ein Tier an die Tafel malen oder tanzen). Einige Kinder haben das Lesen der Uhr erstaunlich schnell begriffen; leider gab es aber auch bis zum Ende immer noch Schüler, die einfach wild drauf los rieten, weil sie nicht ganz verstanden hatten, worum es überhaupt ging. Da ich die Sechst- und Siebtklässler für das Thema etwas zu alt fand und es in den beiden größten Klassen sowieso deutlich schwieriger ist, auf die einzelnen Schüler einzugehen, beschäftigten wir uns hier mit anderen Schwerpunkten. In der 6. Klasse ging es in der

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Einführung um Natur ganz allgemein; in den darauffolgenden Stunden dann um Tiere inner- und außerhalb Indiens. Dafür ließ ich sie zunächst ein Team-Spiel spielen (Welche Gruppe kennt die meisten Tiere?), danach erarbeiteten wir durch das Lesen kurzer Texte ein Poster zu Tieren in Indien und mit der Hilfe von kleinen Steckbriefen und dem Zuordnen von dementsprechenden Bildern ein Plakat zu Tieren, die nicht in Indien leben. Eigentlich wollte ich das Thema danach noch etwas vertiefen und in Richtung Tier- und Umweltschutz überleiten – allerdings musste ich vorher bereits feststellen, dass einige Schüler absolut überfordert waren (einen Text hören und auswendig lernen fällt den meisten leicht; selber zu lesen und auch noch zu verstehen ist allerdings für viele ein großes Problem) und so ließ ich das Thema mit einer kreativen Aufgabe (Tiere malen) ausklingen. Und noch einen kleinen Erfolg gab es in der 6. Klasse zu feiern: In den vergangenen Monaten hatte ich nämlich oft Probleme, die Schüler unter Kontrolle zu halten. Das mag unter anderem daran liegen, dass ich die Klasse stets am Nachmittag in der letzten Stunde unterrichte und es vielen Schülern zu dieser Zeit verständlicherweise recht schwer fällt, sich noch ernsthaft auf den Unterricht zu konzentrieren. Außerdem strahle ich für sie natürlich nicht die gleiche Autorität aus wie die Lehrer (unter anderem deshalb, weil ich die Kinder nicht schlage) und vor allem einige von den Jungs nutzten dieses Wissen ständig aus, um zu quatschen, herumzuschreien, wild durch die Gegend zu rennen oder kleinere Schlägereien anzuzetteln. Da geduldiges Warten, gutes Zureden, laut werden, aus der Klasse gehen oder mit dem Lehrer drohen auf Dauer keine Wirkung zeigten, entschied ich, die Chaoten da zu packen, wo es ihnen am meisten wehtut: Bei den Sportspielen, für die ich mit jeder Klasse einmal in der Woche auf den Schulhof gehe.

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Da es in Kanchugodu keinen im Stundenplan verankerten Sportunterricht gibt, freuen sich die Schüler in der Regel wie verrückt, wenn ich sie zum King’s Ball (Völkerball), Fireball (Feuerball) oder Zombie Ball (jeder gegen jeden) abhole. Inzwischen führe ich also jede Stunde eine Liste an der Tafel. Wer bis zum Ende der Woche hinter seinem Namen drei Striche gesammelt hat (jeder Strich entspricht einer Störung im Unterricht), darf beim nächsten Sportspiel nicht mitmachen und muss stattdessen im Klassenzimmer bleiben. Ich glaube, zunächst nahmen die Schüler diese Drohung nicht ganz erst, als dann aber nach gerade mal zwei Wochen nach Einführung der neuen Regel gleich fünf Schüler auf der Liste standen und ich sie trotz ihrer Entschuldigungsversuche und Bitten nicht mitspielen ließ, verstanden sie doch ziemlich schnell, dass es mir wirklich ernst war. Seitdem ist die Namensliste ein gutes, aber harmloses Druckmittel, um im Unterricht Ruhe zu garantieren (wobei Ruhe in einem indischen Klassenzimmer immer noch anders definiert werden muss als in einem deutschen). Bleibt noch das Thema der 7. Klasse zu erwähnen. Da selbst die ältesten Schüler es aus ihrem eigenen Englischunterricht nicht gewöhnt sind, längere eigene Texte zu verfassen, wollte ich ihnen unbedingt eine kreative Schreibaufgabe stellen und entschied mich für einen Geschichtswettbewerb. Zu Beginn ließ ich also per Losverfahren einzelne Teams bilden und verteilte dann jeweils eine Hand voll kleine Zettel mit einzelnen Begriffen. Aus diesen Begriffen (z.B. Baum, Elefant, Apfel, Bus etc.) mussten sie dann innerhalb von zwei Unterrichtsstunden eine kleine Geschichte schreiben und ich muss sagen – von den Ergebnissen war ich wirklich begeistert, einige Texte (so wie die Liebesgeschichte vom Tiger und dem Vogel) brachten mich wirklich zum Schmunzeln! Leider hatte ich beim Korrigieren

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allerdings festgestellt, dass in vielen Gruppen noch elementare Fehler auftraten, beispielsweise beim Gebrauch der richtigen Zeitformen. Also ließ ich die Klasse als nächstes in Kleingruppen zwei Stationenläufe mit Wiederholungsaufgaben zu den verschiedenen Zeiten bearbeiten, wobei ich mich auf Präsens (Gegenwartszeit) und Perfekt (Vergangenheitszeit) beschränkte, um nicht noch mehr unnötige Verwirrung zu stiften. Die Ergebnisse wertete ich durch ein Punktesystem aus und verteilte anschließend kleine Preise an die Gewinner. Im Anschluss wiederholten wir noch kurz den Gebrauch von Adjektiven und Konjunktionen, bevor ich die endgültigen Teams auswürfeln ließ und den Schülern über eineinhalb Wochen hinweg immer mal wieder etwas Zeit gab, an ihren Geschichten zu arbeiten. Diesmal waren die vorgegebenen Begriffe allerdings etwas komplexer und ich verlangte einen mindestens zweiseitigen Text von den jeweiligen Gruppen. Keine Ahnung, ob ich den Schülern damit vielleicht etwas zu viel Zeit zur Verfügung stellte, ob sie von der Grammatikwiederholung geplättet waren, zwei Seiten Text einfach zu viel waren oder sie schon an das Schuljahresende dachten – jedenfalls waren nicht alle Ergebnisse so richtig kreativ gelöst und es traten nach wie vor viele Grammatik- und Rechtschreibfehler auf. Ein Großteil der Schüler gab sich allerdings wirklich Mühe und vor allem die Teams auf dem ersten und zweiten Platz haben ganz tolle Leistungen vollbracht. Natürlich blieb auch dieser Wettbewerb nicht ohne Siegerehrung und so gab es für die Gewinner nicht nur Süßigkeiten, sondern auch einen guten Schreibstift (normalerweise benutzen die Kinder hier Bleistifte oder einfache Tintenroller, da ist ein dickerer Stift mit Kappe schon etwas ganz besonderes). Dass ich den Unterricht in der 6. und 7. Klasse so oft in Wettbewerbe oder Mannschaftsspiele verpacke, hat übrigens einen Grund: Die beiden Klassen sind einfach zu groß und es gibt einzelne Schüler mit viel zu großen Defiziten, als

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dass ich im gewöhnlichen Unterrichtsmodell auf jeden einzelnen eingehen könnte. Dadurch, dass ich die Klasse in Teams aufteile, haben die schwächeren Schüler eine bessere Chance, von ihren Mitschülern zu lernen; gleichzeitig ist auch die Motivation der stärkeren Schüler höher, denn sie können Verantwortung für ihr Team übernehmen und wollen natürlich gewinnen. Manchmal geht dieses System zwar nicht ganz auf, zum Beispiel wenn (selbst beim Auslosen) mal wieder über die Mannschaftszugehörigkeit diskutiert wird oder ganze Teams keine Lust auf die gestellte Aufgabe haben, aber in der Regel funktioniert es so doch recht gut. Natürlich bombardiere ich meine Kids aber nicht jeden Tag mit durchgeplantem Unterricht. Wie bereits erwähnt gehe ich mit den meisten Klassen an einem festgesetzten Tag in der Woche auf den Schulhof, um sie bei diversen Ballspielen ein bisschen auszupowern; außerdem veranstalten wir auch innerhalb der Klassenzimmer häufig kleinere Spiele (Topfschlagen ist der neue Hit!) oder ich bringe einfach mal ein paar Buntstifte zum Malen mit.Was ist sonst noch passiert in der Kanchugodu School? Ach ja, wir hatten im Dezember unseren großen School Day (über den gibt es aber schon einen eigen Blogeintrag, deshalb werde ich hier nicht noch einmal weiter darauf eingehen), außerdem gab es zwischenzeitlich einen neuen Schulleiter – der war allerdings nur knappe drei Monate bei uns und ist inzwischen auch schon wieder eine ganze Weile fort. Besuch von Tanja, meiner Vorgängerin im Projekt, hatte ich ebenfalls, aber auch darüber gibt es bereits einen eigenen Bericht. Ende März begannen dann die großen Schuljahres-Abschlussexamen für die 4. bis 7. Klasse und die darauffolgenden zwei Wochen waren für mich doch recht anstrengend, denn da meine Kolleginnen im Lehrerzimmer mit Korrekturen und Papierkram (oder Zeitunglesen) beschäftigt waren, „durfte“ ich mich (fast) ganz alleine um die gesamte Schülerschaft

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kümmern. An Unterricht war dadurch natürlich nicht mehr zu denken und so verbrachte ich ganze Tage mit den jeweiligen Klassen beim Ballspielen auf dem Schulhof (was bei 40°C ohne Schatten schon mal ziemlich anstrengend werden kann), bekam dank Prashanth (6. Klasse) wieder Lust am Schachspiel (was zu ausgedehnten Partien im Klassenzimmer führte) oder brachte ein paar Kindern Memory bei. Am 10. April hieß es dann erstmal Abschied nehmen – von den meisten Schülern nur bis nach den Sommerferien (am 2. Juni wird der Unterricht wieder aufgenommen), von den Siebtklässlern aber leider endgültig, denn sie werden nach den Ferien auf die High School wechseln. Der Abschied ist mir gar nicht so leicht gefallen, aber ich hoffe ganz einfach, dass ich ein paar von ihnen nochmal wiedersehe, wenn ich die nächsten Male durchs Dorf spaziere.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit

Wenn nach den Sommerferien am 2. Juni erstmals wieder die Türen der Kanchugodu Higher Primary School geöffnet werden, bleiben mir nur noch knappe sechs Wochen im Projekt, bevor es zum Abschlussseminar nach Bangalore und von dort aus am 28. Juli früh morgens wieder zurück in Richtung Deutschland geht. Sechs Wochen sind wirklich keine lange Zeit, vor allem wenn man bedenkt, dass in Indien eigentlich ständig irgendwelche Feiertage, Wettbewerbe oder Veranstaltungen dazwischenkommen, die den „Alltag“ in der Schule ganz schön durcheinanderwerfen. Ich möchte mir also nicht zu viel vornehmen für die verbleibende Zeit und so gibt es nur noch ein Thema, dass ich in allen Klassen noch bearbeiten möchte: Deutschland.

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Tatsächlich ist es bei vielen Schülern nämlich so, dass ihr persönlicher Horizont kaum über das eigene Dorf hinausreicht. Bei einem kleinen Quiz in der 6. Klasse musste ich beispielsweise kurz vor den Ferien erschrocken feststellen, dass ein Großteil nicht einmal wusste, was die Hauptstadt von Indien ist (nein, Kundapur oder Bangalore sind es nicht!). Gleichzeitig werde ich aber immer wieder geradezu bombardiert mit Fragen von interessierten Schülern: Ob Deutschland ein reiches Land ist, ob man dort auch mit Rupien bezahlt, ob bei uns Bananen, Ananas und Cashew-Nuss wachsen, ob ich noch bei meinen Eltern wohne, ob wir ein Auto haben, ob alle Deutschen weiße Haut haben, wie es da überhaupt aussieht wo ich herkomme und und und…Um ihnen also einen kleinen Einblick in die Welt außerhalb ihres unmittelbaren Umfelds zu ermöglichen, das interkulturelle Verständnis füreinander zu fördern und ihnen – nachdem sie mir in den vergangenen Monaten so bereitwillig geholfen haben, ihr Land kennenzulernen und besser zu verstehen – nun ein wenig von meiner Heimat zu vermitteln, halte ich das Thema zum Abschluss meines Freiwilligendienstes für durchaus passend. Was genau ich mir dafür vorgenommen habe und inwiefern sich diese Dinge im Unterricht umsetzen ließen, dazu gibt es dann im dritten Zwischenbericht (hoffentlich im Juli) mehr! Was ich in den letzten Wochen außerdem weiter fortsetzen möchte, sind unsere ausgelassenen Sporteskapaden auf dem Schulhof – wobei wir die eventuell aufgrund der Regenzeit minimieren oder sogar ganz in die Klassenräume verlagern werden müssen – und die Einzelstunden mit Rohith. Der Viertklässler ist mir schon ganz am Anfang aufgrund seiner großen Lese- und Schreibschwächen im Unterricht aufgefallen und nachdem ich lange keine Idee hatte, wie ich ihm – und am besten noch all den anderen, die ähnliche Probleme haben – helfen könnte, habe ich vier Wochen vor den Ferien damit begonnen, ihm in den Freistunden Einzel-Nachhilfe zu geben. Ich war mir lange

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nicht sicher, ob es nicht unfair wäre, nur einem einzelnen Schüler zu helfen, aber würde ich mir eine größere Gruppe zusammenstellen, könnte ich wieder nicht jedem einzelnen gerecht. Lieber versuche ich also, einem Schüler ein bisschen zu helfen, als gar keinem. Obwohl Rohith an manchen Tagen ziemliche Konzentrationsschwierigkeiten zu haben scheint, ich ihn mir nicht jeden Tag an die Seite nehmen konnte und wir quasi bei Null anfangen mussten – mit dem englischen ABC –gab es bereits erste kleine Fortschritte: Inzwischen kann er nicht nur das ABC (fast) vollständig und korrekt aufsagen, sondern auch endlich seinen eigenen Namen ohne fremde Hilfe schreiben und (mit etwas Hilfe und ganz langsamem Buchstabieren) auch einfache Wörter fehlerfrei schreiben (Hund, Katze, Kopf, Hand, Ball usw.). Ich weiß das klingt irgendwie banal, vor allem für einen Viertklässler, und ich weiß nicht, ob er diese Dinge bis nach den Ferien im Kopf behält, aber jeder noch so mühsam aufs Papier geschmierte Buchstabe ist doch irgendwie auch ein weiterer Schritt zum Erfolg!Auch darauf, wie es nach den Ferien an der Kanchugodu School weitergeht, bin ich gespannt, denn die Gesamtsituation sieht gerade nicht besonders rosig aus: Bis jetzt gab es hier sechs Lehrer (mich ausgeschlossen). Da die zwei privat angestellten (also nicht von der Regierung bezahlten) jungen Lehrerinnen allerdings seit über sechs Monaten abgesehen von einer kurzen Zwischenzahlung kein Gehalt bekommen haben, werden sie nach den Ferien voraussichtlich nicht weiter bei uns unterrichten, sondern sich nach neuen Jobs umsehen. Damit würde das Kollegium nicht nur auf vier Lehrkörper herabschrumpfen, sondern es gäbe auch keine Lehrerin mehr, die mit dem einzigen noch funktionierenden Computer (ursprünglich waren es drei) umgehen kann (der zwar seit meiner Ankunft und wahrscheinlich auch schon lange vorher nicht mehr für den Computer-Unterricht, sondern

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nur noch – aber immerhin – zum Ausdrucken der Examensblätter etc. genutzt wurde). Noch ist es zwar nicht sicher, ob dieser Zustand wirklich eintritt, wahrscheinlich wird es aber darauf hinauslaufen.

Gastfamilie

Es stimmt zwar, in Bezug auf meinen Alltag in der Gastfamilie hat sich seit dem letzten Bericht eigentlich kaum etwas verändert, aber um ein paar Sätze komme ich auch hier nicht ganz drum herum. Soweit ich es beurteilen kann, hat sich unser Verhältnis zueinander in den vergangenen Monaten um einiges weiterentwickelt und meine Gastmutti hat mir vor kurzem mit einem breiten Grinsen im Gesicht erzählt, wie schön sie es findet, dass wir uns so nahe stehen. Es besteht zwar weiterhin eine recht große Sprachbarriere zwischen uns (da hilft es mir auch nicht, dass ich inzwischen die Regionalsprache Kannada lesen und schreiben kann), aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, mich in wenigen Worten mit amma und appa (typische Anrede für Gastmutter und –vater) zu verständigen oder einfach über Gesten miteinander zu kommunizieren. Richtig tiefergehende Gespräche können wir zwar leider nicht führen (dazu reicht ihr Englisch und mein Kannada nicht), aber wenn Alice mir ihren Kopf mit einem breiten Grinsen im Gesicht entgegenstreckt oder George wiedermal alle bei Laune hält (mein Gastvater hat einen wirklich tollen Humor), weiß ich, dass ich hier genau richtig bin und um nichts auf der Welt in einer anderen Gastfamilie sein möchte. Tatsächlich komme ich mir manchmal fast schon wie ein Familienmitglied vor, was sicherlich auch daran liegt, dass ich inzwischen bei einigen

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Familienfesten dabei sein durfte; unter anderem bei den Geburtstagen meiner Gasteltern und von Sajour (dem vierjährigen Sohn unserer Köchin), an Weihnachten oder erst vor wenigen Tagen bei einer Erstkommunion im Verwandtenkreis.Unser Verhältnis hat sich also wirklich zu einer sehr innigen Beziehung entwickelt und es macht mich jetzt schon ganz traurig, wenn ich an den Abschied voneinander denke. Deshalb schiebe ich diesen Gedanken jetzt auch erstmal beiseite und konzentriere mich stattdessen darauf, die verbleibende Zeit in Indien noch einmal so richtig auszukosten. Also dann, bis zum nächsten Mal!