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  • Domenico Losurdo: Stalin. Geschichteeiner schwarzen Legende

    Rezension

    Helmut Dunkhase

    Oktober 2012

    An Stalin scheiden sich nach wie vor die Geister. Fr traditionelle Antikommunistenist er das blutrnstige Monster, Hitlers Zwilling; fr manche linken Marxisten gilter zumindest als Verrter an der guten sozialistischen Sache, der aus der Geschichtedes Bolschewismus verbannt gehrt.Vor 60 Jahren sah die Welt ganz anders aus. Als Stalin starb, trauerten Menschen

    auf der ganzen Erde aufrichtig, Staatsmnner fast jeder politischen Couleur versagtenihm nicht Bewunderung, Achtung oder Anerkennung. Was war in der Zwischenzeitpassiert?

    Wendepunkt: Chruschtschows GeheimredeEs war zum einen der Kalte Krieg, der sich tief in die Kpfe der Menschen eingrub undselbst eine entschieden antifaschistische Denkerin wie Hannah Arendt, die die Liqui-dierung des Antisemitismus und 1945 noch Stalins vorbildliche Nationalittenpolitikgelobt hatte (269), schon 1951 zur Gleichstellung der Sowjetunion mit dem Hitlerfa-schismus verleitete und danach sogar Stalin eine absichtliche Zersetzung der Natio-nalitten unterstellte. Zum andern stellte Chruschtschows Geheimrede die Weichenfr die Verteufelung. Viele Anhnger der Sowjetunion erlagen der von ihr erzeugtenStimmung, als Naive oder Dummkpfe dazustehen (347). Er brachte auch einen IsaacDeutscher, der bis 1953 respektvoll und teilweise bewundernd ber Stalin geschriebenhatte, dazu, in Stalin das degenerierte Monster zu sehen (20-21) (eine Einschtzung,ber die er 10 Jahre spter allerdings wieder ins Grbeln kam).Die Auseinandersetzung mit der Geheimrede durchzieht das gesamte Buch. Schon

    von ihrer Methodik her, als banale Sndenbocktheorie, verfehlt sie die Aufgabe einerserisen Geschichtsaufarbeitung. In welchen Kategorien sollten wir aber an die Stalin-Frage herangehen?Zunchst geht es darum, den historischen Rahmen zu bestimmen, der das Verste-

    hen der Stalinschen Herrschaft berhaupt erst ermglicht. Sind sich viele Historiker,

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  • sogar bis in den Kreis der Autoren des Schwarzbuch des Kommunismus hinein, dar-in einig, dass die Stalinzeit nicht ohne den Ersten Weltkrieg, die Revolutionen von1917 und den Brgerkrieg zu verstehen ist (154), so insistiert Losurdo darauf, diegesamte Periode vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg (das, was er den ZweitenDreiigjhrigen Krieg nennt) in Betracht zu ziehen; denn schon nach dem Versail-ler Vertrag war fr die meisten Kontrahenten der nchste Krieg nur eine Frage derZeit. Ferner bedient sich Losurdo einer Methode, die wir schon aus anderen Bchernvon ihm kennen, der Komparatistik. Er konfrontiert die der Sowjetunion vorgehalte-nen Sndenflle mit vergleichbaren Handlungen der westlichen Welt bzw. vergleichtChruschtschows Behauptungen mit den Urteilen von brgerlichen Staatsmnnern oderantikommunistischen oder anti- stalinistischen Historikern. Die Behauptungen ausder Geheimrede ber Stalins Verhalten im Groen Vaterlndischen Krieg (mangeln-de Kriegsvorbereitung, Apathie nach dem Angriff, Planung auf einem Globus, u. a.),ber den Personenkult, Mord an Kirow, usw. erscheinen darin vllig unglaubwrdig.Mehr noch: Losurdo zitiert Historiker und Militrstrategen, die die von Arnold JosephToynbee aufgestellte These, dass der von Stalin verfolgte Weg 1928-1941 Stalingradmglich gemacht habe, besttigen (328f). Am Ende erscheint sie, mitsamt der Art undWeise ihrer Prsentation, als eines der grten Schurkenstcke in der kommunistischenBewegung. Es gebe inzwischen kein Detail, das nicht beanstandet wurde (353).

    Der Dreiigjhrige Krieg

    Losurdos Terminus Dreiigjhriger Krieg lenkt unseren Blick darauf, in welchemAusma die Ereignisse, die uns bis heute so bewegen, von der Kriegsfrage abhingen.Stalin war schon vorm Oktober 1917 bewusst, dass Russland in der damaligen

    Kriegskonstellation die Verwandlung in eine Kolonie Englands, Amerikas und Frank-reichs drohte (Stalin, 59). Der Kampf gegen Kolonialisierung und Versklavung bliebein Leitgedanke bis hin zum Groen Vaterlndischen Krieg, bildete einen wesentlichenMeilenstein in der Klarstellung der sowjetischen militrischen Strategie und ihrer po-litischen Ziele und spielte eine wichtige Rolle fr die Strkung der Volksmoral (27).Erfolgreich konnte aber dieser Kampf, so Stalins Gedanke, nur sein, wenn er auch alsKampf um die nationale Unabhngigkeit begriffen wird.

    Das Problem des abstrakten Universalismus

    Mit der Frage der Nation berhren wir den Bestandteil eines Komplexes, der derSowjetmacht zumindest bis zum Vorabend des groen Krieges zu schaffen machte undder wesentlich fr das Verstndnis der sich zuspitzenden Situation samt Terror undVerbrechen ist. Losurdo nennt ihn einen abstrakten Universalismus. Was die Frageder Nation betrifft, brachte Trotzki als frisch gebackener Volkskommissar fr uereAngelegenheiten die Vorstellung sicherlich der meisten Bolschewiken auf den Punkt:Ich werde ein paar revolutionre Appelle an die Vlker der Welt richten und dannden Laden schlieen. (57)Die Bolschewiken mussten mhsam lernen, dass einem solchen Universalismus die

    konkrete Wirklichkeit doch erheblich im Wege steht, und das hatte Folgen.

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  • Fr Losurdo ist Hegels Analyse der Franzsischen Revolution (in der Phnomeno-logie des Geistes) eine vorgezogene Widerlegung der Sndenbocktheorie in Chruscht-schows Geheimrede (147-8), denn auch in der Jakobinerherrschaft haben wir es miteinem Universalismus, der Wirklichkeit des Ganzen zu tun, das auf seine Vermittlungmit dem Besonderen keine Rcksicht nimmt und mit einem Messianismus einhergeht,der in der Anerkennung von Schranken, die durch das Besondere gesetzt sind, berallVerrat sieht und zu den entsprechenden Auseinandersetzungen fhrt. Losurdo fhrtdiese Gemeinsamkeit der Linie 1789 - 1917 auf die Tatsache zurck, dass in diesen bei-den Revolutionen erstmals gueux plumes (Bettler der Schreibfeder), d. h. Intellektuelleohne Eigentum (129), die zudem der bestehenden Ordnung fremd und fern gegenber-stehen (140) und deshalb ohne solide politische Erfahrung sind, an die Macht kamen,was einerseits die Radikalitt befrderte (wenn wir im Vergleich dazu an die Sklavenhaltenden ersten Prsidenten der Vereinigten Staaten denken), aber eben auch die Ab-straktheit in ihren Forderungen - zumal in den Fragen des Eigentums. Das Dekret berden Boden, das die Bauern nun zum energischsten Verteidiger des neu geschaffenenGrundeigentums gemacht hatte (Kautsky, 131), und die NEP, die die Wirtschaft ineinen Staatskapitalismus (Lenin) zurckverwandelte, riefen die schrfsten Vorwrfedes Verrats hervor, die aus einer messianischen Vision der knftigen Gesellschaft her-aus einen Abgrund zwischen der Schnheit des echten Sozialismus und Kommunismusund der hoffnungslosen Mittelmigkeit der Gegenwart entdeckten (133).Der Lernprozess der Bolschewiki, den Idealen der Allgemeinheit, die die Revolution

    geleitet hatten, einen konkreten Inhalt zu verleihen (149) begann weder mit Stalinnoch hrte er mit Stalin auf. Das dauerte mal krzer, mal lnger. Ziemlich schnellging es zum Beispiel bei der Auflsung der Familie: Den Egoismus und engen Blickder brgerlichen Familie vor Augen, forderte Kollontai von den Kommunisten so etwaswie die Entwicklung allgemeiner Verantwortung und forderte die berwindung vonMein und dein auch im Hinblick auf die Kinder und den direkten bergang zumUnser. Hier war es Trotzki, der auf die Notwendigkeit einer besonderen Verantwor-tung der Eltern fr ihre Kinder hinwies (74). Die sofortige Auflsung der Familienwurde von der Tagesordnung abgesetzt. Doch in der Frage der Nation wurde die Ein-heit von Allgemeinem und Besonderen lange vernachlssigt. Seit der Grndung derIII. Internationalen galt, das weltweite Proletariat habe die allgemeine Emanzipati-on der Menschheit zu realisieren - ohne sich von sogenannten nationalen Interessenablenken zu lassen. Es dauerte bis zum VII. Weltkongress 1935, dass ein nationalerNihilismus verworfen wurde.Ein Problem, das zu Lebzeiten Stalins nie wirklich bewltigt wurde, war die Staats-

    frage. Lenin setzte sich in Staat und Revolution am Vorabend der Oktoberrevolutionmit den Erwartungen von Marx und Engels ber den absterbenden Staat auseinander,wonach nach Aufhebung der Klassen, wenn die Ausbeuterklasse vollstndig entmach-tet ist, das Absterben des Staates beginnt. Lenin erwartete beim Ingangsetzen derkommunistischen Gesellschaft eine Reduktion des Staates auf eine rein administrativeFunktion (Lenin, 487-8). Allerdings hielt er auch in der proletarischen Demokratie Ver-tretungskrperschaften fr unumgnglich (Lenin, 436-7). 1923 sprach er aber bereitsber Verbesserung unseres Staatsapparats, Staatsaufbau, usw. (77), was bereits ei-ne Polemik ber den Verrat an den ursprnglichen Ideen in Gang setzte. Auch bei Sta-

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  • lin gab es, als er, um 1925 herum, die Wiederbelebung der Sowjets in ihrer Funktion derHeranziehung der Massen zur Verwaltung des Staates und das Auseinanderhalten vonPartei und Staat propagierte, eine Phase, in der er das Absterben des Staates erwarte-te(157f). All dies hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich eine Staatsrechtstheorie inder Sowjetunion kaum entwickeln konnte. Stalin kommt nach Losurdo aber immerhindas Verdienst zu, sich von der These vom absterbenden Staat vorsichtig (er lenkte denBlick dabei auf die wirtschaftlich-organisatorische und kulturell-erzieherische Arbeit)zu verabschieden.

    Die drei Brgerkriege

    Doch bereits das allererste Dekret der Sowjetmacht, das Dekret ber den Frieden,brachte heftigste innere Auseinandersetzungen mit sich. Beide Seiten hatten plausibleArgumente fr die Annahme bzw. Nichtannahme des Vertrages von Brest-Litowsk.Lenin hatte mit seinem Pldoyer fr die Annahme eigentlich keine Mehrheit im Zen-tralkomitee, doch Bucharin als Hauptkontrahent zgerte, Lenin abzusetzen, weil ersich nicht als geeigneten Parteifhrer ansah.Und die Auseinandersetzungen verschrften sich noch: Sie waren verbunden mit

    Konspiration, Sabotage und Ermordung der Gegner. Losurdo spricht fr den Zeitraumdes Zweiten Dreiigjhrigen Krieges nicht nur von einem permanenten Ausnahme-zustand, sondern auch von den drei Brgerkriegen, ein - zumindest fr mich - neuerBlick auf diesen Teil der Geschichte. Er meint damit - neben dem Krieg gegen die Wei-en - die Zuspitzungen um die Kollektivierung, die schlielich in den Groen Terroreinmndeten. Es mag erstaunen, dass Losurdo von Brgerkriegen spricht, wo es dochnur um Auseinandersetzungen innerhalb der Partei ging; er spricht auch manchmalvon einem latenten Brgerkrieg. Doch Trotzki selber oder der trotzkistische Histori-ker Rogowin sprechen auch davon (99-100).Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Friedensvertrag von Brest-

    Litowsk kam es bereits zur ersten Suberungsaktion in der Tscheka, nachdem der So-zialrevolutionr Bljumkin aus Protest gegen den Vertrag - um die Weiterfhrung desKrieges zu provozieren - den deutschen Botschafter erschossen und sich dabei einesBeglaubigungsschreibens der Tscheka bedient hatte (92). 1926 wurde eine militrischeAktion gegen Stalin geplant, die dann 1927 scheiterte (91). In dieser Zeit bildetenStalin und Bucharin das unangefochtene Duumvirat, das sich zunchst der linkenOpposition entledigte. (Bucharin willigte in den Parteiausschluss von Trotzki und Si-nowjew ein.) Das nderte sich 1928 zum einen durch die Getreidekrise, zum anderendurch die Verfinsterung der internationalen Lage, die die Kriegsfurcht steigerte. Dieauerordentliche und Notmanahme vom Januar 1928 wurde zwar einheitlich gebil-ligt, aber unterschiedlich interpretiert. Whrend Stalin in der Getreidekrise strukturelleUrsachen, die letztlich in der NEP begrndet seien, sah und deshalb die Sackgasseder Bauernwirtschaft beenden wollte, lag fr Bucharin und Rykow, die eine begrenzteKollektivierung akzeptierten, die Ursache in staatlichen Fehlern (verfehlte Preispolitik,falsche Einschtzung der Marktsituation) und sie pldierten deshalb fr ein vorsichti-geres Vorgehen im Rahmen der NEP. Stalin setzte sich durch und diese Politik fhrtezur Bartholomusnacht (Losurdo) der Zwangskollektivierung.

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  • Danach schien Stalin wieder eine Politik der ffnung und Demokratisierung anzu-streben (163f), whrend Trotzki - nach eigenen Zeugnissen - die Opposition zu formie-ren suchte und das Land so auf den dritten Brgerkrieg zusteuerte.Konspiration und Verschwrung hatten eine lange Tradition in der russischen Ge-

    schichte und richteten sich nun gegen die Sowjetmacht. Trotzki, der nicht davor zu-rckschreckt, Stalin mit Nikolaus II zu vergleichen, sah es nicht nur als sein Recht,sondern auch als seine Pflicht an, Propaganda und Agitation unter Soldaten und Of-fizieren zu betreiben und die Grndung einer militrischen Organisation zu forcieren(92), wie es Lenins Schrift Was tun? fordert. Aber auch Stalin hatte Was tun?gelesen und kannte die bolschewistischen Regeln sehr gut (93).Losurdo fhrt Zeugnisse von Stalin-Feinden an, in denen ber Kontakte Bucharins

    mit der Sinowjew-Kamenew-Fraktion mit dem Ziel, den Kampf gegen Stalin zu ko-ordinieren, berichtet wird. In den 1930er Jahren sei es der Opposition gelungen, inden Sicherheitsapparat auf hchster Ebene einzudringen (98-99). Historiker trotzkis-tischer Orientierung rhmten die Verdienste der Opposition, weil sie mit allen Mittelnden Sturz des thermidorianischen Regimes betrieben haben (359). (Hier mangelt esallerdings an Quellenangaben.) Es entstand eine Atmosphre von Verdacht, Hysterieund Desinformationen. Auch auf internationaler Ebene. Die Frage, ob Tuchatschewskieiner Intrige Hitlers zum Opfer gefallen ist oder nicht, bleibt auch fr Losurdo eineoffene Frage. Die Informationen des tschechoslowakischen Prsidenten Benesch bergeheime Verhandlungen zwischen dem Dritten Reich und der antistalinistischen Cli-que um Tuchatschewskis, Rykows und anderer (so Benesch, 111) wurden jedenfallsnicht nur in Moskau, sondern auch in Paris und London geglaubt.Zusammenfassend zeichnet Losurdo folgendes Bild der drei Jahrzehnte unter Stalin:

    Der grundlegende Aspekt sei nicht die Mndung der Parteidiktatur in die Auto-kratie, sondern der wiederholte Versuch, vom Ausnahmezustand zu einer Situationrelativer Normalitt berzugehen (169). Diese Versuche scheiterten sowohl an deninneren Auseinandersetzungen als auch aus internationalen Grnden, die durch dendrohenden Krieg bestimmt waren.Die herrschende Geschichtsschreibung neigt dazu, die Geschichte der kommunisti-

    schen Bewegung als eine Geschichte von Verbrechen darzustellen. Eine Geschichtsbe-trachtung, die - und hier wendet sich Losurdo an die eigenen Reihen - diese Darstellungblo umtauft in eine Geschichte des Verrats der ursprnglichen Ideale (401), trgt we-nig zur Erhellung bei. Die Kategorie des Verrats, die in der Emprung ber Verbrechenstecken bleibt, wird niemals zum Verstndnis etwa von Tragdien vordringen. Trag-dien im antiken Sinn: Es steht nicht Recht gegen Unrecht, sondern Recht gegen Recht.Bucharin hatte in der Kollektivierungsdebatte (wahrscheinlich) konomisch Recht mitseinem Vorschlag, die Privatinteressen der Bauern und anderer Gesellschaftsschichtenzur Entwicklung der Produktivkraft und damit letztlich der Sache des Kommunismuszu nutzen (146), aber Stalin hatte auch Recht mit seiner Einsicht in die Notwendigkeiteiner brachialen Entwicklung der Industrie. Und Losurdo weist mit Recht auf das Ge-meinsame in den Kategorien Verbrechen und Verrat hin: die Lenkung des Blickesauf die kriminelle Energie einzelner Individuen, wo es doch die wirkliche historischeEntwicklung mit ihren sozialen und politischen Wirkungsmomenten zu verstehen gilt(404).

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  • Antisemitismus und TotalitarismustheorieAusfhrlich setzt sich Losurdo mit dem Vorwurf des Antisemitismus auseinander. Auchhier ist der Zeitpunkt interessant, ab dem der Vorwurf erhoben wurde: nach dem Zwei-ten Weltkrieg. Bis dahin wurde die Sowjetunion allenthalben wegen ihrer Liquidierungdes Antisemitismus gelobt. Auch hier gibt er Zeugnisse Stalin nicht zugeneigter Quel-len an, die die Vorwrfe ad absurdum fhren. Und selbst ein Kerenski befand, dassder Antisemitismus der Sowjetunion eine Erfindung des Kalten Krieges war (276).Die in der Totalitarismustheorie enthaltene Gleichsetzung von Kommunismus und

    Faschismus bzw. von Stalin und Hitler, kann ihre Wirkung nur erzielen, indem sievon Klasseninhalten, politischen Zielen und der historischen Genealogie abstrahiert.Hier ist es ntzlich, sich an die von Losurdo in seinem Buch Kampf um die Geschichteherausgearbeitete Gegenberstellung der universalistisch-gesellschaftlichen Linie 1789-1917 versus der partikularistisch-individualistischen Linie 1688-1776 zu erinnern. Letz-tere, die bis heute die Leitlinien der westlichen Welt bestimmt, konnte ihre kolonia-listischen und rassistischen Wurzeln nie ablegen. Losurdo zeigt im Stalin-Buch (nocheinmal), dass der deutsche Faschismus keineswegs einen Sonderweg eines unverbesser-lichen Volkes darstellt, sondern vllig in der Tradition der von den angelschsischenRevolutionen ausgelsten Determinanten steht. Die Kolonialisierung Osteuropas ent-lehnt Hitler in Mein Kampf dem Umgang der amerikanischen Siedler mit den Indianern(204). Hitlers Endlsung war weder die erste, noch die letzte in der westlichen Welt.Das gleiche gilt fr die KZ. Interpretationen der Oktoberrevolution als jdische Ver-schwrung entstanden zuerst in der liberalen westlichen Welt (255f). Selbst der BegriffUntermensch wurde als bersetzung des englischen Wortes under man bernom-men, das der rassistische us-amerikanische Autor Lothrop Stoddard geprgt hat - einAutor, der von den US-Prsidenten Harding und Hoover gleichermaen wie von Hitlergeehrt wurde (381-2).Losurdo spricht vom GULAG durchaus als Konzentrationslager-Universum. Doch

    selbst im Horror zeigt sich die Scheidelinie der beiden groen Bewegungen. Der GU-LAG wurde als Erziehungs- oder Resozialisierungsinstitution angesehen. Auch gab esproduktive Besessenheit, sozialen Aufstieg und er brachte sogar Zivilisation in unbe-wohnte Gegenden. Insassen wurden mit Genosse angesprochen. Das nderte sich1937. Doch bestreitet Losurdo - auch hier gesttzt auf antikommunistische Zeugen -jeglichen Mordwillen. Als der Anteil der Todesflle aus Mangel an Nahrung anstieg,hatte auch die normale Bevlkerung wenig zu essen. In der UdSSR sehen wir imGULAG und auerhalb von ihm im Grunde genommen eine Entwicklungsdiktaturam Werk, die angesichts des drohenden Versklavungs- und Vernichtungskrieges alleKrfte zur berwindung der jahrhundertelangen Rckstndigkeit zu mobilisieren undumzuerziehen(197) sucht. Das Nazi-KZ spiegelt dagegen die Hierarchie auf rassis-tischer Basis wider, die den schon existierenden Rassenstaat und das zu errichtendeRassenimperium kennzeichnet (ebd.). Angesichts der kolonialistischen Traditionsli-nie, in der das Nazi-KZ steht, erscheint es umso absurder, wenn die Gleichsetzungvon GULAG und Nazi-KZ vor allem von Ideologen, die aus jenen Lndern kommen,betrieben wird. Mit der Verdrngung der eigenen Geschichte verweigern die heutigenRichter ber die Oktoberrevolution und insbesondere Stalin den Angeklagten das, was

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  • den Angeklagten der Nrnberger Prozesse ebenfalls verweigert wurde: das Prinzip tuquoque (du auch).Auch mit weiteren Instrumenten der Gleichsetzung von Hitler und Stalin setzt sich

    Losurdo auseinander: der Nichtangriffspakt von 1939, die Hungersnot in der Ukrai-ne Anfang der 1930er Jahre (vgl. dazu Berliner Ansto Februar u. Mrz 2007) undschlielich die Kategorie der paranoiden Persnlichkeit.Ein Sonderfall bleibt: die Vorgnge in Katyn 1940 (331f). Hier geht Losurdo davon

    aus, dass es sich um ein unentschuldbares Verbrechen an sich handelt, solange nichtneue Erkenntnisse prsentiert werden.Losurdos Buch ist weder eine Biographie noch eine Sozialgeschichte. Schon aus die-

    sem Grund bleibt auf dem Feld der Aufarbeitung unserer Geschichte noch viel zu tun.Losurdo hat mit der Einfhrung philosophischer Kategorien sicherlich plausible Erkl-rungen der Vergangenheit geliefert. Allerdings ist ihre prognostische Kraft begrenzt.So ist ber die Auflsung der Familie oder das Absterben des Staates noch nicht dasletzte Wort gesprochen. Erst recht betrifft dies Losurdos Steckenpferd, das er - nichtnur in dieser Verffentlichung - immer wieder reitet: sein Beharren auf dem ewigenBestehen von Markt und Geldwirtschaft. So sicher es ist, dass wir auch hier beimFortschreiten zur kommunistischen Produktionsweise bei der Vermittlung des Allge-meinen durch das Besondere auf heute noch nicht absehbare Probleme stoen werden,so gewagt ist die Behauptung, dass es keinen Weg der Vermittlung geben wird.Nichtsdestotrotz ist dieses Buch fr uns eine Pflichtlektre und es ist ihm eine rasche

    Verbreitung bei Freund und Feind zu wnschen.

    Anhang: Ein Essay von CanforaDem Text von Losurdo ist ein lesenswerter Essay von Luciano Canfora angehngt: VonStalin zu Gorbatschow. Wie ein Imperium zu Ende geht. In dem mit historischen Ana-logien zur Antike (Canfora ist bekanntlich Altphilologe) gespickten Text hebt Canforadie Sicherung der staatlichen Integritt als Konstante in Stalins Staatsfhrung hervor.Er zieht hierbei die Linie zwischen den Marksteinen Brest-Litowsk 1918 (wo Stalin ent-schieden auf der Seite Lenins stand) - Nichtangriffspakt 1939 - Jalta 1945. Nach demFehlschlagen der Bemhungen um ein antinazistisches Bndnis wurde auch 1939 (wiein Brest-Litowsk) ein Abkommen mit Deutschland in einer fr Deutschland gnstigenLage geschlossen in der Hoffnung, dem Krieg fernbleiben zu knnen. (Das gelufige Ar-gument vom Zeitgewinn hlt er fr eine nachtrgliche Erklrung; er kommt somit auchzu einem anderen Ergebnis als Losurdo). Auf Jalta wurden schlielich die territorialenVorteile, die sich die UdSSR im Vertrag von 1939 verschafft hatte, faktisch festgeschrie-ben. In der Frage, ob Stalin hauptschlich Staatsmann oder kommunistischer Fhrerwar, scheint Canfora zu Gunsten des Ersteren zu tendieren.Gorbatschow schlielich blieb es vorbehalten, die Eckpfeiler des Staates einzureien

    - eine Politik, die, so Canfora, noch auf ihren Interpreten warte. Naivitt scheidet frCanfora jedenfalls aus. Daran erinnernd, dass die drei Zerstrer der Sowjetunion (Gor-batschow, Schewardnadse, Jelzin) allesamt beim KGB waren, weist er Gorbatschow dieschndliche Rolle eines Adeimantos zu. Das war der Typ, der in der entscheidendenSeeschlacht zwischen Athen und Sparta die Schiffe verriet.

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