Dr.-Ing. Lutz Martiny 48. KONTIKI-KONFERENZ IN … · Evolution ist Teil unseres Lebens und die...

18
Dr.-Ing. Lutz Martiny achelos GmbH 48. KONTIKI-KONFERENZ IN NÜRNBERG 19. - 20. September 2013 Forum 2: Multiapplikation Impulsreferat: Dr. Lutz Martiny, achelos GmbH Moderation: Dirk Illing Multiapplikation: Meine Damen und Herren, im Laufe meines Berufslebens habe ich gelernt, dass ein Vortrag nur dann erfolgreich und nützlich ist, wenn man die Zuhörer dort abholt wo immer sie mit ihrem Wissen zum Thema sind. Glauben Sie mir, ich habe keine Ah- nung, welchen Wissensstand jeder Einzelne von Ihnen zum Thema „Multiapplikation“ hat. Für genau diesen Fall, so habe ich ebenfalls gelernt, muss man seine Zuhörer zunächst zu einem gemeinsamen Verständnis bringen und sie dann durch die Prä- sentation führen, damit die Problemanalyse und Schlussfolgerungen auch für jeden verständlich sind. Sie alle kennen den Begriff: Evolution und natürlich kennen Sie dieses Bild, das die Entwicklung der Menschheit sehr anschaulich darstellt. Ich möchte ein leicht ver- ändertes Bild gerne als Metapher für meine gesamte Präsentation benutzen, denn Evolution ist Teil unseres Lebens und die technische Entwicklung greift nicht erst seit

Transcript of Dr.-Ing. Lutz Martiny 48. KONTIKI-KONFERENZ IN … · Evolution ist Teil unseres Lebens und die...

Dr.-Ing. Lutz Martiny achelos GmbH

48. KONTIKI-KONFERENZ IN NÜRNBERG 19. - 20. September 2013 Forum 2: Multiapplikation Impulsreferat: Dr. Lutz Martiny, achelos GmbH Moderation: Dirk Illing

Multiapplikation:

Meine Damen und Herren, im Laufe meines Berufslebens habe ich gelernt, dass ein Vortrag nur dann erfolgreich und nützlich ist, wenn man die Zuhörer dort abholt wo immer sie mit ihrem Wissen zum Thema sind. Glauben Sie mir, ich habe keine Ah-nung, welchen Wissensstand jeder Einzelne von Ihnen zum Thema „Multiapplikation“ hat. Für genau diesen Fall, so habe ich ebenfalls gelernt, muss man seine Zuhörer zunächst zu einem gemeinsamen Verständnis bringen und sie dann durch die Prä-sentation führen, damit die Problemanalyse und Schlussfolgerungen auch für jeden verständlich sind. Sie alle kennen den Begriff: Evolution und natürlich kennen Sie dieses Bild, das

die Entwicklung der Menschheit sehr anschaulich darstellt. Ich möchte ein leicht ver-ändertes Bild gerne als Metapher für meine gesamte Präsentation benutzen, denn Evolution ist Teil unseres Lebens und die technische Entwicklung greift nicht erst seit

Erfindung der Dampfmaschine mehr und mehr und immer schneller in unseren Alltag ein. Schauen wir uns an, wie sich durch den Erfindungsgeist des Menschen die Mobilität der Menschen im Laufe der Zeit geändert hat:

Und so wie sich die Technik unserer Fortbewegung über die Zeit geändert hat, so haben sich selbstverständlich auch die Beförderungsart, der Fahrausweis, der Ver-kauf, das Buchen, das Kassieren und das

Fahrgeldmanagement im ÖPV durch den Einsatz der jeweilig existierenden Technik geändert.

Natürlich ist jedem von uns klar, dass die technische Entwicklung bei der Mobilität in den letzten 150 Jahren nur möglich war, weil Erkenntnisse in Mathematik, Physik, Chemie usw. in den Ingenieurwissenschaften zu Dampfmaschinen, Elektro- und Ver-brennungsmotoren, Flugzeugen und schließlich der Informationstechnik umgesetzt wurden. Bei der Informationstechnik ist nun ein ganz besonderes Phänomen festzu-stellen:

Jedes Mal, wenn eine neue technische Lösung auf den Markt kam, nehmen wir z.B. den PC in den 1980er Jahren, gab es im Unternehmen Mitarbeiter, die so ein Ding benutzen wollten (lokaler Einsatz) und taten. Wir haben dann sehr schnell festge-stellt, dass PCs autonom nicht sehr effizient einsetzbar waren, denn um sinnvoll zu arbeiten, mussten sie auf die Unternehmensdaten, die auf einem Zentralrechner la-gen, zugreifen können, sie mussten intern integriert werden (Interne Integration). Als wesentliches Merkmal der ersten beiden Phasen lässt sich nach Peter F. Drucker feststellen: „So far, for 50 years, the information revolution has centered on data – their collection, storage, transmission, analysis, and presentation. It has centered on the T in IT“ (The Next Information Revolution, in: http://www.s-jtech.com/Peter Drucker - the Next Information Revolution.pdf; 1998, S. 1). Die ersten beiden Phasen implementierten evolutionär die Entwicklung der Technik, um die Effizienz der Pro-zesse zu erhöhen, sprich: Die Informationstechnik als Rationalisierungsinstrument. Die zunehmende Leistungsfähigkeit dieser Geräte ermöglichte sowohl die Datenhal-tung, als auch die Verarbeitung am Arbeitsplatz. Plötzlich stand neben der Erhöhung der Effizienz auch die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zur

Debatte. Venkatraman nennt diese Phase die revolutionäre Phase der Umsetzung der Informations- und Kommunikationstechnologie, sprich: Die Informationstechnik als strategische Waffe. Um dieses Potential ausschöpfen zu können, mussten folg-lich die Geschäftsprozesse im Unternehmen neu gestaltet werden (Redesign der Geschäftsprozesse). Kein Unternehmen wird zum Selbstzweck betrieben, sondern es lebt von den Geschäftsbeziehungen zu Kunden und Lieferanten (Redesign der Geschäftsbeziehungen), d.h. während wir noch unsere internen Prozesse neugestal-teten, wurde klar, dass auch die unternehmensübergreifenden Prozesse neu ausge-richtet werden mussten. Bei dieser Neuausrichtung stand aufgrund der immer weiter zunehmenden Leistungsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnik das Geschäftsmodell eines Unternehmens auf dem Prüfstand (Überprüfung des Ge-schäftsmodells) und führte im Extremfall zu einer völligen Umorientierung, z.B. wurde aus einem Unternehmenskonglomerat namens Preussag mit Eisen, Stahl, Bauge-werbe, Transport, Frachtschifffahrt und Frachtflugzeugen Europas größter Reiser-veranstalter TUI. So hat die Informations- und Kommunikationstechnik nicht nur exis-tierende Geschäftsmodelle ggf. profitabler gemacht, sondern auch alte Geschäfts-modelle überflüssig erscheinen lassen und neue Geschäftsmodelle ermöglicht. Je-dem von uns in diesem Raum ist im Übrigen klar, dass ein Google, Facebook, eBay oder PayPal ohne IuK heute nicht existieren würde. Schauen wir uns unter dem Aspekt der heute vorhandenen Informations- und Kom-munikationstechnik das vorherrschende Geschäftsmodell des ÖPV an. Bitte behalten Sie dieses Bild der technikbestimmten Geschäftstransformation ein wenig im Hinter-kopf, ich werde es später in Bezug auf Lösungsansätze für Multiapplikation des ÖPV entsprechend abwandeln. Zunächst komme ich mir jetzt allerdings vor, als wollte ich Eulen nach Athen tragen! Zur Vorbereitung dieses Impulsreferates habe ich mich natürlich klug gemacht, was denn bei kontiki seit meiner ersten Teilnahme an der Konferenz im Jahre 1999 in Hamburg auf dem Gebiet Multiapplikation gesagt, getan, veröffentlicht worden ist. Natürlich bin ich dabei auf die Handlungsempfehlungen aus dem Jahr 2003 gesto-ßen und genau das ist der Grund, warum ich das Gefühl habe, hier Eulen nach Athen zu tragen. Die nächsten Schaubilder sind dem einen oder anderen wahr-scheinlich geläufig, als Vision wurde das bereits in den Handlungsempfehlungen im Jahr 2003 beschrieben und die nachstehenden Bilder stellen anschaulich den Wan-del vom Beförderungsdienstleister zum Mobilitätsdienstleister dar.

Quelle: Handlungsempfehlungen 2003, Seite 8

„Historisch gesehen“, so steht es geschrieben, „verstanden sich Verkehrsunterneh-men zunächst als reine Beförderungsdienstleister. Es galt, eine Person, ein Gut, von A nach B zu befördern“, der Kunde oder das Gut war ein „Beförderungsfall“. „Sicherlich ergänzt bereits die gängige Situation in den Verkehrsunternehmen weit-gehend die physische Beförderungsleistung eines Betreibers um sogenannte Intra-services, also Nebendienste, die ein ÖPV-Unternehmen Kunden anbietet, entweder umsonst oder unter Nutzung der durch ihn angebotenen Bezahlart. Aus dem reinen Beförderungsdienstleister ist ein Transportdienstleister geworden“ (Handlungsemp-fehlungen 2003, Seite 7). Die Handlungsempfehlungen aus 2003 nennen mannigfaltige Gründe, warum sich ÖPV Unternehmen mit dem Status „Transportdienstleister“ nicht zufrieden geben können und sich „zu Mobilitätsdienstleistern entwickeln müssen, die in der Lage sind, den gesamten Bedarf eines Kunden entlang dessen Mobilitätskette entweder durchgehend zu decken oder zumindest nachhaltig zu unterstützen“ (Handlungsempfehlungen Seite 8). Die Mobilitätskette ist dabei definiert als die „individuelle Verknüpfung von Verkehrsmitteln mittels Informationen und Dienstleistungen zur zielgerichteten Überwindung räumlicher Distanzen“ (Quelle: Vortrag Ritschel, M; Päch, E; Philipp, K: kontiki Handlungsempfehlungen 2003, Wuppertal 20./21.02.2003).

Heute können wir die Mobilitätskette um Dienstleistungen erweitern, die es vor 10 Jahren lediglich als Ideen gegeben hat, zum Beispiel das carsharing oder die Einbeziehung von Citytickets in einen Flugschein.

Quelle: Handlungsempfehlungen 2003, Seite 9

Das nachstehende Bild aus dem Vortrag von Reinhard Schulte, Stadtwerke Münster, in Berlin im November vorigen Jahres bildet die oben bereits 2003 dargestellte Entwicklung von der Transportdienstleistung über die Beförderungsdienstleistung zur Mobilitätsdienstleistung als Idee z.B. für die PlusCard in Münster konkret ab.

Quelle: Schulte, Reinhard: Ergebnistreffen (((eTicket Deutschland 06./07. November 2012 – BMVBS Berlin

Zitat aus Handlungsempfehlungen: „Die Grenzen des heutigen ÖPV werden durchlässiger; der Begriff „Intermodalität“ erhält somit eine völlig neue Dimension und verlässt den öffentlichen Sektor. Verkehrsunternehmen wird die Möglichkeit eröffnet, ihre heutige Produktpalette neu auszurichten und somit die gesamte Mobilitätskette des Kunden zu unterstützen. Die ursprünglichen Transportdienste werden ergänzt um sog. Interservices. Dies sind Dienste, die ein Nicht-ÖPV-Anbieter als Mehrwertdienste in eigener Regie dem ÖPV zur Verfügung stellt… Als Vision – oder wettbewerbsgetriebene Notwendigkeit – lässt sich durchaus eine Entwicklung vorstellen, die heutige Verkehrsunternehmen über ihre eigentliche Mobi-

litätsdienstleistung hinaus in anderen Märkten als Anbieter von sogenannten Mul-tiservices auftreten lässt – entweder in Eigenregie oder in Kooperation mit Dritten. Da hier die eigentlichen Grenzen des Kerngeschäftes des ÖPV überschritten werden, kann auch von Transservices gesprochen werden“ (Quelle: Handlungsempfehlun-gen 2003, Seite 9). Auch hierfür bietet der Vortrag von Reinhard Schulte aus dem vorigen Jahr bereits ein weitgehendes Angebot, das sich zumindest in der Planung der Stadtwerke Münster in Vorbereitung befindet, wie sie in dieser Grafik in dem Kästchen unten rechts an den Piktogrammen für das Stadion, das Kino, das Theater und die Bibliothek erkennen können.

Quelle: Schulte, Reinhard: Ergebnistreffen (((eTicket Deutschland 06./07. November 2012 – BMVBS Berlin

Warum, so heißt es in den Handlungsempfehlungen aus dem Jahr 2003 dann weiter, „sollen ÖPV-Anbieter in ihrem Bestreben, den Kunden ganzheitlich zu bedienen, sich nicht auch z. B. auf die Felder der Handels-, Vermittlungs- und Versicherungsge-schäfte begeben, Events in Sport und Kultur selber veranstalten? Hier sind nun der Kreativität der Marketingabteilungen keine Grenzen mehr gesetzt, immer den Nutzen des Kunden im Blick. Die Entwicklung der neuen Technologien bietet den Unterneh-men die beste Voraussetzung, die einzelnen Servicebereiche optimal miteinander zu verknüpfen.“ (Quelle: Handlungsempfehlungen 2003, Seite 9)

Das heißt doch aber: der Weg zum Komplettdienstleister für nicht-administrative öffentliche Leistungen wurde schon vor 10 Jahren verbal vorgezeichnet. Die reine Beförderungsdienstleistung wurde durch Intraservices zur Transportdienstleistung, die Transportdienstleistung wird durch Interservices zur Mobilitätsdienstleistung und die Mobilitätsdienstleistung wird durch Transservices zur Komplettdienstleistung, wobei Transservices definiert sind als nicht-administrative öffentliche Dienstleistun-gen. Wir können also die beiden Schaubilder aus den Handlungsempfehlungen wie folgt weiterentwickeln und den Komplettdienstleister hinzufügen. Wobei die Frage aufzu-

werfen ist, inwieweit die technische Entwicklung seit der Veröffentlichung der Hand-lungsempfehlungen im Jahre 2003 den theoretischen Überlegungen damals heute reale Optionen bietet. Wenn es also heute weit bessere technische Realisierungs-möglichkeiten gibt, so ist ferner zu fragen, woran es liegt, dass sie nicht oder nur zö-gerlich ergriffen werden.

Was ist seit 2003 passiert? Da ist zuallererst die Gründung der VDV-Kernapplikations GmbH &CO. KG im Jahr 2003 und die VDV-Kernapplikation selbst zu nennen, die als Daten- und Schnittstellenstandard für den elektronischen Fahrschein und das elektronische Fahrgeldmanagement verabschiedet und seit 2007 bei einigen nam-haften Verkehrsverbünden schrittweise eingeführt wurde und zunehmend eingeführt wird. Die VDV-KA GmbH &Co. KG ist hier hinlänglich bekannt, ich brauche dazu nicht mehr auszuführen, außer, dass sie Herausgeberin der VDV-Kernapplikation ist und für die Weiterentwicklung der Applikation verantwortlich zeichnet, d.h. dafür Sor-ge zu tragen hat, dass auch der Weg von der Beförderungsdienstleistung zur Kom-plettdienstleistung den Weg in den VDV-KA-Standard findet. Auf diesen Auftrag wird noch einmal zurückzukommen sein. Vereinfacht stellt sich die Situation heute wie folgt dar: Wir haben eine kontaktlos ar-beitende Mikroprozessorkarte mit einem beliebigen Betriebssystem auf dem die VDV-KA implementiert ist und für Beförderungsdienstleistungen und dem Fahrgeld-management im Hintergrundsystem genutzt wird. Einige Verbünde/Unternehmen

haben zusätzlich bereits durch die Verwendung der proprietären Zusatzfunktion Mi-fare/DESFire des Mikroprozessors von NXP die Möglichkeit geschaffen, neben der Beförderungsdienstleistung auch weitere Leistungen einzubeziehen, z.B. das Bezah-len gebührenpflichtiger Parkplätze. Damit hier kein Missverständnis entsteht: Zwar sind auf einem Transportmedium mit zusätzlichem Mifare/DESFire zwei Anwendun-gen auf einer Karte implementiert, aber diese Anwendungen sind völlig unabhängig voneinander, haben keine gemeinsame Datenschnittstelle und interagieren nicht, sondern jede Anwendung hat ihr eigenes Hintergrundsystem mit einem eigenen Da-tenmodell. Wir haben es hier also mit Multifunktionalität zu tun. Die Parkhausapplika-tion über einen durch Mifare/DESFire geschützten Bereich auf dem Mikroprozessor ist eine von der VDV-Kernapplikation völlig losgelöste Anwendung, die sich lediglich zusätzlich auf dem Transportmedium befindet und damit den Parkhausbetreiber da-von entbindet, eine eigene Parkhauskarte auszugeben. Die Karte funktioniert in zwei unterschiedlichen Systemen, dem System VDV-KA gestützter ÖPV und dem System Parkhaus. Denkt man diese Lösung weiter, so ist selbstverständlich eine Lösung technisch machbar, die wie folgt aussieht:

Viele, voneinander unabhängige Anwendungen benutzen gemeinsam in jeweils von-einander getrennten und geschützten Datenbereichen eine kontaktlose Mikropro-zessorkarte. Die jeweilige Anwendung wird durch das Lesegerät identifiziert und auf-gerufen. Anstatt einer Vielzahl von Karten für z.B. ÖPV, Bibliothek, Parkhaus usw.

hat der Benutzer nur eine einzige Karte. Ein Beispiel der Banco Santander werde ich Ihnen später noch zeigen. Erschwerend kommt bei einer solchen Lösung hinzu: Mifare/DESFire ist proprietär. Der Halbleiterhersteller NXP hat zwar die Herstellung von Mifare/DESFire Mikropro-zessoren an STMicroelectronics und Renesas Electronics lizensiert, andere Halblei-terhersteller sind jedoch von der Produktion ausgeschlossen. Seit 2006 gibt es die Mifare4Mobile Industry Group, gegründet von den Firmen Gemalto, NXP, Oberthur Technologies, STMicroelectronics und Venyon (heute G&D), die sich aufgrund der millionenfachen Verbreitung von Mifare zum Ziel gesetzt hat, die Umsetzung von Mi-fare-Anwendungen auf NFC-fähigen Secure Elements in Mobiltelefonen zu verein-heitlichen. Die derzeit gültige Spezifikation Mifare4Mobile 2.0 unterstützt Mifare Clas-sic und Mifare DESfire EV1, lässt mehrere sog. Trusted Service Manager als Dienst-leister für das Applikationsmanagement zu, ist mit den Spezifikationen von Global-Platform 2.2 vereinbar und verspricht Ende-zu-Ende Sicherheit zwischen Dienstleis-tern und ihren Mifare - Anwendungen. Dennoch: sie ist proprietär. Aufgrund der marktbeherrschenden Stellung von NXP’s Mifare/DESFire wurde 2010 die OSPT Alliance (Open Standard for Public Transport) gegründet in der naturge-mäß die von der Lizensierung ausgeschlossenen Halbleiterhersteller Infineon, Sam-sung, Inside Secure, aber auch SIM Kartenhersteller und Systementwicklungshäuser wie die hier als Plattformlieferanten bekannten Firmen ZeitControl und Masktech, Mitglied sind. Calypso und ITSO, Vereinigungen, die der VDV-KA ähnliche Entwick-lungen in Frankreich bzw. England vorantreiben, sind assoziierte Mitglieder. Wenn es das Ziel dieses Vereins ist, eine interoperable Plattform als offenen Standard für den ÖPV mit unterschiedlichen Bezahlfunktionen zu etablieren, dann fragt man als un-voreingenommener Betrachter natürlich, wieso ist die VDV-KA GmbH & CO. KG, die die gleichen Ziele verfolgt, nicht Mitglied in diesem Verein und bringt die VDV - KA Erfahrung ein? Auch für die VDV-KA kann es doch eigentlich nur das Ziel geben: Die Kernapplikati-on als Plattform für Multiapplikation auf einem beliebigen Betriebssystem!

Es liegt doch nahe, diesen einheitlichen Systemgedanken nicht nur für Deutschland zu denken, sondern ihn auch zumindest in die europäische Diskussion hineinzutra-gen und die Voraussetzungen zu schaffen, dass eine Konvergenz zu einem einheitli-chen System möglich wird. Dieses ist zunächst keine technische Frage, sondern eine Frage des politischen Wollens. Sehen wir uns die technische Entwicklung im Bereich Mobiltelefon und besonders seit dem Aufkommen von Android in den letzten Jahren an, dann kann man sich die-ses Schaubild aber auch auf einer Technologie vorstellen, die seit Jahren in der Dis-kussion ist, aber erst in diesem Jahr den Markt so richtig erreicht. Wir reden vom Smartphone mit NFC Technologie. NFC ist ein Standard der die ISO 14443 kontakt-lose Kommunikation, wie sie die VDV-KA benutzt, unterstützt. Während also zurzeit in Deutschland das Medium Chipkarte als Ticket und Basis des Fahrgeldmanagements verstärkt im ÖPV eingeführt wird, sind Einzelunternehmen dabei, Teile ihrer Dienstleistungen über das Mobilfunkgerät und hier vor allem das Smartphone, z.T. auch schon mit NFC – Unterstützung, siehe Touch&Travel, anzu-bieten. Man könnte diese Angebote Multiapplikation nennen, denn Sie befinden sich alle als einzelne Applikationen auf einem Smartphone, aber sie interagieren nicht miteinander, ihnen fehlt untereinander gewissermaßen die Kernapplikation als gemeinsamer Plattform. Ich habe mir mal die Mühe gemacht und auf mein NFC-Telefon geladen, was so im Angebot war. Das ergibt dann in etwa das folgende Bild:

Wie Sie sehen, habe ich gar nicht alle Apps auf einen Bildschirm bekommen, son-dern musste noch weitere darunter schreiben. Auch bin ich mir sicher, dass ich gar nicht alle für Android verfügbaren Apps erwischt habe, aber auch das, was ich ge-funden habe, zeigt Ihnen schon Eines völlig klar: Wir befinden uns allein beim barrie-refreien Reiseerlebnis inklusive Buchungs- und Zahlungsvorgang, also der oben ge-nannten Mobilitätsdienstleistung, im Vergleich zur politischen Einigung Deutschlands etwa im Jahr 1648. Von Integration kann hier also zurzeit keine Rede sein.

Dabei gilt doch für die Nutzung des Mobiltelefons als Transportmedium mit den ge-nannten Zusatzdienstleistungen das Gleiche wie bei der Chipkarte: Die VDV-KA mit Multiapplikation als Abbild auf einem Mobiltelefon:

Wenn die Vision, die Klaus Philipp und ich während unserer gemeinsamen Zeit im eEurope SmartCard Projekt der EU vor 13 Jahren hatten, dass man mit einem Medi-um multimodal vom Nordkap bis nach Lissabon kommt, Realität werden soll, dann brauchen wir Standards, Standards und nochmal Standards. Die VDV-KA GmbH & Co. KG ist nicht nur der Wächter über den deutschen Standard VDV-KA, sondern vor allen Dingen sein Motor. Ihre Aufgabe ist es, die Kernapplikation an die heute ver-fügbare Technik - und das ist nun mal NFC im mobilen Endgerät – nicht nur in Deutschland, sondern europaweit heranzuführen und auszubauen. Proprietäre Lösungen, die aber die richtige Richtung aufzeigen, weil sie sich existie-render Standards in unterschiedlichen Anwendungsgebieten bedienen, gibt es be-reits, wie das nachstehende Beispiel der Banco Santander mit seiner Multifunktions-karte zeigt:

250 Universitäten, vornehmlich im spanisch sprechenden Raum mit etwa 6 Mio. Nut-zern haben derzeit eine solche Karte. Die Karte ist zunächst ein Studentenausweis. Sie berücksichtigt bei den weiteren Anwendungen jedoch gängige Standards z.B. im Zahlungsverkehr (VISA/MasterCard), im Bereich Public Transport (TC 224, aber auch Calypso und ITSO und technisch Mifare/DESFire), bei der Digitalen Signatur mit einer Santander Root - CA. Der eingeschlagene Weg ist meines Erachtens rich-tig, es gilt, sich auf gemeinsame Datenmodelle und Schnittstellen für den Datenaus-tausch zu einigen. Letztendlich lautet die Frage doch: Wo wollen wir in Deutschland bzw. Europa hin? Wenn wir von Multiapplikation sprechen, dann wollen wir, so wenigstens habe ich die Handlungsempfehlungen aus dem Jahr 2003 interpretiert, die jeweils zusätzlichen Dienstleistungen auf dem Weg vom Beförderungsdienstleister zum Komplettdienst-leister auf einer Plattform integrieren und barrierefrei nutzen können. Ob das Trans-portmedium im Endausbau dann eine kontaktlose Chipkarte, ein Smartphone sein wird oder beides, ist für unsere heutige Diskussion unerheblich.

Bleiben wir noch ausschließlich bei der Mobilitätsdienstleistung: Ganz naiv stelle ich mir vor, dass ich von A nach B möchte und die Informations- und Kommunikations-technik unterstützt mich sowohl bei der Planung, falls nötig bei der Buchung und schließlich bei der Bezahlung und Durchführung, völlig unabhängig von der Komple-xität der angestrebten Reise. Sollten also unterschiedliche Verkehrsmittel, Stichwort Intermodalität, und/oder Übernachtungen nötig sein, habe ich meinen persönlichen Mobilitätsassistenten, der mir Alternativen zur Auswahl vorschlägt. Er begleitet mich auf meiner Reise, nennt mir Verspätungen, Bahn- oder Flugsteige und zeigt mir den Weg zur Mietwagenstation oder dem Parkplatz beim Carsharing. Alle Berechtigun-

gen (Tickets) sind auf meinem Gerät gespeichert, notwendige Zahlungsvorgänge, egal ob pre- oder postpayments werden angezeigt und von mir autorisiert.

Voraussetzung für solch einen Mobilitätsassistenten ist die Interaktion unterschiedli-cher Anwendungen unterschiedlicher Dienstanbieter auf der Basis eines gemeinsa-men standardisierten Datenmodells und entsprechend standardisierter Schnittstellen. Für die Beförderungsdienstleistung und das elektronische Fahrgeldmanagement im ÖPV in Deutschland ist diese Aufgabe bereits erledigt und die Umsetzung im Gange, jetzt ist die Spezifikation des Standards für Transportdienstleistung und Mobilitäts-dienstleistung gefragt. Dass einige Marktteilnehmer auf dem richtigen Weg sind, zeigt zum Beispiel das Pro-jekt moovel von Daimler, das Ihnen Herr Landefeld vor einem Jahr in Potsdam vor-gestellt hat.

Quelle: Landefeld, J.: moovel - my A to B, 45. Kontiki Konferenz, Potsdam 28.9.2012

Aber Vorsicht: Die Richtung des moovel - Ansatzes stimmt, die Lösung ist jedoch proprietär. Auch hier wiederum fehlt gewissermaßen die Kernapplikation als Platt-form. Meine Damen und Herren, schon für die zusätzlichen Dienste bei der Transport-dienstleistung ist das natürlich eine Vision. Ist sie realisierbar? Wenn sie realisierbar ist, was benötigen wir, um sie Realität werden zu lassen?

Die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik der letzten 10 Jahre hat mit dem multiapplikationsfähigen Smartphone seit 2007 die entscheidenden Schritte getan, dass die Vision des Jahres 2003 im Jahr 2013 zumindest auf der technischen Seite nicht mehr Vision bleiben muss, denn Multiapplikation ist heute Stand der Technik. Wir haben es von der Schaffnerkasse zum eTicket und dem EFM

geschafft, also werden wir es ja wohl auch zum Mobilitätsassistenten schaffen. Die Frage lautet: Was ist bei diesem Schritt anders als bei dem Schritt zum eTicket und EFM? Um diese Frage zu beantworten komme ich zurück auf das Bild „Technologiebe-stimmte Geschäftstransformation“ vom Anfang meiner Präsentation, diesmal bezo-gen auf den ÖPV.

Schon die Einigung der Verkehrsbetriebe und -verbünde auf die Kernapplikation und ihre Umsetzung muss man revolutionär nennen, mussten sich schließlich z.T. im Wettbewerb stehende Unternehmen auf eine einheitliche Plattform und ein Daten-modell zum Datenaustausch einigen, aber sie führt zwangsläufig zum Redesign der existierenden internen Geschäftsprozesse gleichartiger Unternehmen. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, ggf. auch neue Prozesse zu implementieren, die als Ba-sis für ein Redesign der Geschäftsbeziehungen und schließlich neuer Geschäftsmo-delle auf dem Weg zum Komplettdienstleister dienen können. Auf der obigen Grafik befinden wir uns etwa auf der Höhe der blau gestrichelten Linie, wenn die Kernappli-

kation in einem Unternehmen noch nicht eingeführt wurde. Unternehmen, bei denen die Kernapplikation eingeführt ist, haben die Voraussetzungen erfüllt, weitere Mobili-tätsdienstleistungen in ihr Angebot aufnehmen zu können, wenn denn auch die Kernapplikation weiterentwickelt wird. Aber schauen wir uns das Bild der in der Um-setzung befindlichen sog. Multiapplikationsplattform der PlusCard Münster doch noch einmal genauer an:

Es fällt auf, dass in diesem Bild auch Leistungsangebote dargestellt werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in den Verantwortungsbereich der Stadtwerke Müns-ter fallen oder irgendeines Verkehrsbetriebes in einer andere Stadt, sondern entwe-der der städtischen Verwaltung unterliegen, z.B. Theater, oder Stadtbücherei, oder von Privatunternehmen (Taxi, Mietwagen, Kinos, Stadion) betrieben werden. Beim Redesign der Geschäftsbeziehungen wird der Wertschöpfungsprozess in der Mobilitätskette in seiner Gesamtheit analysiert und neu gestaltet. Hierbei wird die Blickrichtung über die Unternehmensgrenzen und den eigenen Verantwortungsbe-reich hinaus gelenkt, und es werden Produkte, Dienstleistungen, Zulieferer, Distribu-toren und Kunden einbezogen, um durch eine Neuausrichtung Geschäftspotentiale zu erschließen. Erst diese Neuausrichtung nutzt die heutigen Möglichkeiten der In-formations- und Kommunikationstechnik, denn sie bedeutet eine Abkehr von der her-kömmlichen Betrachtungsweise der Kostenrechner und Controller, die sich eher nach innen auf Kosten und Aufwendungen des aktuellen Geschäfts konzentrieren, anstatt die Geschäftsmöglichkeiten mit ihren Chancen und Risiken im Zusammenspiel mit den Leistungen in- und außerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs zu betrach-ten. Meine Damen und Herren, mir ist bewusst, dass das, was ich hier gerade gesagt ha-be, an den Grundpfeilern unserer klassischen Industrie- und Dienstleistungsstruktu-ren rüttelt, aber wir befinden uns nicht mehr im 20. Jahrhundert. Das Informations-zeitalter verlangt nach informationszentrierten Unternehmen, deren Führungskräfte die Fähigkeit haben, die technische Entwicklung auf zukünftige Geschäftsmodelle zu

projizieren und folglich die Auswirkungen auf die eigene Unternehmensstruktur zu antizipieren, sowie entsprechende Anpassungsstrategien zu entwickeln und dabei ihre Mitarbeiter mitzunehmen. Der Übergang vom Transportdienstleister über den Mobilitätsdienstleister zum Kom-plettdienstleister ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel in der Beurteilung von traditionellen Konzepten hin zu neuen Leistungsangeboten, die informationszentriert sind. Er betrifft nicht „die anderen“, sondern alle Dienstanbietern, die mit Mobilität der Menschen und den dazu erforderlichen Dienstleistungen zu tun haben. Es ist eine Mammutaufgabe. Es gilt, mit den sog. Stakeholdern den Funktionsumfang der Kernapplikation so im Standard zu erweitern, dass Inter- und Transservices möglich werden. Meine Damen und Herren, es klingt nach einem technischen Problem, ist es aber nicht. Es ist we-sentlich mehr das Problem, eine für alle Beteiligten vorteilhafte Geschäftsstrategie mit entsprechenden Geschäftsmodellen zu entwickeln. Wie sagte der IT-Guru der 1980er Jahre James Martin: „For each technical problem there is a management solution but there is no technical solution for a management problem“. Dieser Paradigmenwechsel muss zunächst auf der Führungsebene der beteiligten Unternehmen, ggf. sogar der sie besitzenden Kommunen bzw. der Ver-bände erkannt, akzeptiert und dann einvernehmlich gelöst werden. Die Einleitung eines solchen Prozesses erfordert zunächst beim Management ein Wissen um die Wirkzusammenhänge zwischen eingesetzter Technik, betriebswirt-schaftlichen Kennzahlen, Kundenzufriedenheit, Qualität sowie Kompetenz und Zu-friedenheit der Mitarbeiter. Die Umsetzung unter bestmöglicher Nutzung der integrier-ten Informationstechnik erfordert dann eine andere Führungskultur, autoritär geführte und bürokratisch verwaltete Organisationen, meist durch Rang- und Einflussausein-andersetzungen charakterisiert, sind nicht mehr zeitgemäß. Kontrolle wirkt in den meisten Fällen kontraproduktiv. Konsequenz für das Management: Sozialkompetenz und emotionale Intelligenz werden zu entscheidenden Qualifikations- und Wettbe-werbsmerkmalen.

Da wir mit dem Übergang vom Transportdienstleister zum Mobilitätsdienstleister den Mikrokosmos einer Unternehmenseinheit mit seiner Kultur verlassen und in unter-nehmensübergreifenden Konzepten und Unternehmenskulturen denken und handeln müssen, sind jeweils andere Kompetenzen gefragt. Ich habe versucht, die jeweils notwendige Kompetenz in das Schaubild der schrittweisen Geschäftstransformation einzuarbeiten, ich denke es wird deutlich, vor was für einer Herkulesaufgabe der ÖPV und jedes einzelne dort vertretene Unternehmen steht.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen und zum Thema Multiapplikation meine Aussagen zusammenfassen:

1. Den Handlungsempfehlungen von 2003 lag eine Vision zugrunde, die mit der damals vorhandenen Technik nur unzureichend und nicht wirtschaftlich zu realisieren war.

2. Die technische Entwicklung der letzten 10 Jahre und die sich abzeichnende Technik lassen eine Realisierung der Vision heute auch unter wirtschaftlichen Aspekten zu.

3. Die Realisierung dieser Vision ist folglich kein technisches Problem. 4. Die Leistungsfähigkeit der heute real existierenden Informations- und Kommu-

nikationstechnik erlaubt unternehmensübergreifende Geschäftsmodelle unter-schiedlicher Geschäftspartner zum Vorteil aller Beteiligten.

5. Die Vision eines Komplettanbieters nicht-administrativer öffentlicher Dienst-leistungen verlangt von den derzeitigen Anbietern einzelner Leistungen, über den Tellerrand ihres eigenen Verantwortungsbereiches zu schauen und nach Synergien mit anderen Geschäftsbereichen und Anbietern zu suchen.

6. Die Realisierung einer solchen Vision setzt ein anderes Managementver-ständnis und -verhalten bei den Verantwortlichen voraus.

Was also ist zu tun? Soweit es sich nur um den ÖPV handelt, können und sollen VDV und VDV-KA GmbH & Co. KG Standards setzen und weiterentwickeln. Nicht-administrative öffentliche Dienstleistungen gehen weit über den Verantwortungsbereich von Betrieben des öf-fentlichen Nahverkehrs hinaus, insofern sind zur Weiterentwicklung die jeweiligen Eigentümer als übergeordnete Instanz z.B. Stadtwerke bzw. kommunale Eigentümer oder/und deren Verbände gefordert, das Datenmodell des ÖPV um weitere öffentli-che Dienstleistungen schrittweise zu ergänzen. Der VDV könnte hier eine Promo-torenrolle übernehmen und die Initiative zur Entwicklung eines solchen übergeordne-ten Datenmodells ergreifen. Schließlich und endlich: Wir befinden uns nicht auf einer deutschen Insel, sondern mitten in Europa, das heißt, wir müssen europäisch denken und handeln. Die zu entwickelnden Standards müssen daher für Europa und mit Eu-ropa geschaffen werden. Dr.-Ing. Lutz Martiny achelos GmbH Vattmannstraße 1 33100 Paderborn [email protected] +49 5251 14212310