Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im...

90
Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ Hauptthema des Kurses: Das Entwickeln meditativer Stabilität Lama Lhündrub Croizet, 26. Juli bis 7. August 2004 1

Transcript of Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im...

Page 1: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Dritter Kurs„Unterweisungen von Gampopa“

Hauptthema des Kurses:Das Entwickeln meditativer Stabilität

Lama LhündrubCroizet, 26. Juli bis 7. August 2004

1

Page 2: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

InhaltErste Unterweisung............................................................................................................................................... 3

Ablauf des Kurses............................................................................................................................................. 3Einführung.........................................................................................................................................................3Grundlagen der Dharmapraxis.......................................................................................................................... 4

Zweite Unterweisung............................................................................................................................................ 8Einführung zu den sechs Paramitas...................................................................................................................8Gampopa über meditative Stabilität................................................................................................................11

Dritte Unterweisung............................................................................................................................................ 14Meditation zur Vergänglichkeit...................................................................................................................... 20

Vierte Unterweisung........................................................................................................................................... 23Fünfte Unterweisung........................................................................................................................................... 29Sechste Unterweisung, 31. 7. 04......................................................................................................................... 36Siebte Unterweisung, 1. 8. 04............................................................................................................................. 42Achte Unterweisung, 2. 8. 04..............................................................................................................................49Neunte Unterweisung, 3. 8. 04............................................................................................................................57

Das Leben Sarahas.......................................................................................................................................... 59Zehnte Unterweisung, 4. 8. 04............................................................................................................................ 63Elfte Unterweisung, 5. 8. 04................................................................................................................................71Zwölfte Unterweisung, 6. 8. 04...........................................................................................................................76Dreizehnte Unterweisung, 7. 8. 04......................................................................................................................83

2

Page 3: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Erste UnterweisungIch bin sehr froh, dass ich so viele vertraute Gesichter wieder sehe, und so werden wir die Arbeit fortsetzen können, die wir in den letzten Kursen begonnen haben.

Ihr erinnert Euch vielleicht, dass wir im letzten Kurs im groben drei Phasen durchlaufen haben: Die erste war vor allen Dingen das Zuhören und Aufnehmen, das Studieren des Dharma. Die zweite Phase war die Kontemplation, die Anwendung auf uns selbst, auch mit Diskussionen. Dann sind wir mehr und mehr in die Meditation eingestiegen. In diesem Kurs werden wir mit der Meditation fortfahren, das wird eines der Hauptthemen sein. Natürlich werden wir auch weiter reflektieren und kontemplieren.

Ich schlage vor, dass wir mit einer Meditation beginnen, die uns hilft hier anzukommen, den Atem wieder zu finden, zu spüren, dass wir wirklich hier sind. Wir können während der Me­ditation auch daran denken, welche Motivation uns hierher geführt hat, was wir zutiefst wün­schen. Wir können den tiefen Wunsch in uns wieder wachrufen und dann auch versuchen, dass sich der Wunsch in dieser Zeit verwirklicht, dass wir in Kontakt bleiben mit der tiefen Motivation, die uns trägt. Wenn wir mit unserer tiefsten Motivation, mit unseren Dharmawün­schen in Kontakt bleiben, dann ist es fast sicher, dass wir uns im Laufe dieser Tage auch in diese Richtung weiterbewegen.

Meditieren ist eigentlich gar nicht so schwer – zumindest für kurze Zeit. Das Wichtigste ist, mit geradem Rücken bequem zu sitzen und nicht angespannt versuchen zu meditieren, einen bestimmten Geisteszustand zu erzeugen, eine bestimmte Meditation hervorzurufen.

— Meditation —

Ablauf des KursesIn den Kleingruppen nachmittags werden wir die vier ersten Paramitas besprechen: Freigebig­keit, Disziplin, Geduld und freudige Ausdauer. Ich selber werde morgens vorwiegend über das Entwickeln von meditativer Stabilität sprechen, sodass wir in diesem Kurs fünf Paramitas besprechen werden. Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei­ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen Kurs im nächsten Jahr auf und auch die Besprechung der Beschreibung, wie sich der Weg bis zur Buddhaschaft vollzieht und wie sich dann erleuchtete Aktivität vollzieht. Wir werden also im Laufe dieser vier Kurse den ge­samten „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ durchgegangen sein und so habt Ihr am Ende einen Überblick über das, was Gampopa unterrichtet hat.

EinführungWie bereits in den letzten Kursen ergänzen wir die Unterweisungen, die Gampopa im „Schmuck der Befreiung“ gibt, durch Unterweisungen aus anderen Texten, in denen ich das Tibetische stehen gelassen habe, so dass wir die Quelle zur Verfügung haben. Sie wurden noch nie ins Deutsche übersetzt und auch eine ganze Reihe von Passagen sind noch nicht ins Englische oder Französische übersetzt worden.

Dieser Text, der jetzt vor Euch liegt, wird uns während der ersten Unterweisungen beschäf­tigen, bevor wir dann stärker in die Meditation einsteigen. Er gibt uns noch einmal einen Überblick über die Praxis. Um den Text einordnen zu können, sollten wir wissen, dass er aus der Phase in Gampopas Leben stammt, in der er Milarepa bereits verlassen hat, schon einige Jahre wieder selbständig praktiziert und sich auf den hohen Bodhisattvastufen befindet, ir­gendwo zwischen dem achten und zehnten Bhumi, das wird im Text nicht weiter gesagt. Ihr könnt Euch einfach einen Meister wie Gendün Rinpotsche vorstellen, hoch verwirklicht, mit

3

Page 4: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

langen Jahren der Meditationserfahrung, und dann kommt es zu der Situation, die jetzt im Text beschrieben ist:

Ein nichtmenschliches Wesen namens Toblung nahm sichtbare Form an und kam zu Gampopa. Dabei achtete es darauf, nicht sein ganzes Gefolge mitzubringen und erschien nur mit einigen von ihnen. Gampopa fragte sie: „Welche Dharma-Unterweisung möchtet ihr?“ „Was immer du uns gewähren kannst“, baten sie. So gab er ihnen folgende Erklä­rungen:‚Nichtmenschliche Wesen‘ bezieht sich auf für uns normalerweise unsichtbare Geistwesen, unter denen es sehr kraftvolle Wesen gibt, die auf Wunsch auch eine menschliche Form annehmen können. Das sind quasi Könige in der Welt der Geister und sie haben ein großes Gefolge. Deswegen hier die kleine Bemerkung, dass er nicht sein ganzes Gefolge mitnahm, da wären Hunderttausende gekommen. Er nahm nur einige mit, vielleicht fünf, zehn oder zwanzig, wir wissen nicht, wie groß die Gruppe war.

Gampopa ist sich bewusst, dass die Wesen, die da vor ihm sind, nicht das Karma für eine menschliche Existenz haben, in der es leichter ist, den Dharma zu praktizieren. Aber er sieht ihr Vertrauen und gibt ihnen Unterweisungen, die für Anfänger mit Vertrauen gut geeignet sind. Man kann also sagen, dass die Unterweisungen auch für uns gut sind, weil wir Anfänger mit ein wenig Vertrauen sind. Gampopa gibt ihnen als erste Unterweisung:

Grundlagen der DharmapraxisEs ist gewiss, dass wir nicht lange leben, sondern sterben werden. Deshalb sollten wir schnellstens Befreiung verwirklichen. So sicher wie die Sonne abends untergeht, genauso sicher bewirkt die Vergänglichkeit, dass wir hinüber gehen. Gebt deshalb faule Gleichgül­tigkeit auf und macht so starke Anstrengungen wie ein loderndes Feuer. Praktiziert ständig in der Gewissheit, dass die Belange dieses Lebens keinerlei Beachtung verdienen.Das sind also die Unterweisungen, die ihnen zuerst gegeben werden: Vergänglichkeit, die Möglichkeit, dass der Tod bald eintritt, und was wir mit unserem Leben beginnen sollen, wenn wir daran denken, dass der Tod tatsächlich sehr schnell zuschlagen kann. Diese Un­terweisungen sind Dharmaunterweisungen, die stets zu Anfang gegeben werden. Das ist die Grundlage und sollte auch die Grundlage von unserem Kurs hier sein. Und wir werden uns deswegen auch einen Moment nehmen und diesen Absatz kontemplieren, auf uns anwenden, uns fragen: „Was hat dieser Absatz für mich heute zu bedeuten? Was mache ich daraus, heu­te?“ Und falls uns dazu Fragen kommen, können wir die aufschreiben. Es wird sicher eine Gelegenheit dafür geben, diese Fragen zu stellen. Aber zunächst lasst uns dieses Gefühl der Dringlichkeit entwickeln. Die Dringlichkeit, dass Praxis wirklich Not tut, dass es wichtig ist, heute und nicht morgen den Dharma zu praktizieren.

— Meditation —

Wenn wir uns morgens der Vergänglichkeit bewusst werden, dann können wir uns ent­scheiden: „Ja, tatsächlich! Angesichts der Vergänglichkeit werde ich alles tun, um den Tag für Dharmapraxis zu nutzen!“ Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir andere Handlungen aus­führen müssen als sonst, aber wir werden sie mit einer anderen Bewusstheit ausführen. Wir werden sie transformieren, umwandeln in Dharmaaktivitäten. Seminare, wie wir jetzt eines haben, sind dafür da, das zu lernen.

Wir können uns in diesem Augenblick entscheiden: Der ganze Tag heute ist nur Dharma, und dann müssen wir herausfinden, wie das geht. Wie mache ich das, dass heute mein ganzer Tag Dharma wird? Wie kann ich das anstellen, dass selbst das Gespräch zu Mittag Dharma wird? Darf ich dann scherzen oder muss ich ernst bleiben? Wie ist das eigentlich? Wann wird etwas zu Dharma? Wann wird das Essen eines belegten Brotes zu Dharma? Muss ich irgendwie

4

Page 5: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

künstlich werden oder muss ich nur über Dharma sprechen, oder...? Wie geht das? Und diese Fragen werden alle auftauchen, wenn ich mich entschlossen habe, tatsächlich alles zu Dharma zu machen.

Genau das werden wir jetzt im Kurs versuchen. Wir haben zwölf Tage, die wir miteinander verbringen und wir werden diese zwölf Tage gemeinsam für den Dharma nutzen, von morgens bis abends und auch während der Nacht, so gut wir können. Das kann uns viel Freu­de bereiten. Es braucht nichts Schwieriges zu sein, wir können uns dabei gegenseitig unter­stützen.

Wenn wir in der Freude sind und die Freude allen schenken, dann brauchen wir uns keine Ge­danken zu machen. Wenn es eine Freude ist, die mit allen geteilt wird, dann sind wir im Dharma. Das ist schon einmal eine gute Richtlinie. Eine andere ist es, bei unserem Handeln darauf zu achten, nicht einfach nur impulsiv zu handeln. Wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, was jetzt das Richtige ist, dann setzen wir uns hin und tun gar nichts. Wir warten, bis Klarheit entsteht über das, was zu tun ist.

Es gibt also zwei Richtlinien: Wenn Freude in meinem Geist ist und diese Freude offen ist für alle, wenn sie mit allen geteilt wird, dann geht es in die rechte Richtung und wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, dann halte ich einfach inne und warte, bis sich Klarheit einstellt. Lasst uns hören, was Gampopa als zweite Unterweisung gibt:

Wenn ihr praktiziert, werden sich eines Tages die Erfahrungen und Verwirklichungen jen­seits des Intellekts einstellen. Aus Ursachen entstehen Früchte, das ist völlig sicher. Un­terschätzt also nicht die Folgen von Handlungen! Wendet mit aller Kraft das Hilfsmittel an, der Leiden der niederen Bereiche gewahr zu sein.Die erleuchteten Meister – so wie Gampopa hier – ermutigen uns: Wenn ihr tatsächlich prak­tiziert, könnt ihr sicher sein, dass sich Erfahrungen und Verwirklichungen jenseits des In­tellekts einstellen werden. Jenseits des Intellekts bedeutet jenseits von Worten, jenseits von dem, was man greifen kann. Es wird eine Sicherheit sein, die aus der Mitte unseres Seins kommt, die sich einstellt und auch gar nicht unbedingt ausgedrückt werden muss. Sie ist jen­seits von Worten und wird in uns wohnen als der Schatz, der unser Leben dann weiter gestaltet.

Gampopa verbindet diese Unterweisung, diese Ermutigung direkt mit dem Rat: Wenn ihr dort hinkommen wollt, in diese Verwirklichung jenseits des Intellekts, dann unterschätzt nicht die Früchte von Handlungen. Wendet das Gesetz von Ursache und Wirkung an! Die Kette von Ursache und Wirkung kann genutzt werden, um zur Verwirklichung zu kommen. Und das macht einen geschickten Praktizierenden aus.

Ein geschickter Praktizierender weiß, welche Handlungen welche Folgen haben. Er hat das beobachtet und setzt jeweils die Handlungen, die in die Richtung der Frucht führen, die er sich wünscht, zu der Verwirklichung, auf die er sich ausrichtet.

Wenn wir den nächsten Satz anschauen, so wird die Unterweisung über Karma sofort ver­bunden mit der Unterweisung über die Leidhaftigkeit der Erfahrungen in den so genannten niederen Bereichen. Damit sind die Bereiche großen Leides gemeint, die aus unseren Hand­lungen resultieren. Handlungen, die wir dummerweise ausgeführt haben, ohne uns der vollen Konsequenzen bewusst zu sein. Diese Handlungen kontemplieren wir auf ihre Wirkungen hin. Wir schauen, was für Handlungen welche Folgen haben. Handlungen, die ich mit Boshaf­tigkeit ausführe, mit Geiz, mit besitzen wollen, was Ausdruck von Begierde ist, mit Neid usw. Diese Handlungen führen jetzt schon zu einem engen Geist, sie bewirken Leid bei anderen und die Folge später wird sein, Leid zu erfahren. Wir kontemplieren diesen Umstand, um uns zu motivieren, solche Handlungen zu unterlassen und geschickter mit unseren Handlungen umzugehen: um solche Handlungen auszuführen, die zu Freude beitragen, zu Glück, zu in­

5

Page 6: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

nerer Ausgeglichenheit, zu Liebe und Mitgefühl, die Weisheit hervorbringen. Und wir ver­bringen unsere Tage damit, solche Handlungen auszuführen. Wenn wir auf diese Art und Weise geschickt und bewusst handeln, dann stellt sich tiefere Meditation ein, die ihrerseits zu Erfahrungen und zu Verwirklichung führt. Lasst uns diesen Absatz kontemplieren und genau in diesem Moment auf uns selber anwenden.

— Meditation —

Die Frage für die Kontemplation ist: „Welche Handlungen möchte ich heute vermeiden, wel­che Handlungen möchte ich heute ausführen?“ Diese Fragen stellen wir uns jeden Tag. Jeden Tag erneut! Wir entscheiden uns damit, einen Impuls in eine bestimmte Richtung zu geben.

Ich habe mir gerade gesagt: „Heute, zu Beginn des Kurses sind bestimmt noch viele Dinge zu regeln, es gibt vieles, was noch ansteht, Klärungen, die es braucht. Bemühe dich, nicht unge­duldig zu werden! Denk daran, wirklich ruhig und geduldig zu bleiben!“ Wir kennen ja unse­re Schwachpunkte. Wir wissen, dass wir vielleicht leicht gereizt reagieren oder dass wir die Tendenz haben, uns nur um uns selbst zu drehen oder dass wir sehr zurückhaltend sind, wenig auf andere zugehen. Dann können wir uns sagen: „Ja, ich werde mich bemühen, auf andere zuzugehen und vielleicht im Laufe des Tages drei verschiedene Personen einfach einmal anzusprechen und mich für einen direkten Kontakt öffnen!“ Und dann gibt es andere, die wissen: „Mein Schwachpunkt ist, dass ich so viel rede. Ich rede immer von mir selbst und ich bin so voll mit mir selbst. Ich werde heute einfach einmal den anderen zuhören. Ich werde mich bemühen, heute das Zuhören zu stärken und eher einmal fragen, wie es dem anderen geht und was der andere macht, statt so viel von mir selbst zu erzählen!“

Das ist gemeint mit: „Welche Handlungen möchte ich heute ausführen und welche Hand­lungen möchte ich heute unterlassen?“ Damit ist nicht unbedingt gemeint: „Ich werde heute nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen!“ Das ist auch gut, aber nicht immer das Aktuellste. Es ist die Grundlage, aber es sind oft subtilere Punkte, an denen wir arbeiten.

Diese subtilen Punkte haben meistens etwas mit dem Redeverhalten zu tun. Es passiert uns sehr leicht, dass wir – wenn wir in so großen Gruppen zusammen sind und uns wieder treffen – von jemandem sprechen, der nicht da ist. Und nach den ersten paar Sätzen, die noch ganz nett sind, gleiten wir ab in eine etwas kritische Darstellung des Abwesenden und beginnen, unsere Geistesgifte in Umlauf zu bringen. Da sollten wir aufpassen. Wir sollten uns für den Grundsatz entscheiden, zunächst einmal nicht von Menschen zu sprechen, die nicht anwesend sind. Wenn wir es aber tun, dann auf eine wirklich unterstützende Art und Weise. Wir sollten da aufhören, wo es beginnt abzugleiten, wo plötzlich unsere Emotionen stärker werden, wo wir uns herausheben möchten als jemand, der es besser weiß oder kennt: „Der andere ist ja nicht ganz so klar wie ich und nicht ganz so zuverlässig und nicht ganz so dieses und jenes... !“ Wenn dieses ‚nicht ganz so‘ beginnt, ‚ich fühl mich ein bisschen besser als der, über den ich spreche‘, dann sofort aufhören, sofort innehalten, kein Wort weiter!

Es sind genau diese subtilen Punkte: Der feine Stolz, mit dem man spricht, das feine Gefühl der Überlegenheit, das sich einstellt, wenn man über den anderen spricht. Genau das ist es, was die Kluft schafft, was Vertrauen untergräbt und was eine Sangha auseinander bringen kann. Wenn wir hingegen voll guten Willens über die Qualitäten des anderen sprechen, uns selbst anschauen und nie aus Stolz heraus sprechen, sondern wirklich ein demütiges Gefühl sich einstellen lassen, ein Gefühl des Verstehens und ein Gefühl des „Wir haben alle dieselben Emotionen, es ist keiner von uns besser!“, wenn wir aus diesem Gefühl heraus spre­chen, dann bauen wir eine Gemeinschaft auf, dann bauen wir eine Sangha auf.

Das war nur eines der wichtigsten Beispiele dafür, was es bedeutet, auf seine Handlungen, auf die Folgen von Handlungen zu achten. Wenn wir auf diese Weise wirklich im positiven Handeln und Sprechen sind, dann werden sich die Erfahrungen, die Verwirklichungen in der

6

Page 7: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Meditation einstellen. Sonst können sie sich nicht einstellen, wir schaffen zu viel Negativität im Geist und es wird nicht möglich sein, wirkliche Fortschritte auf dem Weg zu machen.

Wenn wir in dem Gefühl „Ich bin besser als andere! Ich weiß es besser als andere!“ festste­cken, dann ist es dieses Gefühl, das wir als starke Dualität bezeichnen, ein Gefühl von Ge­trenntsein: ich und andere. Der Blick geht vom inneren Leuchtturm nach außen, von dort aus beurteilt man, wie der andere ist und wie er zu sein hat. Und dieses Gefühl wird nicht einfach aufhören, wenn wir uns zum Meditieren hinsetzen. Es wird weitergehen und genau das wird die Blockade sein, die verhindert, dass Erfahrungen und Verwirklichungen auftauchen.

Wenn wir den Tag über damit verbringen, das Ich stark zu betonen: „Ich im Verhältnis zu anderen! ... Ich bin wichtig! ... meine Gedanken, meine Urteile, das was ich für gut halte...“, dann wird sich dieses Ich-Gefühl in der Meditation fortsetzen, es wird präsent sein als ein starkes Ich, das jetzt meditieren möchte. Und nur der Wunsch, dass das Ich sich jetzt bitte auf­lösen möge und kein Hindernis sein möge für die Meditation, wird nicht ausreichen. Wir sind Opfer unserer eigenen Tendenzen, wir erleben die Folge dessen, was wir kultiviert haben. Darum lasst uns im Alltag Handlungen kultivieren, die diese Ich-Bezogenheit abschwächen!

Was wir verdienstvolle Handlungen nennen, sind Handlungen, die die Ich-Bezogenheit ab­schwächen. Das nennen wir heilsame Handlungen. Der nächste Absatz schließt direkt an das an, was wir gerade erklärt haben:

Wenn wir nur uns selbst befreien möchten, entspricht das dem geringeren Fahrzeug. Da­her sollten wir uns ständig in Liebe und Mitgefühl üben, indem wir uns der Güte der frü­heren Mütter erinnern. Übt euch unaufhörlich im Erleuchtungsgeist: dem Wunsch, alle Wesen zu befreien. Wenn ihr darin geübt seid, werdet ihr nicht mehr an euch selbst den­ken, ihr werdet spontan zum Nutzen der anderen handeln: der Geistesstrom wird zutiefst gereinigt und die beiden Schleier verschwinden von selbst. Die beiden Schleier sind die emotionale Verschleierung und die Schleier, die verhindern, dass vollkommene Weisheit entsteht. Dieser Absatz geht noch einen Schritt weiter als das, was wir vorher schon über Ich-Bezogenheit gesagt haben. Er führt uns in den Erleuchtungsgeist, in das Bodhicitta hinein, die Absicht, alles zu tun, um anderen zu helfen. Wenn diese Absicht da ist, können wir Handlungen, die darauf basieren, ausführen. Das ist die grundlegende Richt­schnur. Wenn ich wirklich zutiefst hilfreich sein möchte, kann ich Handlungen getrost ausfüh­ren, da brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Lasst uns diesen Abschnitt meditieren und natürlich wieder auf uns selbst anwenden. Was bedeutet das für mich heute?

— Meditation —

Ihr seht, dass wir Handeln und Meditieren nicht voneinander trennen können. Schaut Euch den letzten Satz dieses Absatzes an: „Der Geistesstrom wird zutiefst gereinigt und die beiden Schleier verschwinden von selbst.“ Das ist die Folge von Handeln mit dem Erleuchtungsgeist, mit einem Geist von Liebe und Mitgefühl, der nur die Erleuchtung aller Wesen in sich trägt. Und das alleine reicht, um die Schleier aufzulösen. Die emotionalen Schleier reinigen wir größtenteils am Anfang des Weges, vor dem Eintritt in die erste Bodhisattvastufe. Dann geht die Reinigung der Schleier auf einer subtileren Ebene weiter. Die Schleier, die das Gewahr­sein verschleiern, so dass man nicht sieht, was wirklich ist, werden dann auf den zehn Bodhi­sattvastufen gereinigt bis Buddhaschaft entsteht und die Kraft, die das alles reinigt, ist Liebe und Mitgefühl.

Was speziell die Emotionen angeht: Schaut gut hin! Liebe und Mitgefühl sind das stärkste, was es gibt, um die eigene Emotionalität aufzulösen. Man kann sagen, es ist die Waffe des Bodhisattvas. Womit führt der Bodhisattva-Krieger seinen Feldzug? Mit Liebe und Mitgefühl. Die Waffe von Liebe und Mitgefühl beseitigt alle Emotionen. Begierde kann nicht wider­stehen, wo Liebe und Mitgefühl sind. – Wir sprechen von unserer eigenen Begierde. – Hass,

7

Page 8: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wut, Ärger können nicht widerstehen, wo Liebe und Mitgefühl im Geist auftauchen. Neid, Eifersucht können nicht widerstehen, wo Liebe und Mitgefühl sind. Stolz kann nicht wider­stehen, wo Liebe und Mitgefühl sind und schließlich auch die Unwissenheit, deren Zentrum die Ich-Bezogenheit ist: Diese Ich-Bezogenheit kann nicht widerstehen, wo Liebe und Mitge­fühl sind. Liebe und Mitgefühl werden dazu führen, dass die Ich-Bezogenheit immer schwä­cher wird, immer mehr nachlässt, und damit tut sich der offene Raum des Geistes auf. Lasst uns den nächsten Abschnitt anschauen, der uns noch einen Schritt weiter führt:

Alle Phänomene sind wie ein Traum, wie eine Illusion oder ein Spiegelbild. Die strahlende Kraft dieses Verständnisses wird die Begierde und das Haften an diesem Leben un­terwerfen. Üben wir uns auf diese Weise, verändert sich unsere Geisteshaltung zutiefst. Verwirrte Leute, die ihren Geist nicht zur Umkehr bringen, werden wegen ihrer offensicht­lichen emotionalen Verblendung keine Befreiung erlangen.Dieser Abschnitt beginnt mit dem Satz über das letztendliche Bodhicitta, den letztendlichen Erleuchtungsgeist, der die eigentliche, höchste Weisheit ist, der darin besteht, die illusorische Natur aller Erscheinungen zu kennen, der alles noch gebliebene Haften auflöst. Lasst uns diesen letzten Absatz als Abschluss für die Morgenunterweisung meditieren und den Wunsch entwickeln, dies zutiefst umzusetzen und den Sinn davon zutiefst zu verstehen.

— Meditation —

Zweite Unterweisung

Einführung zu den sechs ParamitasIn den nächsten Tagen werde ich selbst das Kapitel über meditative Stabilität aus dem Kost­baren Schmuck der Befreiung von Gampopa unterrichten, insbesondere die Seiten 29–34, die ihr vor euch habt. Die anderen Seiten werden in den Gruppen nachmittags durchgenommen. In den letzten Jahren haben wir in den Kleingruppen nachmittags alle Kapitel des „Kostbaren Schmuckes der Befreiung“ durchgearbeitet, angefangen von der Buddhanatur über die Un­terweisung dazu, was ein spiritueller Freund ist, der uns dann seinerseits die Erklärungen gibt zur Vergänglichkeit, zu Karma, zu den Nachteilen Samsaras, über die Zufluchtnahme und das Entwickeln von Bodhicitta. Und mit dem Entwickeln von Bodhicitta sind wir jetzt an dem Punkt, wo wir uns mit den sechs Paramitas, den sechs befreienden Qualitäten beschäftigen, die Ausdruck sind von dem angewandten Erleuchtungsgeist. Sie sind die Antwort auf die Frage: „Wie kann ich handeln? Was soll ich tun, wenn ich Liebe und Mitgefühl tatsächlich umsetzen will?“ Und die Antwort ist: „Praktiziere die sechs Paramitas!“

Wenn wir uns von jetzt an am Nachmittag der Freigebigkeit zuwenden und dann später der Disziplin, der Geduld, der freudigen Ausdauer, der meditativen Stabilität und im nächsten Kurs der Weisheit, dann ist es wichtig, dass wir uns bewusst sind, dass diese sechs Paramitas eine gemeinsame Wurzel haben, eine gemeinsame Quelle. Und das ist das Mitgefühl. Liebe und Mitgefühl können wir als eine Herzenskraft betrachten. Sie entspringen dem Wunsch, allen Wesen nützlich zu sein und sind die Umsetzung dieses Wunsches.

Das ist der Grund, warum Liebe und Mitgefühl nicht als eigenes Paramita extra angeführt werden. Weil Liebe und Mitgefühl die Quelle der anderen Paramitas sind, durchdringen sie die Paramitas und sind wie die Herzenskraft, aus der diese befreienden Qualitäten geboren sind.

1. Wenn wir z.B. die Freigebigkeit nehmen: Jemandem etwas zu geben, was er braucht, ist Ausdruck von Mitgefühl und Liebe, ist Ausdruck dieser Herzenskraft, dem anderen wirklich etwas Gutes tun zu wollen.

8

Page 9: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

2. Genauso die Disziplin: Das Unterlassen schädlicher Handlungen beruht auf Mitgefühl, kein Leid hervorrufen zu wollen und das Ausführen heilsamer Handlungen beruht auf Liebe. Also auch Disziplin ist Ausdruck von Liebe und Mitgefühl.

3. In der gleichen Weise die Geduld: Wenn wir Liebe und Mitgefühl im Herzen tragen, dann brauchen wir uns keine Gedanken mehr um Geduld zu machen. Die ist ganz von selber da, weil wir aufgrund von Liebe in einer Geisteshaltung sind, in der wir dem anderen alles Gute wünschen, auch alle Vorteile, die sich der andere wünscht. Wir ge­raten nicht in diesen Zwiespalt: Wer kommt zuerst – ich oder der andere? Wir wün­schen dem anderen wirklich, dass er einfach das bekommen und finden kann, was er braucht. Und wenn wir im Mitgefühl verankert sind, dann verstehen wir in schwie­rigen Situationen, dass der andere in seinen Emotionen gefangen ist. Und dieses tiefe Verstehen, was Ausdruck des Mitgefühls ist, bewirkt, dass wir Geduld mit den Emo­tionen anderer haben können. Geduld ist dann ganz natürlicherweise da.

4. Ganz leicht ist es bei der freudigen Ausdauer zu sehen. Was gibt uns diese Freude und diese Ausdauer, heilsame Handlungen auszuführen zum Wohle anderer? Das sind Liebe und Mitgefühl. Liebe und Mitgefühl sind die Quelle, aus der sich alle heilsamen Handlungen speisen und die uns helfen auch die Hindernisse zu überwinden, die sich beim Ausführen heilsamer Handlungen einstellen. Wenn wir von Ich-Bezogenheit in unserer Dharmapraxis motiviert wären, dann würden wir damit aufhören, sobald es schwierig wird und wir selber keinen großen Nutzen mehr aus unserer Dharma-Ak­tivität zu ziehen scheinen. Weil wir uns aber für die Erleuchtung aller Wesen einsetzen, von echter Liebe, echtem Mitgefühl motiviert sind, werden wir die Kraft haben, zu sagen, „Ist doch egal, ob ich da viel Energie und Zeit hineinstecke, es geht mir um dieses große Ziel, den Dharma zu praktizieren und zu unterstützen, damit alle Wesen Befreiung verwirklichen!“ Und dann lassen wir in unseren Anstrengungen nicht nach, weil es nicht um uns selber geht. Es geht um etwas viel Größeres.

5. Wenn wir uns jetzt die meditative Stabilität anschauen, dann wird auch offensichtlich, dass alle Hindernisse, die in der Meditation auftauchen, mit Ich-Bezogenheit zu tun haben. Wir sind so mit uns selbst beschäftigt, mit dem, was wir erlebt haben, mit dem, was wir sind und mit dem, was wir sein werden. Darum drehen sich all unsere Ge­danken und daraus entsteht alles geistige Aufgewühltsein. Wir können uns als Selbst­diagnose sagen: „Wenn mein Geist aufgewühlt ist, dann mangelt es mir an Bodhicitta! Es mangelt mir an Liebe und Mitgefühl, drum komme ich nicht zur Ruhe!“ Obwohl ich vielleicht meine, sehr um das Wohl anderer bemüht zu sein, wenn ich genau hinein schaue, dann ist es die Ich-Bezogenheit in dem Bemühtsein um andere, die meinen Geist aufwühlt. Es ist nicht das wirkliche Bemühen um andere, es ist das Ich, das et­was für andere tun will, weil das Ich sich Sorgen macht, weil z.B. der Sohn/ die Toch­ter nicht nach Hause kommt. Es ist nicht das Wohlergehen des Sohnes/ der Tochter, das uns dann so aufwühlt. Es ist das Ich, dass ich nichts tun kann, dass ich gerade gefangen bin in der Unfähigkeit, nichts bewirken zu können, nicht schützen zu können. Immer wieder, wenn wir für das Wohl anderer aufgewühlt sind, ist es doch wieder nur ich selbst. Das wirkliche Bodhicitta wühlt nicht auf. Das wirkliche Bodhi­citta ist der beruhigendste Faktor im Geist, den es überhaupt gibt. Es ist oft so, dass wir da eine Vermischung erleben. Wir denken, es ginge um andere, wenn es uns auf­wühlt, aber eigentlich geht es um uns selbst. Da müssen wir ganz tief in den Spiegel schauen und ehrlich sein. Wenn wir ständig herumrennen, um etwas für das Wohl der anderen zu tun, das ist unser eigenes Aufgewühltsein. Wir können laufen, aber mit einem ruhigen Geist, von Bodhicitta motiviert.

6. Wenn wir uns der Weisheit zuwenden, dann merken wir, dass auch sie vollkommen aus Liebe und Mitgefühl entsteht. Die Weisheit ist definiert als das Wissen um die Er­

9

Page 10: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

leuchtung. Das bedeutet das Wissen darum, wie Erleuchtung zu verwirklichen ist. Und dieses Wissen entsteht aufgrund des Suchens nach Lösungen für zwei Fragen: „Wie kann ich keine Last mehr für andere sein?“ und „Wie ist es möglich, anderen und mir selbst, die wir in Leid gefangen sind, zur Erleuchtung zu verhelfen?“ Liebe und Mit­gefühl suchen nach Lösungen, wie weniger Leid bewirkt werden kann und wie man wirklich zum Diener anderer Wesen werden kann. Auch die höchste, nonduale Weis­heit, Mahamudra entsteht aus Liebe und Mitgefühl, und zwar, weil sie das Gegenteil ist von Ich-Anhaften. Wenn wir viele, viele Handlungen aus Liebe und Mitgefühl aus­führen, dann schwächen wir die Kraft des Ich-Anhaftens. Das Haften an der eigenen Bedeutung wird immer geringer und wenn wir uns dann in Meditation setzen, kann sich mit Leichtigkeit der nonduale Geist, der nicht Ich-bezogene Geist, der offene Geist einstellen. Das ist die Folge eines Lebens in der Ausrichtung auf das Wohl aller Wesen.

Ich hab mit euch jetzt eine kleine Reise durch die sechs befreienden Qualitäten (Paramitas) gemacht, einfach nur, um den Zusammenhang mit Liebe und Mitgefühl zu erklären. Und dabei habe ich mich auf ein Zitat von Buddha im Lotus Sutra gestützt, in dem er sagt: „Wenn es eine Qualität gäbe hier in meiner Handfläche und die Qualität wäre die Quelle aller er­leuchteten Qualitäten, um welche würde es sich handeln? Die Antwort ist: Mitgefühl.“ Mitge­fühl ist die Quelle aller erleuchteten Qualitäten. Und es gibt viele solche Zitate. Eines, was ihr auch kennt, ist im Mahamudra-Gebet vom dritten Karmapa, wo es heißt: „Wenn die Liebe vollständig den Geist ausfüllt, dann kommt das zeitlose Gewahrsein in unserem Geist hervor.“ Es gibt viele solche Zitate.

Diese Erklärungen sind deswegen so wichtig, weil wir ja alle dieses zeitlose Gewahrsein verwirklichen möchten. Aber das ist schwer zu verwirklichen, wenn man sich einfach nur hin­setzt und dann sagt: „Bitte!!!“ So kommt es nicht, weil wir noch so stark in der Dualität gefangen sind. Wir versuchen es aber immer wieder und laufen wie gegen eine Mauer. Der beste Umgang mit dieser Mauer ist, Liebe und Mitgefühl zu entwickeln. Über Liebe und Mit­gefühl öffnet sich uns das zeitlose Gewahrsein. Motiviert von Liebe und Mitgefühl können wir tatsächlich einiges tun. Wenn wir irritiert sind, können wir uns hinsetzen, auf den Atem achten, Tonglen üben, wir können verschiedene Methoden anwenden, Liebe und Mitgefühl zu entwickeln, wir können Kontemplationen machen, Mantras anwenden, usw. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Mauer, die sonst so dicht ist, zu schwächen und zum Zerbröckeln zu bringen.

In der Praxis brauchen wir zwei Beine, um vorwärts zu kommen: Das sind einerseits Liebe und Mitgefühl und andererseits Weisheit, das Klären der Konzepte und des Erfassens von dem, was ist. Wir haben viele Ideen über die Wirklichkeit, die wie Schleier sind, die es uns schwierig machen, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist. Daran müssen wir arbeiten und diese Konzepte auflösen, was aber recht leicht sein wird, wenn wir zugleich Liebe und Mitge­fühl haben. Wenn wir nur mit dem Intellekt arbeiten, dann ist das ein sehr langer Weg, auf dem viele verzweifelt aufgeben. Wir müssen dann nämlich den Intellekt genauso intensiv be­arbeiten, wie wir sonst meditieren würden. Wir müssten den ganzen Tag die intellektuellen Versuche, eine Wirklichkeit zu etablieren, ad absurdum führen. Wir müssen genauso intensiv an der Aushebelung des Intellekts arbeiten, wie wir auf dem Weg des Herzens am Aushebeln unserer Ich-Bezogenheit arbeiten, an dieser Ich-Bezogenheit, die Liebe und Mitgefühl verhindert. Der Weg über den Intellekt ist möglich, aber er ist für viele schwerer zu gehen als der Weg über Liebe und Mitgefühl.

Das Beste ist, Intellekt und Herz zusammen auf den Weg zu bringen. Während der nächsten Tage wird es meine Aufgabe sein – indem ich dem Text von Gampopa über Meditation folge – diese intellektuellen Schleier anzugehen, wo der Verstand bestimmten Annahmen aufsitzt,

10

Page 11: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Daran werden wir arbeiten. Gampopa legt darauf grossen Wert, zu einem korrekten, intellektuellen Verständnis zu kommen.

Alle müssen Mitgefühl und Weisheit kultivieren. Manche tun dies mit zehn Stunden medita­tiver Praxis pro Tag begleitet von vielleicht zwei Stunden Studium pro Tag. Bei anderen steht das Studieren viel mehr im Vordergrund, also z.B. zehn Stunden Studium pro Tag und zwei Stunden Meditation, wobei aber beide Wege auf Mitgefühl aufbauen. Bei den Kagyüpas legen wir zusätzlich noch großen Wert auf Hingabe. Wohingegen die Gelugpas mehr Wert auf ein tiefes Studium der Madhyamaka Philosophie legen und sich eingehend mit den Argumenten befassen, warum es aufgrund von Logik gar kein individuelles Ich geben kann und warum es kein Selbst in den Phänomenen gibt, usw. Um zur Erleuchtung zu kommen, brauchen wir beides: Mitgefühl und Weisheit und diese beiden komplementären Qualitäten entwickeln sich dank unserer Motivation, anderen zu helfen.

Wir werden eine Übung machen: Wir begeben uns in Meditation und schauen uns die Ge­danken an, die kommen. Wir schauen, welche Motivation hinter diesen Gedanken ist: Sind sie motiviert von Ich-Anhaften oder von Bodhicitta. Nur das, einfach nur schauen und heraus­finden, was unsere Gedanken motiviert. Da werden wir einiges bemerken.

— Meditation —

Es ist erstaunlich wie das geht, nicht? Allein dadurch, dass wir mit dieser Frage rangehen, gibt es kaum Gedanken, so viel weniger Gedanken als sonst, weil wir aufgrund der Frage in un­serem Geist, nicht bereit sind, auf den Kleber von ich-bezogenen Gedanken einzusteigen. Wir sind mit so einer wachen Aufmerksamkeit da, dass wir jeden ich-bezogenen Gedanken gleich abschießen würden. Darum erheben sich die kaum, es sind hier und da ein paar Wahrneh­mungen, die wir auch mit dem Ich in Beziehung gebracht haben, aber es war sehr wenig an emotionalem Aufruhr. Da müssen wir länger meditieren, dann kommt das schon.

Gampopa über meditative StabilitätIch lese euch jetzt eine Zusammenfassung dessen vor, was Gampopa im Schmuck der Befrei­ung zur meditativen Stabilität geschrieben hat:

Jemand ohne meditative Stabilität wird ablenkenden Einflüssen unterliegen und sein Geist wird von den Reißzähnen emotionaler Verblendung verwundet werden. Ohne meditative Stabilität entsteht zudem keine klare (übersinnliche) Wahrnehmung und ohne klare Wahr­nehmung können wir den Wesen nicht helfen. Darüber hinaus entsteht ohne meditative Stabilität keine Weisheit und ohne Weisheit erlangen wir keine Erleuchtung. Es ist klar, dass jemand ohne meditative Stabilität den Ablenkungen unterliegen wird. Es gibt zwei Formen der Ablenkung, das Aufgewühltsein und die Dumpfheit des Geistes, die mangelnde Klarheit, wozu auch Schläfrigkeit gehört. Beides sind Formen, wie sich emotiona­le Verblendung in unserem Geist manifestiert, und wir sind wie in den Reißzähnen der Emo­tionen, wir sind Gefangene unserer Emotionen, wenn der Geist nicht stabil genug ist. Stabiler Geist bedeutet entspannter Geist: ein Geist, der nicht widerstrebt, sich den Eindrücken, die auftauchen, nicht widersetzt. Ein Geist, der entspannen kann. Wir können meditative oder geistige Stabilität übersetzen mit tiefer Entspanntheit, tiefe Entspannung des Geistes. Ein tief entspannter Geist ist ein Geist, der in meditativer Stabilität verweilt. Wenn ich nicht entspannt bin, nehme ich die geistigen Bewegungen als Bedrohung wahr und bin in Anspannung, versu­che mich dagegen zu wehren. Und weil ich mich wehre, können sie mich beeinflussen. Wo kein Widerstand ist, wird auch keine weitere zusätzliche Bewegung ausgelöst. Ich bin dann wie eine Wolke, durch die Dinge einfach hindurchgehen können und die Wolke wird davon nicht berührt, nicht gestört. Wir sollten also als erstes verstehen, dass ein aufgewühlter Geist

11

Page 12: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

von Widerständen kommt gegenüber dem, was passiert und von Anhaften an das, was passiert. Also ein Festhalten an dem, was man will und was man nicht will.

Wenn wir von klarer, übersinnlicher Wahrnehmung sprechen, dann sind das Wahrneh­mungen, wie zum Beispiel den Geist, die Gedanken anderer Wesen zu kennen, zu sehen, was man nicht mit den Augen sehen kann, zu hören, was man nicht mit den Ohren hören kann. Das sind Fähigkeiten, die sich einstellen mit den tiefen meditativen Versenkungen, die wir die Dhyanas nennen, die dritte Stufe von geistiger Ruhe (Shamatha, Schinä). Wer darin stabil verweilt, bei dem tauchen diese klaren Wahrnehmungen auf. Ohne diese klare Wahrnehmung sind wir – bei der Hilfe für andere – auf das angewiesen, was sie uns sagen. Wobei die Schwierigkeit darin besteht, dass die Person Schleier hat und dass alles, was man kommuni­ziert vom eigenen Geisteszustand beeinflusst ist. Wenn man den Geisteszustand des anderen direkt sehen kann, ist es sehr viel einfacher zu helfen, denn man sieht, wo die spezifischen Schleier der Person sind und was sie braucht.

Darüber hinaus entsteht ohne meditative Stabilität keine Weisheit. Die Weisheit, um die es hier geht, ist die Kenntnis des Geistes und die Kenntnis, wie der Geist funktioniert, und dafür braucht es als Minimum die Fähigkeit, den Gedankenprozess beobachten zu können, wahr­nehmen zu können. Wir müssen zumindest soviel Abstand zu den Gedanken haben, dass wir merken, wie die Ursache-Wirkungs-Ketten im eigenen Geist ablaufen. Wenn wir den Ge­danken völlig aufsitzen und völlig darin festhängen in unserer emotionalen Aufgewühltheit, dann können wir diese Form von Weisheit nicht entwickeln.

Die Meditation hat also ein Ziel, sie ist kein Selbstzweck. Wir meditieren nicht, um zu me­ditieren. Wir meditieren, um zu verstehen, um Weisheit zu entwickeln, um den Geist zu öff­nen. Darum geht es. Wenn wir diese Qualitäten entwickelt haben, dann begeben wir uns in die Aktivität, in die Hilfe für andere Wesen und bleiben nicht auf dem Kissen sitzen. Lasst uns et­was meditieren und die geistigen Prozesse beobachten.

— Meditation —

Besitzt jemand hingegen meditative Stabilität, so verliert sich das Verlangen nach geringe­ren Dingen, klare Wahrnehmung entsteht und unserem Geistesstrom öffnen sich die vielen Tore tiefer Meditation.Die geringeren Dinge, das ist alles, was nicht zur Erleuchtung führt. Die verschiedenen Tore tiefer Meditation sind das Aufgehen in verschiedenen Aspekten von eigentlich immer derselben Meditation: dem Loslassen der Ichbezogenheit. Aber mal ist dabei das Gewahrsein der vier Wahrheiten stärker im Vordergrund, mal das Aufgehen in den vier grenzenlosen Qualitäten usw. – bestimmte Aspekte des Dharmas sind unterschiedlich stark präsent. Das kann so weit gehen, dass wir in diesen Meditationen Zugang zu den reinen Ländern gewinnen und dort die Buddhas unterrichten hören.

Dadurch entsteht Weisheit, die alle unsere emotionale Verblendung besiegt. Wir sehen die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, Mitgefühl für alle Wesen entsteht und der Lehrer ist in der Lage, alle Schüler zur Erleuchtung zu führen.Die Wirklichkeit zu sehen, wie sie wirklich ist bedeutet, die Natur aller Phänomene und die Natur des Geistes zu sehen. Mitgefühl für alle Wesen ist dieses besondere Mitgefühl, das auf der Erkenntnis aufbaut, persönlich erfahren zu haben, was der Unterschied ist zwischen dem befreiten Geisteszustand, frei von Haften und dem gewöhnlichen Zustand des Haftens an der Illusion eines Ichs, in dem alle nicht-verwirklichten Wesen sind. Dieser Unterschied wird so klar, so deutlich, dass ein tiefes Mitgefühl entsteht, weil wir jetzt genau wissen, worin die Wesen wirklich gefangen sind und worum es geht, wenn wir davon sprechen, alle zur Befrei­ung zu führen.

12

Page 13: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Die Essenz von meditativer Stabilität ist geistige Ruhe (Shamatha). Deren Wesen ist, dass der Geist innerlich einsgerichtet im Heilsamen verweilt.Innerlich einsgerichtet im Heilsamen verweilen ist hier die Definition für meditative Stabilität und tiefe Meditation. Das bedeutet, in dem zu verweilen, was zur Erleuchtung führt. Das ist kein neutrales Verweilen, einfach so, gedankenfrei, sondern ein Verweilen mit all dem und in all dem, was es braucht, um unsere Schleier aufzulösen. Es kann z.B. sein, dass wir eins­gerichtet sind in der Mantrarezitation, so dass wir gar nicht mehr berührt werden von dem, was um uns herum passiert. Wir sind voll mit der Entwicklung der Mantrarezitation beschäf­tigt oder mit der Visualisation oder mit der Kontemplation, aber wir sind ganz eins, es ist ein Nicht-Gespalten-Sein, eine Einheit mit dem Weg zur Erleuchtung. Darum geht es bei der me­ditativen Stabilität. Es ist also nicht eine Stabilität, die Gedankenfreiheit zum Inhalt und zur Definition hat, sondern genau das, was zur Auflösung von Schleiern führt: Einsgerichtet dabei zu sein bedeutet, ohne Ablenkung zu sein, ganz eins mit der Praxis zu sein, was immer die Praxis gerade ist.

Wir erlangen eine solche meditative Stabilität, indem wir aufgeben, was ihr nicht förder­lich ist: Ablenkung. Gib also als erstes Ablenkung auf. Hierfür braucht es Abgeschieden­heit: körperliche Abgeschiedenheit, indem du dich von Geschäftigkeit löst, und geistige Abgeschiedenheit, indem du dich von begrifflichem Denken löst.Sich in körperliche Abgeschiedenheit zu begeben bedeutet, sich von allen körperlichen Ak­tivitäten fernzuhalten, die nichts mit der Praxis zu tun haben. Dazu kann man weit weg gehen, in die Berge, in Retreats, es ist aber auch möglich, das im eigenen Haus oder Zimmer umzu­setzen. Wir können uns im Zimmer auf unser Kissen zurückziehen, selbst wenn andere Leute im Haus sind. Wichtig ist dabei, sich zu keinerlei Bewegungen motivieren zu lassen, die nichts mit der Praxis zu tun haben, und völlig auf dem Sitz anzukommen: kein Telefon, kein Essen, keine anderen Aktivitäten mehr, nur einfach auf dem Kissen sitzen.

Die geistige Abgeschiedenheit ist schwieriger zu verwirklichen. Wir müssen uns von begriffli­chem Denken lösen. Hier spricht der französische Übersetzer von vagabundierenden Ge­danken, die überall sind, nur nicht da, wo man gerade ist; man ist nicht präsent im Hier und Jetzt. Es sind Gedankenketten, die uns überallhin mitnehmen, aber nichts mit der Praxis zu tun haben. Der eigentliche Begriff ist ‚namtog‘, begriffliches Denken, den Konzepten und Ideen aufsitzen, die im Geist aufsteigen.

Das Merkmal von Geschäftigkeit ist ständiges Abgelenktsein durch Beschäftigung mit un­seren Kindern, Partnern und Bekannten oder mit unserem Besitz.Wir können sagen, dass der gemeinsame Faktor aller Geschäftigkeit die Identifikation ist. Un­ser Geist ist ständig abgelenkt von dem, womit wir uns identifizieren: unsere Kinder, unser Lebensgefährte, unser Besitz. Unsere Identifikation ist auf alle wichtigen Bereiche unseres Lebens, an denen wir haften, ausgeweitet. Diese Identifikation, dieses Haften, ist die Quelle für Ablenkung, für einen aufgewühlten Geist. Das wird im nächsten Absatz ausgedrückt:

Die Ursachen von Geschäftigkeit und zugleich auch der Grund, warum wir sie nicht aufge­ben, sind unsere Anhaftungen: unser Haften an Lebewesen, wie Kinder, Partner, Ange­stellte, Bekannte usw., wie auch unser Haften an materiellen Dingen, wie Essen und Besitz, sowie unser Haften an Anerkennung, Erfolg und Ansehen. Aufgrund all dieser Anhaftungen lassen wir Ablenkungen nicht los.Das alles sind unsere verschiedenen Identifikationen, Dinge, die uns wichtig erscheinen und von denen wir meinen, nicht ohne sie leben zu können. Da sollten wir vielleicht den Körper hinzufügen. Die Identifikation mit dem Körper, die Gedanken an das eigene Wohlergehen in Gesundheit oder bei Krankheit: „Wie kann ich mich von diesem Unwohlsein befreien? Was kann ich tun, um zukünftige Krankheit zu verhindern?“ Das alles sind Gedanken, die in der

13

Page 14: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Meditation eine stark ablenkende Wirkung haben. Wir meditieren ein bisschen über das, was wir eben gehört haben.

— Meditation —

Dritte UnterweisungIch schlage vor, dass wir zu Anfang ein bisschen meditieren und Bodhicitta entwickeln, in­dem wir zum Beispiel die Meditation des Tonglen ausführen, in der wir die Schwierigkeiten, das Leid anderer auf uns nehmen und die Energie des Mitgefühls und der Liebe aussenden.

— Meditation —

Meditation ist genau das: einsgerichtet im Heilsamen zu verweilen. Einsgerichtet in Bodhi­citta zu verweilen, Liebe und Mitgefühl verbunden mit Weisheit. Das ist eigentliche Meditati­on. Einsgerichtet bedeutet, dass wir uns aus Ablenkungen lösen. Um einsgerichtet im Heil­samen verweilen zu können, ist es wichtig, die Ablenkungen aufzugeben. Wie wir gestern gesehen haben, sind die Ablenkungen allesamt mit unseren Identifikationen verbunden. Nun wäre es natürlich schön, wenn wir uns zu Beginn der Meditation sagen könnten: „Jetzt identi­fiziere ich mich mit nichts mehr, nichts mehr geht mich etwas an.“ Das funktioniert leider nicht, wir müssen damit geschickter umgehen. Am Anfang ist es oft so, dass uns Dinge beschäftigen, die wir noch zu erledigen haben. Dann können wir uns ein Blatt Papier bereit legen und einfach kurz aufschreiben, was wir nicht vergessen sollten. Wir schaffen uns damit den Raum dafür, dass wir uns sagen können: „Jetzt ist es gut, ich schaffe mir hier einen Frei­raum, wie Ferien für eine Viertelstunde oder Stunde. Jetzt denke ich nicht mehr über die Be­lange des Alltags nach. Ich widme mich dem Entwickeln dieser tieferen Qualitäten, wozu ich sonst nicht komme, wenn ich mich immer um die täglichen Probleme drehe.

Um zu dieser tieferen Arbeit zu kommen, müssen wir uns den Rahmen dafür schaffen, den Rahmen, der nötig ist, um unabgelenkt sein zu können. Es ist wichtig klar zu machen, dass wir uns jetzt zur Meditation zurückziehen und nicht abrufbereit sind, dass wir z.B. nicht das Telefon abheben, dass wir es nach Möglichkeit sogar ausgesteckt haben. Wenn wir Kinder oder einen Partner haben, sagen wir klar, dass wir jetzt meditieren und sie uns bitte nicht stö­ren sollen. Wenn wir sehr kleine Kinder haben und es nicht anders einrichten können, als sie um uns herum zu haben, dann müssen die Kinder lernen, dass wir während dieser Zeit keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen, sondern dass wir sie nur aus einem Augenwinkel beobachten, um zu schauen, dass alles gut geht. Kinder können sich sehr gut daran gewöhnen. Wenn die Mutter entschlossen ist, wirklich bei sich zu bleiben, dann brauchen die Kinder bloß die Anwesenheit der Mutter und man kann praktizieren, wenn die Kinder dabei sind. Aber nor­malerweise ist es besser, sich alleine in einen Raum zurückzuziehen. Wenn man sich diesen Rahmen schafft, dann beginnt der Rahmen aufgrund der Regelmäßigkeit der Zeit, zu der man praktiziert, zu unserem Vorteil zu arbeiten. Innerhalb dieses Rahmens kann man dann los­lassen, es wird möglich, die tiefere Arbeit zu anzugehen.

Wenn man täglich zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort meditiert, ist es sehr schwierig, den inneren Schutzraum für diese Arbeit herzustellen. Der Ort ändert sich ständig, was unsere Aufmerksamkeit abzieht, und der innere Rhythmus ist nicht etabliert, wir sind zu einer immer anderen Zeit auf dem Meditationskissen. Und auch das ist ein kleines bisschen schwieriger. Darüber hinaus sind auch andere nicht daran gewöhnt, dass wir z. B. zu diesem Zeitpunkt – mitten am Tag – meditieren und sie werden unsere Aufmerksamkeit einfordern, werden uns stören, weil sie das nicht wussten, dass wir jetzt gerade meditieren. Wenn sie die Zeiten kennen, dann können sie respektvoll damit umgehen und warten, bis wir mit der Me­ditation fertig sind.

14

Page 15: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Zunächst klingt es etwas künstlich, sich so einen Rahmen zu schaffen, aber es verhält sich ge­nauso wie mit jeder anderen Arbeit, die unsere gesamte Aufmerksamkeit beansprucht. Wenn wir z.B. ein Buch, einen Artikel schreiben oder ein Gemälde malen wollen, dann schaffen wir uns einen Rahmen, wir schaffen uns Situationen, in denen wir unabgelenkt sein können, in denen nicht jederzeit jemand hereinkommen und uns stören kann. Unsere spirituelle Praxis ist doch das Wichtigste im Leben überhaupt und sollte deswegen auch genau diese Aufmerksam­keit bekommen, denselben Schutzrahmen oder einen besseren sogar als jede weltliche Auf­gabe, der wir uns widmen.

Für weltliche Aufgaben versuchen wir, gute Bedingungen zu schaffen. Das sind alles Auf­gaben, die eigentlich nur dafür sind, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen und uns er­nähren können, was ja wichtig ist und was wir nicht vernachlässigen sollten. Aber diese welt­lichen Arbeiten haben nicht die Kraft, uns aus Samsara zu befreien, aus dem Kreislauf des Erfahrens von Leid aufgrund der Tendenzen in uns, die so tief verwurzelt sind. Allein die spi­rituelle Praxis hat die Kraft, uns daraus zu befreien. Deswegen sollten wir wirklich alles tun, um uns Bedingungen zu schaffen, unter denen wir unabgelenkt praktizieren können. Das meint Gampopa, wenn er von der Notwendigkeit spricht, sich in Abgeschiedenheit zurückzu­ziehen. Und er schreibt weiter:

Zu den allgemeinen Nachteilen zu Geschäftigkeit heißt es: „Maitreya! Es gibt zwanzig Nachteile von Geschäftigkeit. Welche sind das? Der Körper ist ungezügelt, die Rede ist ungezügelt, der Geist ist ungezügelt. Die emotionelle Verblendung ist groß, man ist von weltlichem Gerede angezogen, negative Kräfte haben freie Bahn, einem zu schaden, man ist unachtsam und sorglos, man erlangt weder geistige Ruhe, noch intuitive Einsicht usw.“Wir könnten uns lange darüber unterhalten, was alles die Nachteile von Geschäftigkeit sind. Aber es ist offenkundig, dass – wenn wir aufgewühlt sind im Geist – es ganz leicht dazu kommt, dass sich Emotionen breit machen, dass sie sehr stark werden. Wenn wir überarbeitet sind, wenn wir an unseren Grenzen sind, voller Sorgen, haben Emotionen freie Bahn in un­serem Geist, wir haben kaum die Möglichkeit, ihnen Einhalt zu gebieten. Umso schwieriger ist es, die illusorische Natur von dem, was passiert, zu erkennen. Wie wollen wir mit einem aufgewühlten Geist bemerken, dass wir jetzt gerade wieder einer Illusion, einer Projektion aufsitzen? Wir sind bereits dabei zu reagieren. Kaum sagt uns jemand etwas, gibt es eine Ant­wort und der Prozess des Agierens und Reagierens ist schon im Gang. Um da auszusteigen und den tieferen Blick zu entwickeln, brauchen wir etwas Abstand, wir müssen uns im Laufe des Tages und auch im Laufe des Jahres Räume schaffen, in denen wir diese tiefere Arbeit machen können.

Zur Zeit des Buddha war es so, dass dieses fünfte Paramita – Meditation – und auch das sechste – Weisheit – den Laienpraktizierenden kaum unterrichtet wurde. Es wurden nur die ersten vier unterrichtet, weil man vermeiden wollte, dass sich im Geist eine innere Zerrissen­heit, eine Spannung einstellt, weil sie natürlich gerne meditieren wollten, aber aufgrund der vielen Verpflichtungen sich dafür gar nicht den Raum schaffen konnten. Sie waren so in den Erwerb des Lebensunterhalts eingespannt, dass es schier unmöglich erschien, sich die Zeit zur Meditation zu nehmen. Es gab aber auch damals schon einige Laienpraktizierende, die ganz offensichtlich in der Lage waren, zu praktizieren und die dann auch diese Unterweisungen be­kommen haben. Speziell mit der zunehmenden Verbreitung des Großen Fahrzeugs wurden alle sechs Paramitas auch bei Laien unterrichtet und sie wurden ermutigt, sich den Raum für Meditation zu schaffen.

Heute hätten wir eigentlich den Raum, um zu meditieren, wenn wir ihn uns nur nehmen würden. Aber oft stecken wir in solch einem Hamsterrad, ständig aktiv, ständig über das hin­aus, was eigentlich notwendig ist, weiter arbeiten, noch mehr tun, immer dabei, noch etwas zu

15

Page 16: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

verbessern, das Haus, den Garten, am Computer noch eine neue Software zu installieren, noch jemanden anzurufen, ins Kino zu gehen und noch jemanden einzuladen.... Wir beschäftigen uns ständig weiter. Und das wäre eigentlich der Raum, in dem wir meditieren könnten. Es gab früher keine 2, 4, 6 Wochen pro Jahr, in denen man aussteigen konnte aus dem Arbeitsprozess und Zeit hatte, um anderes zu tun. Ich weiß nicht, wann Ferien eingeführt wurden. Sie sind ein großes Geschenk und so haben wir heute mit geregelten Arbeitszeiten und Ferien die Möglichkeit, durchaus meditieren zu können. Gampopa fügt hinzu:

Der spezielle Nachteil von Geschäftigkeit ist, aufgrund des Haftens an Lebewesen nicht die Erleuchtung zu verwirklichen. Gib deshalb das Haften an ihnen auf.Eigentlich gibt es zwei große Anhaftungen: die Anhaftungen an Dinge und die Anhaftungen an Personen. Die Anhaftung an Dinge ist stark, aber sie lässt sich relativ leicht vermindern. Wir sind bereit zu sagen, „Wir machen nicht weiter am Haus, den Garten können wir auch so lassen, den Computer auch. Ich lasse die Dinge wie sie sind und repariere nur das, was dabei ist, kaputt zu gehen. Darauf beschränke ich mich, es braucht nichts mehr besser zu werden.“

Aber was die Beziehungen angeht, sind wir sehr stark gefangen in unseren Anhaftungen an Personen: Anhaftungen an Kinder, Verhaftetsein an Lebensgefährten, unsere Eltern, Freunde, Kollegen, an all die, die uns lieb und wert sind. Es ist nicht nur ein Haften und Wollen von unserer Seite, auch von der anderen Seite sind Ansprüche da, die an uns gestellt werden, wir leben in einem Netz sozialer und familiärer Verpflichtungen. Es ist schwer, sich in diesem Netz den Raum zu schaffen und auch entschlossen zu sein auszusteigen. Wenn wir selber aus­steigen, verlieren wir das, was uns die anderen geben: die Bestätigung, dass wir existieren, dass wir geliebt werden, dass wir interessant sind, dass es schön ist, mit uns Zeit zu ver­bringen. Stattdessen finden wir uns auf dem Meditationskissen wieder und es wird langweilig, wir werden traurig, wir fühlen uns allein, wir wünschen uns so sehr etwas anderes und etwas Interessanteres. Diesen unangenehmen Spiegel auszuhalten und da eine gewisse Stabilität zu entwickeln, das ist der erste Schritt in der Meditation. Er ist unangenehm und obendrein fragen uns die anderen: „Was machst du denn da eigentlich? Wozu denn das Ganze?“

Dahinter steht eine innere Arbeit im Erwerben von Autonomie, von Unabhängigkeit. Wir lö­sen uns aus der Abhängigkeit, immer wieder die Bestätigung durch andere erfahren zu müssen, aus der Abhängigkeit, immer etwas zu tun haben zu müssen, um nicht mit uns selber, mit dem Leid, was in uns selber ist, in Kontakt zu kommen. Der Moment, in dem wir uns aufs Kissen zurückziehen, ist der Moment, in dem wir allein sind, und dieses Allein-Sein ist zu­nächst einmal schwierig auszuhalten. Es ist nicht das, woran wir gewöhnt sind, aber es ist die Grundlage dafür, um Erleuchtung zu erlangen.

Wir können sagen, ein Buddha ist vollständig autonom, er ist nicht abhängig von anderen. Er ist voller Liebe und Mitgefühl, nur das, da ist keine Ich-Bezogenheit mehr und da ist niemand mehr, der auf die Bestätigung von anderen angewiesen ist. Ein Buddha ist genauso glücklich und ausgeglichen, wenn er allein ist, wie wenn er mit anderen zusammen ist. Das macht keinen Unterschied und darum ist er völlig frei in der Interaktion mit anderen. Er ist nicht angewiesen darauf, dass die anderen ihn lieben und mögen. Er ruht in sich selbst, weil er das wunscherfüllende Juwel des Geistes in sich freigelegt hat. Es geht um das Entwickeln der Fä­higkeit, allein zu sein, und das geschieht in Abgeschiedenheit. Gampopa schreibt:

Das Merkmal von Abgeschiedenheit ist Freisein von solcher Geschäftigkeit. Die Ursache von Abgeschiedenheit ist, allein an einem abgeschiedenen Ort zu leben.Allein bedeutet nicht, dass unser Herz verschlossen ist, sondern mit offenem Herzen allein zu sein. Das Herz offen für alle Wesen und dennoch allein in meinem Zimmer ohne Kontakt zu suchen mit anderen. Natürlich kann sich dieses Allein-Sein auch einstellen inmitten von Men­schen und da würde der Praktizierende dann dieses Allein-Sein akzeptieren, aber nicht um das

16

Page 17: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Allein-Sein weg zu wischen. Er würde nicht sofort Versuche machen, um in Kontakt mit anderen zu treten. Er würde zuerst einmal dieses Allein-Sein ertragen.

Die vielfältigen Vorzüge von Abgeschiedenheit zeigen sich, wenn wir uns der Erleuch­tung und der Lebewesen zuliebe von Geschäftigkeit zurückziehen und abgeschieden leben. Dies ist höchste Verehrung der Buddhas. Unser Geist löst sich von Samsara, wir werden frei von den acht weltlichen Beweggründen, emotionale Verblendung nimmt nicht weiter zu und tiefe Meditation entsteht.Schaut noch einmal hin: Wir ziehen uns der Erleuchtung und der Liebe zu den Lebewesen wegen aus der Geschäftigkeit zurück. Wir ziehen uns nicht zurück, weil wir der anderen über­drüssig sind, weil wir endlich einmal ausspannen müssen, weil wir nicht mehr können, son­dern wir ziehen uns zurück, weil wir wissen, dass es um die Erleuchtung geht, die wir zum Wohle aller Wesen verwirklichen möchten. Den Weg dorthin möchten wir anderen zeigen können, und darum ziehen wir uns aus Liebe zu ihnen zurück, weil wir sie so gerne haben und sie uns so tief ins Herz geschrieben sind. Wir ziehen uns zurück, um die Arbeit zu machen, die uns in die Lage versetzen wird, ihnen wirklich zu helfen.

Manche kommen ins Retreat und möchten einfach einmal Pause machen, einfach ausspannen, weg vom Normalen. Wenn sich die Motivation nicht ändert, haben diese Retreats keine große hilfreiche Wirkung, was die spirituelle Dimension angeht. Solche Retreats basieren auf einer ichbezogenen Motivation, man möchte einfach, dass es einem selber ein bisschen besser geht und dass man vor allen Dingen nichts mit anderen zu tun hat. Jetzt versteht mich nicht falsch – ich weiß, dass viele von Euch aus Bedingungen kommen, wo Ihr schwer arbeitet und so sind die ersten Tage eines Retreats durchaus dafür gedacht, sich einfach einmal zurückzuzie­hen und auszuschlafen. Aber dann beginnt das eigentliche Retreat und da geht es nicht mehr darum, es sich angenehm zu machen, sondern um eine wichtige innere Arbeit und diese ist meist unangenehm – später dann nicht mehr.

Wir sind also in einer Situation, in der wir lernen, unseren Geist zu meistern. Wir sind im Re­treat und es wird schwierig: Emotionen tauchen auf und wir lernen damit umzugehen. Und weil wir das lernen, können wir anderen etwas weitergeben. Wenn wir das nicht lernen, haben wir nichts weiter zu geben, wir sind keinen Schritt weiter als andere, wir sind genauso gefangen wie sie.

Das Hauptanliegen in Zurückgezogenheit ist, rasch tiefe Meditation entstehen zu lassen. Wenn Körper wie Geist in Abgeschiedenheit sind, kommt es nicht zu Ablenkung. Wenn wir nicht abgelenkt sind, finden wir Zugang zu tiefer Meditation und dann geht es dar­um, den Geist zu schulen, um Weisheit zu entwickeln.Wir werden jetzt gemeinsam meditieren: Den Körper in Abgeschiedenheit zu bringen, wäh­rend wir unter achtzig Leuten sitzen, wie geht das? Es ist sehr einfach: Wir setzen uns auf­recht hin und bewegen uns dann nicht. Gendün Rinpoche nannte das: Den Körper wie einen Berg zu belassen ohne sich zu bewegen, stabil ruhend wie ein Berg.

Die Abgeschiedenheit der Rede ist wie eine Flöte, die auf den Tisch gelegt und nicht benützt wird. Wir schweigen, dadurch ist die Rede, die Kommunikation in Abgeschiedenheit.

Den Geist in Abgeschiedenheit zu bringen, dafür gibt es verschiedene Methoden. Die beste ist, sich für keinen einzigen Gedanken zu interessieren, der da auftaucht. Kein Gedanke, der jetzt auftaucht, ist wichtig. Schaut einmal, ob Ihr es schafft, für fünf Minuten keinen einzigen Gedanken wichtig zu nehmen. Wenn man den Gedanken keine Wichtigkeit beimisst, gibt es zwar Gedanken, aber keine Gedankenketten. Schaut einmal, ob ihr das für fünf Minuten schafft.

— Meditation —

17

Page 18: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Meditation ist nicht dafür da, einen gedankenfreien Zustand zu erzeugen oder unbeweglich zu sitzen und zu meditieren. Es geht darum, diesen Raum zu schaffen, in dem wir hinschauen und untersuchen können, was eigentlich im Geist passiert. Jetzt konnten wir für fünf Minuten relativ ruhig sitzen, aber hätten wir länger gesessen, dann wären früher oder später Emotionen aufgetaucht, Gedankenketten wären wieder stärker geworden.

Wir brauchen die Fähigkeit, inne zu halten, zu schauen und dann in einem ersten Schritt Gegenmittel anzuwenden, Gegenmittel für die verschiedenen Emotionen. Die Idee bei Gegen­mitteln ist, dass wir einen Prozess, der dabei ist, neues Leid zu erzeugen, sofort beenden. Wir hören auf, uns in emotionale Reaktionen zu verfangen. Wir merken, dass wir dabei sind, Dinge zu sagen oder zu tun, die für uns wie für andere Leid erzeugen. Das Anwenden von Gegenmitteln ist noch nicht das tiefe Erkennen der Natur der Emotionen, aber es ist der erste Schritt in diese Richtung. Wir müssen zunächst einmal in der Lage sein, das zu unterbinden, was zusätzliches Leid erzeugt, um dann in diesem Freiraum noch tiefer zu schauen. Meister­schaft über den Geist beginnt damit, dass wir aufhören können, wenn wir wütend werden; dass wir den Weg aus der Begierde finden, wenn sie uns erfasst hat; dass wir die Eifersucht auflösen können, wenn sie auftritt; allgemein gesprochen: dass wir ein Gegenmittel einsetzen können, das der schwierigen Emotion eine Schranke setzt und den Geist in eine andere Bahn lenkt.

Wir müssen zunächst einmal einen Damm aufbauen, der bewirkt, dass wir nicht im normalen emotionalen Geschehen weiter verwickelt sind. Ein Schnitt muss dann den Geist in eine ande­re Richtung auf etwas Heilsames richten. Schauen wir einmal, was Gampopa uns hier in sei­ner Liste an Vorschlägen gibt. Er schreibt zur Schulung in meditativer Stabilität:

Zur Schulung des Geistes untersuchen wir, welche Emotion in uns am stärksten ist und kontemplieren dann das entsprechende Gegenmittel.Bei Anhaftung oder Begierde meditieren wir als Gegenmittel das Abstoßende. Bei Ab­neigung oder Hass meditieren wir als Gegenmittel die Liebe. Bei Unwissenheit me­ditieren wir über das abhängige Entstehen. Bei Neid meditieren wir über die Gleichheit von uns selbst und anderen. Bei Stolz meditieren wir das Austauschen von uns und anderen und bei gleich starken Emotionen oder vielen Gedanken meditieren wir auf den Atem.Zunächst untersuchen wir, welche Emotion in uns am stärksten ist. Das ist auf zweierlei Arten zu verstehen: Entweder ist es die Emotion, die gerade jetzt da ist und deswegen die stärkste ist oder es ist die Emotion, die uns am häufigsten und am stärksten bewegt und aufsucht. Wenn wir jetzt gerade eine Emotion haben, dann arbeiten wir natürlich mit dieser – das ist klar. Wir arbeiten nicht mit Ärger und Wut, wenn wir gerade in Begierde sind. Wir wenden zunächst einmal das an, was im Moment gebraucht wird. Aber meistens sind wir,– wenn wir uns hin­setzen um zu meditieren – nicht gerade in einer besonders starken Emotion. Dann arbeiten wir mit dem Gegenmittel, das wir allgemein am dringendsten brauchen, weil wir uns ja gut kennen. Ich weiß, ich habe starke Begierde oder oft taucht starke Wut auf und ich bereite mich innerlich darauf vor. Ich übe mich in dem Gegenmittel, damit es dann, wenn ich es brau­che, auch greift. Ich sollte, wenn ich in entsprechender Lage bin, dieses Gegenmittel anwenden können. Ich bereite mich also auf das vor, was mit Sicherheit eintreffen wird. Ich kenne mich und weiß, es wird nicht lange dauern und diese Emotion kommt wieder. So nutze ich die Zwischenzeit. Wir werden uns in der Reihenfolge durcharbeiten, wie Gampopa die Emotionen anspricht, als erstes also Begierde und Anhaftung.

Wenn Anhaftung bei uns vorherrscht, sollten wir über das Abstoßende, wenig Anzie­hende meditieren. Denke zunächst daran, dass dieser Körper aus Fleisch, Blut, Haut, Knochen, Mark, Lymphe, Galle, Schleim, Rotz, Spucke, Exkrementen und dergleichen besteht, aus insgesamt 36 unreinen Substanzen.

18

Page 19: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Diese erste Meditation wird von Lamas kaum noch unterrichtet, weil sie sehr ‚aus der Mode gekommen’ ist. Heutzutage ist der Körperkult extrem ausgeprägt. Es geht also zunächst dar­um, sich anzunehmen mit allen Makeln und Defekten, auch den anderen Menschen, so wie er ist. Wir dürfen uns an Schönheit freuen, aber darum geht es hier nicht. Auch geht es in dieser Meditation nicht darum, aus dem Körper plötzlich etwas Abscheuliches zu machen. Es geht um eine nüchterne Betrachtung, die uns aus der Faszination der körperlichen Begierde heraus­holt. Wir setzen sie in einem Moment ein, in dem wir überzeugt sind: Das ist jetzt nicht die Richtung, in die ich gehen möchte. Ich bin zum Beispiel voller körperlicher Anziehung für je­manden, der bereits verheiratet ist und weiß, das bringt nur endlose Schwierigkeiten und mir ist klar, ich brauche nur jetzt den Moment zu meistern, diese kleine Viertelstunde oder Minu­te, um da herauszukommen und nachher ist es gut. Da wende ich die folgende Methode an und stelle mir vor: Wie ist das eigentlich, wenn ich nur einen Millimeter unter die Haut schaue, bei mir und beim anderen? Bin ich dann angezogen von dem, was ich sehe, was ich mir vorstellen kann? Was ist eigentlich mit dieser attraktiven Hülle? Was ist da drunter? Wie fühle ich mich selbst? Und plötzlich bin ich aus dem Film draußen, die Kontemplation zieht uns aus dem Film der körperlichen Begierde und Anziehung heraus und dadurch habe ich et­was Raum und kann mich anders ausrichten. Das ist eine sehr effektive Methode, aber man muss voll überzeugt sein, sie auch anwenden zu wollen. Man muss dieses Medikament schlu­cken im vollen Bewusstsein, dass man die Wirkung auch möchte. Dann wirkt es hundertpro­zentig. Man kann damit jeden ‚Appetit’ untergraben, die Anziehung für den anderen kann man damit vollständig aufgelöst werden, wenn man es bewusst anwendet.

Dies ist kein Heilmittel, um langfristig Begierde aufzulösen. Das wird damit nicht möglich sein, dafür müssen wir noch tiefer hin schauen. Aber kurzfristig ist es das kraftvollste Mittel, was es überhaupt gibt, um uns aus dem Film der starken, körperlichen Faszination heraus zu holen.

Es gibt noch eine andere Meditation, die sehr hilfreich ist, um die Faszination am Äußeren zu untergraben: die Vorstellung, dass der Mensch, der uns so fasziniert, älter wird; zehn Jahre äl­ter, zwanzig Jahre älter, dreißig Jahre älter, vierzig Jahre älter, fünfzig Jahre älter. Wir stellen uns das Objekt unserer Begierde vor mit all den Runzeln und Falten, mit veränderter Gesichtsfarbe, wie er anfängt zu hinken und zu humpeln und gebeugt zu gehen. Wirklich alles im Detail! Und dann fragen wir uns: „Na, was ist jetzt mit deiner Anhaftung? Magst du die Person oder magst du nur die äußere, junge Erscheinung?“ Das bringt die Dinge schon wieder in eine andere Perspektive.

Natürlich gibt es auch Meditationen, in denen wir ganz anders vorgehen, z.B. stellen wir uns vor, dass die Person vor uns eine Gewahrseins-Dakini ist, ein Daka, Buddha Tschenresi, mit allen erleuchteten Qualitäten ausgestattet. Das ist nicht nur dazu gedacht, die äußere Erschei­nung der Person zu verändern, sondern um mit den inneren Qualitäten der Person Kontakt aufzunehmen. Es geht darum, die wahren Qualitäten zu sehen und zu berühren, statt die vermeintlichen, temporären, äußeren Qualitäten.

Diese Meditationen haben den Vorteil, uns nüchterner zu machen. Sie richten den Blick auf das, was wir normalerweise nicht sehen wollen, woran wir nicht denken wollen. Wenn wir z.B. heiraten: Wir sind jung – zumindest beim ersten Mal – und fasziniert von der Schönheit, der Jugend des anderen und auch von uns selbst, dann ist es wichtig diese Meditation auszu­führen: Wie wird es zehn Jahre, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre später sein, wenn der Partner/die Partnerin älter wird? Wie wird es mit mir sein? Sich einer Beziehung zu verpflich­ten geht damit einher, diesen Weg des Alterns gemeinsam zu gehen, sich darauf vorzubereiten und auf tiefere Qualitäten zu schauen als nur auf das Äußere.

Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Gegenmittel für die sofortige Wirkung da sind. Bei­spiel: Ich stehe vor einem Juweliergeschäft und sehe in der Auslage total faszinierende Bril­

19

Page 20: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

lanten oder was auch immer. Wenn ich in dem Moment über die Vergänglichkeit der Dinge meditiere und was mir die Brillanten bringen, wenn ich sterbe, dann schafft das vielleicht – als Gegenmittel angewandt – in dem Moment gerade die nötige Distanz, um ein paar Schritte weitergehen zu können und mir etwas anderes anzuschauen. Es geht nicht darum, langfristig schon alles geregelt zu haben, was das Haften an Besitz und an Dingen angeht. Genauso geht es beim Denken an die sechsunddreißig unreinen Elemente des Körpers nicht darum, zu einer ausgewogenen Sicht dessen, was unsere körperliche Existenz ist, zu kommen. Da gibt es noch andere Unterweisungen, z.B. über den kostbaren Menschenkörper als Stütze, um Erleuchtung zu erlangen.

Wenn ich aber die Kontemplation über den kostbaren Menschenkörper anwenden würde, wenn ich gerade in der Begierde bin, dann würde ich mir sagen: „Oh, jetzt habe ich nicht nur einen kostbaren Menschenkörper, ich könnte jetzt auch noch einen zweiten haben, den des ersehnten Partners, wir könnten uns zusammen tun, dann wird die Erleuchtung noch leichter!“ und die Begierde wird mit Sicherheit nicht schwächer werden. Also: Es gilt ein Wissen zu entwickeln, welches Mittel jetzt gerade am hilfreichsten ist.

Es gibt keine Dinge, die unrein sind: Blut, Kot, Urin usw. sind nicht unrein. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Urin und Apfelsaft oder Kot und Blumen. Der Buddha war sich dessen natürlich bewusst, und wenn er hier von unreinen körperlichen Elementen gesprochen hat, dann nur als Gegenmittel für diejenigen, die in der Begierde stecken, im anderen Extrem und die deswegen auch Abneigung haben. Er nutzt die Abneigung der in der Begierde Gefangenen, um sie ins Lot zu bringen. Für jemanden, der am Körper nicht anhaftet, wird auch die Meditation über die sozusagen unangenehmen Aspekte des Körpers keine Ab­neigung auslösen. Sie wird dann besonders wirksam, wenn wir in der Übertreibung der Be­gierde sind, dann hilft uns die Meditation über den anderen Aspekt. Aber für jemanden, der nicht stark in der Begierde ist, wäre diese Meditation nicht so hilfreich.

— Meditation —

Meditation zur Vergänglichkeit(Nach jedem Satz ist ein Pause...)

Das Leben ist ein Prozess ständiger Veränderung.

Wir atmen.

Mit jedem Ein- und Ausatmen sind wir einen Atemzug näher am Tod.

Es atmet, es lebt, es ändert sich.

Ein Same fällt auf den Boden…ein Keim kommt hervor…der Keim treibt einen Stiel, Ästchen, Blätter….wächst…es gibt einen Stamm, Äste, Blüten, Früchte.

Die Jahreszeiten gehen vorbei. Der Baum wird hart, er verhärtet, wird zu hart, der Wind kommt, er fällt und wird wieder zu Erde.

Pflanzen entstehen und vergehen.

Die Jahreszeiten mit dem steten Wandel, die Tageszeiten: heute Morgen war es noch kühl und frisch, jetzt ist es schon warm, bald wird es heiß, dann wird es wieder frisch; jetzt ist Sommer, dann wird es Herbst, dann Winter; wenn der Sommer sich dem Ende zuneigt, kommt der Herbst, wenn der Herbst zu Ende geht, wird es Winter.

Eins führt zum anderen im Prozess ständigen Wandels.

Wir atmen.

Ich habe gerade meinen Altar geputzt und schon ist er wieder staubig.

20

Page 21: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Staub, überall Staub, Staub ist das allgegenwärtige Zeichen des Zerfallens aller Materie.

Es atmet. Mit jedem Atemzug ist der Tod ein Stückchen näher.

Eines Tages werden wir fallen wie der Baum. Es wird der letzte Tag dieses lebendigen Kör­pers sein. Man wird uns für tot erklären.

Vielleicht sind wir schon ausgestreckt im Bett, ansonsten fallen wir einfach dort zu Boden, wo der Atem aufhört, wo die Vitalität, die Lebenskraft zu ihrem Ende kommt.

Wenn wir alleine sind im Moment unseres Todes, wird dieser Körper vielleicht nicht sofort gefunden.

Stellen wir uns vor, es ist Winter: Wir wollen gerade das Fenster öffnen und rutschen aus. Wir rutschen so unglücklich aus, dass wir mit dem Kopf auf der Fensterkante aufschlagen oder auf dem Heizkörper darunter, fallen zu Boden, es dauert nicht lange bis zum letzten Atemzug, wenig später verlässt der Geist den Körper.

Da liegt der Körper, es kommt zu einer letzten Ausscheidung von Stuhl und Urin. Noch ist der Körper heiß, das Blut gerinnt, die Abwehrkräfte des Körpers kommen zum Erliegen. Die Bakterien vermehren sich: im Darm, im Blut, sie beginnen die Darmwände und die Blutge­fäße anzugreifen.

Der Körper kann nicht ganz auskühlen, wir sind gerade an der Heizung. Er bleibt hübsch warm, gerade so wie es die Bakterien brauchen.

Ein Tag, zwei Tage, der Bauch schwillt an, die Gase, die durch die Bakterien entstehen, füh­ren zu einem enormen Druck in den Eingeweiden, die Venen schwellen an, das Gesicht, der Körper werden bläulich, grünlich, dann schwarz.

Das Leben geht weiter.

Das Leben geht weiter, jetzt ist es das Leben der Bakterien, dann der Würmer, die allgegen­wärtig sind in unseren Exkrementen. Das Leben entwickelt sich. Prächtig. Es gibt keine Abwehrkräfte mehr, die diesen Körper schützen, er wird zur Nahrung für die Insekten, Tiere.

Was der Tod für den einen Organismus ist, ist Leben für die anderen.

Einige Tage später bricht der Bauch auf, er explodiert, der Innendruck war zu groß.

Einige Tage später kommt Leben aus den Augen heraus, aus der Nase, dem Mund. Es lebt, es wimmelt überall. Das Leben breitet sich in unserem toten Körper aus.

Wir werden vermisst, die Polizei wird benachrichtigt, die Tür wird aufgebrochen. Ein un­glaublicher Gestank erfüllt die Luft. Die Helfer nehmen all ihren Mut zusammen, setzen Gas­masken auf, ziehen sich Handschuhe an, schützen ihren ganzen Körper, und der Kadaver wird beseitigt.

Die Angehörigen, die von unserem plötzlichen Tod erfahren haben, möchten unseren Körper sehen. „Warum nicht?“ fragen die Angehörigen, als man ihnen sagt, dass es unmöglich wäre, den Körper zu sehen. „Weil der Körper nicht mehr das ist, was Sie gekannt haben! Er ist zur Nahrung für andere geworden, sie können ihm kein Küsschen mehr geben!“

Wer diese Meditation nicht ausgeführt hat, wird entsetzt sein beim Anblick dessen, was ein ganz natürlicher Vorgang ist.

Dieser Körper, mein Körper, den ich jeden Tag wasche, schön anziehe, damit seine Qualitäten betont werden… Dieser Körper wird von anderen gefressen werden. Sobald die Vitalität ihn verlässt, wird er nur noch stinken und verwesen.

21

Page 22: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Die Leiche wird in einen Sarg gelegt und hermetisch versiegelt, der Sarg wird mit einer Ze­remonie bestattet, Verwandte werden noch nach dem Sarg greifen, Tränen vergießen, bedau­ern, nicht den Verstorbenen selbst sehen zu können und sie denken, im Sarg wäre ihr Liebster.

Der Sarg wird in die Erde gelassen und zugeschüttet, die Würmer schaffen sich weiter vor, andere gesellen sich dazu, der Sarg wird aufgefressen und schließlich sterben auch die Wür­mer. Der Prozess geht weiter.

Vielleicht findet man – wenn man nach einigen Jahren den Sarg öffnet – noch einige Knochen. Knochen brauchen lange, um zu zerfallen, die Würmer und Bakterien schaffen das nicht so schnell.

Es ist sehr schwer, Knochen zu finden nach einigen hundert Jahren. Es braucht bestimmte Be­dingungen, um Knochen so lange zu erhalten. Wenn sie der Luft und dem Regen ausgesetzt sind, dann ist meistens schon nach zehn, zwanzig Jahren nichts mehr übrig.

Was bleibt, sind Knochenteilchen hier und dort, Kalzium, Phosphat, Dünger für die Erde, sodass anderes wieder wachsen kann, ein ständiger Kreislauf.

Unsere Mutter hat uns mit eben diesen Elementen genährt, mit Kalzium, Phosphor, Eisen usw., mit all den Mineralien, die in der Nahrung enthalten sind. Sie haben dazu beigetragen, dass dieser Körper sich formen konnte. Und jetzt wird der Körper wieder zu dem, was er war, seine Bestandteile helfen anderen, sich weiter zu entwickeln.

Stellt euch vor, ihr nehmt die Leiche eurer Mutter, bringt sie ins Freie, lasst sie dort liegen und kommt jeden Tag für eine Stunde, um vor der verwesenden Leiche zu meditieren.

Nie werden wir die Lektion vergessen, dem Prozess der Verwesung dieses Körpers beige­wohnt zu haben, der einmal das Wesen beherbergt hat, das uns genährt hat, das uns das Leben geschenkt und aufgezogen hat.

Wir werden uns sagen: „Ja, dieser mein Körper ist von der selben Beschaffenheit wie der Körper meiner Mutter. Nichts unterscheidet ihn vom Körper meiner Mutter, er wird genauso verwesen, er unterliegt denselben Bedingungen, es gibt keinen grundlegenden Unterschied!“

Stellt euch vor, ihr wäret hellsichtig und könntet wie die erleuchteten Meister Kontakt auf­nehmen mit den Wesen nach dem Tod, und ihr könntet den Geist eurer Mutter erleben, wie sie klagt und jammert und so gerne in ihren Körper zurückkehren würde, an ihrem Körper haftet und immer wieder zur Leichenstätte kommt. Was würdet ihr sagen?

Alles Zusammengesetzte wird zerfallen. Alle bedingten Phänomene, die aufgrund von Ursa­chen und Bedingungen entstanden sind, werden ihr Ende finden. Das ist einfach so, das ist die Natur der Dinge. Daran ist nichts Trauriges, das ist einfach so.

Dieser konstante Wandel, dieser Wandel von allem Bedingten ist sogar die Gelegenheit, dass Neues entstehen kann. Ohne dass das Alte aufhört, kann nichts Neues zum Vorschein kom­men. Dieser Wandel gibt uns die Möglichkeit, unserem Leben eine Richtung zu geben. Das Vergehen dieses Körpers gibt uns die Gelegenheit, einen neuen Körper anzunehmen oder die Arbeit in einer anderen Dimension fortzusetzen. Das Ende des einen ist immer der Anfang vom nächsten.

Wenn wir erkennen, dass dieses Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen die Gelegen­heit beinhaltet, die Richtung, in die wir gehen, zu beeinflussen, dann entwickeln wir eine heil­same geistige Einstellung. Wir richten uns auf das zutiefst Heilsame aus und können auf diese Art und Weise das Ende des einen nutzen, damit das nächste in die richtige Richtung geht.

Was die materielle Beschaffenheit angeht, können wir nichts ändern, können wir nichts aus­richten. Ein Körper, der geboren wurde, wird sterben, Geburt zieht den Tod nach sich. Der Geist wandelt sich auch ständig. Der Geist wird eine neue Hülle annehmen, einen neuen Kör­

22

Page 23: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

per bekommen, und das Wichtigste ist, dem Geist die richtige Richtung zu geben, nämlich die Richtung auf Liebe, Mitgefühl und Weisheit.

Für jemanden, der den Dharma praktiziert, ist der Tod eine wunderbare Gelegenheit, eine Freude, denn wir können im Tod und nach dem Tod das Letztendliche kontaktieren. Wir können uns neu ausrichten und aus der Begrenztheit dieses Kreislaufs aussteigen.

Wir können aussteigen aus diesem Prozess des Kreisens um Anhaftungen, Identifikationen: Ich, mein Körper. Wir können aussteigen aus diesem Kreislauf des immer wieder Erzeugens von Leid, von Anhaftung und Abneigung. Der Tod ist eine hervorragende Gelegenheit, um zum Letztendlichen durchzustoßen.

Es atmet, es lebt, es ändert sich.

Das war also eine der Methoden, um aus unserer Unwissenheit herauszufinden, aus der Un­wissenheit, die an vergänglichen Phänomenen haftet. Unwissenheit im Sinne von nicht wissen, was ist und nicht sehen, wissen wollen, was eigentlich ist. Wenn wir auf diese Art und Weise kontemplieren und die damit verbundenen Einsichten wirklich integrieren: das Leben geht weiter und es belastet uns nicht, dann werden wir etwas freier sein von bestimmten Anhaftungen, es wird nicht mehr so wichtig sein, ob wir schön sind. Wir werden nicht im Glauben verweilen, dass unser Körper nach dem Tod auch noch schön aussieht, einen Tag, maximal zwei, danach sollten wir ihn besser nicht mehr anschauen lassen, denn es geht dann nur noch abwärts. Jede dieser Kontemplationen öffnet ein gewisses Verständnis, und wenn das Verständnis entstanden ist, dann geht man mit anderen Meditationen weiter und kommt wieder zu dieser Form von Kontemplation zurück, wenn man merkt, dass man sie noch braucht, weil sie in einem noch etwas auslöst, etwas bewirkt.

Was kann man machen, wenn man sich irgendeinen Unsinn einredet und gar nicht merkt, dass man sich selbst etwas vormacht?Man achtet auf das eigene Verhalten, z.B.: Beim Blick in den Spiegel macht es einem immer noch etwas aus, wenn man wieder ein paar Runzeln mehr entdeckt, die Kleinigkeiten im All­tag... Man schaut, wie weit die Klarheit darüber fortgeschritten ist, dass man auf jeden Fall je­den Tag älter wird. Und dann sucht man Situationen auf, in denen man stark mit Vergänglich­keit konfrontiert ist. Vielleicht könnt ihr einmal dabei sein, wenn eine Leiche transportiert wird.

Die Geschichte übrigens, die ich euch eben in der Meditation erzählt habe, ist eine wahre Ge­schichte, sie hat sich zugetragen, als ich in der Schweiz im Medizinstudium war. Eine Frau war neben ihrer Heizung tot umgefallen und verwest.

Vierte UnterweisungLasst uns mit einer Meditation beginnen, die uns ermöglicht, Kontakt aufzunehmen mit un­serem Körper, mit unserem Hier-Sein und auch mit unserem Geist, mit der Motivation, die uns hierher bringt, eine Motivation, die in die Richtung geht, diese Unterweisung zum Wohle aller zu empfangen. Wir verweilen einfach einige Minuten in Schweigen.

— Meditation —

Wir haben gestern damit angefangen, uns die Gegenmittel zu den fünf wichtigsten Emotionen anzuschauen und ich möchte gerne noch etwas weiter darauf eingehen, was mit Gegenmitteln eigentlich gemeint ist. Gegenmittel sind die erste Methode im Rahmen einer Aufeinander­folge von – grob gesagt – fünf verschiedenen Ebenen, wie wir mit Emotionen arbeiten. Das Gegenmittel ist dafür gedacht, zunächst einmal Raum zu schaffen und nicht weiter zu fahren mit schädlichen Handlungen, die Leid verursachen für uns selbst und für andere. Wenn wir

23

Page 24: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

das gemeistert haben, dann können wir versuchen, mit Methoden zu arbeiten, die eine Trans­formation der Emotion bewirken oder – besser gesagt – welche die Emotion in einem größe­ren Kontext erscheinen lassen, wodurch sie an Bedeutung verliert und die Identifikation mit der Emotion nachlässt.

Dann gibt es als weitere Stufe die Möglichkeit, die Natur der Emotionen zu erkennen. Und wenn wir das tief verankert und verwirklicht haben, dann können wir sogar drangehen, Emo­tionen zu stimulieren, um immer wieder ihre wahre Natur zu erkennen.

Das Anwenden von einem Gegenmittel und das Unterdrücken einer Emotion sind völlig ver­schiedene Dinge. Wenn wir ein Gegenmittel anwenden, sind wir uns bewusst, dass wir eine Emotion haben, wir akzeptieren ihre Präsenz als solche, wir wissen: „Ja, jetzt bin ich in der Emotion! Ich nehme mich damit an, aber ich bin schließlich frei, darüber zu entscheiden, ob ich in diese Richtung weiter gehen möchte. Und jetzt gerade erscheint es mir so, dass das nur weiteres Leid erzeugt, und ich wende bewusst meinen Geist anderem zu. Ich halte es nicht für sinnvoll, diese Emotion jetzt weiter auszuleben, ihr mehr Raum zu geben. Es reicht, so wie sie gerade da ist und da war! Ich bin mir bewusst, dass sie in meinem Geist aktiv ist, aber jetzt möchte ich nicht mehr damit fortfahren, leidbringende Tendenzen zu leben.“ Dann wenden wir unseren Geist dem Dharma zu, heilbringenden Aspekten im Geist.

Beim Gegenmittel handelt es sich darum, den Geist auf etwas Neues, Heilsames zu richten. Wir können jeweils nur ein Ding im Geist fixieren. Wenn wir uns vom Objekt der Begierde abwenden und eine Kontemplation ausführen, in dem Moment müssen wir – zumindest für den Moment der Kontemplation – schon einmal die Begierde, oder was auch immer für eine Emotion da ist, loslassen und wenden uns der Kontemplation zu. Schon allein die Hin­wendung zu einem anderen Objekt bewirkt, dass die Emotion abgeschwächt wird. Außerdem ist der Inhalt der Kontemplation an sich schon ein Heilmittel für das, was vorher die naive Vorstellung war, die uns begleitet hat. Wir haben in der Begierde eine naive Vorstellung von bleibendem Glück, was sich einstellen könnte durch das Verfolgen dieses Objektes der Be­gierde. Natürlich wissen wir, dass das nur eine kurze Befriedigung ist, aber tiefer drin denken wir, „Ich werde sehr glücklich werden, es wird sehr schön sein, wenn ich das Objekt meiner Begierde haben kann, wenn ich es einfangen kann, wenn ich es zu mir bringen und besitzen kann.“ Und die Kontemplation über die Vergänglichkeit bewirkt, dass ich daran denke: „Wie schön es auch immer sein wird, es wird vergänglich sein und angesichts des Todes ist es von relativ geringer Bedeutung, ob ich jetzt dieses Objekt der Begierde bekomme oder nicht.“

Die Kontemplation lenkt den Geist nicht nur auf etwas anderes, sie arbeitet auch an den un­ausgesprochenen Annahmen, die in der Emotion vorhanden sind. Sie untergräbt die Anschau­ungen, die zum Aufbau dieser Emotion führen.

Für die Begierde gibt es natürlich auch ganz andere Methoden als die Kontemplation über Vergänglichkeit. Wir können uns auch fragen: „Was möchte ich dem Partner, der Partnerin eigentlich schenken?“ Wenn ich meiner Begierde folge, dann bin ich im Besitzenwollen. Die grundlegende Haltung ist, sich etwas einzuverleiben, etwas haben zu wollen, besitzen zu wollen. Ich kann darüber nachdenken, ob es wirklich das ist, was ich meinem Partner, meiner Partnerin schenken möchte. Möchte ich diese Begierde-Beziehung? Ist es das, was wirklich unsere Beziehung ausmacht?

Als Alternative: Ist es nicht viel mehr mein Herzenswunsch, dass es eine Liebes-Beziehung ist, dass es ein Austausch, ein Teilen ist in Freiheit, im Unterstützen der emotionalen Un­abhängigkeit beider Partner? Oder möchte ich eine Beziehung in Abhängigkeit aufbauen? Das tiefe Nachdenken über die Qualitäten der Liebe und das Entwickeln der Motivation, dem anderen wirklich Liebe schenken zu wollen, kann dazu führen, dass ich den Begierde-Aspekt nicht mehr so stark betone und mich mehr dem Herzens-Aspekt zuwende. Das ist eine höhere

24

Page 25: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Form von Gegenmittel, die aber subtiler ist. Es setzt einen reiferen Menschen voraus, diese feinen Kontemplationen in einer starken Emotion ausführen zu können.

Wir sind mit dem Dharma in einem Prozess der Entgiftung, wir werden ‚ernüchtert’ durch die Kontemplation der Gegenmittel. Wir finden Zugang zu einer weiteren Dimension der Weis­heit. Diese Arbeit kann immer subtiler werden. In ihrer Subtilität zeigt sich, wo wir in der Arbeit mit unseren Emotionen stehen.

Nun zur zweiten Kontemplation über Vergänglichkeit in Gampopas Text:

Gehe auf einen Leichenacker und schaue, wie die dorthin gebrachten Körper allmählich verwesen: am ersten Tag, am zweiten, am dritten, vierten und fünften – wie sie verfaulen, aufschwellen, schwarz werden und von den Insekten zerfressen werden. Den­ke nach, bis die Überzeugung entsteht: „Mein eigener Körper hat dieselbe Beschaffen­heit und unterliegt denselben Prozessen. Er ist keineswegs jenseits solcher Phänomene.“ Schau dir die auf den Leichenacker gebrachten Körper an, deren Fleisch noch an den Knochen hängt oder wo nur noch das Sehnengeflecht übrig ist oder deren Skelett sich bereits in viele Stücke aufgelöst hat. Ebenso betrachte die schon viele Jahre alten Lei­chenknochen, die eine muschel- oder taubenähnliche Farbe angenommen haben. Wenn du sie so betrachtest, denke nach, bis die Überzeugung entsteht: „Mein eigener Körper hat dieselbe Beschaffenheit und unterliegt denselben Prozessen. Er ist keineswegs jen­seits solcher Phänomene.“Eigentlich handelt es sich hier um eine ganz einfache Kontemplation, die uns in Berührung bringt mit dem, was ist. Wir leben und deshalb wird dieser Körper auch sterben, er ist aus den Elementen geformt worden und wird auch wieder vergehen. Dieser Verwesungsprozess hat eigentlich schon eingesetzt. Das Altern in diesem Leben ist nicht aufzuhalten, wir können ihm nicht entgehen. Das Altern wird notwendigerweise ins Sterben übergehen, der Tod wird kom­men und dann wird der Körper zerfallen. Eigentlich etwas total Selbstverständliches, nur ist es so, dass unsere menschliche Natur diesen vergänglichen Aspekt unserer Körperlichkeit ger­ne beiseite drängen möchte. Und deswegen musste der Buddha – Gampopa benutzte dieselben Worte wie der Buddha – darauf hinweisen, dass wir uns doch bitte bewusst werden, dass dieser Körper nur eine völlig vergängliche Behausung für den Geist ist und dass das Identifizieren mit diesem – wenn man es krass ausdrücken möchte – verwesenden Sack voll verschiedener Organe, die sich in einem Prozess des kontinuierlich Älterwerdens befinden – dass diese Identifikation eines tieferen Sinnes entbehrt. Sie kann nur zu Leid führen, weil sie uns von der Wahrheit dessen, was ist, entfernt.

Wir werden die Kontemplation nach dieser Unterweisung zusammen ausführen, ich werde sie anleiten und ermutige euch, das wirklich auch zu Hause zu kontemplieren, weil diese Kon­templation in unserer Zeit noch wichtiger geworden ist als zu Zeiten des Buddha. Wir leben in einer Kultur, in einer Umgebung, in der schwere Krankheiten und der Anblick von Toten, Verwesenden, Verfaulenden von uns ferngehalten werden. Wir haben nicht mehr die Möglichkeit, damit einfach in direkten Kontakt zu treten. Ich hatte noch die Möglichkeit als Medizinstudent ein ganzes Semester mit einer Leiche zu arbeiten, die wir seziert haben, und ich konnte deswegen diese Kontemplationen auf mich übertragen, auf den eigenen Körper und das wirkte sehr ernüchternd. Heute haben wir diesen Körperkult, eine starke Identifikati­on mit dem Körper und brauchen solche Gegenmittel, um aus dem Anhaften am Körper aus­zusteigen.

Die Angst, die sich auftut, wenn wir solche Kontemplationen ausführen, das Unbehagen, der Vergänglichkeit und dem Tod ins Auge zu schauen, zeigt zwei Dinge: wie stark wir mit diesem Körper identifiziert sind und dass wir noch keine Gewissheit darüber haben, dass der Geist gar nicht sterben kann. Wir haben bewusst oder unbewusst das Gefühl: „Ich bin dieser Körper mitsamt Geist und wenn der Körper stirbt, dann sterbe Ich. Und wenn ich sterbe, weiß

25

Page 26: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

ich nicht, wie es mit dem Geist weiter geht. Vielleicht ist alles aus.“ Das löst Angst aus und wir haben keine innere Distanz zu diesem Körper, der doch nur eine Hülle ist, in der wir leben und die natürlich altert und vom Leben aufgebraucht wird. Wir bräuchten es auch nicht zu verstecken, dass wir alt werden. Es gibt keinen Grund, warum wir unser Älterwerden verste­cken sollten. Es ist ganz normal, es ist eine menschliche Tatsache.

Jemand, der den Prozess des Alterns annimmt und nicht versteckt, wird auf eine innere Art und Weise schön durch das Akzeptieren des Alt-Werdens. Wir akzeptieren es, in dieser Haut zu sein, die alt wird.

Man spricht von der „dritten Generation“ und sogar schon von der „vierten“ Generation, als ob es da noch eine fünfte und eine sechste gäbe. Wir nennen die Alten einfach nicht mehr die Alten, dabei sind sie es doch. Wir sind vielleicht schon die Alten. „Hallo, Alter!“ Wir sollten die Dinge beim Namen nennen. Aber was machen wir stattdessen? Wir schützen das Ich-Anhaften. Wir bewahren einander davor, mit der schmerzhaften Tatsache in Berührung zu kommen, dass wir nicht mehr jung sind. Es ist Ego-Schutz, ein Ausblenden von Wahrheiten, um einem Schmerz zu entgehen, der aber auf jeden Fall kommen wird. Er ist unvermeidbar. Es ist besser, wir fangen heute damit an hinzuschauen und zu akzeptieren, dass wir bereits Alte sind, Falten haben, graue Haare und einen Bauch bekommen. Wir akzeptieren, dass es unaufhaltsam so ist. Das ist Dharma: Kontakt aufnehmen mit dem, was ist, und nichts verste­cken. Gampopa schreibt weiter:

Wenn Abneigung bzw. Ärger, Wut oder Hass bei uns vorherrschen, sollten wir Liebe als Gegenmittel meditieren. Zuerst denken wir an jene, denen unser Herz besonders zuge­tan ist, und wünschen ihnen Wohlergehen und Glück – bis tatsächlich ein entspre­chendes Gefühl von Liebe entsteht. Dann dehnen wir diese Liebe auf alle aus, mit denen wir gut auskommen, dann auf gewöhnliche Leute, unsere Nachbarn und die Bewohner unseres Ortes und schließlich auf alle Wesen.Gampopa geht hier auf eine subtilere Ebene mit dem Gegenmittel als bei der Begierde. Das hängt damit zusammen, dass er die vielfältigen Gegenmittel für Wut, Ärger, Hass im Kapitel über Geduld unterrichtet und die werdet ihr in der Nachmittagsgruppe durchnehmen. Dort könnt ihr ausführlich die Möglichkeiten kennen lernen, wie man mit Wut direkt umgehen kann. Auf dieser subtileren Ebene rufen wir uns ins Bewusstsein, was wir anderen schenken wollen, um Hass genauso aufzulösen, wie wir es vorher mit den Begierde gemacht haben: durch Liebe. In manchen Texten wird von Mitgefühl als Gegenmittel für Hass gesprochen und von Liebe als Gegenmittel für Begierde. Das sollte uns nicht weiter verwirren, weil beides – Liebe und Mitgefühl – eigentlich dieselbe Herzensenergie ist.

Was ist der Unterschied zwischen den beiden? Vom Dharma aus, ist Liebe der Wunsch zu un­terstützen und alles Hilfreiche zu geben, alles dem anderen zu schenken, was zu dessen Glück und Wohlbefinden beiträgt. Mitgefühl hingegen ist der Wunsch, alles auf sich zu nehmen, bei Schwierigkeiten Lösungen zu finden, Probleme zu vermindern, Leid zu verringern. Mitgefühl ist der Wunsch, dass die andere Person frei sein möge von Leid während Liebe der Wunsch ist, dass der andere glücklich sein möge. Diese Herzensenergie richtet sich als Mitgefühl also darauf aus, was die Schwierigkeiten eines Menschen sind, und sucht nach Lösungen, um ihn davon zu befreien. Als Liebe sucht sie nach allen Möglichkeiten, das Positive, die Qualitäten zu unterstützen. Beide Male ist es also ein Schenken von Unterstützung: das eine Mal als Ausräumen von Schwierigkeiten und das andere Mal als Unterstützen von Qualitäten.

Was wir hier in wenigen Zeilen aufgeschrieben finden, ist eine Meditation, die in vielen kleinen Einzelschritten auszuführen ist. Zunächst beginnen wir damit, uns die Liebe ins Herz zu rufen, die wir für den Menschen wecken können, der uns am nächsten ist, der uns in diesem Leben am allerliebsten ist. Diese Liebe beginnen wir ganz stark zu spüren, die Person braucht nicht anwesend zu sein. Dann geht es darum, uns in einem schrittweisen Prozess ins

26

Page 27: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Bewusstsein zu rufen, dass wir mit anderen Menschen – aufgrund von früheren Leben und aufgrund von dem, was in diesem Leben passiert ist – eine Verbindung haben, die eigentlich Grundlage sein könnte, genau so eine Liebe zu empfinden. Wir erkennen, dass eine tiefe Dankbarkeit da ist für das, was wir in früheren Leben ausgetauscht haben, als der andere Mensch unsere Mutter, unser Vater, unser Kind war, unsere Großmutter, unser Großvater, Partner – welche verschiedenen Beziehungen auch immer wir gehabt haben mögen. Wir nehmen das Nachdenken über die vielfältigen, unterstützenden Beziehungen, die wir bereits gehabt haben, um uns gleichsam eine innere Erlaubnis oder Ermutigung zu geben, diese Liebe auch auf die nächste Person auszudehnen. Dann versuchen wir dasselbe mit einer dritten Per­son. Es geht darum, die gleiche Intensität von Hinwendung zu spüren wie für den Menschen, der uns am liebsten ist, und auch die Intensität dieser besonderen Zuneigung kann noch wachsen.

Es geht nicht darum, eine mittelmäßige Form der Liebe auf alle Wesen zu verteilen, sondern die intensivste Form der Liebe, die wir spüren, auf jeweils das nächste Wesen, dem wir be­gegnen, auszudehnen. Wir arbeiten zunächst mit denjenigen, die uns nahe sind, bei denen es uns leicht fällt. Dan dehnen wir das auf alle aus, denen wir begegnen. Danach auf all die­jenigen, die wir gar nicht kennen. Oder auch auf Menschen, die in unserer Nähe sind, wie Nachbarn und Kollegen, bei denen es uns aber schwer fällt, uns so zu öffnen. Dann öffnen wir uns auch für all jene, die wir nie kennen lernen werden, all die Menschen in unserem Land, in anderen Ländern, Bevölkerungsgruppen, mit denen unsere Gruppe vielleicht Schwierigkeiten hat, bis wir alle Menschen auf diesem Planeten einbeziehen. Schließlich beziehen wir die Tie­re mit ein und auch die unsichtbaren Wesen, bis alle Wesen einbezogen sind.

Was hier in ein paar wenigen Sätzen geschrieben steht, ist eigentlich eine Praxis, die unser ganzes Leben ausfüllen wird. Wenn wir es in diesem Leben schaffen, eine solche Liebe für alle Wesen zu entwickeln, dann sind wir weit gegangen. Es ist nicht möglich, es jetzt einmal geschwind zu entwickeln. Wir werden uns da allmählich herantasten, weil wir große Mühe haben, anderen, denen wir im Alltag nicht so nahe sind, diese intensive Liebe zukommen zu lassen.

Diese Arbeit hat entscheidend mit dem Auflösen von künstlichen Schranken zu tun, die wir in unserem Geist eingerichtet haben, indem wir sagen: „meine Kinder“, „mein Lebensgefährte“, „meine Eltern“. Dharmapraxis besteht darin, uns zu fragen, woher das eigentlich kommt. Hat es einen Sinn zu sagen: „Wenn das Kind meines Nachbarn krank ist, betrifft mich das nicht! Wenn mein Kind krank ist, betrifft mich das!“ Wieso ist z.B. die Einsamkeit meines Nachbarn weniger wichtig als die Einsamkeit meiner Eltern, oder wieso ist die Krankheit eines Kollegen weniger wichtig als meine eigene Krankheit? Wir stellen uns bewusst die Fragen: „Was macht diese Schranken aus? Haben sie einen Sinn?“ Einen gewissen Sinn haben sie, weil wir in manchen Bereichen mehr Verantwortung haben als in anderen. Aber warum begrenzen wir die Herzensenergie innerhalb solcher Schranken? Das hat sicher etwas mit unserem Erleben zu tun, mit dem, was wir mit den Menschen bereits geteilt haben. Deswegen ist es wichtig, uns bewusst zu machen, dass wir in unzähligen Leben mit anderen schon dieselbe Intensität der Beziehung geteilt haben, die wir mit den eigenen Verwandten in diesem Leben teilen.

Wenn wir diese Schranken auflösen, dann wird eine zutiefst wohlwollende Haltung in un­serem Geist einziehen und wir werden fühlen, dass wir mit allen Wesen aufgrund der unzäh­ligen früheren Leben dieselbe Intensität der Beziehung teilen wie mit denen, die uns in diesem Leben so nahe sind. Jetzt gibt es natürlich Einwände, einige von den Einwänden kenne ich:

Wird diese Liebe die Liebe verringern, die ich für meine Nächsten habe? Es kommt darauf an, dass jeder herausfindet, was es damit auf sich hat. Meine Erfahrung ist, dass im Haus von Menschen, die sich gegenseitig lieben, die eine große, offene Liebe haben –

27

Page 28: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

ohnehin schon alle Besucher ganz natürlich in den Bannkreis dieser Liebe kommen, davon erfasst und in sie einbezogen werden. Die Liebe hat die Natur, sich auszudehnen. Die Erfah­rung zeigt auch: Je mehr diese Liebe geteilt wird, desto intensiver wird sie im Herzen derer, die sie ausstrahlen. Liebe ist nicht wie ein begrenzter Kuchen. Wenn man von der Liebe an andere abgibt, bleibt nicht weniger für die, die einem am nächsten sind. Je mehr man liebt, desto mehr Liebe ist da. Es ist, als würde die Liebe wachsen, indem wir lieben. Sie ist ein un­begrenzter Kuchen, ein Kuchen, von dem wir immer mehr austeilen können. Je mehr wir aus­teilen, desto mehr ist da.

Wenn wir hingegen unserer Liebe Schranken setzen, dann engen wir sie ein und sie kann dann nicht weiter wachsen, sie bleibt beschränkt auf die, die uns am nächsten sind und wird unter Umständen sogar ersticken. Es kann gut sein, dass unsere Liebe sogar weniger wird, wenn wir sie beschränken auf unsere Lebensgefährtin, unseren Partner, auf unsere Familie und sie nicht weitergeben an die Nachbarn, an die Kollegen, an die, die wir kennen und nicht kennen. Und nach einigen Jahren, nach zehn oder zwanzig Jahren, ist die Liebe plötzlich geringer geworden. Es ist weniger Liebe da als zu Anfang. Das hat mit dem Einschränken, dem Fixieren der Liebe zu tun. Liebe ist eine Qualität, die sich nicht fixieren lässt aus Sicht des Dharma. Liebe sollte freigegeben werden.

Wenn die Liebe fixiert wird auf eine oder wenige Personen, dann mag es passieren, dass sich in dieser Einschränkung immer mehr Angst einstellt: Furcht zu verlieren, Eifersucht, Besorg­nis, Besitzenwollen. Plötzlich ist die Liebe gar nicht mehr Liebe, sie ist zu etwas anderem ge­worden, die Liebe ist fort. Da ist noch eine Intimität der Beziehung, die aber die Qualität der Offenheit verliert: weil der Liebe nicht mehr der Raum gegeben wird, wie eine Sonne auf alle zu strahlen.

Der zweite Einwand ist oft:

Es handelt sich doch um eine bevorzugte Beziehung, speziell mit dem Lebensgefährten. Wir haben eine intime Liebesbeziehung der. Wenn ich das jetzt auf alle ausdehne, wo führt das hin? Wie soll das weiter gehen?Die Antwort ist recht einfach. Es geht nicht darum, dieselbe Liebesbeziehung mit allen zu haben, sondern dieselbe Herzenswärme, dieselbe Herzensoffenheit, die sich in ganz vielen un­terschiedlichen Beziehungen manifestiert. Jede Liebesbeziehung ist anders. Liebe drückt sich immer wieder anders aus, sie passt sich an die Bedürfnisse der Situation an, sie ist ange­messen. Aber die Herzenswärme ist dieselbe. Die Qualität der Offenheit im eigenen Geist ist identisch, aber der Ausdruck im Konkreten – in Worten und Handlungen – passt sich den Gegebenheiten an.

— Meditation —

Wir werden diese Kontemplation ausführlicher in der zweiten Vormittagssitzung ausführen. Jetzt verweilt einfach in dieser Herzensöffnung. Ihr könnt selber fühlen, was für Euch stim­mig ist, ob Ihr diese Liebe kontemplieren wollt, sie ausströmen wollt ins Universum, oder ob Ihr eine Person nehmen wollt, der Ihr diese Wärme schenkt, vielleicht auch mit einer Person arbeitet, mit der Ihr Probleme habt. Ihr könnt selber entscheiden, wie Ihr das macht.

Fragen und AntwortenIch habe Angst, mich zu verlieren, mein kleines Ego in dieser grenzenlosen Liebe zu ver­lieren.Du wirst es verlieren, da gibt es gar keinen Zweifel.

28

Page 29: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Gehören nicht zur Liebe auch sehr viel Verständnis, Austausch, Gespräche, um mögliche Missverständnisse oder Unverständnis aufzugreifen? Ich habe den Eindruck, dass das eine Begrenzung darstellt, die die Liebe einschränkt.Liebe zeigt sich, indem wir diese notwendigen Gespräche führen, um einander zu verstehen, aber die Herzensenergie der vollen Offenheit hängt nicht von solchen Austauschen ab. Sie wird zwar stets nach Möglichkeiten suchen, tiefer und genauer zu verstehen und mitzuteilen, aber die grundlegende, den anderen akzeptierende Offenheit ist davon eigentlich nicht be­rührt. Diese Herzensöffnung ist keineswegs geringer, wenn wir uns mit jemandem nicht aus­tauschen können, den rein praktisch betrachtet können wir das natürlich nur mit wenigen Menschen.

Unsere Liebe ist oft begrenzt, weil wir zunächst Misstrauen hegen und Kommunikation brau­chen, um uns aus diesem Misstrauen zu lösen und allmählich zu einer Offenheit des Herzens zu finden. Im Dharma gehen wir anders vor: Wir kontemplieren die Liebe und nehmen sie als Basis. Dabei sind wir aber nicht dumm: Wir wissen um die emotionalen Schleier all dieser Wesen, die da in diese Liebe einbezogen werden, und gehen mit viel Weisheit und großer Liebe daran zu schauen, wie wir im Geist dieser Liebe Situationen konkret gestalten können. Die Grundlage ist nicht mehr Angst und Misstrauen, sondern Liebe. Diese Liebe ist nicht dumm, sondern von Weisheit begleitet. Das ist sehr wichtig.

Zur Frage von vorher: Ich glaube, ein Teil der Angst ist zu sehen, dass wir sehr limitiert sind, dass die Liebe gar nicht so groß ist und dass wir gar nicht so toll sind.Wer ist es, der liebt? Zu sagen, „Ich liebe dich!“ ist schön, eine wunderbare Grundlage für die Beziehung, aber nur der erste Schritt. Liebe ist ein wirkliches Gegenmittel für heftige Emo­tionen, weil es in der Liebe kein Ich gibt. In der wahren Liebe, da liebt es einfach. Liebe ist da, sie manifestiert sich und löst dieses Ich und Du allmählich auf. Deswegen ist die Liebe ein tatsächliches Heilmittel auf dem Weg zur Erleuchtung. Wir gehen dank der Liebe einen Weg, auf dem wir das dualistische Lieben allmählich loslassen und einfach lieben. Einfach Lieben. Punkt. Liebe.

Fünfte UnterweisungLasst uns zu Anfang – wie sonst auch – die Motivation entwickeln, diese Unterweisung zu erhalten, um Erleuchtung zu erlangen und um anderen besser helfen zu können.

Die Unterweisungen kommen aus dem „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ von Gampopa, einem Werk, in dem Gampopa die Essenz von Buddhas Unterweisungen zusammengeführt hat. Es ermöglicht uns, in einem einzigen Band alles Wichtige für die Praxis zu finden. Gampopa schreibt dort zum dritten Geistesgift, dem wir uns in der Meditation widmen:

Wenn Unwissenheit bei uns vorherrscht, kontemplieren wir die Zusammenhänge abhän­gigen Entstehens. Diese werden im Reissprössling Sutra erklärt: „Mönche! Wer diesen Reissprössling versteht, der versteht abhängiges Entstehen. Wer das abhängige Ent­stehen versteht, der versteht den Dharma. Wer den Dharma versteht, der versteht Bud­dhaschaft.“ Es gibt zwei Arten abhängigen Entstehens: die Reihenfolge des Entstehens von Samsara und von Nirvana.Dabei zeigt der Buddha einfach auf ein Reisfeld, an dem sie vorbeigehen und zeigt auf eine Reispflanze. Seine Jünger fragen dann natürlich: „Kannst du uns mehr dazu sagen? Kannst du uns erklären, wie das zu verstehen ist? Wie hat diese Pflanze mit dem Dharma zu tun?“ Dar­auf gibt der Buddha die Erklärungen, die als die zwölfgliedrige Kette abhängigen Entstehens bekannt geworden sind. In diesen zwölf Gliedern abhängigen Entstehens findet man den ge­samten Dharma des Buddhas wieder. Man findet darin die Erklärung, wie Samsara

29

Page 30: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

funktioniert und man findet die Erklärung, wie Befreiung, Nirwana, zustande kommt. Diese zwölf Glieder abhängigen Entstehens werden nicht oft unterrichtet, wahrscheinlich weil man die Zuhörer nicht belasten möchte. Zwölf Glieder auf einmal sind schwierig zu verstehen. Je­doch ist jedes Glied sehr leicht zu verstehen, wenn wir schon Grundlagen im Dharma haben und gelernt haben, hinzuschauen.

Wir wollen uns in diesem Kurs die Zeit nehmen, diese Punkte nicht geschwind abzuhandeln, sondern ausführlich hinzuschauen, bis wir ein umfangreiches Verständnis dieser zwölf Glie­der haben. Das ist wichtig, weil sie wie ein roter Faden sind, der sich durch alle Unterwei­sungen des Buddhas zieht. Diese zwölf Glieder ermöglichen es uns, den Zusammenhang der verschiedenen buddhistischen Erklärungen zu verstehen.

Im Pali Kanon heißt es, der Buddha selbst habe diese Zusammenfassung gesprochen, und es gibt viele Stellen, in denen er sie immer wieder auf ähnliche Art und Weise wiederholt. Im Sanskrit Kanon, im Reissprössling Sutra, ist es der Buddha, der den ersten Satz sagt, der hier unterstrichen ist, und Maitreya erklärt den Schülern dann, was der Buddha damit gemeint hat. Der Buddha befindet sich in Meditation und segnet die Unterweisungen von Maitreya mit sei­ner Anwesenheit. Gampopa fasst dies wie folgt zusammen:

1. Den Anfang bildet das, was wir „verblendete Unwissenheit in Bezug auf das, was man kennen sollte (d.h. die Wirklichkeit)“ nennen.

2. Unter ihrem Einfluss kommt es zu ‚unreinen’ (dualistischen) heilsamen, nicht-heilsamen (und unbewegten) Handlungen, den karmischen Tendenzen. Diese nennen wir „durch Unwissenheit bedingte karmische Gestaltungen“.

3. Den Geist, den die Samen dieser Handlungen beeinflussen, nennen wir „durch karmische Gestaltungen bedingtes Bewusstsein“.

4. Das durch die karmischen Kräfte dieser Handlungen getrübte Bewusstsein irrt sich, nimmt mit dem Eintritt in die Gebärmutter eine neue Existenz an und durchläuft die embryonale Entwicklung. Das nennen wir „durch Bewusstsein be­dingte Name-und-Form“.

5. In der weiteren Entwicklung von Name-und-Form bilden sich vollständig die Sinnesfähigkeiten wie Augen, Ohren usw. (inklusive geistige Wahrnehmung). Diese nennen wir „die sechs durch Name-und-Form bedingten Sinnesquellen“.

6. Das Zusammentreffen der drei Aspekte – der Sinnesfähigkeiten, wie z.B. der Augen, mit den Sinnesobjekten und dem Bewusstsein – verursacht eine Wahr­nehmung. Das nennen wir „durch die sechs Sinnesquellen bedingten Kontakt“.

7. Aufgrund dieses Kontaktes entstehen angenehme, unangenehme oder neutrale Empfindungen. Das nennen wir „kontaktbedingte Empfindung“.

8. Das Wohlbefinden, Begehren und starke Begehren beim Erleben einer Emp­findung nennen wir „durch Empfindung bedingtes Verlangen (‚Durst’)“.

9. Das Begehrte nicht loszulassen, weil wir nicht davon getrennt sein und es wieder haben wollen, nennen wir „durch Verlangen bedingtes Ergreifen“.

10. Dieses Habenwollen führt zu Handlungen mit Körper, Rede und Geist, welche die nächste Existenz hervorbringen. Dies nennen wir „durch Ergreifen bedingtes Werden“ (die Antriebskraft für die nächste Existenz).

11. Die Handlungen bewirken, dass die fünf Aggregate wieder zusammenkommen. Dies nennen wir „durch Werden bedingte Geburt“.

30

Page 31: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

12. Die Weiterentwicklung und Reifung der Aggregate nach der Geburt ist ‚Altern’ und ihre Zerstörung ist der ‚Tod’. Dies nennen wir „geburtsbedingtes Altern und Sterben“.

Die Kette geht dann weiter: Mit dem Tod fällt das Bewusstsein wieder in die grundlegende Unwissenheit und der Kreis beginnt von vorne.

In diesen zwölf Sätzen sind eine Menge Begriffe, die Euch vermutlich ein wenig schleierhaft sind, weil sie einer Erklärung bedürfen, die viele von euch noch nicht bekommen haben. Wir werden sie Stück für Stück erklären. Als erstes sollten wir verstehen, dass es sich um eine Ursache-Wirkungs-Kette handelt, wo der vorangehende Faktor die notwendige Voraus­setzung dafür ist, dass der nächste Faktor entsteht. Ohne Unwissenheit kommt es nicht zu kar­mischen Gestaltungen. Ohne karmische Gestaltungen kommt es nicht zu einem dualistischen Bewusstsein usw. Wenn der vorangehende Faktor fehlt, ist es nicht möglich, dass der nächste entsteht. Das nennt man das Entstehen in Abhängigkeit hinsichtlich der Ursache: Das eine ist die Ursache des nächsten.

Der erste Punkt ist Unwissenheit. Dabei handelt es sich nicht darum, dass wir etwas intellek­tuell nicht wissen, sondern es handelt sich um eine mangelnde Bewusstheit. Ma-rigpa, Tibe­tisch, bedeutet: nicht bewusst sein, nicht gewahr sein. Das bedeutet aber nicht, dass wir unbe­wusst sind, in völliger Bewusstlosigkeit, sondern dass es dem Bewusstsein an Klarheit und Schärfe mangelt, weil es verschleiert ist durch Annahmen über die Wirklichkeit, die ein direk­tes Sehen dessen, was ist, verhindern. Dieses direkte Sehen wäre Rigpa, und das nur teilweise und verschwommene Sehen von dem, was ist, wird marigpa genannt. Es ist also keine Be­wusstlosigkeit. Es ist ein Bewusstsein, das sich irrt, das verschwommen oder trübe ist.

Die Unwissenheit, von der wir hier sprechen, ist die Annahme, dass es ein Ich gibt, das als solches existiert. Und alles, was geschieht, wird mit dieser dualistischen Brille erlebt in der Annahme, „Ich existiere und alles andere existiert getrennt von mir.“ Das Andere ist entweder die äußere Welt oder auch das Innere, das innerhalb des eigenen Geistes als das andere be­zeichnet oder erlebt wird: „Ich und meine Gedanken“, „Ich und meine Emotionen“ – da wird bereits innerhalb des Geistes eine Trennung vorgenommen. Man fragt sich: „Wo kommt diese Trennung her, diese Annahme, dass es da ein Ich gibt?“ Die erleuchteten Meister sagen: „Es gibt diese Trennung gar nicht!“ Die Ich-Annahme ist in sich trügerisch. Dieses Nicht-Sehen wird grundlegende Unwissenheit genannt. Es ist keine x-beliebige Unwissenheit, in der man etwas nicht kennt, z.B. eine Unterweisung oder etwas weniger Wichtiges. Es ist die grund­legende Annahme einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und anderen. Diese grundlegende Unwissenheit ist das, wovon die Buddhas uns sagen: „Diese Täuschung führt zu allem Leid!“ Sie führt dazu, dass wir in Samsara kreisen.

Jetzt werden wir uns dem Kreislauf zuwenden, wie in Abhängigkeit vom vorangehenden Fak­tor immer wieder der nächste entsteht und es so zu einem Kreislauf des Leidens kommt. Das ist die erste Unterweisung. Die zweite Unterweisung besteht darin, die Punkte zu identifi­zieren, um uns von dieser grundlegenden Unwissenheit befreien und die damit verbundene Kette unterbrechen zu können, damit wir wissen, wo wir mit unserer Praxis ansetzen können. Es gibt eine Reihe von Punkten, an denen wir direkt ansetzen können, um aus diese Kette aus­zusteigen.

Diese Unterweisung Buddhas beruht auf seinem Mitgefühl. Es geht ihm dabei nicht darum, uns noch trauriger zu machen, so dass wir uns vielleicht noch gefangener fühlen. Es geht dar­um, den Blick zu öffnen für das, was ist, für die Kette von Ursache und Wirkungen, die zu immer mehr Leid führt. Wenn wir die Kette kennen, wissen wir, wo wir ansetzen können, um uns zu befreien. Jemand, der seine Ketten nicht kennt, weiß nicht, an welchen Stellen er sie sprengen kann.

31

Page 32: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Ich wünsche mir sehr, dass Ihr bis zum Ende des Kurses diese zwölf Glieder auswendig lernt, dass Ihr wisst, was die zwölf Glieder sind, damit Ihr Eure Untersuchung der Wirklichkeit in der Praxis selber fortsetzen könnt. Ich werde immer wieder darauf zurückkommen, immer wieder neue Aspekte der verschiedenen Glieder erklären, sodass ihr diese zwölf Glieder im Gedächtnis behaltet, damit sich alle Unterweisungen zu einem Gesamten formen können und Ihr den Zusammenhang der verschiedenen Unterweisungen kennt.

Durch die grundlegende Unwissenheit kommt es zu Handlungen von Körper, Rede und Geist. Sie führen zu dem, was wir karmische Gestaltungen nennen. Gestaltung ist das, was unser Leben formt, was unser Bewusstsein formt. Wir denken, sprechen, handeln – und alles beruht auf der Annahme eines vom anderen getrennten Ichs. Diese grundlegende Dualität, die wir annehmen, ohne sie untersucht zu haben, verankern wir durch unsere Körper-Rede-Geist-Handlungen immer tiefer in unserem Geist. Es kommt zu einer sich verstärkenden karmischen Tendenz, die Wirklichkeit so wahrzunehmen: Ich und andere getrennt. Diese karmischen Gestaltungen haben umfangreiche Wirkungen. In allem, was wir tun, denken und sprechen, findet sich diese Dualität wieder. Die Hauptwirkung davon ist, dass unser eigenes Bewusst­sein total von der immer tiefer eingegrabenen Spurrille der Annahme einer Dualität eingefärbt wird. Das führt zu dem, was wir das dualistische Bewusstsein nennen.

Der dritte Punkt, durch karmische Gestaltungen bedingtes Bewusstsein, tib. Nam-sche, bedeu­tet dualistisches Bewusstsein im Unterschied zu dem zeitlosen Bewusstsein, Ye-sche. Nam-sche ist das dualistische, unterscheidende Bewusstsein. Dieses Bewusstsein hat große Fähig­keiten, es ist sehr aktiv, es hat eine unglaubliche Wahrnehmungsfähigkeit, Kombinationsfä­higkeit und Unterscheidungsfähigkeit. Es ist gerade diese Fähigkeit zu unterscheiden, die hier ungezügelt zum Zug kommt. Es wird unterschieden, unterschieden, unterschieden. Zuerst zwischen Ich und anderen und daraus folgt die gesamte Palette der Unterscheidungen von „was mir nützt, was mir schadet, wovor ich Angst habe, was ich haben möchte, was ich nicht haben möchte“. Diese Unterscheidung in angenehm-unangenehm ist das Resultat von: „Was ist für mich interessant, was ist für mich nicht interessant? Was mag ich, was mag ich nicht?“. Es ist eine in jedem einzelnen Moment sich vollziehende Unterscheidung unseres Erlebens in: „Was hat das mit mir zu tun?“ Es ist diese sich verselbständigende Unterscheidungskraft des Bewusstseins. Sie führt zu dem, was wir „durch karmische Gestaltungen geprägtes Bewusst­sein“ nennen, das dualistische Bewusstsein. Ihm mangelt die andere Seite, die wir den Blick der Einheit nennen könnten oder die Synthese. Es ist zu stark im Unterscheiden gelandet. Da fehlt ein Element der Wirklichkeit. Unterscheidungen zu treffen, ist völlig in Ordnung, da ist kein Problem, wenn wir nicht gleichzeitig vergessen, dass Unterscheidungen nur auf der re­lativen Ebene zutreffen, aber nicht die letztendliche Ebene erfassen.

Der Buddha hat diese Dimension der Nondualität entdeckt, verwirklicht, und deswegen hat er von der Unwissenheit gesprochen, weil er das andere entdeckt hat. Sonst hätte er gar keine Veranlassung gehabt, von dem mangelnden Gewahrsein zu sprechen. Er sprach davon nur, weil er das Gewahrsein der Einheit gefunden hatte, des offenen Geistes, des Raumes ohne Zentrum, nicht Ich und der Raum drum herum, sondern einfach Raum. Dieses völlig ent­spannte Bewusstsein hat er entdeckt als die Quelle dessen, was man Leidfreiheit nennen könnte. Das ist der leidfreie Zustand, und weil er den entdeckt hat, hat er dann das Leid beschreiben können. Der Hintergrund von Buddhas Lehre ist immer so zu verstehen: die befreiende Entdeckung, und dann aus dieser Entdeckung heraus die Beschreibung des Nor­malzustandes der gefangenen Lebewesen.

Dieser dualistisch geprägte Geist – namsche – trägt bereits eine stark ausgeprägte Identifikati­on in sich. Ich bin in Abgrenzung zum anderen. Und dieses „Ich bin“ ist bereits die Identifika­tion, aber das „Was bin ich?“ führt zur Identifikation- entweder mit dem Körper oder mit dem Geist, normalerweise mit Körper und Geist zusammen. Ich identifiziere mich mit meinem Körper und mit dem, was in meinem Geist passiert. Das nennt man Name-und-Form. Form

32

Page 33: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

ist der Körper, das erste Skandha, das erste Aggregat, und Name ist die Bezeichnung für das Mentale, für die geistigen Skandhas, wo man sagt, „Ich bin meine Empfindungen.“, „Ich bin die Gefühle.“, „Ich bin die Geistesfaktoren.“ (die gestaltenden Faktoren des Geistes, d.h. meine Emotionen, die komplexeren Gefühlszustände, all das bin ich) oder man sagt – fünftes Skandha – „Ich bin das Bewusstsein.“ Das sind die fünf großen Möglichkeiten, sich zu identi­fizieren. Und diese Identifikation drückt sich aus in unserem Körper, in unserer jetzigen Existenz. Wir sind jetzt identifiziert mit Körper und Geist. Der Eintritt in diesen Körper ist der Eintritt des dualistisch geprägten Bewusstseins in eine Form solider Identifikation. Das ist dieser Übergang.

Wenn ein solches dualistisch geprägtes Bewusstsein Name-und-Form, also einen psycho-physischen Organismus annimmt, komplett mit Körper und Geist, dann entstehen – um in Be­ziehung treten zu können mit der Umwelt – die sechs Sinnesquellen. Damit sind gemeint: das Auge und das Sehbewusstsein, die Fähigkeit, visuelle Objekte wahrzunehmen. In der gleichen Weise Nase, Ohren, Geschmacksapparat und das Körperbewusstsein, wobei damit nicht nur das taktile Bewusstsein gemeint ist, sondern auch die Wahrnehmung der Haltung im Raum,die Temperaturempfindung. All das ist mit Tastsinn gemeint, all das, was man durch den Körper wahrnehmen kann. Der sechste Sinn ist die Fähigkeit, Gedanken, geistige Bewe­gungen wahrzunehmen. Die einfache Fähigkeit, zu bemerken: es passiert etwas im Geist, zu sehen, was da gerade stattfindet. Das ist noch nicht die verarbeitende Funktion, es ist einfach nur das Wahrnehmen.

Nur wenn Name-und-Form vorhanden sind, also wenn es zu Körper und Geist kommt, wird es zu den sechs Sinnesfeldern kommen. Und nur wenn diese sechs Sinnesfelder aktiv sind und mit einem Objekt zusammen kommen, wird es zu einem Kontakt kommen. Mit Kontakt ist das gemeint, was die Grundlage der Empfindung ist. Nehmen wir das Beispiel des Aufwa­chens am Morgen. Bevor wir aufwachen, ist das Sehbewusstsein noch nicht aktiviert. Im Moment des Aufwachens wird das Sehbewusstsein aktiviert und zusammen mit den intakten Augen wird es – bei Vorhandensein visueller Objekte – zu einer Sehwahrnehmung kommen. Dieses Zusammentreffen der drei Komponenten wird Kontakt genannt. Kontakt ist das bloße Erscheinen des Objektes im Geist. Das Objekt ist noch nicht als solches identifiziert, man hat noch keine Empfindung ausgelöst, das ist der nächste Schritt. Damit es Empfindung gibt, ist Kontakt notwendig. Damit es Kontakt gibt, sind Sinnesquellen oder Sinnesfelder nötig. Der Zwischenschritt mit Kontakt ist deswegen so wichtig, weil es Geisteszustände gibt, in denen es trotz intakter Sinnesfunktionen nicht zu einem Kontakt kommt, z.B. in tiefer Meditation, in tiefem Samadhi: Wenn das Sehbewusstsein, das Hörbewusstsein nicht aktiviert sind, weil der Geist aus diesen Bewusstseinsformen zurückgezogen ist, dann kommt es bei einem Menschen in tiefer Versenkung nicht zur Sehwahrnehmung, nicht zur Hörwahrnehmung. Man kann ihn sogar anfassen, er spürt nichts, weil der Geist auf einer anderen Ebene ist. ( Ist das Folgende ein ganzer Satz?) Deswegen dieser Zwischenschritt Kontakt. Es kommt nicht zu einem Kon­takt, obwohl Auge und Ohr absolut gesund sind, zugehöriges Sehbewusstsein oder Hörbe­wusstsein sind nicht aktiviert.

Heißt das, dass in diesem Samadhi die Wahrnehmung nicht funktioniert? Es ist tatsächlich so, dass in der tiefen Versenkung die fünf physischen Wahrnehmungen nicht funktionieren, sie sind ausgeschaltet. Der Geist aktiviert diese Formen des Bewusstseins nicht. Nur weil es diese Spielweise unseres Seins auch gibt, hat der Buddha diesen Zwischen­schritt benannt. Er hätte sonst auch direkt von den Sinnesquellen in die Sinnes-Empfindung gehen können.

Bei geistigen Störungen können ja auch Empfindungen ausgeschaltet sein.Bei Gehirnkrankheiten. Bei Menschen mit partiellem Verlust der Wahrnehmung gibt es in diesem Bereich die Kette von Kontakt zu Bewertungen, Anhaften usw. nicht.

33

Page 34: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Der nächste Schritt ist dann, dass es zu Empfindungen kommt aufgrund des Kontaktes. Und Empfindungen sind auf jeden Fall immer angenehm, unangenehm oder neutral. Diese Unter­scheidung findet automatisch statt. Kaum, dass etwas empfunden wird, wahrgenommen wird, ohne dass wir es merken, fragen wir: „Ist das gefährlich für mich? Ist das interessant für mich oder interessiert mich das nicht?“ Diese grundlegende Unterscheidung findet ständig statt mit allem, was passiert und wir schalten sofort das aus, was uns nicht interessiert und wenden uns nur dem zu, was uns interessiert, weil es uns etwas bringt, oder dem, was uns gefährdet und Leid zufügt. Wir haben sofort diese selektive Wahrnehmung, weil ein dualistisches Bewusst­sein Empfindungen hat: sofort werden diese Empfindungen mit Ich und anderen in Ver­bindung gebracht und daraufhin untersucht: „Was hat das mit mir und anderen zu tun?“

Jetzt kommt es aufgrund von Empfindungen zu dem, was wir Verlangen oder Durst nennen. Verlangen hier ist das Verlangen, etwas zu haben oder das Verlangen, etwas nicht zu haben – Angenehmes zu haben und Unangenehmes nicht zu haben. Wir sollten also wissen, – auch wenn hier in der Folge Gampopa das Haften an Angenehmes als Grundlage für die Erklärung nimmt –dass Haften an Angenehmes völlig identisch ist mit Haften im Unangenehmen. Das Nicht-Haben-Wollen von etwas führt zu genauso starken Reaktionen wie das Haben-wollen von etwas. Es ist einfach das Haben-wollen der Abwesenheit von dem, was uns stört.

Von der Empfindung ausgehend kommt es also zu diesem Interesse an einem als angenehm wahrgenommenen Sinnesobjekt in irgendeinem der sechs Sinnesbereiche. Es kann ein angenehmer Geruch sein, eine angenehme Hautberührung, ein angenehmer Gedanke. Völlig egal, es ist etwas, das unser Interesse weckt und uns angenehm bzw. unangenehm vorkommt. Das Angenehme weckt unser Interesse und führt zu einem Festhalten. Dieses Festhalten-Wollen beschreibt der Buddha als Ergreifen. Wir ergreifen das Objekt und versuchen, es festzuhalten.

Ergreifen bedeutet starkes Interesse, Festhalten von etwas, was ich mir heranziehen möchte und Festhalten von etwas, was ich wegstoßen möchte. Ich gebe dem eine übergroße Bedeu­tung, was da mein Interesse geweckt hat.

Wenn wir uns jetzt den nächsten Faktor anschauen: Aus dem Ergreifen, dem Haften, dem Festhalten kommen jede Menge Handlungen mit Körper, Rede und Geist. Sobald uns etwas gefällt, führen wir Handlungen aus, um es zu verstärken, um diese Erfahrung zu wiederholen. Ein Geruch gefällt uns, wir werden schauen, woher er kommt und vielleicht die Blume oder das Parfum besorgen. Wir werden – wenn wir Gedanken haben, die uns gefallen – darin verweilen und sie weiter ausformen. Wenn wir angenehme Eindrücke haben, dann werden wir versuchen, diese Eindrücke häufiger zu erleben und Handlungen ausführen mit Körper, Rede und Geist, die es uns ermöglichen, sie wieder zu erleben. Andrerseits werden wir versuchen, unangenehme Eindrücke nach Möglichkeit nicht mehr zu erleben.

Das nennt man Handlungen, die auf der Annahme eines Ichs beruhen. Es sind also auch wieder die karmischen Kräfte, diese Gestaltungskräfte, die wir in Bewegung setzen. Punkt 10) Werden und Punkt 2) sind eigentlich identisch, lassen aber zwei verschiedene Erklärungen zu. Entweder findet dieses Werden im Hier und Jetzt statt, wir werden immer wieder neu, oder es ist bereits der Übergang zur nächsten Existenz. ( Den Satz im folgenden Absatz kriege ich nicht hin!!!!)

Es besteht also die Möglichkeit, diese Kräfte, die zu einem immer wieder neuen Bejahen von Existenz schüren, Geburt hier und jetzt zu nehmen, oder Geburt in der nächsten Existenz. Eigentlich ist es kein Unterschied. Jedes Mal, wenn ich mich bestätige als „Ich bin!“ durch das Handeln im Unterschied zum anderen, jedes Mal, wenn ich mit einem Objekt in Kontakt trete und eine Handlung ausführe, vertiefe ich die Annahme „Ich bin!“. Ich bestätige mich, ich nehme Geburt an, ich habe ein Leben in der Dualität dadurch, dass ich mich im ergreifenden Handeln bestätige.

34

Page 35: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Nun kann aber dieses Leben nicht ewig dauern, es wird der Tod kommen. Im Tod lösen sich Körper und Geist voneinander, der Körper bleibt zurück. Aufgrund der enorm vielen Hand­lungen, die wir mit Körper, Rede und Geist ausgeführt haben, wird es unmittelbar nach dem Tod wieder dazu kommen, dass ich mich bestätigen möchte als „Ich bin!“, „Ich will sein!“, „Ich will existieren!“.

Dieses „Ich will existieren!“ führt unweigerlich zur nächsten Geburt, zur Annahme eines Kör­pers und zur Identifikation mit einem Geist. Die Kette der Identifikationen hört nicht auf. Nur wer sich nicht weiter identifiziert, wird keine neue Geburt annehmen. Sobald Identifikation da ist – und die ist durch so viele Handlungen geprägt – wird es zur Annahme einer nächsten Ge­burt kommen.

Schauen wir uns diesen Prozess von Geburt, Alter und Tod an: Wenn es Geburt gibt, gibt es auch Tod und alles dazwischen wird „Altern“ genannt. Altern beginnt mit der Geburt, nicht erst im fortgeschrittenen Alter. Sobald etwas geboren ist, geht der Prozess des Wandels weiter und dieser Wandel – bis es zum Auflösen dessen kommt, was geboren wurde – wird Altern genannt. Dieses Altern ist nicht angenehm für (??) ein Bewusstsein, das von Unwissenheit ge­prägt ist und gerne in der angenehmen Erfahrung bleiben würde. Wandel bringt immer das Aufhören dessen, was gerade ist, und es kommt zu etwas Neuem. Und für den unwissenden Geist, der sich dem Wandel widersetzt, ist das von Leid begleitet.

Und so heißt es bei Gampopa:

Aufgrund von Unwissenheit führt Sterben zu heftigem inneren Leid, begleitet von starkem Begehren und Haften. Dies ist Elend. Das Ausdrücken dieses Elends in Worten ist Klagen. Das Erfahren unangenehmer Empfindungen durch die fünf Prozesse sinnli­cher Wahrnehmung ist (körperliches) Leid. Das mit geistigen Vorstellungen einherge­hende geistige Leid ist Unglücklichsein. Alle weiteren Emotionen dieser Art werden Auf­gewühltsein genannt. Das spielt sich also im Leben und in Sterben ab. Immer, wenn der am Ich haftende Geist mit angenehmen Empfindungen konfrontiert wird, die sich auflösen und in etwas anderes wandeln, kommt es zu diesem Leid. Wenn der Körper krank wird oder wenn er Hunger hat, Durst usw., entsteht körperliches Leid mit all den Ausdrucksformen, die wir kennen. Das ist die Beschreibung dessen, wie im Geist, der im Haften an angenehmen Empfindungen gefangen ist, automatisch Leid erfahren wird.

Ist es so, dass einige der Faktoren mehr die Ursachen betonen während andere die unver­meidbaren Folgen sind?Das stimmt. Man kann diese Faktoren gruppieren in die, die eher grundlegende Ursachen sind und in jene, die leidvolle Resultate sind. Es gibt auch andere Möglichkeiten.

Ich will nicht, dass Ihr heute viele Fragen stellt, weil noch viel zu erklären ist, was Eure Fragen automatisch beantworten wird.

Es gibt auch die Möglichkeit, diese zwölf Faktoren so zu verstehen, dass sie sich auf drei ver­schiedene Leben, auf zwei Leben, auf ein Leben und auf jeden Augenblick beziehen. Da gibt es verschiedene Erklärungsansätze.

Ich wollte noch einmal beim siebten Punkt ansetzen, bei den Empfindungen. Empfindungen können doch auch entstehen, wenn Ichlosigkeit schon realisiert ist, oder umgekehrt: eine Empfindung darf sein, ich kann sie registrieren, das Entscheidende ist doch, ob ich beginne, an dieser Empfindung zu haften.Das ist richtig. Was du da ansprichst, ist die Unterweisung darüber, wie man damit prakti­zieren kann. Jeder Punkt führt – wenn es kein Ich-Anhaften gibt – zu einem ganz anderen

35

Page 36: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Resultat. Wenn wir z.B. Empfindungen nicht bewerten oder wenn wir den Bewertungen, die schon entstanden sind, nicht aufsitzen, kommt es zu etwas ganz anderem.

— Meditation —

* * *

Sechste Unterweisung, 31. 7. 04

Ihr habt das Blatt, auf dem die zwölf Glieder abhängigen Entstehens dargestellt sind, vor Euch liegen. Wir werden versuchen, mit Hilfe des Textes von Gampopa zu einem tieferen Verständnis dieser zwölf Glieder zu kommen. Gampopa schreibt:

Diese zwölf Glieder gehören zu drei Gruppen: Unwissenheit, Durst (Verlangen) und Ergreifen sind emotionale Verblendung…Schauen wir uns das einmal an: Der erste dieser Faktoren ist Unwissenheit, und wir erinnern uns, dass Unwissenheit dieses mangelnde Gewahrsein ist, nicht zu wissen, was die Wirklich­keit tatsächlich ist. Und in der Darstellung des Dharma wird Unwissenheit immer zu den Emotionen gerechnet, weil die Definition der Emotion im Dharma anders ist als das, was wir in unserem Sprachgebrauch gewöhnlich denken und sagen. In unserem normalen Sprachge­brauch ist auch Freude eine Emotion, das ist aber hier nicht gemeint. Hier sind die Emotionen gemeint, die zu einer Verblendung führen, zu einer Beschränkung der Sicht, und die uns auf­wühlen. Auf Tibetisch heißt das nyön-mong. Die erste Silbe nyön bedeutet: das, was uns be­trunken macht; das, was aufwühlt; das, was verrückt macht. Und mong, die zweite Silbe, be­deutet: das, was verdunkelt; das, was blind macht. Darum ist emotionale Verblendung eigent­lich eine gute Übersetzung, und im Wort Emotion – da steckt Motion, Bewegung, drin: das, was etwas in Bewegung bringt, was den Geist aufwühlt.

So sind also Emotionen im Dharma-Kontext immer die beschränkenden, verdunkelnden Geis­tesregungen und nicht die Geistesregungen wie Liebe, Mitgefühl, Freude und dergleichen. Das wird hier nicht als Emotion bezeichnet. Auf Sanskrit heißt das Wort klesha, und damit ist gemeint: das, was uns in Samsara festhält.

Unwissenheit ist also der Faktor des Nicht-Wissen-Wollens bzw. aufgewühlt zu sein dadurch, dass man nicht weiß, dass man die Wirklichkeit nicht kennt. Das beunruhigt. Aufgrund von Nicht-Wissen, Nicht-Verstehen, Nicht-Erkennen entsteht Unruhe im Geist.

Jetzt schauen wir uns die Gruppe der drei Emotionen an, die Faktoren, die emotionale Ver­blendung darstellen. Unwissenheit haben wir bereits gesehen. Aus Unwissenheit kommt es zu karmischen Gestaltungen, das ist der zweite Faktor. Das ist in sich keine Emotion, es ist einfach das Handeln aufgrund der Unwissenheit. Dieses Handeln führt dazu, dass wir Tenden­zen erzeugen, wie wir die Welt sehen, wie wir sie erfahren – nämlich in Form einer dualis­tischen Wahrnehmung, was zu einem dualistisch geprägten Bewusstsein führt, das auf Un­wissenheit beruht, aber in sich keine Emotion ist. Dieses dualistische Bewusstsein, das sich mit Ich und anderen identifiziert – also Ich in Abgrenzung zu anderen – identifiziert sich mit Name-und-Form, mit einem Körper und Geist. Das ist in sich einfach wiederum nur Aus­druck der Unwissenheit. Sich damit zu identifizieren, ist keine neue Emotion. Wenn wir einen Körper haben und einen Geist, dann haben wir logischerweise in Folge der Entwicklung auch die sechs Sinnesquellen, die in sich keine Emotion sind, aber zum Kontakt führen. Kontakt führt zur Empfindung. Kontakt und Empfindung sind auch neutral, sind nicht emotionsge­laden. Wenn die Empfindung, die angenehm, unangenehm oder neutral sein kann, wieder zu einem Ich in Beziehung gesetzt wird, entsteht der Durst oder das Verlangen. Verlangen be­

36

Page 37: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

deutet zugleich auch Ablehnung, denn in dem Haften an dem, was angenehm ist, ist auch das Haften an dem, was wir nicht haben wollen. Es spielt sich immer in dieser Dualität ab: das eine möchte ich, das andere möchte ich nicht. Deswegen ist, wenn hier von Verlangen die Rede ist, gleichzeitig von Nicht- Haben- Wollen die Rede. Und darauf aufbauend das Ergreifen, das emotionale Ergreifen, wenn ich sage: „Ich will das!“ Das ist meine Begierde, das ist mein Haften oder meine Abneigung, meine Ablehnung, die sich darin ausdrückt. Wir ergreifen Objekte der Sinneserfahrung als tatsächlich existent und wollen damit entweder, dass es bei uns bleibt, oder wir wollen es von uns wegstoßen. Diese beiden Faktoren – 8) und 9) sind die anderen Glieder, die wir die Glieder der emotionalen Verblendung nennen. Was daraus folgt – dass wir nämlich wieder Handlungen ausführen und damit die Kräfte erzeugen, die wir die Werdens-Kräfte nennen, Faktor 10), das Werden –ist eigentlich der Wunsch nach Existenz. Es beruht auf Unwissenheit und Anhaftung, aber ist in sich neutral, führt zu Geburt, Alter und Tod, was in sich auch keine emotionalen Faktoren sind.

Die emotionalen Faktoren, die hier im Spiel sind, sind das erste Glied, das achte und das neunte.

Gampopa stellt dann die zweite Gruppe vor –alles stammt von Buddha- Gampopa schreibt da kein einziges persönliches Wort. Es sind die Worte des Buddha:

…karmische Gestaltungen und Werden sind Karma…Damit ist gemeint, dass es sich beim zweiten Faktor, den wir karmische Gestaltungen nennen, um die direkte Auswirkung von Unwissenheit handelt. Wo Unwissenheit, d.h. die Annahme eines Ichs vorhanden ist, kommt es automatisch zu einer Gestaltung – zunächst einmal im Geist, zu Gedanken, die sich um ein vermeintliches Ich drehen. Diese Gedanken färben un­seren Bewusstseinszustand, was der dritte Faktor ist. Gleichzeitig – wenn wir schon in einer Existenz sind – können wir auch sprechen und handeln, körperlich handeln, was weiter unsere Existenz gestaltet. Dieses Handeln ist motiviert durch Haften. Das grundlegende Haften ist die Unwissenheit, das Haften an einem vermeintlichen Ich, und dann das Haften an Sinnes­wahrnehmungen, was die Faktoren 8) und 9) sind, die ihrerseits zu Handlungen führen, die im Laufe eines Lebens die Summe aller Handlungen ausmachen, die zum nächsten Leben führen. Das ist der Faktor 10). Die Summe der Handlungen, die das nächste Leben bewirken, wird Werden genannt, der Faktor des Werdens, die Kräfte, die zur nächsten Existenz führen, beru­hend auf dem Wunsch nach Existenz, auf dem Wunsch, sich als ein Wesen zu bestätigen und wieder zu erfahren.

Also der Unterschied zwischen 2) und 10) ist eigentlich nur der, dass 2) sich auf die direkt aus Unwissenheit geborenen Handlungen bezieht – das können auch einzelne Handlungen sein – während 10) sich auf die Summe aller aus Emotionen geborenen Handlungen bezieht, die wir im Laufe eines Lebens ausführen und die die Kräfte darstellen, die uns in die nächste Existenz schleudern.

Diese beiden Faktoren sind also die Glieder, mit denen wir unser Leben gestalten. Hiermit nehmen wir durch Körper, Rede und Geist Einfluss auf das, was uns im Leben widerfährt. Und diese Handlungen beruhen ihrerseits auf der emotionalen Gruppe. Unwissenheit ist die Grundlage für Faktor 2), für die karmischen Gestaltungen, und Anhaften – Ablehnung, die Faktoren 8) und 9), sind die Grundlage für sämtliche karmische Handlungen.

Gampopa beschreibt weiter und sagt:

…und die restlichen sieben – Bewusstsein usw. – sind Leid. Es überrascht uns vielleicht, dass Bewusstsein als erster dieser Faktoren auch schon Leid ge­nannt wird. Das hat damit zu tun, dass es sich um ein begrenztes, dualistisches Bewusstsein handelt. Vom Standpunkt eines Buddhas aus ist ein Bewusstsein, in dem sich die Täuschung

37

Page 38: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

eines Ich breit macht, ein begrenztes Bewusstsein, weil es immer auf Spannung aufbaut. Es hat immer noch die Anspannung des künstlichen Aufrecht-Erhaltens einer Täuschung in sich. Und diese Grundspannung, die das dualistische Bewusstsein charakterisiert, hat dazu geführt, dass man dieses dualistische Bewusstsein bereits in die Glieder des Leidens einordnet. Dieses dualistische Bewusstsein, das sich mit Körper und Geist identifiziert, beruht auch auf An­spannung. Es ist ein Festhalten damit verbunden, deswegen auch Leid. Das setzt sich fort in den Sinnesfeldern, den Sinnesquellen, auch das ist ein begrenzter Geisteszustand. Und auch diese Begrenzung ist – aus der Sicht eines Buddhas –Teil des samsarischen Leidens, z. B. dass man nicht mehr wahrnehmen kann, als man z.B. mit den eigenen Augen sieht, obwohl unser Geist prinzipiell Dinge wahrnehmen könnte weit über das hinaus, was wir mit den eigenen Augen sehen. Der Geist kann eigentlich unbegrenzt wahrnehmen, genauso kann der Geist eigentlich unbegrenzt hören usw. Diese hellhörigen Fähigkeiten gehören dazu, wenn man zur Buddhaschaft erwacht. Von daher sind diese begrenzten Sinnesquellen Leid, ebenso auch der Kontakt und die Empfindungen, die daraus resultieren, wobei diese Empfindungen sofort mit einem Ich in Beziehung gebracht werden und zu engen Geisteszuständen führen.

Diese Empfindungen führen dann zu Emotionen, die Emotionen charakterisieren unser Leben, und wir nehmen dadurch ein Leben nach dem anderen an.

Die Faktoren 11) und 12), Geburt, Altern und Tod sind dann ebenfalls Leid, weil Geburt nicht leicht ist: wir sind abhängig von anderen, wir haben es kalt, wir haben es zu heiß, wir haben nichts zu essen, wir haben Verdauungsschwierigkeiten, wir werden krank, wir müssen auf­wachsen,…das Leben ist nicht einfach, es ist schwierig. Und dann kommen die Krankheiten dazu, dann kommt der Sterbeprozess dazu, und deswegen sind diese Faktoren unter Leid ein­geordnet.

Der Buddha ist sich bewusst, dass unser menschliches Leben sehr viele angenehme Emp­findungen hat. Das ist ja der Faktor, der das Verlangen auslöst. Was er Leid nennt, ist die Tat­sache, dass alle Empfindungen – angenehme wie unangenehme – sich in einem dualistischen Bewusstsein abspielen. Und diese Begrenzung des Bewusstseins ist das eigentliche Leid. Und diese Begrenzung ist Unwissenheit, das ist der erste Faktor.

Ihr seht, dass ich zwischen dem Faktor 9), Ergreifen, und der Unwissenheit, eine gestrichelte Verbindungslinie gezogen habe. Die weist darauf hin, dass Haften und Ergreifen immer wieder erneut unsere Unwissenheit nähren, dass das auf dualistischer Wahrnehmung beru­hende Ergreifen zu einer Verstärkung der Dualität in uns führt, zu der grundlegenden Un­wissenheit. Es ist so, als würden unsere Emotionen immer wieder die Grundannahme bestä­tigen: ich existiere! Das ist ein sich selbst nährender Kreislauf.

Mit diesem kleinen Strich hier soll das ausgedrückt werden: Je mehr Emotionen, desto mehr glaube ich zu sein. Und dieser Kreis dreht sich unaufhörlich und nährt sich von den dazwi­schen geschalteten Faktoren des Identifizierens mit Sinneseindrücken usw.

Gampopa fährt fort und gibt uns ein Beispiel – das stammt auch aus dem Sutra:

Ein Beispiel: Unwissenheit ist wie der Sämann, Karma (oder Handlung) ist der Boden, Bewusstsein ist der Same, Durst entspricht der Feuchtigkeit, Name und Form sind der Keim und die anderen Glieder entsprechen den Zweigen, Blättern und so fort.Ich gebe euch einen Satz, den ich selber zusammengestellt habe, der leichter zu verstehen ist: „Bewusstsein ist wie ein Same, der von Unwissenheit gesät und unaufhörlich genährt wird im Boden des Karma und von Verlangen gewässert wird. Feucht gehalten von Verlangen, bringt es die Keime von Name und Form hervor mit ihren Ästen und Blättern in allen Geburtsorten des Werdens.

38

Page 39: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Bewusstsein ist also wie ein Same, den wir säen. Bewusstsein ist das, was sich mit Ei und Sperma verbindet. Da kommt nicht nur Materie zusammen, sondern auch das Prinzip des Be­wusstseins, die Vitalität, das was das Persönliche des neuen Wesens ausmacht. Das nennen wir das Bewusstsein. Dieses Bewusstsein wird mit Unwissenheit gepflanzt. Unwissenheit be­deutet hier, es wird mit einem mangelnden Gewahrsein gepflanzt, in der Annahme eines Ichs und in dem Bedürfnis, dieses Ich zu bestätigen, sich weiter zu identifizieren.

Wo hinein wird es gepflanzt? Die Unwissenheit ist wie der Sämann, sie sät den Samen in ein Feld des Karma. Die Unwissenheit hat auch dieses Feld ausgesucht, geschaffen. Das Feld, in dem der Boden – wie bei jeder Pflanze – enormen Einfluss auf den Samen hat: ob der Same aufgeht oder nicht, ob er stark wird usw. Die Umgebung, in der sich das Bewusstsein entwi­ckelt, wird karmische Gestaltungen genannt. Das ist das Feld, in dem der Same aufgeht.

Damit ein Pflänzchen wachsen kann, muss es gewässert werden, es braucht Feuchtigkeit. Was ist die Feuchtigkeit, die das dualistische Bewusstsein braucht, um stärker und stärker zu werden? Es ist das Anhaften, das Verlangen, das Ergreifen. Das Ergreifen ist das, was die Dualität durch die Annahme eines Ichs immer weiter verstärkt. Dadurch wird dieses Bewusst­sein richtig fest installiert.

In der embryonalen Entwicklung führt das Sich-Identifizieren mit Name und Form – mit Kör­per und Geist – dazu, dass sich immer mehr individuelle Merkmale ausprägen. Das nennen wir die Zweige und Blätter von dem Keim, der Name und Form heißt. Das sind die Merkma­le, die eine voll entwickelte Pflanze hat: Zweige und Blätter. Und so haben wir als voll entwi­ckelte Menschen auch unsere persönlichen Merkmale, die uns unterscheiden. Die volle Aus­prägung aller Merkmale heißt hier: Äste und Zweige.

Dieser Prozess vollzieht sich an allen Geburtsorten des Werdens.( Hier stimmt wohl etwas nicht! Kann sein, dass mir hier etwas weggesprungen ist!) Werden steht für – dort, wo die Kräfte des Werdens aktiv sind, Faktor 10), das ist ganz Samsara. Werden, tib. Sipa, dieses Wort wird als Synonym für samsarische Existenz benutzt.

So habt Ihr in diesem Satz – den man natürlich durchmeditieren sollte – alle zwölf Faktoren anhand eines Beispiels zusammengefügt, eines Beispiels, das die Quelle für das Sutra war: „Wer diesen Reissprössling versteht, versteht den Dharma. Wer den Dharma versteht, ver­steht die Buddhaschaft.“Das gesamte Beispiel, anhand der Pflanze aufgezeigt, ist somit in diesem einen Satz zu­sammengefasst. Aber was wir wissen sollten: für(???) Verlangen, das hier bewässert oder befeuchtet, da sind die Faktoren 8) und 9) zusammengefasst, und mit den Zweigen und Blät­tern sind die Faktoren 5), 6) und 7) zusammengefasst. Die Sinnesquellen, Kontakt und Emp­findungen bilden in dieser Darstellung eine Einheit, das sind einfach die Zweige und Blätter, mit denen die Pflanze in Kontakt zu ihrer Umgebung tritt.

Habt Ihr dieses Beispiel mit der Pflanze verstanden? Habe ich mich klar ausgedrückt, oder sind noch zusätzliche Erklärungen nötig?

Zum Werden und Punkt 4) Name und Form. Wie ist das bei den formlosen Göttern?Dieser Kreislauf ist etwas anders, wenn es sich um formlose Bereiche handelt, da heißt es nicht Name und Form, sondern es heißt nur noch Name. Die Empfindungen sind dann nur geistige Empfindungen.

Zu Punkt 7): Du hast bei den Empfindungen unterschieden. Gehören in diese Unterschei­dungen z.B. auch Empfindungen hinein, die man in lebensbedrohenden Situationen hat? Wenn ich z.B. vor einem Auto weg springe, dann sind das auch Empfindungen und man könn­te sagten, die beziehen sich nur auf mich.

39

Page 40: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Ja, die gehören alle mit dazu. Wenn du ein Auto auf dich zurasen siehst: Du siehst es und du hörst es. Das ist die direkte auditive und visuelle Wahrnehmung. Als nächstes setzt du damit Dinge in Beziehung, die du weißt, die du erfahren hast. Da findet eine Rückkoppelung statt. Und diese Rückkoppelung kann Ich-bezogen sein und sie kann nicht Ich-bezogen sein. Wenn sie nicht Ich-bezogen ist, so heißt das nicht, dass du deswegen nicht weg springen würdest. Du würdest weg springen, weil es z.B. sinnvoll ist, diesen Körper am Leben zu erhalten. Es gibt andere Motivationen, ohne Angst. Man kann weg springen, ohne Angst zu haben. Die Angst, die da auftaucht, ist ein typisches Merkmal für die Ich-Identifikation. Das bedeutet nicht, dass man nicht weg springt, wenn man keine Angst hat. Auch ein Buddha würde auf die Seite treten, wenn ein Auto auf ihn zu rast, er würde irgendetwas machen, um diese Existenz zu schützen, oder auch um den Fahrer zu schützen. Das unwissende Element besteht darin, welche Rückkoppelungen aufgrund dieser Empfindung stattfinden.

Könnte man das unter dem Begriff „Selbsterhaltungstrieb“ zusammenfassen?Der Selbsterhaltungstrieb ist ein auf der Annahme eines Ichs beruhendes Phänomen und be­ruht in den meisten Fällen auf Angst, auf unangenehmen Empfindungen, die man vermeiden möchte. Das bedeutet aber nicht, dass ein Erleuchteter nicht mehr essen und trinken würde, sich nicht behandeln lassen würde und nicht auch Handlungen ausführen würde, die zur Erhaltung dieses Lebens beitragen. Das ist absolut sinnvoll. Aber er würde nicht aus Angst heraus handeln und wenn es so sein soll, dass er stirbt, dann ist das in Ordnung, dann gibt es bei ihm kein Aufbäumen dagegen.

Um das Beispiel fortzusetzen: Als der Buddha zu einem Zeitpunkt starb, den er vorher wuss­te, hat er noch jemandem Zuflucht gegeben, hat sich hingelegt, von seinen Jüngern verab­schiedet und ist danach durch die verschiedenen Samadhis, die Versenkungen gegangen in aufsteigender und absteigender Ordnung und dann ins Parinirwana übergegangen ohne die geringste Anhaftung, Sorge und Angst, ohne die Ich-bezogenen Reaktionen, die man norma­lerweise hat.

Lama Taschi: Die Angst ist ein unmittelbarer Ausdruck der Unwissenheit.

Weil wir Menschen sind, haben wir nicht nur einen Geist, sondern auch einen Körper. Was bringt das für Vorteile auf einem spirituellen Weg,? Warum sprechen wir von einer kostbaren menschlichen Existenz, wenn wir doch eigentlich mehr Identifikationsgrundlage haben als z.B. die formlosen Götter?Es gibt zwei große Vorteile. Der eine ist: Einen Körper zu haben stabilisiert den Geist, weil wir immer im selben Körper aufwachen und vor Ort bleiben, weil der Geist nicht hingehen kann, wohin er will. Das führt zu einer gewissen Kontinuität in unserem Leben. Und dann ist es so, dass wir aufgrund des Körpers sehr viel mehr unangenehme Erfahrungen machen, Leid erfahren, was uns motiviert, den Dharma anzuwenden. Götter ohne Körper erfahren keine un­angenehmen körperlichen Empfindungen und sind von daher auch nicht motiviert, den Dharma anzuwenden. Sie sehen keinen Grund dafür, weil sie leider nicht weitsichtig genug sind, zu sehen, was später auf sie zukommt. Aber ihre jetzige Existenz motiviert sie nicht, den Dharma anzuwenden, während unsere jetzige Existenz mit all dem Leid, das wir erfahren, uns durchaus motiviert zu praktizieren.

Man sagt, dass die Wesen in den niederen Bereichen sehr viel Leid erfahren. Haben diese Wesen einen Körper?In den niederen Daseinsbereichen, bei den Tieren, haben wir natürlich einen Körper, eine Form mit der entsprechenden Identifikation. Bei den Hungergeistern und bei den Höllen­wesen haben wir nur einen Lichtkörper, keinen substantiellen Körper. Und dummerweise – obwohl sie nur einen Lichtkörper haben – sind sie so intensiv identifiziert mit ihrem Lichtkör­per, schlimmer noch als wir mit unserem menschlichen Körper, und haben eine noch sehr viel

40

Page 41: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

geringere Bandbreite der Nicht-Identifikation. Alles, was ihr vermeintlicher, ihr projizierter Lichtkörper zu erfahren scheint, ist für sie mindestens genauso schlimm wie für uns mit un­serem materiellen Körper. Sie haben keine wirkliche Form, keine materielle Gestalt, aber ihre geistige Form ist so von Anhaften und Identifikation durchtränkt, dass sie aufgrund dessen enormes Leid erfahren. Wie übrigens auch die Götter im Form- und Begierdebereich, die sich Zeit ihres Lebens der Anhaftung an ihren Körper gar nicht so bewusst waren. Aber wenn der Körper dann übel zu riechen anfängt usw., dann scheint ihre Anhaftung an den Körper wäh­rend der letzten sieben Göttertage vor dem Tod so stark zu sein, dass sie dann Leid erfahren, was sie vorher nicht gekannt haben. Es ist also durchaus möglich, auch an einem Lichtkörper anzuhaften.

Das abhängige Entstehen bezieht sich auf die Wesen. Wie bezeichnet man das Entstehen aller übrigen Phänomene, die ja auch bedingt entstehen. Ja, das hier wird das innere Entstehen in Abhängigkeit genannt und das, was die äußeren Phä­nomene angeht ist das äußere Entstehen in Abhängigkeit.

Sind da dann auch zwölf Glieder?Die Ketten sind anders, weil es kein Bewusstsein gibt. Das äußere Entstehen in Abhängigkeit wird als das Zusammenkommen der verschiedenen Elemente mit ihrer Auflösung be­schrieben. Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum und Zeit. Wenn das äußere Entstehen in Abhän­gigkeit beschrieben wird, kommt der Zeitfaktor dazu, da wird dieses Zusammenkommen der Elemente beschrieben, wie sich Festigkeit und Flüssigkeit, diese Elemente durchdringen. Diese Ketten sind also ganz anders.

Soll man sich die äußeren Elemente und das Bewusstsein als getrennte Einheiten vorstellen?Nein. Diese Ketten sind alle auf der relativen Ebene. Auf der höchsten, der letztendlichen Ebene ist alles Geist, ist alles Ausdruck des Geistes und da gäbe es auch keine Zeit, der Fak­tor Zeit würde bei den Elementen wegfallen.

Hier ist die Erklärung, wie im Relativen Leid entsteht. Wenn wir uns das genau anschauen, dann ist jeder Faktor dieser Zwölferkette – auch für den Menschenbereich – in sich völlig rein, ist in sich Ausdruck des Dharmakaya und ist nicht an sich ein Faktor des Leidens. Aber das gilt nur für jemanden, der erkannt hat, dass selbst dualistische Gedanken die Natur des Dharmakaya haben, dass auch dualistisch wahrgenommene Empfindungen dieselbe Natur des Geistes haben, dass alle Emotionen dieselbe Natur des Geistes haben. Für diese hat sich dann aber auch die Kette abhängigen Entstehens aufgelöst, weil diese Erkenntnis da ist, weil die Unwissenheit gewichen ist.

Wenn in dieser Kette ein Glied wegfällt, wenn ein Glied nicht mehr besteht – jetzt waren wir gerade bei der Unwissenheit: wenn Unwissenheit wegfällt, das erste Glied, dann gibt es auch keine karmischen Gestaltungen mehr. Wenn es keine karmischen Gestaltungen gibt, kommt es auch nicht zu einem dualistischen Bewusstsein. Wenn es kein dualistisches Bewusstsein gibt, kommt es auch nicht zur Identifikation mit Name und Form. Wenn es diese nicht gibt, kommt es nicht zur Identifikation mit Sinnesfeldern und Wahrnehmungen, kommt es nicht zu all den weiteren Gliedern in der Kette.

Zum Faktor 10), Werden. Kann man aussteigen aus dem Faktor Werden? Wie ist das möglich?Werden führt automatisch zu Geburt. Werden ist die Gesamtheit der Kräfte von Tausenden von Millionen Handlungen, die wir in Ich-Bezogenheit ausgeführt haben. Wir haben da nor­malerweise gar keine Wahl. Wir sind gezwungen, wieder Geburt anzunehmen. Es wird automatisch Geburt angenommen, weil die Kraft dieser Handlungen so stark ist, die Tenden­zen so stark sind. Der Faktor Werden fällt weg, wenn Realisation eintritt, wenn der Geistess­

41

Page 42: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

trom sich dessen bewusst wird, was die letztendliche Natur der Dinge ist, das Gewahrsein des Dharmakaya. Wenn dieses Gewahrsein eintritt – wenn Unwissenheit aufhört – dann ist man nicht mehr verfangen in dem Werden-Kreislauf. Dann mag es zwar noch Werdenskräfte ge­ben, aber da keinerlei Anhaften mehr ist, worum sich diese Kräfte gruppieren können, kommt es nicht zu einer erneuten Geburt.

Wir werden uns das morgen weiter anschauen, wir machen noch mehrere Durchgänge, bis das richtig klar ist.

Hängt dieser Kreis speziell mit dem Sambhogakaya zusammen?Nicht mehr als mit Dharmakaya und Nirmanakaya.

Morgen werden wir davon sprechen, welche Unterweisungen sich auf welche Glieder bezie­hen. Ich habe Euch zu Anfang gesagt, dass diese zwölf Glieder die komplette Darstellung des Dharma in sich trägt, so wie das der Buddha in seinem Sutra auch gesagt hat. Wir werden uns damit beschäftigen, wie wir diesen Kreislauf durchbrechen können, das ist ja unser Haupt­anliegen. Jetzt ging es erst einmal darum, den Kreislauf zu verstehen und dann geht es darum, den Kreislauf noch besser zu verstehen, um ihn durchbrechen zu können.

* * *

Siebte Unterweisung, 1. 8. 04Wir fahren heute fort mit den zwölf Gliedern abhängigen Entstehens, deren Verständnis uns ermöglicht, unsere Unwissenheit zu verringern.

„Ohne das Auftreten von Unwissenheit manifestieren sich keine karmischen Gestaltungen (usw.) und so gibt es ohne Geburt auch kein Altern und Tod. Da es aber Unwissenheit gibt, kommt es tatsächlich zu karmischen Gestaltungen (usw.) und da es Geburt gibt, manifestieren sich Alter und Tod. Aber es ist nicht etwa so, dass die Un­wissenheit denken würde: „Ich werde karmische Gestaltungen manifestieren“ und auch die karmischen Gestaltungen denken nicht: “Wir wurden von Unwissenheit erzeugt“ (usw.) und genauso wenig denkt Geburt: „Ich werde Alter und Tod manifestieren“, und Alter und Tod denken nicht: „Geburt hat mich erzeugt.“ Vielmehr bewirkt das bloße Vorhandensein von Unwissenheit, dass sich karmische Tendenzen manifestieren (usw.) und das bloße Vorhandensein von Geburt bewirkt, dass sich Alter und Tod manifes­tieren. So wird das innere Entstehen in Abhängigkeit als eine Verkettung von Ursachen betrachtet.“Was will der Buddha damit sagen? Er will damit sagen, dass es da kein Ich gibt, das diese Funktion eines Schöpfergottes hat. Es gibt keinen Faktor, der sich sagt: „Ich werde die anderen erzeugen.“ Wenn wir z. B. bei Name und Form schauen: Name und Form sagen sich nicht. „Ich wurde geschaffen von einem Schöpfer und ich werde das weitere erzeugen.“ Diese Glieder der Kette gehen von alleine weiter, erzeugen sich selber, ohne dass es in dieser Kette einen Schöpfer gibt. Das ist also das Gegenteil von dem Konzept eines Schöpfergottes. Der Buddha zeigt uns, dass das Ganze immer von alleine weitergeht.

Es gibt vier Arten, wie man den Ursprung eines menschlichen Wesens erklären oder wahr­nehmen kann.

Erstens: Diese Existenz zeigt sich oder entsteht aus sich selbst. Zweitens: Diese Existenz ent­steht aus einem Schöpfer. Drittens: als Ursprung dieser Existenz gibt es sowohl sich selbst als auch den Schöpfer und viertens: Es gibt ganz und gar keine Ursache für die Existenz.

Das, was man einen Schöpfer nennt, ist eine unabhängige Ursache, d.h. etwas, was außerhalb dieser Kette existieren würde.

42

Page 43: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Mit diesen zwölf Gliedern abhängigen Entstehens zeigt der Buddha, dass die Dinge nicht aus sich selbst heraus existieren. D.h. es gibt einen Faktor, der als Ursache fungiert für das, was daraus folgt. Es ist ungefähr so wie bei einer Waage: Wenn auf der einen Seite etwas verschwindet, dann erscheint in der Folge etwas auf der anderen Seite. Oder wie man es bei einem Samenkorn beobachten kann. Das Samenkorn verschwindet im Keim. Der Keim löst sich auf in der Pflanze und die Pflanze ist nicht identisch mit dem Keim, aber man kann auch nicht sagen, dass sie völlig verschieden ist von dem Keim. D. h. es gibt eine Kontinuität von Ursache und Wirkung, und das ist die Idee der zwölf Glieder abhängigen Entstehens. Das eine löst sich auf und gibt dem Nächsten, das erscheint, seinen Platz. D.h. es gibt eine Kontinuität von Ursache und Wirkung, die aber nicht auf einem Willen beruht, nicht auf dem Willen: „Ich werde das erzeugen!“ Diese Kontinuität hat keinen Willen dahinter.

Es gibt fünf Charakteristika für diese wechselseitige Abhängigkeit.

1. Die Phänomene sind nicht dauerhaft, sie sind vergänglich. D.h. in diesem Zyklus: eines hört auf, damit das nächst entstehen kann. So wie wir anhand der Pflanze gese­hen haben: der Keim vergeht, wenn die Pflanze entsteht.

Das ist eine Beschreibung, wie das Leben ist. Das Leben ist nicht statisch, es ist ein ständiger Prozess der Veränderung.

2. Die Phänomene sind nicht unterbrochen. D.h. es ist dort keine Diskontinuität. Und wie wir am Beispiel der Waage gesehen haben: das ist eine gleichmäßige, kontinuierliche Bewegung, es gibt keine Unterbrechung. Wenn wir den Keim beobachten: er wird langsam zur Pflanze. Er ist nicht in einem Moment nicht mehr da, dann dauert es eine Weile und die Pflanze ist da. Der Keim wird zur Pflanze.

3. Die Verbindung ist nicht eine Verwandlung in das nächste, d.h. es ist nicht identisch mit dem, was vorher war. Das bedeutet, dass wir in diesen Gliedern keine Identität haben, die weitergeht, die nur ihre Erscheinungsform ändert. D.h. die nächste Sache erscheint als Konsequenz des Vorherigen, aber es ist kein Ich darin vorhanden, (k?)eine Identität, die weitergeht.

4. Das vierte Charakteristikum ist: eine kleine Ursache kann eine große Wirkung erzeugen. Ein ganz kleines Samenkorn kann die Ursache für einen großen Baum sein.

5. Ursache und Wirkung haben eine Ähnlichkeit in ihrer Kontinuität oder in ihrer Basis und das bedeutet, sie haben etwas gemeinsam. Wenn wir das Beispiel eines Gersten­korns nehmen: Es wird keine beliebige Pflanze hervorbringen sondern eine Gersten­pflanze, es ist also etwas Gemeinsames vorhanden.

Wir können sehen, dass diese Überlegungen uns Antworten auf unsere Fragen geben. Z.B. denken wir „Ich“, weil es eine Kontinuität gibt. Wir sehen eine Kontinuität von der Geburt all die Jahre hindurch bis zum heutigen Moment. Und weil es diese Kontinuität gibt, denken wir, es gibt ein Ich. Wir sehen diese Kette von Ursache und Wirkung, wir sehen, dass es eine Ver­bindung gibt, dass es auch Dinge gibt, die sich verändern. Aber weil es die Verbindung von all diesen Momenten von der Geburt bis heute gibt, denken wir, wir hätten eine Identität, es gäbe ein Ich. Es ist so, als ob wir einen Fluss betrachten: da fließt immer Wasser. Weil dort immer Wasser fließt, sagen wir: Das ist der Rhein, das ist die Rhone. Wir geben einen Namen und denken, es sei immer derselbe Fluss, nur weil da diese Kontinuität ist. Aber es ist immer anderes Wasser, es ist eigentlich nicht derselbe Fluss, doch aufgrund der Kontinuität denken wir, er sei derselbe.

So können wir von der Geburt bis heute zurückverfolgen: da ist eine Kontinuität in dem Wesen, das heute ist und dem Wesen, das gestern war. So können wir jeden Tag eine Konti­nuität sehen von dem, was vorher war zu dem, was jetzt ist. Und diese Kontinuität – zwar im

43

Page 44: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

steten Wandel begriffen, aber verbunden miteinander – diese Kontinuität gibt uns den Ein­druck eines Ichs, einer Identität, dass da etwas ist, von dem ich heute noch sage: „Ich bin das Baby von damals.“ Diese Identifikation kommt durch die Ähnlichkeit im kontinuierlichen Wandel, dass Ähnliches aufeinander folgt, wobei dann im Endprozess ein Riesenunterschied zur Ursache bestehen kann – also zwischen dem, was das Baby war und was ich heute bin. Doch wir denken immer noch, das wäre Ich, das wäre dieselbe Person.

Ebenso ist es, wenn wir in das nächste Leben hinübergehen. Auch da gibt es kein Ich, das weitergeht. Es gibt eine Kontinuität, aber es gibt eine neue Mischung von Karma. Und der Buddha hilft uns mit diesem Beispiel zu sehen, dass wir nicht aufgrund dieser Kontinuität da­von ausgehen dürfen, dass ein Ich besteht, das von einer Existenz in die nächste weitergeht. Das heißt, er schneidet die Idee von einem beständigen, kontinuierlichen Ich durch. Es sind unterschiedliche Faktoren, die jeweils das Nächste erzeugen.

Wir werden uns später noch genauer anschauen, wie diese zwölf Glieder abhängigen Ent­stehens sich aufteilen in die verschiedenen Leben, welches zu diesem Leben gehört, welches zu dem vorigen und welches zu dem nächsten Leben gehören.

Jetzt werden wir fortfahren mit weiteren Charakteristika dieser wechselseitigen Abhängigkeit. Ihr erinnert euch an das Sutra des Reissprösslings. Buddha sagte: „Wer diesen Reissprössling versteht, der versteht die wechselseitige Abhängigkeit. Wer die wechselseitige Abhängigkeit versteht, versteht den Dharma. Und wer den Dharma versteht, versteht Buddhaschaft.“

Die Merkmale, die ich Euch jetzt erklären werde, sind identisch für den Dharma und das abhängige Entstehen.

Die Kette des Entstehens in wechselseitiger Abhängigkeit bleibt immer gleich und ebenso der Dharma, er bleibt derselbe, er ändert sich nicht.

Es gibt hinter diesem Zyklus keine Lebenskraft, die ihn belebt, so wie es auch hinter dem Dharma keine Kraft gibt, die den Dharma hervorbringen würde oder belebt. Dieser Zyklus wird nicht von einer Vitalkraft unterstützt, animiert, d.h. er ist frei von einer Vitalkraft, er funktioniert ganz alleine.

Wenn man das Ganze mit dem Auge eines Buddhas anschaut, dann ist das die Soheit, frei von Konzepten, Begriffen. Soheit bedeutet Leerheit, d.h. es gibt kein Ich darin, das ist einfach so. Wir brauchen nicht weiter nach etwas zu suchen.

Diese Kette abhängigen Entstehens ist frei von Verwirrung, es gibt keinen Fehler darin. Diese wechselseitige Abhängigkeit wurde nicht geschaffen, ebenso wie der Dharma nicht geschaf­fen wurde. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist nicht erschienen, d.h. sie ist schon immer da, ohne Anfang und ohne Ende.

Und sie ist nicht zusammengesetzt, d.h. sie kann auch nicht auseinander fallen, und so ist es auch mit dem Dharma. Der Dharma ist nicht zusammengesetzt, er ist nur eine Beschreibung von dem, was ist. Wir könnten statt ‚nicht zusammengesetzt’ auch sagen: nicht fabriziert, nicht erzeugt.

Die wechselseitige Abhängigkeit ist ungehindert, nichts kann sie daran hindern zu funktionieren, zu erscheinen.

Sie ist nicht erfassbar und das bedeutet, sie hat keine wirkliche Natur, sie ist jenseits von dem, was man intellektuell begreifen kann, d.h. sie ist Leerheit, das bedeutet die Abwesenheit eines Ich, die Abwesenheit von etwas, das ewig weiter existiert.

Wenn wir die wechselseitige Abhängigkeit realisieren, dann finden wir Frieden. Und ebenso ist es mit dem Dharma: Wenn wir den Dharma realisieren, finden wir Frieden.

44

Page 45: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Und ebenso: Wenn wir die wechselseitige Abhängigkeit realisieren, erlangen wir Furchtlosig­keit.

Dieser Prozess ist unbeeinflussbar. Er ist unerschöpflich. Er ist jenseits davon, zur Ruhe ge­bracht werden zu müssen, man kann ihn nicht anhalten. Das ist sehr wichtig, denn wenn wir jetzt die Belehrungen hören, könnten wir denken, es ginge darum, diesen Prozess anzuhalten, um aus Samsara herauszukommen. Das ist nicht der Punkt, es geht darum, ihn zu realisieren, ihn zu begreifen.

Ich verstehe den Widerspruch noch nicht zwischen diesem sehr präzise beschriebenen Kon­zept und einem nicht vorhandenen Konzept.Weil die eigentliche Natur dessen, was beschrieben ist, sich einem erst auftut, wenn man die Leerheit versteht. Im Moment verstehen wir es auf der Ebene von Konzepten, aber wie das wirklich funktioniert – dass z.B. ein Geist einen Körper annehmen kann und wie dieser Kör­per Veränderungen unterliegt, wie es dann im Bardo weitergeht – das kann man erst ver­stehen, wenn man jenseits der Begrifflichkeit geht, in die Natur des Nicht-Ichs hinein. Da tut sich einem die wahre Kette der zwölf Glieder auf.

Buddha hat diese Kette erst verstanden und entdeckt, als er selber bereits auf der zehnten Bodhisattvastufe war. Kurz vor dem Eintritt in den Vajrasamadhi hat er diese Kette verstanden. Weil sich dort alles zusammensetzte, wie der Kreislauf wirklich läuft; deswegen diese Bemerkung.

Die Frage ist z.B., wie ein Bewusstsein, das eigentlich keinen Wesenskern hat, Form annehmen kann, mit dieser Form dann Handlungen ausführt, die offenbar auch gravierende Folgen haben. Die Handlungen und die Folgen an sich sind leer von Natur aus, sind eigentlich nicht bindend, wenn man sich nicht identifiziert. Das Zusammenspiel der relativen und der letztendlichen Ebene, das in dieser Kette vorhanden ist, kann ohne Verständnis der Leerheit nicht begriffen werden.

Diese kleine Ursache mit der großen Wirkung. Es ist zwar so, dass ein kleiner Same Ursache für einen großen Baum ist, aber es bedarf ja noch vieler anderer Dinge, die notwendig sind, damit der Baum entstehen kann.Ja, das wird „Bedingungen“ genannt. Die Hauptursache ist der Same und dann braucht es Be­dingungen wie Feuchtigkeit, Erde, Platz usw.; das sind die zusätzlichen Bedingungen und es gibt natürlich auch die Möglichkeit, dass große Ursachen kleine Folgen haben. Damit wird ausgedrückt, dass es dynamisch ist und nicht festgelegt, dass etwas Kleines immer klein bleibt und etwas Großes immer groß.

Das Kleine, von dem hier gesprochen wird, ist der kleine Ausrutscher, der kleine Fehler, ein Ich anzunehmen, wo kein Ich ist. Daraus entsteht eine Menge an Leid für ein Bewusstsein, das eigentlich gar keinen Ich-Wesenskern, aber unglaubliche Konsequenzen über Millionen von Leben hinweg hat. Es ist eine Trivialität, nicht erkannt zu haben, dass das, was wir land­läufig mit Ich bezeichnen nur eine Konvention ist und nicht wirklich existiert.

Ich denke vor allem an Situationen, in denen sich etwas zusammenbraut und in denen dann eine Person als Zünder fungiert, so dass eine Lawine losgetreten wird. Es sind viele Ursa­chen, die zusammenwirken. Da frag ich mich, was ist die Hauptursache, ist es das Zu­sammenkommen oder dieser eine Same?Was diese Zwölferkette angeht, so sind die Hauptursachen die Faktoren 1, 2, 3, 8 und 9.

Wenn Unwissenheit, karmische Gestaltungen, dualistisches Bewusstsein dazu führen, dass wir begehren und ergreifen, ist das die treibende Kraft. Das wird die Wahrheit von der Ursa­che des Leidens genannt. Die wird hier mit diesen Faktoren beschrieben.

45

Page 46: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Über die unglaubliche Vernetzung von Bedingungen in der Welt und die vielen anderen Be­dingungen zur Entstehung einer Pflanze oder eines Blattes Papier braucht man nicht zu spre­chen, darüber bist du dir sowieso im Klaren. Aber hier geht es um die fünf Faktoren, die als Hauptursachen benannt werden.

Jetzt werden wir uns mit der Frage beschäftigen: „Warum versteht man den Dharma, wenn man diese zwölf Glieder abhängigen Entstehens versteht?“

Und dann werden wir auch anschauen, wie wir diese Kette unterbrechen können.

Das erste Glied ist die Unwissenheit. Es ist sehr schwer, sie direkt anzugreifen, weil es sich dabei um einen fundamentalen Irrtum handelt, um eine Annahme, die sehr grundlegend ist. Das ist nicht nur irgendein oberflächliches Konzept, das wir loslassen könnten, es betrifft wirklich das Herz unserer Identität.

Um diese Unwissenheit zu schwächen, geben die Meister Erklärungen, was rigpa und marig­pa betrifft. Rigpa ist das klare Bewusstsein und marigpa ist das verschleierte Bewusstsein. Sie erklären uns die Buddhanatur, sie erklären uns Mahamudra-Meditation und den nondualen Geist.

Mahamudra-Meditation löst die Unwissenheit auf. Wenn wir Mahamudra richtig meditieren, dann schneiden wir die Wurzel der Unwissenheit ab. Damit wir dort hinkommen, gibt es Lhaktong, eine Technik, bei der man sich in der Meditation Fragen stellt. Fragen, die das Objekt und das Subjekt betreffen und die uns helfen, die Dualität aufzulösen.

In dem Moment, in dem wirklich Lhaktong realisiert wird, in diesem Moment der Realisation, manifestiert sich die letztendliche Weisheit, die Prajnaparamita. Alle Belehrungen über Pra­jnaparamita, dieser Paramita der Weisheit, sind Mittel gegen Unwissenheit.

Wenn man die sechs Yogas von Naropa praktiziert, dann ist es die Praxis des klaren Lichts, die die Unwissenheit vernichtet, und auch die Praxis von Tummo schneidet die Wurzel der Unwissenheit ab.

Im Moment können wir über die Nicht-Dualität sprechen, wir können von Mahamudra spre­chen, aber nur mit den Jahren der Praxis wird sich langsam die Unwissenheit schwächen. Wir müssen erst an anderen Punkten arbeiten.

Die Unwissenheit, das Nicht-Gewahr-Sein, erzeugt die karmischen Gestaltungen und daran können wir nichts ändern. Es ist unmöglich, das durchzuschneiden. Sobald Nicht-Gewahr-Sein entsteht, treten auch Schleier auf, die Folgen von Handlungen, und dafür haben wir die Belehrungen, was Karma und die Schleier betrifft: die Schleier der störenden Emotionen, die Schleier von Karma, die Schleier unserer Gewohnheitsmuster oder Tendenzen, die Schleier, die das Gewahrsein trüben. Wir haben die Belehrungen dafür, wie wir diese Schleier durch Praxis reinigen können.

Es gibt auch die Beschreibungen der verschiedenen emotionalen Zustände, die sich aufgrund von Unwissenheit ergeben.

Durch das Nicht-Gewahr-Sein entstehen also die karmischen Gestaltungen; durch die kar­mischen Gestaltungen entsteht das dualistische Bewusstsein und da können wir nichts ma­chen. Um es zu verstehen, gibt es z. B. die Belehrungen des Namsche Yesche. Namsche, das dualistische Bewusstsein, Yesche, das zeitlose Gewahrsein.

Es gibt auch die Erklärungen, wie sich das Bewusstsein im Bardo verhält, warum es sich von dieser oder jener Form für die nächste Existenz angezogen fühlt. Das Bewusstsein wird im Bardo vom Karma getrieben, bewegt. Durch das Karma entsteht eine gewisse Neigung zu einer bestimmten Form von Existenz, aber es ist kein wirkliches Aussuchen, es bleibt keine

46

Page 47: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wahl. Es ist eine Kraft, von der das Bewusstsein bewegt wird, z.B. hin zu einer menschlichen Existenz. Es ist keine freie Wahl dabei, die karmischen Kräfte bewegen den Vorgang.

Dann kommt es zu dieser Geburt, es gibt diesen Organismus, was Name und Form genannt wird. Das geht einher mit einer Identifikation mit den fünf Skandhas, die dann erklärt werden. Es sind die fünf Skandhas, die dazu führen, dass man sich mit etwas identifiziert. Wir identifi­zieren uns mit unserem Körper, mit den Empfindungen, den Wahrnehmungen, mit all den geistigen Prozessen und auch mit dem Bewusstsein.

Das automatisches Resultat davon, dass wir Geburt annehmen, sind die Sinnesquellen. Die Sinnesquellen ermöglichen uns, mit den Objekten in Kontakt zu treten.

Um diese Funktionsweise zu erklären, gibt es im Dharma die Theorie der Wahrnehmung, in der erklärt wird, wie der Geist funktioniert, wie er mit den Wahrnehmungen umgeht, wie die Emotionen entstehen, usw.

Dann kommen wir zu den Punkten 7,8,9. Da können wir jetzt endlich wirklich etwas tun, da haben wir Material zu bearbeiten. Wie gehen wir mit den Wahrnehmungen und Emp­findungen um?

Für Anfänger ist es am leichtesten, am Ergreifen zu arbeiten, damit zu praktizieren, ob wir in diesem Punkt etwas verändern können. Wenn wir Fortschritte machen, ist es etwas subtiler, mit der Begierde zu arbeiten, mit dem Durst, dem Verlangen. Und noch schwieriger wird die Arbeit, wo wir bei Empfindungen die Unterscheidung in angenehm – unangenehm vor­nehmen.

Die Praxis hilft, uns in diesem Moment nicht zu identifizieren. Denn: bei jeder Wahrneh­mung, bei jedem Verlangen verstärken wir automatisch diese Identifikation, die die Basis der fünf Skandhas ist. Das drückt sich bei jeder Empfindung aus: ich empfinde etwas und dadurch existiere ich. In solchen Situationen helfen uns die Belehrungen zu entspannen, damit wir die Identifikation loslassen, damit wir nicht in diesen Automatismus geraten, der sehr viel Bewe­gung, Aufwühlung im Geist entsteht lässt, der Emotionen hervorbringt, durch die Handlungen entstehen und negatives Karma erzeugt wird. Da hilft uns die Praxis.

Die Idee ist, die Kette zwischen 9 und 1 zu unterbrechen, zwischen Ergreifen und Unwissen­heit.

Es geht also darum, am Werden zu arbeiten, diesen Wunsch nach Existenz so zu beeinflussen, dass er immer positiver wird, d.h. dass durch karmische Kräfte eine Wiedergeburt entsteht, in der wir den Dharma praktizieren können. Auf diese Weise – wenn wir den Dharma immer weiter praktizieren – wird sich unsere Identifikation abschwächen bis zu dem Punkt, an dem wir nicht mehr dazu gezwungen sind, Wiedergeburt anzunehmen.

Ein Beispiel: Hier ist es ziemlich warm. Wir empfinden mit dem Körper: „Es ist warm!“ Das ist der siebte Punkt – die Empfindungen. Wir bleiben bei der Empfindung: es ist uns angenehm, es ist uns unangenehm oder es ist uns ziemlich egal. Das ist sehr wichtig für uns. Wenn wir uns im Saal umschauen, dann gibt es einige, die es sehr angenehm finden, dass es warm ist, andere halten es kaum noch aus und für manche ist es nicht so wichtig. Wir sehen also, dass der Geist sofort mit der Empfindung arbeitet, sofort ist ein Urteil da: es ist mir angenehm, unangenehm oder egal.

Jetzt können wir lernen, zu entspannen. Wir lassen die Wärme so wie sie ist, ohne dass sie in uns Verlangen oder Ablehnung hervorruft, ohne dass es ein Greifen gibt. Einfach belassen- so wie es ist, ohne dafür zu sein oder dagegen.

Da gibt es ein Hilfsmittel: Wir können einfach einen anderen Blick auf die Situation werfen. Statt zu sagen, „Mir ist heiß!“, können wir sagen, „Es ist heiß!“ Bereits in unserer Wortwahl

47

Page 48: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

drückt sich aus, dass schon ein bisschen weniger Identifikation vorhanden ist. Es reicht natür­lich noch nicht, aber es ist ein Ausdruck davon, dass wir uns entspannen, wir lassen die Identifikation ein bisschen los und dann ist die Wirkung ganz anders.

Um an diesem Punkt zu arbeiten, müssen wir sehr schnell und sehr geistesgegenwärtig sein, d.h. wir brauchen tiefes Schinä, eine tiefe Stabilität des Geistes. Wir hören z.B. ein Geräusch und ganz schnell, noch bevor wir zum Urteilen kommen, lassen wir dieses Urteil los.

Normalerweise landen wir bei den Empfindungen – Punkt 7 – sofort im Punkt 8. Wir wollen etwas oder wir wollen es nicht: anhaften oder ablehnen. Z.B. geht mit der Empfindung von Wärme sofort die Hoffnung einher: „Wann hört die Hitze endlich auf!“ oder die Furcht, „Sie könnte noch schlimmer werden! Heute Nachmittag vielleicht.“ Wir sind also sofort in einer Gedankenkette, sofort werden wir davongetragen, und das löst einen richtigen Ballon von Hoffnung und Furcht aus.

Meistens sind wir dann ganz schnell im Punkt 9:“ Ich muss ganz schnell etwas dagegen unter­nehmen. Ich muss darauf reagieren.“ Dann reagieren wir entweder angetrieben von Wut, Ab­neigung oder von Begierde: „Ich will das oder ich will das nicht!“ Es ist ein starker Impuls da von „Ich will!“, ein Willensimpuls.

Für dieses Thema gibt es die Meditationsunterweisungen, die Gegenmittel gegen die Emo­tionen sowie die Unterweisungen zu Liebe und Mitgefühl, die ganzen Paramitas, - all das, was uns dabei hilft, uns zu entspannen.

Alles kann uns helfen, die Dinge mit Gleichmut zu betrachten und Ausgewogenheit in un­seren Empfindungen zu üben.

Je tiefer unsere Meditation wird, desto mehr wird es uns möglich, an den Anfang dieses Pro­zesses der Identifikation zu gelangen.

Wenn wir bereits eine Emotion haben – wir sind im Punkt 9, im Ergreifen, wo wir handeln wollen – da können wir die Kette nicht unterbrechen, aber wir können die Richtung unserer Art zu handeln ändern. Wir werden – statt unserem Impuls zu folgen – positive Handlungen setzen. Vielleicht hilft es uns, dass wir die Bodhisattva-Gelübde genommen haben. Oder wir haben die Gelübde für die persönliche Befreiung, die uns helfen, uns darin zu üben, positive Handlungen zu setzen. Auch die Kontemplation hilft uns, die Emotionen zu besänftigen.

Wenn wir auf der Ebene der sechs Yogas von Naropa arbeiten, so greifen diese Praktiken (der illusorische Körper und auch Tummo und während der Nacht der Traumyoga) an den Punkten 4 – 9. Dies hilft uns sehr, das Greifen zu verringern, das Greifen gegenüber all dem, was sich in unserem Geist erhebt, was dort erscheint. Aber auch wenn wir nicht die sechs Yogas von Naropa praktizieren, so praktizieren wir z. B. auch in der Tschenresi Praxis den illusorischen Körper. Wir visualisieren uns als Tschenresi, und das heißt, dass alle Empfindungen, alles, was in unserem Geist aufsteigt, nicht mehr als „meine Gedanken, meine Empfindungen“ be­trachtet wird, denn wir visualisieren uns als Tschenresi. Es steigt im Geist von Tschenresi auf, d.h. unsere Vision von dem, was erscheint, ist anders, und das führt uns auch zu anderen Handlungen. Das heißt, bei all diesen Praktiken des Vajrayana arbeiten wir mit den Emp­findungen, wir arbeiten mit der Begierde, wir arbeiten mit dem Ergreifen und wir lernen, uns zu ändern.

Alle Handlungen, die wir Zeit unseres Lebens angesammelt haben, werden zu den Kräften des Werdens, das ist der Punkt 10. Es ist das, was uns in die nächste Existenz bewegt. Das kann eine Existenz sein, in der wir den Dharma praktizieren, aber diese angesammelten Kräf­te können auch dazu führen, dass wir in einen Bereich des Leidens fallen. Diesen Punkt be­treffend werden die Erklärungen gegeben zu Karma, Wiedergeburt, zu den Daseinsbereichen - aber auch die Belehrungen zu den reinen Bereichen, denn wir können ja auch positive Kräfte

48

Page 49: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

ansammeln, indem wir uns selber als Tschenresi visualisieren, indem wir Amitabha anrufen, indem wir im Bardo Zuflucht nehmen. Dann ist es auch möglich, in einen reinen Bereich zu gelangen, wo wir nicht eine samsarische, sondern eine andere Form von Geburt in einem reinen Bereich annehmen.

Für diesen Moment sind auch die Unterweisungen zu Phowa gedacht, dem Transfer des Be­wusstseins. Wie können wir diesen Moment des Bardo nutzen, um uns weiter in Richtung Dharma-Praxis zu entwickeln, um diesen Zyklus zu unterbrechen? Wie können wir unser Leben nutzen, damit wir in diesem Moment fähig sind, das zu tun? Wie können wir die Kräfte des Werdens beeinflussen, damit wir von ihnen nicht in eine niedrige Existenz geworfen werden?

Wenn es uns mit unserer Dharmapraxis nicht gelingt, diesen Zyklus dort zu unterbrechen, dann werden wir Wiedergeburt annehmen. Es werden sich erneut die fünf Skandhas bilden, und als Folge von Geburt wird es Alter und Tod geben, 11 und 12: Geburt, Altern und Sterben. Die Belehrungen dazu sind all die Belehrungen, die das Leid in Samsara betreffen oder auch das Leiden eines Embryos oder die Belehrungen zu Vergänglichkeit und Tod.

So seht Ihr, wie der ganze Dharma in diesen zwölf Gliedern abhängigen Entstehens enthalten ist. Sie sind wie ein roter Faden, der die verschiedenen Belehrungen des Dharmas verbindet. Wenn wir uns das genauer anschauen, dann können wir sehen, dass die meisten Belehrungen, die wir erhalten, die Punkte 8, 9 und 10 betreffen: Begierde, Ergreifen und die Kräfte des Werdens. Dort ist es am leichtesten, mit Hilfe der Praxis auszusteigen.

Ihr kennt die Vier Edlen Wahrheiten. Die Wahrheit des Leidens betrifft die Glieder 4, 5, 6, 7 und natürlich auch 10, 11 und 12.

Die zweite Edle Wahrheit, die Wahrheit der Ursache des Leidens, ist in den ersten drei Punkten – Unwissenheit, karmische Gestaltungen und dualistisches Bewusstsein – zusammen mit Punkt 8 und 9 – Verlangen und Ergreifen – enthalten.

Die dritte Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Ende des Leidens, sehen wir, wenn wir das Ganze in umgekehrter Reihenfolge durchlesen. Es gibt keine Unwissenheit mehr; dadurch, dass es keine Unwissenheit mehr gibt, kommt es nicht zu karmischen Gestaltungen; es gibt kein dualistisches Bewusstsein, keine Identifikation mit Name und Form, keine Sinnesquellen und es gibt auch nicht Geburt, Alter und Tod.

Der vierte Punkt ist der Weg, der zur Befreiung führt. Die Wahrheit bezüglich der Ursache vom Ende des Leidens sehen wir wieder in der umgedrehten Reihenfolge der Glieder: Es gibt keine Unwissenheit mehr, keine karmischen Gestaltungen. Der Weg sind all die vorher aufge­zählten Praktiken, mit deren Hilfe wir die Glieder durchbrechen können.

Frage: Es gibt auch die Belehrung, dass man die Kette rückwärts geht, und jeden Punkt auf­löst, bis man an den Anfang kommt zur Unwissenheit und die dann auch auflöst.Für diesen umgekehrten Prozess ist der Schlüssel die Realisation von Leerheit, dann gibt es keine Geburt mehr usw., der ganze Prozess hört auf.

* * *

Achte Unterweisung, 2. 8. 04Wir fahren heute fort mit den zwölf Gliedern abhängigen Entstehens. Es gibt einen kleinen Absatz von Gampopa, den wir noch nicht gelesen haben. Es ist eigentlich etwas Selbstver­ständliches.

49

Page 50: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Dieses innere Entstehen in Abhängigkeit ist darüber hinaus von Bedingungen anhängig, da der Körper aus den sechs Elementen besteht: Erde, Wasser, Feuer, Wind, Raum und Bewusstsein. Fehlen diese Bedingungen, kann kein Körper entstehen. Kommen jedoch alle sechs inneren Elemente vollständig zusammen, manifestiert sich aus ihnen ein Kör­per. Das heißt, diese zwölf Glieder abhängigen Entstehens hängen auch noch von anderen Dingen ab, die nicht innerhalb dieser Glieder abhängigen Entstehens erwähnt sind. Aber weil die Elemente in der Regel vorhanden sind, wird eine menschliche Wiedergeburt durch deren Abhängigkeit nicht verhindert.

Man mag sich nun fragen, ob all diese Glieder abhängigen Entstehens in diesem Leben vorhanden sind. Hierauf antwortet das Sutra Zehn Stufen (der Bodhisattvas): „Es ist so zu verstehen: Die ‚durch Unwissenheit bedingten karmischen Gestaltungen’ kommen aus dem vorherigen Leben; die Glieder von Bewusstsein bis Empfindung sind gegen­wärtig; Verlangen bis Werden gehören zum kommenden Leben – und der Kreislauf geht immer so weiter.“Wir schauen noch einmal auf unserem Blatt nach, wie dieser Zyklus der zwölf Glieder sich auf drei Leben verteilt: (1) die grundlegende Unwissenheit, das Nicht-Gewahrsein betrifft un­ser vorheriges Leben, was dazu geführt hat, dass karmische Gestaltungen (2) entstanden sind. Auch das gehört noch zu unserem vorherigen Leben. Die karmischen Gestaltungen haben zu (3) geführt, zum dualistischen Bewusstsein. Dieses Bewusstsein hat im Bardo nach einem Körper gesucht. Es findet diesen Körper (4) Name und Form, d.h. Körper und der dazugehö­rige Geist …..einige Wörter, die ich akustisch nicht verstehen kann….und dieser Körper entwickelt dann die Sinnesquellen (5). Mit denen in Zusammenhang steht (6) der Kontakt. Das heißt die ersten beiden gehören zum vorherigen Leben, dann zum Bardo und das ( unklar!!!), was schon unser jetziges Leben betrifft. Ab (8) zählt man schon zum nächsten Leben, es steht insofern mit dem nächsten Leben in Verbindung, als es dazu führt, dass die Kräfte geschaffen werden, die uns in das nächste Leben führen. Das nennt man den Wunsch nach Existenz, das Werden fängt bereits mit dem Verlangen an. Dann kommt das Ergreifen und daraus ergeben sich die Kräfte des Werdens, es entsteht der Wunsch nach der nächsten Existenz. Die Kräfte des Werdens sind die Summe aller karmischen Kräfte, die dann aktiv werden und uns in die nächste Wiedergeburt bringen. Das heißt also nächstes Leben (11), Wiedergeburt, die mit der Empfängnis beginnt, dazu gehören natürlich auch Altern und Sterben (12). Da sehen wir, dass in diesem Kreislauf drei Leben enthalten sind. Das vorherige Leben, das jetzige und das nächste Leben. Die einzelnen Leben unterscheiden sich ein wenig, aber man kann sagen, dass das Werden, dieser Wunsch nach Existenz gleich ist wie das dualistische Bewusstsein (2), Namsche, denn im Alaya, diesem Bewusstsein sind bereits alle karmischen Kräfte vorhanden.

Da ist ein Pfeil <=> eingefügt zwischen karmischen Gestaltungen und Handlungen (Karma). Da besteht eine Identität in diesen Handlungen, die zum Werden oder zum dualistischen Be­wusstsein führen.

Man kann auch sagen, dass der letzte Moment in diesem Leben der Tod ist (7). Auf diese Empfindung folgt sofort das Verlangen nach Existenz, direkt nach dem Tod.

Es ist auch möglich, kleine Kreise zu machen. Wir können sehen, wie die Kräfte des Werdens (10) zu Wiedergeburt führen (11), die führt zum Altern und Sterben (12) und von da direkt zu den Kräften des Werdens (10).

Dieser kleine Kreis enthält bereits das ganze Samsara. Selbstverständlich hört der Tod immer auf mit einem Moment von Nicht-Gewahrsein, von Unwissenheit. Das ist gleichzeitig wieder der Ausgangspunkt.

50

Page 51: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wenn wir von der Wiedergeburt sprechen, ist sie identisch mit (4) Name und Form. Wieder­geburt bedeutet immer, dass die fünf Skandhas entstehen, d.h. also Wiedergeburt und Name und Form finden sich auf dem gleichen Niveau.

Um noch ein bisschen Geistes-Stretching zu machen, werden wir weitere Erklärungen erhal­ten, wie wir diesen Kreislauf auf zwei Leben verteilen können.

Man könnte z.B. sagen, unser gegenwärtiges Leben besteht aus den Punkten (1 – 9). Wir sind in der Unwissenheit, diese Unwissenheit verstärkt unser dualistisches Bewusstsein, wir identi­fizieren uns mit unserem Körper, mit unserem Geist, mit unseren Kontakten, es entsteht Ergreifen, dieses Ergreifen wiederum verstärkt unsere Unwissenheit.

Am Ende unseres Lebens geht der Zyklus so weiter: die Unwissenheit im Moment des Todes – ist dieses Nicht-Gewahrsein. Daraus manifestieren sich dann die Kräfte des Werdens – identisch mit den karmischen Gestaltungen (2, 3) – und diese Kräfte des Werdens (10) führen uns zur Wiedergeburt, und so geht es dann weiter.

Eine andere Erklärung, wie wir den Zyklus auf zwei Leben verteilen: (1 und 2), Unwissenheit und karmische Gestaltungen gehören zum vergangenen Leben und der ganze Rest gehört zum gegenwärtigen. Das heißt, wir beginnen mit dem dualistischen Bewusstsein, das wäre dieses Leben und alles, was danach kommt bis einschließlich (12), ist in diesem Leben. Von Ergreifen (9) an schaffen wir in diesem Leben selbst ständig die Kräfte des Werdens und be­stätigen unsere Geburt, wir werden ständig geboren im Anhaften, in der Identifikation mit un­seren Skandhas und erleben in diesem Leben selbst ständig Alter und Tod.

Könnte man nicht auch sagen, dass es von Moment zu Moment geht?Ja, dazu kommen wir noch, das ist die letzte Erklärung.

Und dann gibt es noch eine Möglichkeit das Ganze als Bardo und menschliches Leben zu er­klären.

Das heißt die Glieder von der Unwissenheit bis hin zum Ergreifen (1 – 9) gehören dem Bardo an, und dann gibt es die Kräfte des Werdens (10), die die Verbindung zwischen Bardo und unserem gegenwärtigen menschlichen Leben schaffen. Geburt, Altern und Sterben (11 und 12) gehören dem gegenwärtigen menschlichen Leben an.

Diese Erklärung zeigt uns, dass im Bardo – im Zwischenzustand zwischen zwei Leben – die gleichen Identifikationen stattfinden wie in unserem Leben, außer dass es kein Skandha der Form gibt, d.h. es gibt dann nur vier Skandhas. Es gibt keinen soliden Körper, das ist der einzige Unterschied. Aber mit den restlichen vier Skandhas findet die gleiche Identifikation statt; diese führt zu den Erlebnissen von Kontakt. Und die Reaktionen, die wir auch in diesem Leben kennen, finden ebenfalls im Bardo statt.

Natürlich können wir dann auch diese zwölf Glieder abhängigen Entstehens so erklären, dass sie diesem einzigen Leben angehören.

Das Leben beginnt mit der Unwissenheit (1) und endet mit dem Tod (12), von dem aus es mit der Unwissenheit weitergeht.

Wir können auch sagen, dass die Kette in jedem Augenblick funktioniert, dass die Kette in je­der Handlung gegenwärtig ist. Um das zu erklären, müssen wir noch ein bisschen mehr Hirn-stretching machen. Es folgt eine Erklärung dazu: sie nimmt das Beispiel aus einem Sutra, das auf der Handlung des Tötens basiert.

Alle diejenigen, die ein bisschen gelehrig sind, sollen sich das gut notieren: Diese Liste findet Ihr sonst nicht so leicht.

51

Page 52: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

• Es beginnt mit der Unwissenheit: Unwissenheit ist der Mangel an Bewusstsein, sie geht der Handlung voraus oder begleitet die Handlung.

• Dann die karmischen Gestaltungen: der Handlungsakt, der auf einer Intention, einer Absicht beruht.

• Das Bewusstsein: die Kognition, die Bewusstseinskraft, die im Augenblick zum Ein­satz bereit steht ist.

• Name und Form: die Identifikation, die in diesem Augenblick stattfindet.

• Die Sinnesquellen : die Sinne, die in diesem Moment aktiv sind.

• Kontakt: die Tat; der Moment, in dem das Messer schneidet oder in dem der Hammer zuschlägt.

• Die Empfindung: die Genugtuung oder das Vergnügen, das Leiden oder etwas Neutra­les im Moment der Tat.

• Verlangen, Durst, : unsere enthusiastische Implikation, diese Tat wirklich zu voll­bringen.

• Ergreifen: wir stehen zu dieser Handlung, wie wir sie beabsichtigt haben, d.h. wir lassen nicht los, wir führen unsere Handlung bis zum Schluss aus, so wie wir sie ge­plant haben.

• Hierdurch erzeugen wir die Kräfte des Werdens, d.h. wir bestärken unsere Existenz. Das kann unser gegenwärtiges Sein sein oder unsere zukünftige Existenz, d.h. wir be­reiten bereits dieses Verlangen nach einer zukünftigen Existenz vor. Zukünftige Existenz bedeutet – wenn wir es auf diese Art und Weise betrachten – der nächste Moment, die nächste Situation.

• Die Wiedergeburt betreffend gibt es zwei mögliche Erklärungen: entweder die nächste Situation oder man kann am Anfang der Situation sagen: die Geburt dieser Handlung.

• Das Sterben ist die Veränderung in der Situation, das Ende der Handlung. Das kann auch auf zwei Arten gesehen werden. Eine Situation ist nicht nur in einem Augenblick gegeben, sondern umspannt den Zeitraum, in dem eine Handlung stattfindet. Und dar­in findet eine Entwicklung statt, diese Entwicklung wird Alter genannt und das Zu-Ende- kommen dieser Handlung wird Tod genannt und führt dann zur nächsten Situa­tion.

Diese Erklärung betrifft die zwölf Glieder abhängigen Entstehens, wenn wir sie als eine Kette von Ursache und Wirkung betrachten, die eine einzige Handlung betreffen. Wir sehen, es ist wirklich sehr vollständig und wir können daran auch sehen, dass es an uns liegt, wie wir uns in jeder Situation weiter entwickeln, dass es in jeder Situation, in jedem Moment möglich ist, durchzuschneiden, auszusteigen, nicht dem Verlangen zu folgen, nicht unser Ergreifen zu ver­stärken. Das heißt, in jedem Moment ist es möglich, unser Verhalten zu ändern.

Jetzt können wir das Ganze auch vereinfachen. Diese zwölf Glieder abhängigen Entstehens sind in drei (???) enthalten: Die Emotionen - sie führen zu Handlungen, also zu Karma. Das Karma führt zu Leiden und aufgrund dieses Leidens haben wir eine Empfindung, eine Emoti­on. Diese Emotion führt uns zu weiteren Handlungen – Karma – Leiden – usw.

Emotionen sind die Glieder 1, 8, 9. Karma sind die Punkte 2 und 10 und der ganze Rest ist das, was wir die Grundlagen des Leidens nennen.

Das war also eine ziemlich vollständige Einführung in die zwölf Glieder abhängigen Ent­stehens. Was ist das Problem in diesen zwölf Gliedern? Warum beschäftigen wir uns damit?

52

Page 53: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Du hast vorhin erklärt, dass diese Identifikation auch im Bardo stattfindet, nur dass da das Skandha der Form fehlt. Das macht mir Schwierigkeiten: was ist statt der Augen im Bardo, was ist mit Geruch im Bardo?Das zeigt uns ein grundlegendes Missverständnis. Wir denken, dass wir sehen, weil wir Augen haben, aber es ist die Fähigkeit zu sehen, die das Organ der Augen erzeugt. In unserem jetzigen Leben sind wir sehr beschränkt: nur wenn Augen da sind, sehen wir. Aber das muss nicht unbedingt so sein, und im Bardo sehen auch die Blinden, d.h. sämtliche Sinneskräfte sind im Bardo vorhanden, auch wenn man vorher blind oder taub usw. war. Das findet im Bardo statt ohne dass das physische Organ existiert. Wir müssen wirklich unser Verstehen umdrehen; es ist eine Umkehr im Verstehen darüber notwendig, wie die Dinge wirklich funktionieren.

Und noch eine Bemerkung von Lama Taschi: Erinnert Euch, wie es im Traum ist. Im Traum fühlen wir Dinge, schmecken wir Dinge, sehen wir Dinge, hören wir Dinge, die gar nicht in dem Raum sind, in dem wir schlafen.

Du hast vorher erklärt, wie das alles in einem Moment ist. 6, 7, 8 und 9, das ist ja gar nicht in der Reihenfolge, oder? Eigentlich ist das ja gleichzeitig, ich hab doch nicht erst die Hand­lung, dann das Engagement, die Handlung auszuführen.Ja, das hast du richtig verstanden, es ist alles gleichzeitig.

Es tauchte gestern die Frage auf: Ist ein Buddha den zwölf Gliedern unterworfen?Was habt ihr herausgefunden?

Schauen wir, wie das bei einem Buddha aussieht: Hat er Nicht-Gewahrsein, Unwissenheit? Nein! Und was erzeugt er, wenn er handelt? Karmische Gestaltungen? Nein! Seine Aktivität ist erleuchtete Aktivität. Das heißt, natürlich gibt es da auch Ursache und Wirkungen, aber es gibt keine Identifikation, es gibt kein Zentrum der Identifikation.

Taucht dann trotzdem Karma auf im Leben eines Buddhas?Das ist ein Streitpunkt, über den Gelehrte schon Jahrhunderte lang diskutiert haben. Irgend­wann haben sie herausgefunden, dass es sieben einzelne Karmas gibt, die im Leben eines Buddhas auftauchen können: Krankheit, Tod, Feind wie z.B. Devadatta. Das sind Sachen, die ein Buddha erleben kann, dann gibt es aber auch andere Standpunkte, in denen es heißt, dass alles, was ein Buddha lebt zum Wohl der Wesen geschieht, da ist kein Karma.

Empfindet ein Buddha Kontakt? Hat er Empfindungen? Ja, aber wo sind denn die Emp­findungen, wenn sich jemand in der Leerheit befindet? Wie ist die Empfindung eines Bud­dhas, wenn er eine Tasse in die Hand nimmt? Spürt er das?

Ja, das spürt er, aber es ist kein Ergreifen da, kein Verlangen.Sind alle Lebensumstände automatisch vom Karma bedingt oder existiert das Karma nur auf die Art und Weise, wie man Dinge wahrnimmt?Wie nimmt man Dinge wahr, wenn man sich in der Leerheit befindet? Gibt es Gefühle?

Da gibt es viele Diskussionen bei den Gelehrten, aber die verwirklichten Meister sind sich si­cher.

Unter den Gelehrten gab es welche, die folgende Meinung vertraten: Da ein Buddha die ganze Zeit im Dharmakaya verweilt, tritt er nicht in Kontakt mit der unreinen weltlichen Wirklich­keit.

Andere sagten: Ganz gewiss tritt er in Kontakt mit der relativen Wirklichkeit, wie sonst könn­te er das Wohl der Wesen verwirklichen.

53

Page 54: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Gampopa zitiert seinen Meister Milarepa und sagt: „Ganz gewiss spürt ein Buddha all das, was alle Lebewesen spüren, aber er verlässt nicht den Bereich des Dharmakaya.“ Das heißt, es findet in keinem Augenblick eine Identifikation statt. Er zieht kein Karma mehr an, weil es keine Identifikation mehr gibt. Selbst wenn ein Rest Karma noch irgendwo bleibt: aufgrund der Tatsache, dass es keine Identifikation gibt, hat es keine Auswirkung.

Wir können sagen, ein Buddha teilt mit uns das Karma des menschlichen Wesens, aber in sei­nem Geist bewegt es sich nicht, d.h. er ist nicht gestört von etwas.

Ich stell euch meine Frage noch einmal: Was ist das zentrale Problem dieser zwölf Glieder abhängigen Entstehens? Warum beschäftigen wir uns damit?

Weil wir uns im Kreis bewegen. Weil wir leiden.Ist es nicht lustig, sich im Kreis zu bewegen?

Es ist nicht so lustig, sich im Kreis zu bewegen, weil es das Leiden gibt. Die zentrale Idee dieser zwölf Glieder abhängigen Entstehens ist, dass wir verstehen, wie das Leid erzeugt wird und dass wir verstehen, wie wir das Leiden beenden können.

Wo ist es wirklich möglich, auszusteigen? Man ist von den karmischen Kräften geprägt, es ist sehr wenig Freiraum da. Wo sind wirklich Punkte, an denen wir was verändern können?Für die, die vollkommen in diesem Zyklus gefangen sind, ist der Zyklus endlos, es gibt keine Möglichkeit, auszusteigen. Die Antriebskräfte sind sehr stark. Diese Antriebskräfte sind die Unwissenheit, die karmischen Kräfte und das dualistische Bewusstsein. Und all dies wird vom Ergreifen verstärkt, d.h. es gibt sehr wenig Raum. Aber der Dharma wurde von jenen ge­lehrt, die selber Befreiung erlangt haben und sie zeigen uns, wo es Raum, wo es Möglichkei­ten gibt.

Wir haben jetzt die Erklärungen erhalten und verstehen die zwölf Glieder abhängigen Ent­stehens ein bisschen. Wo sehen wir für uns persönlich Raum, eine Möglichkeit, das in Angriff zu nehmen? Wo scheint es für uns möglich zu sein, diese Kette zu schwächen?

Empfindungen, Handlungen, Ergreifen, Unwissenheit, Identifikation. Sind das nicht die vier Punkte, bei denen du die jeweilige Praxis angeführt hast, die dazu beiträgt zu sehen und um­zusetzen, also 1, 9, 8 und 7?Ja, das sind die Punkte, an denen man am leichtesten ansetzen kann, bei den anderen ist es noch viel schwieriger.

Gestern haben wir Übungen gemacht, um mehr Raum zu erzeugen. Die erste war, bewe­gungslos zu sitzen, d.h. nicht auf die körperliche Empfindungen zu reagieren. Die zweite Übung war das Zählen des Atems. Damit verhindern wir Reaktionen auf die gedanklichen Impulse. In der dritten Übung folgten wir dauernd dem Atem, um das Auftauchen von wei­teren Gedanken zu unterbinden. Das natürlich mit mehr oder weniger Erfolg, je nachdem wie achtsam wir sein können.

Diese drei Übungen sind Schinä Methoden, Methoden zum Beruhigen des Geistes.

Alle Schinä Methoden haben gemeinsam, dass sie uns helfen, Raum zu erzeugen. Sie beru­higen das Spiel in unserem Geist, sodass Raum entsteht, damit wir uns selber entscheiden können: „Welche Handlung möchte ich setzen? Welches Karma möchte ich erzeugen?“ Das heißt, wir folgen nicht mehr unseren Impulsen und handeln nicht mehr automatisch. Es wird dieser Druck im Geist beruhigt, es entsteht mehr Raum, und so haben wir mehr Zeit. Wir haben Zeit, Zuflucht zu nehmen, wir haben Zeit zu entscheiden, in welche Richtung wir uns bewegen möchten.

Die erste Regel bei Schinä ist: Nicht reagieren!

54

Page 55: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Das heißt, nicht den Gedanken zu folgen, nicht den Impulsen zu folgen, nicht automatisch zu reagieren.

Dann gibt es all die Methoden der Kontemplation, die unser Verständnis nähren. Was können wir kontemplieren? Wir kontemplieren die Vergänglichkeit, Karma, die Nachteile und Leiden in Samsara, die Qualitäten der Befreiung, die Qualitäten der Zuflucht, Bodhicitta, Liebe und Mitgefühl. Wir können auch die zwölf Glieder abhängigen Entstehens kontemplieren, da gibt es sehr viele Themen. Wir können uns auch als Jidam, als Tschenresi visualisieren. Zunächst ist die Methode, sich als Tschenresi zu visualisieren, eine Kontemplation, die uns Zugang ver­schafft zu einem anderen Aspekt der Wirklichkeit und uns hilft, die Kräfte der zwölf Glieder dieser Kette zu schwächen.

Die Stufe der Kontemplation ist so eine Zwischenstufe. Um imstande zu sein, diese Betrach­tungen überhaupt durchzuführen, brauchen wir bereits eine gewisse Qualität, ein bisschen Raum im Geist. Und dann werden die Betrachtungen präziser und gehen in die Lhaktong Me­thoden über, bei denen wir uns genaue Fragen stellen, die zu einem direkten Verständnis dessen, was ist, führen.

Zum Beispiel die Kontemplation der Vergänglichkeit. Sie führt uns dazu, dass wir alle Phä­nomene, die in unserem Geist auftauchen, in Bezug auf ihre Dauer betrachten. Wir sehen dann, dass dieses Spiel der Gedanken etwas sehr Bewegliches ist, etwas sehr schnell Vergängliches. Das ist wirklich ein Fluss von Ereignissen, die sich im Geist abspielen. Diese Tatsache immer deutlicher zu erkennen, führt uns mehr und mehr dazu, ihre illusorische Na­tur zu erkennen. D.h. also, wir sehen, wie diese Kontemplation über die Vergänglichkeit zu einem tiefen Verständnis führt, das dann in Lhaktong übergeht.

Z.B. stellen wir uns dabei die Frage: „Wo ist der Gedanke?“ Das heißt also, wir betrachten nicht mehr nur die Vergänglichkeit des Gedanken, wir schauen direkt hin. Und wir finden ihn nirgends. Das ist eine Art des Schauens im Lhaktong. Wir können dort erkennen, dass es einen progressiven Fortschritt gibt, der in die Methoden von Lhaktong übergeht.

Wir schauen: „Wo ist der Denker? Wer ist es, der denkt?“ „Ich!“, „Wer denkt?“, „Ich!“

D.h. wir stellen uns diese Lhagtong Fragen, die direkt das Objekt oder das Subjekt anvisieren. Auf diese Art und Weise gehen wir die Basis der Unwissenheit an. Wir schauen: „Wo ist die Wahrheit?“ Das führt uns dahin, zu sehen:“ Was ist die Wahrheit dessen, was ist?“ D.h. wir gehen direkt diese Dualität an: „Was ist die Natur des Subjekts?“ „Was ist die Natur des Objekts?“ Das Objekt sind die Gedanken, ist das andere, oder sind die Ereignisse.

Greifen wir mit Lhaktong direkt diesen Punkt 3 an, das dualistische Bewusstsein?Ja. Punkt 3, das dualistische Bewusstsein – Namsche – ist die Grundlage für unsere Geburt. Wir können sie eigentlich nicht direkt angehen, aber wir können für einen Moment das dualis­tische Bewusstsein – Namsche – von der Unwissenheit befreien und für einen kurzen Augen­blick verwandelt sich Namsche in Yesche.

Tschenresi ist ja eine etwas andere Praxis als Vipassana, beim einen geht es eher um das In­nehalten, beim anderen mehr um Vertrauen und Öffnung. Kannst du zu diesem Unterschied etwas sagen?Tschenresi Praxis ist wie jede Jidam-Praxis eine andere Art zu leben. D.h. also, wenn wir das praktizieren, versuchen wir, den Ausdruck der erleuchteten Sichtweise zu leben, das ist eine andere Lebensform. Und da gibt es auch die Elemente von Lhaktong und Mahamudra, aber auf eine umfangreichere Weise. Das sind dann nicht nur Meditationsaugenblicke, das nimmt mehr und mehr unser ganzes Wesen ein. Und manchmal fühlen wir uns etwas wohler mit der Tschenresi Praxis, weil diese reine Sichtweise da ist: Liebe und Mitgefühl, Hingabe, Offen­heit. Diese Praxis hilft uns auch, intuitive Einsicht – Lhaktong – zu entwickeln.

55

Page 56: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Bei der formellen Tschenresi Praxis gibt es diesen Aspekt der Klarheit, in der wir Tschenresi visualisieren und es gibt diesen Aspekt, bei dem wir ganz bewusst das Mantra rezitieren. Diese beiden Aspekte gehören Schinä an, d.h. es sind Möglichkeiten, wie wir unseren Ge­dankenfluss unterbrechen können, weil wir ganz innen drin sind. Die Wirkung dieser beiden Aspekte der Meditation ist so, als ob wir den Atem als Meditationsstütze nehmen oder als ob wir auf eine andere Stütze meditieren.

Auf diese Weise können wir mit der Tschenresi Praxis immer mehr Raum schaffen, wir un­terbrechen diesen mentalen Prozess der ununterbrochenen Gedankenketten. Das ist der Schinä Aspekt in der Tschenresi Praxis. Aber danach meditieren wir auf immer mehr Transparenz und fragen uns: „Wer bin ich? Bin ich Tschenresi? Oder bin ich Ich? Was ist wirklicher: Tschenresi oder ich?“ Diese Fragen leiten uns zu einem Verständnis von Lhaktong, der intui­tiven Einsicht.

Lhaktong wird in Beziehung gebracht zu der Transparenz und zu der Nicht-Substanzhaftig­keit von all dem, was wir visualisieren und auch vom Klang des Mantras.

Diese Elemente der illusorischen Natur der Visualisation und des Klanges bringt Lhaktong in uns hervor.

Das heißt, es gibt diesen Unterschied in der Technik von Schinä – Lhaktong und der Jidam-Praxis. Bei der Jidam-Praxis stellen wir uns diese Fragen nicht, sie tauchen von alleine auf, weil es uns schwer fällt, die Praxis zu machen, weil da Widersprüche sind zwischen unserer normalen Funktionsweise und der reinen Sichtweise. Es entsteht eine Reibung zwischen der gewöhnlichen Sichtweise und der reinen Sichtweise und daraus ergeben sich die Fragen. Aber daraus ergeben sich auch die Antworten, es findet ein ganz natürlicher Prozess statt, der zu mehr und mehr Offenheit führt, zu mehr und mehr Verständnis und Hingabe.

Ich lade Euch ein, während der nächsten Meditationssitzungen noch andere Methoden auszu­probieren, die zu mehr Raum im Geist führen.

Und noch eine Einladung oder Aufforderung, an den Nachmittags-Gruppen teilzunehmen. Es ist heiß und alle sind müde, aber es ist eine ausgezeichnete Möglichkeit sich sowohl unterein­ander auszutauschen als auch mit denen, die lehren. Alle, die hier lehren, sind kompetent. Es ist eine gute Möglichkeit zu lernen, wie wir im Alltag die Paramitas anwenden, wie wir den Dharma in den Alltag hinüberbringen können.

Ihr habt gehört, die Teilnahme an den Nachmittags-Gruppen ist ein bisschen zurückgegangen. Vielleicht liegt das daran, dass wir die Anstrengung scheuen, weil uns nicht so bewusst ist, wie kostbar diese Momente sein können. Falls also noch ein bisschen Energie da ist: es bleiben noch einige Nachmittage mit Workshops.

Ich kann die Paramita der Meditation nur auf der Grundlage unterrichten, dass Ihr Euch die anderen Paramitas erarbeitet, d.h. dank der Ateliers am Nachmittag ist es möglich, auch die Meditations-Paramita zu lehren. Nur mir allein zuzuhören, reicht nicht. Die Nachmittage sind sogar wichtiger, weil sie die Grundlage für die Meditation bilden. Nur wenn Ihr an beidem teilnehmt, kann man sagen, dass Ihr die Übertragung erhalten habt.

Es gibt viele, die kommen und bitten, „Lehre mich Meditation! Ich will meditieren.“ Als Ant­wort bekommen sie dann zu hören: „Entwickle Geduld, übe dich in Disziplin!“ und dann „Grrrrrrrrrrrr, wir wollen meditieren, wir wollen am besten die Weisheit lernen.“ Das heißt, wir wollen die Etappen überspringen und gleich am Ziel ankommen. Aber wir werden nicht in der Lage sein zu meditieren, wenn wir nicht Freigebigkeit entwickeln, wenn wir uns nicht in Disziplin üben, wenn wir uns nicht in Geduld und freudiger Ausdauer üben!

Glaubt Ihr, es ist möglich, Befreiung zu erlangen, wenn es uns nicht möglich ist, eine Viertel­stunde zu sitzen, ohne uns zu bewegen?

56

Page 57: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Ich habe den Eindruck, dass Ihr – wenn euch gesagt wird, Ihr sollt Euch während der Medita­tion für einen kurzen Zeitraum nicht bewegen – denkt, „Oh, das sind aber wirklich nur die vorbereitenden Übungen, wir wollen schnell etwas ganz anderes machen, anstatt das wirklich anzuwenden“ Das, was wir miteinander teilen – die Meditation – ist etwas, was wir jeden Tag zu Hause machen sollten.

Nur auf diese Weise werden wir eine stabile, vernünftige Grundlage für unsere Meditation und unsere Praxis errichten können. Ein Praktizierender, der weiß, „Oh, jetzt bin ich wütend! Was mir hilft, diese Wut zu durchtrennen, mich nicht hinreißen zu lassen, genau das ist die Meditation. Ich werde mich auf mein Kissen setzen und so meine Wut beenden!“ Das ist ein Praktizierender, der eine gute Basis entwickelt hat.

Die Ergebnisse der Praxis kommen von einem regelmäßigen Üben. Das ist mit der Praxis so wie mit allen anderen Dingen: wer ein guter Tennis-Spieler werden will, der muss trainieren.

— Meditation —

* * *

Neunte Unterweisung, 3. 8. 04Gestern haben wir die Betrachtung der zwölf Glieder abhängigen Entstehens abgeschlossen, und bevor wir weiter mit den Gegenmitteln arbeiten und die Gegenmittel zu Neid und Stolz anschauen, möchte ich Euch ein Geschenk machen und einen Wunsch aus dem letzten Jahr erfüllen. Es gab den Wunsch, etwas mehr über Saraha zu erfahren, den wir im Herzen Gampopas visualisieren. Ein Retreatler aus dem zweiten Retreat hat Nachforschungen ange­stellt, er hat eine Biografie gefunden in Tibetisch und auch Quellen in Englisch. Die Texte wurden übersetzt, und so kann ich heute ein paar Passagen aus dem Leben Sarahas erzählen, die uns erlauben, in dieser Visualisation die Verbindung zu Saraha besser zu schaffen. Durch die Erklärungen werden wir leichter verstehen können, warum Saraha eine Bezugsperson ge­worden ist, speziell für die Mahamudra-Praxis.

Die glaubwürdigste Quelle, die gefunden wurde, ist ein Kommentar von Karma Trinle. Das ist ein verwirklichter Meister und Gelehrter aus der Kagyü Linie, der auch Lehrer von Kar­mapa war.

Dieser Kommentar heißt „Der Spiegel, der vollkommen klar die völlige Befreiung des Geis­tes zeigt“.Als Einführung beginnt Karma Trinle mit Niederwerfungen und einer Ehrerbietung zu Füßen von Saraha und mit Zufluchtnahme zu Saraha. Dann ruft er die große strahlende Freude an, die die Qualitäten manifestiert in unserer relativen Wirklichkeit. Diese große Freude ist das Symbol der natürlichen Wahrheit, wichtig ist hier das Wort“ natürlich“.

Hier finden wir einen Schlüsselbegriff von Saraha: natürlich bleiben, auf tibetisch nyugma. Saraha selbst war zu seinen Lebzeiten ein Symbol dieses Natürlich-Seins. Dieses Natürlich-Sein ist ein Gegenmittel gegen all die Anspannungen, die sich aufgrund unseres Begehrens erheben, aufgrund von dem Durst nach Dasein, aufgrund von Ergreifen, aufgrund all dessen, was unseren Geist verkrampft. Ganz natürlich zu sein, ganz entspannt zu sein, das ermöglicht uns den Zugang zu Mahamudra.

Karma Trinle lobpreist Körper, Rede und Geist von Saraha wie Körper, Rede und Geist vom wirklichen Buddha. Er macht in seiner Lobpreisung überhaupt keinen Unterschied zwischen Buddha und Saraha.

Er endet damit, dass er sich selber mit Körper, Rede und Geist in ihrem natürlichen Zustand verbeugt vor dem Kaya, dem Körper des Buddhas, dem Allmächtigen, der so tief und weit ist.

57

Page 58: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Er sagt, „Du durchbohrst mit dem Pfeil des nicht-dualistischen Bewusstseins das Herz der Konzepte von Subjekt und Objekt und du befreist hinein in den Raum des Nicht-Unter­scheidens von Samsara und Nirvana.“ Man kann auch von einer Gleichheit von Samsara und Nirvana sprechen.

Das ist die letztendliche Wirklichkeit, in der jedes Leiden, jeder Gedanke, all die Erfahrungen von Samsara als von gleicher Natur wie der Dharmakaya realisiert werden.

Er verneigt sich vor Saraha, dem großen Bogenschützen, der bereits vor dem Buddha die So­heit verstanden hatte, aber aufgrund seiner Liebe für die Wesen sich weiter in dieser Welt manifestiert und einen illusorischen Tanz zum Wohle aller Wesen zeigt. Das ist eine Anspie­lung darauf, dass Saraha eine Person ist, die in der Folge einer Inkarnationsreihe von Bodhi­sattvas steht, die bereits die Natur des Geistes in ihrem vorherigen Leben verwirklicht hatten, aber sich weiter manifestieren.

Er sagt: „Saraha, du bist bekannt dafür, ein Karmapa zu sein.“ Und warum sagt er das? Das ist ein Hinweis darauf, dass der erste Karmapa Düsum Kyenpa sehr viele Erinnerungen hatte an sein früheres Leben als Saraha. Und auch der sechzehnte Karmapa, der 1981 verstorben ist, hatte Erinnerungen an ein früheres Leben als Saraha. Und auch der zweite Karmapa Karma Pakschi hat bestätigt, dass Karmapa – also Düsum Kyenpa – eine Fortführung der Aktivität Sarahas ist. Karma Trinle nennt Saraha in seinem Kommentar den ehrwürdigen Halter der schwarzen Krone.

Man kann Tangkas sehen, auf denen die schwarze Krone in geringem Abstand über Saraha zu sehen ist. Das zeigt uns die Verbindung zwischen Karmapa und Saraha.

Jetzt wird schon ein bisschen verständlicher, warum wir Saraha im Herzen Gampopas finden. Der erste Karmapa war einer der vier Herzensschüler Gampopas, einer der vier Schüler, die ihm am nächsten standen.

Ein anderer Grund ist: Man sagt, dass sich im Herzen eines erleuchteten Meisters immer Bod­hicitta, der Erleuchtungsgeist befindet. Tschenresi ist das Symbol für Bodhicitta im tantrischen Universum. Wenn wir an Bodhicitta denken, dann ist das verbunden mit Tschen­resi als einem der wichtigsten Buddha-Aspekte, die Bodhicitta verkörpern. Saraha ist die Geistesausstrahlung von Tschenresi, der sich immer wieder zum Wohl der Wesen verkörpert.

Und die Emanation von Tschenresis Körper ist Padmasambhava, die Emanation der Rede von Tschenresi – immer noch in dieser Beschreibung von Karma Pakschi – ist Padampa Sangye, der Meister von Matschig Labdrön, die Ihr kennt als die Begründerin der Tschö Linie.

Ihr seht also, dass Saraha im Herzen von Gampopa den erleuchteten Geist darstellt, der sich für das Wohl der Wesen manifestiert. Und er nimmt eine andere Form an als Gampopa. Gampopa visualisieren wir als Mönch mit den drei monastischen Roben, aber Saraha hat den Aspekt eines Yogis.

Saraha hat im ersten oder zweiten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gelebt ;er war der Lehrer von Nagarjuna. Nagarjuna hat von Saraha die Mönchsgelübde erhalten und auch seine grundlegende Ausbildung in buddhistischer Philosophie. Zu dieser Zeit war Saraha der Abt der Universität von Nalanda.

Was die Mahamudra Belehrungen für den tantrischen Praktizierenden sind, nennt man Mad­hyamaka für den Studierten. Das sind Belehrungen, die den Intellekt benutzen, um die Kon­zepte zu zerstören. Das Madhyamaka wurde von Nagarjuna dargelegt. Wir können also sehen, dass beide zusammen eine gemeinsame Arbeit vollbracht haben: Saraha hat den direkten An­satz von Hingabe kultiviert: Nagarjuna hat den intellektuellen Ansatz gezeigt, wie man den Rest von Ich-Anhaften zerstören kann.

58

Page 59: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Das trug sich also im ersten und zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu. Bis dahin waren die tantrischen Praktiken vollkommen geheim. D.h. auch die anderen Dharma-Prakti­zierenden wussten gar nichts von diesen Praktiken. Saraha war der erste, der diese tantrische Praxis und die Früchte dieser tantrischen Praxis gezeigt hat.

Es wird Götsangpa zitiert, der gesagt hat, Saraha war der erste, der öffentlich die tantrischen Symbole Glocke und Dordje gezeigt hat.

Das Leben SarahasEr wurde im Süden Indiens geboren in einer Brahmanenfamilie. Sein Vater hatte den Namen Pangpa Püntsum Dsogpa und seine Mutter hieß Pangma Püntsum Dsogpa, was mit „ vorzügli­che Entsagung“ zu übersetzen ist.

Saraha war der jüngste von fünf Söhnen, und alle fünf waren exzellent in den Studien der Ve­den, der hinduistischen Texte. Er hat den Namen Rahula Bhadra erhalten. Unter diesen fünf Söhnen war Rahula Bhadra der einzige, der die Absicht hatte, buddhistischer Mönch zu werden.

Es gibt eine Geschichte darüber, wie Rahula Bhadra buddhistischer Mönch geworden ist. Zu der Zeit herrschte der König Mahapala in dem Land und er betrachtete die fünf Söhne mit sehr viel Respekt, hatte sehr viel Verehrung für sie, da sie sehr gelehrt waren.

Während dieser Herrschaftszeit von Mahapala gab es einen Bodhisattva, Ratnamati, von dem man sagt, dass er eine Emanation von Hayagriva war. Der tibetische Name von Ratnamati ist Lodrö Rintschen. Diejenigen unter Euch, die das Ngöndro praktizieren, erinnern sich vielleicht, dass im ersten Gebet, dem Liniengebet Lodrö Rintschen als Meister von Saraha erwähnt wird. Er befand sich auf dem zehnten Bhumi.

Mit dem Gedanken, dieser Rahula Bhadra könnte den Menschen sehr gut dienen, hat sich Lo­drö Rintschen in fünf Dakinis verwandelt. Vier von diesen Mädchen nahmen Gestalt als Brah­manentöchter an und die fünfte Gestalt als Pfeilmacherin.

Die fünf Söhne spazierten in einem Park und trafen dort die vier Dakinis. Die vier älteren Brüder fühlten sich sofort von den Brahmanentöchtern angezogen. Sie kamen ins Gespräch, auch die Töchter sahen sehr zufrieden und glücklich aus, die Söhne rezitierten aus den Wesen(????) und so entstand sehr schnell ein spirituelles Band. Auch die Dakinis rezitierten aus den Veden und waren über dieses Zusammentreffen sehr beglückt. Die Söhne waren so erfreut, dass sie fragten, ob die Mädchen nicht mit ihnen kommen wollten, sie baten sie, ihre Gefährtinnen zu werden.

Aber der jüngste der Brüder war nicht interessiert, er wollte buddhistischer Mönch werden und fragte den König um Erlaubnis. Der König erteilte die Erlaubnis, und so erhielt Rahula Bhadra die Mönchsordination und den Namen Mahayana Schri Kirti. Er hat extrem viel stu­diert und wurde ein sehr berühmter Gelehrter unter dem Namen Rahula.

In diesem Zeitraum war er auch der Lehrer von Nagarjuna und anderen Schülern, die Dharma-Belehrungen verbreitet haben.

Eines Tages spazierte Brahma Rahula durch den Park und begegnete den vier Dakinis mit sei­nen Brüdern. Die Dakinis näherten sich ihm und boten ihm Bier an. Der Mönch Rahula protestierte, aber sie waren so geschickt und sagten: „Wo ist denn da ein Übel in diesen Sub­stanzen?“ und sie sprachen von der Leerheit der Dinge, bis er die vier Schalen mit Bier annahm und sie alle mit einem einzigen Zug leerte.

Und er durchlief in diesem Augenblick die vier Freuden und aufgrund dieser intensiven Freu­de begegnete er in einer Vision dem Bodhisattva Sukkanatha. In dieser Vision sagte ihm

59

Page 60: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

dieser Bodhisattva: „In dieser Stadt gibt es eine Frau, die aus vier verschiedenen Teilen Pfeile fabriziert. Du solltest sie besuchen! Aus dieser Begegnung wird viel Wohl für die Lebewesen entstehen!“

Die Vision verschwand und Rahula verblieb in einem Zustand der Einheit von zeitlosem Ge­wahrsein und relativem Bewusstsein. Er war sich der großen Segenskraft bewusst, die in diesem Augenblick zu dieser Realisation geführt hatte und sagte: „Ich sollte den Anwei­sungen folgen!“ Also begab er sich auf die Suche und fand die beschriebene Frau.

Es fand eine junge Frau, die vollkommen auf ihre Arbeit konzentriert war. Sie fabrizierte einen Pfeil nach dem anderen, ohne dabei nach rechts oder nach links zu schauen, sie war vollkommen mit ihrer Arbeit vereint.

Rahula war sehr erstaunt über diese Konzentrationsfähigkeit und dann schaute er auch darauf, was sie machte: Sie nahm ganz geraden Bambus mit drei Knoten. Sie schnitt den Bambus am Ende und an der Spitze zu, hinten gab es vier Einkerbungen, vorne fügte sie die Pfeilspitze hinzu, die sie mit Sehnen gut befestigte. Hinten fügte sie– damit der Pfeil seine Richtung gut hält- in diese Einkerbungen vier Federn ein. Dann nahm sie den Pfeil und schaute mit einem Auge, ob der Pfeil gut gearbeitet war.

Sie nahm die Haltung eines Bogenschützen ein, wenn er den Pfeil abschießt, und schaute, ob der Pfeil so sorgfältig gearbeitet war, dass er sein Ziel auch gut erreichen könnte. In diesem Augenblick näherte sich Rahula Bhadra der jungen Frau und sprach sie an: „Junge Frau, Sie sind sehr schnell im Herstellen von Pfeilen!“ Und sie antwortete ihm: „Junger Mann aus guter Familie, der Sinn der Belehrungen des Buddhas wird nicht durch Worte erkannt, sondern durch Symbole und Methoden. Die Bedeutung wird nicht durch Bücher oder Worte realisiert.“

In diesem Augenblick entstand im Geist von Saraha ein Verständnis, was dieser Pfeil in ihren Händen bedeutete.

Und sie bestätigte ihm dieses Verständnis und erklärte:

„Der Bambus symbolisiert den nicht fabrizierten, den nicht erzeugten Zustand.

Die drei Knoten, die drei Abschnitte des Bambus, symbolisieren die Absicht, die drei Kayas zu manifestieren: Dharmakaya, Sambhogakaya, Nirmanakaya.

Den Bambus gerade zu richten bedeutet, den Weg geradlinig zu gehen, direkt das Ziel anzugehen.

Den Bambus unten gerade abzuschneiden, ist das Symbol dafür, Samsara an der Wurzel abzu­schneiden.

Den Bambus an der Spitze zu schneiden, bedeutet, den Glauben an ein Ich abzuschneiden.

Den Pfeil unten in vier Teile zu schneiden, symbolisiert die Notwendigkeit, vier Aspekte in sich zu enthalten: 1) eine Absicht zu haben, 2) ohne Absicht zu sein, 3) das Ungeborene und 4) jenseits des Intellekts.

Als erstes braucht man die Absicht, Buddhaschaft zu erreichen und beim Praktizieren alles loszulassen, was fabriziert ist. Das Ungeborene ist der natürliche Geist, und jenseits des In­tellekts, das ist die Beschreibung der Realisation und des Weges, die jenseits sind von Wort und Intellekt, die diese Dimension der Realität berühren, jenseits von Wort und Intellekt.

Das Einstecken der Pfeilspitze ist das Zeichen, dass man die Praxis von der Weisheit führen lässt.

60

Page 61: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Die Tatsache, dass die Pfeilspitze mit Sehnen gut angebunden wurde, ist das Symbol der Not­wendigkeit, das Letztendliche mit dem Relativen zu verbinden in der Mudra des Überwindens oder der Vereinigung der Gegensätze.

Dass die Spitze in zwei geteilt ist, ist die Einheit von geschickten Mitteln und Weisheit.

Hinten die vier Federn einzufügen, symbolisiert Sichtweise, Meditation, Handeln und Frucht, die vier Aspekte der Mahamudra-Praxis.

Ein Auge zu schließen und ein Auge zu öffnen, während ich den Pfeil prüfe, das symbolisiert das Auge des dualistischen Bewusstseins – Namsche – zu schließen und das Auge des zeit­losen Gewahrseins – Yesche – zu öffnen.

Die Körperhaltung, um das Ziel gut anzuvisieren, das zeigt die Notwendigkeit, den Pfeil der Nicht-Dualität direkt ins Herz des dualistischen Greifens zu zielen.“

Aufgrund der Vision und dieser Begegnung mit der Frau begreift Saraha alles, was ihm dort gezeigt wird. Er sieht ein Symbol und das ist gleichzeitig eine Einweihung in Mahamudra, die mithilfe von Symbolen stattfindet, und er begreift das vollkommen. Er hat ein vollkommenes Verständnis davon, es heißt, er erhält vollkommene Initiation aufgrund seines richtigen Ver­ständnisses. Deshalb wird er vom Zeitpunkt seiner Initiation an nicht mehr Rahula Bhadra ge­nannt, sondern Saraha. Sara heißt Pfeil und ha kommt von hahata, abgeschossen haben, Saraha bedeutet also: derjenige, der den Pfeil abgeschossen hat.

Aufgrund seiner Verwirklichung sagt er zu dieser Frau: „Du bist keine Pfeilmacherin, du bist Spezialist in Symbolen und Einweihungen!“

Das ist im Tibetischen ein Wortspiel: Dakenma – da heißt Pfeil – ist also jemand der ge­schickt ist im Herstellen von Pfeilen und das gleich ausgesprochene Wort mit der Bedeutung der Silbe da als Symbol, bezeichnet jemanden, der geschickt ist in Symbolen.

Beide gingen gemeinsam fort und Sarahas Leben verwandelte sich von diesem Moment an vollständig. Er sagte: „Bis jetzt war ich ein Brahmane mit einer sehr reinen Lebensführung, aber von jetzt an werde ich jemand sein mit einer vollkommen reinen Lebensführung!“ Er wurde zu einem Praktizierenden der Tantras und praktizierte zusammen mit seiner Gefährtin auf den Leichenäckern, praktizierte Tsokopfer, wo es Alkohol und Fleisch gibt, und er sang spontane Vajragesänge. So wurde er zu einem berühmten Yogi.

Die Bewohner der Gegend waren wirklich entsetzt, als sie vom Betragen des großen Ge­lehrten hörten, der gegen jegliche Regel des brahmanischen Lebens verstieß. Sie sagten: „Ra­hula Bhadra ist nicht in der Lage, seine Mönchsgelübde zu halten, das ist Degeneration, er hat eine Frau aus einer niederen Kaste gewählt, er verhält sich wie ein Hund, der nach rechts und nach links läuft, er trinkt Alkohol usw. Sie waren entsetzt und das wurde auch dem König Mahapala zugetragen, der anfing, sich Sorgen zu machen.

Der König Mahapala forderte die vier Brüder auf, in seinem Namen zu ihrem Bruder zu ge­hen und ihn zu bitten, zu seinem vorherigen Leben zurückzukehren und das merkwürdige Verhalten aufzugeben.

Die Brüder wurden von einer großen Menschenmenge begleitet. Diese Geschichte findet sich in den Geschichten der 84 Mahasiddhas. Saraha wird angeklagt, dass er Alkohol trinke und das ist wirklich das Schlimmste, was jemand machen kann. Saraha sagt: „Nein, ich trinke keinen Alkohol!“

Saraha sagt: „Bringt alle Leute her und ich werde vor ihnen öffentlich schwören, dass ich nie Alkohol getrunken habe!“ Sie kommen alle und Saraha sagt: „Wenn ich jemals Alkohol ge­trunken habe, so möge meine Hand verbrennen. Wenn ich aber keinen Alkohol getrunken

61

Page 62: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

habe, so möge sie nicht verbrennen!“ Und damit tauchte er seine Hand in kochendes Öl. Er holte seine Hand aus dem Öl und sie war unversehrt.

Der König war überzeugt, dass er nicht trinkt, die anderen aber nicht. Saraha legt dann noch einen Eid ab: „Wenn ich jemals Alkohol getrunken habe, so möge dieses flüssige Kupfer, das ich trinke, mich verbrennen. Wenn ich keinen Alkohol getrunken habe, dann möge es mich nicht verbrennen!“

Der König sagt wieder: „Seht, er trinkt nicht!“ Aber die anderen: „Doch, doch, wir haben ihn häufig gesehen!“

Dann sagt Saraha: „Gut, dann machen wir etwas anderes: Gebt mir einen reinen Brahmanen. Wir werden dort zum Wasser gehen und derjenige, der nie Alkohol getrunken hat, wird nicht untergehen, aber derjenige, der getrunken hat, wird untergehen!“ Natürlich war es so, dass der normale Brahmane ins Wasser eintauchte, aber Saraha auf dem Wasser lief.

Die Leute sagten: „Gut, gut, er trinkt nicht, aber wie macht er denn das? Wir wollen einen vierten Test!“

Dann sagten sie: „Derjenige, der schwerer ist, trinkt nicht.“ Sie nahmen eine Waage und gaben auf die eine Seite Gewichte aus Metall mit dem Gewicht von drei Männern und setzten auf die andere Seite Saraha. Sie fanden Saraha wahrscheinlich ein bisschen zu leicht, weil er über das Wasser ging. Aber bei dem Test mit der Waage war Saraha schwerer als das Ge­wicht auf der anderen Seite. Sogar als sie noch mehr Gewicht dazugaben, war Saraha schwe­rer.

Der König sagte in diesem Moment: „Wenn jemand solche Kräfte hat, so soll er doch trinken so viel er will!“ Und das war der Augenblick, in dem der König und das ganze Volk des Landes Saraha um Erklärungen, um Anleitungen baten.

Das war der Augenblick, in dem Saraha das bekannte Doha an das Volk singt, ein Doha in 160 Versen. Dann kam die Königin und bat um Unterweisungen, und Saraha sang ein Doha in 80 Versen. Der König selbst bat um Unterweisungen, und Saraha sang ein Doha in 40 Versen. Diese drei Dohas – an das Volk, die Königin und den König – sind sehr bekannt, es ist eine sehr bekannte Trilogie. Das sind die Grundlagen der Erklärungen zu Mahamudra.

Natürlich hat Saraha auch noch viele andere Gesänge gesungen, er hatte eine äußerst umfang­reiche und sehr lange Aktivität. Man sagt von ihm, dass er zwei Jahrhunderte lang gelebt habe, er hatte sehr viele Schüler und hat die Mahamudra-Praxis und die Praxis des Tantras in Indien verbreitet.

Der König, die Königin und ihr Gefolge haben alle sehr tiefe Realisation entwickelt. Man sagt, das ganze Land Schri Parvati, dort im Süden Indiens, wurde vom Gesichtspunkt von ( ????) Samsara aus geleert, d.h. niemand im ganzen Land fiel in den Existenzkreislauf des Leidens zurück.

Das war so ein kleiner Eindruck von Saraha, viel mehr wissen wir noch nicht. Man sagt, er sei der erste Halter der Übertragung des Khorlo Demtschog Tantras. Das ist eines der wichtigsten Tantras der Kagyü Linie. Er ist auch einer der zentralen Meister in der Übertragung des Guya­samaya Tantras und er hat auch mehrere Kommentare zu Mahamudra verfasst, die man heute im Tengyur findet.

Ihr könnt nun denken, was Ihr wollt, ob er getrunken hat oder nicht, das Wichtigste sind die Belehrungen, die er hinterlassen hat. Und in deren Zentrum steht die natürliche Praxis, die Praxis der Natürlichkeit.

Von ihm gibt es viele Beispiele dafür, wie eine entspannte Praxis aussieht. Zum Beispiel in der Praxis wie Baumwolle zu sein: ganz weich, ganz flexibel. Oder so wie ein Bogen, weder

62

Page 63: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

zu sehr angespannt, noch zu lasch. So gibt es viele Beispiele von ihm zu natürlicher Meditati­on. Er hat auch sehr starke Beispiele gegeben: so zu meditieren wie ein Hundekadaver.

Was heißt das? Ein Hundekadaver interessiert sich für nichts mehr. Auf diese Art und Weise interessieren wir uns nicht mehr für unsere geistigen Produkte, die so im Geist aufsteigen, wir bleiben ihnen gegenüber ganz entspannt.

Ihr seht, da ist auch eine Prise Humor in diesen Belehrungen über Meditation, und wir er­kennen, dass man in diesem tantrischen Ansatz alles nutzen kann, solange man wachsam bleibt. Man darf sich nicht hinreißen lassen.

Der Augenblick, in dem er dieser Frau begegnete, war ein Augenblick der Initiation und diese Augenblicke werden z.B. reproduziert, wenn wir Ermächtigungen des tantrischen Weges erhalten. Da werden Meditationen auf Gottheiten benutzt und Mantren.

In der Ermächtigung verbinden wir unseren Geist, wir schaffen eine Verbindung mit etwas, das hinter der Erscheinung steht. Es erscheint ein Symbol, das unseren Geist öffnet, zu einem Verständnis führt, zu einem Verständnis dessen, was hinter dem Symbol steht.

Unsere Fähigkeit diese Symbole zu verstehen, ist relativ begrenzt, nicht sehr entwickelt. Aber die Meister führen uns progressiv dahin, dass wir dieses intuitive Verständnis mehr und mehr entwickeln, das intuitive Verständnis der letztendlichen Wirklichkeit.

— Meditation —

* * *

Zehnte Unterweisung, 4. 8. 04Wir entwickeln die Motivation, dass wir die Dharma-Belehrungen wirklich in unserem Leben anwenden möchten, um in der Lage zu sein, anderen zu helfen. D.h. zuerst einmal, dass wir ihnen weniger zur Last fallen werden, dass wir aufhören, den anderen zu schaden, und dann, dass wir wirklich in der Lage sind, ihnen zu helfen.

Die meiste Zeit unseres Lebens haben wir das Gefühl, „Ich bin wirklich ein Geschenk für die anderen, es ist ein Geschenk, mit mir zu leben! Es ist wirklich phantastisch, mich kennen zu dürfen und mit mir zusammen sein zu dürfen! Das ist sehr schön für die anderen!“ Aber die meiste Zeit irren wir uns, wir sind eigentlich eine Last für die anderen, wir sind schwer zu er­tragen. Wenn jemand längere Zeit mit uns zusammen lebt, sind wir wirklich sehr schwer zu ertragen.

Und was ist der Grund dafür? Das sind unsere Emotionen, nämlich die zwei, von denen wir heute sprechen werden: Eifersucht und Stolz.

Aber es gibt auch die anderen. Sie sind eher in der Minderheit; sie denken:„Oh, mit mir ist es wirklich unmöglich zu leben, ich bin eine Last für die anderen. Ich werde nie jemanden finden, der mich mag!“

Bei den beiden Denkweisen handelt es sich um Eifersucht und Stolz. Es ist der Stolz, dass wir denken, „Ich bin so schlimm, man kann mich nicht ausstehen!“ Wenn ich so denke, stehe ich ganz im Zentrum meiner Gedanken. Das ist das Element Stolz. Und die Eifersucht darin ist die Tatsache, dass ich mich die ganze Zeit mit den anderen vergleiche, und das ist wirklich ein Gift.

Für diese beiden Emotionen Eifersucht und Stolz kann man das Beispiel der Waage nehmen: Wenn wir stolz sind, dann fühlen wir natürlich keine Eifersucht, keinen Neid. Wenn wir von Eifersucht und Neid erfasst sind, dann ist der Stolz nicht vorhanden. Aber wenn ein stolzer Mensch in einer Situation erniedrigt wird, sind sofort Neid und Eifersucht vorhanden. Und

63

Page 64: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

umgekehrt, wenn wir eifersüchtig sind und in eine Situation kommen, aus der wir als Sieger hervorgehen, ist sofort Stolz da.

Wenn man oben ist, macht man alles, was man kann, um oben zu bleiben. Man strampelt nach unten, um genügend Abstand, genügend Raum zu haben, um wirklich mit Abstand oben zu bleiben. Man strampelt auch, um sich da oben zu halten, auch wenn man merkt, dass man dort oben immer einsamer dasteht.

Wenn wir unten sind, unternehmen wir alles Mögliche, um aufzusteigen. Aber nicht nur das, wir ziehen alle, die wir über uns glauben, nach unten. Wir möchten da oben ganz alleine sein.

Die Gegenmittel gegen Eifersucht und Stolz unterscheiden sich nicht allzu sehr. Man kann sie für beide - für Eifersucht und für Stolz - verwenden.

Lesen wir dazu Gampopa:

Wenn Neid (bzw. Eifersucht, Ehrgeiz oder Konkurrenzdenken) bei uns vorherrschen, kontemplieren wir als Gegenmittel die Gleichheit von uns und anderen: Alle anderen Wesen möchten ebenso glücklich sein wie ich und wünschen sich ebenso wie ich kein Leid. Entwickle von daher die gleiche Liebe für andere wie für dich selbst.Der zentrale Punkt in diesem Gedanken ist, dass wir uns von dem Wunsch befreien, anders zu sein als die anderen und dass wir uns von dem Gedanken befreien, dass wir anders seien als die anderen.

Wir sind irgendwie überzeugt davon, dass es uns glücklich machen würde, wenn wir anders wären als die anderen. „Ich will besser sein als die anderen, und wenn mir das nicht gelingt, dann wenigstens schlechter als die anderen.“

Wenn wir z.B. in einer Depression stecken, denken wir, „Ich bin wirklich ganz anders als die anderen. Alle anderen finden das Glück, aber ich nicht.“ Dann bin ich eifersüchtig, neidisch auf alle, die in diesem Augenblick glücklicher zu sein scheinen als ich selbst.

Selbst wenn in diesem Moment gerade nicht Neid oder Eifersucht unsere stärkste Emotion ist – hilft es, sich im Gedanken der Gleichheit von einem selbst und anderen zu üben. Gleich in dem Punkt, dass alle anderen so wie ich das Glück suchen und ebenso wie ich Schwierigkei­ten haben, es zu finden.

Und wenn wir diese Gleichheit, diese Ähnlichkeit von uns und anderen spüren, dann schafft das eine Grundlage dafür, dass wir uns mit den anderen freuen können. Das ist die Grundlage für unsere Mitfreude. Wenn wir sehen, jemand anders findet ein klein bisschen Glück, dann wird es uns gelingen, dass wir uns für ihn freuen. Wir wissen, genauso wie wir, sucht er nach Glück. Und diese Freude, die wir dann entwickeln, die schafft Raum in unserem Geist, die bringt ein bisschen frische Luft in unseren Geist. Das basiert auf der Grundlage der Gleichheit von uns und anderen.

Und wenn wir die Gleichheit aller Wesen kontemplieren und wir begegnen dann jemandem, der leidet, dann werden wir auch sehr viel mehr Mitgefühl entwickeln, weil wir sehen: Er ist nicht viel anders als ich, er möchte das Leid vermeiden und Glück erlangen.

Wenn wir stolz sind, dann ist der Gedanke vorherrschend: „Ich bin jemand Spezielles. Meine Qualitäten, Eigenschaften sind ganz besonders!“ Darauf basiert, dass wir uns mit diesen ganz besonderen Eigenschaften identifizieren und unser relatives Glück hat als Grundlage den künstlichen Unterschied zwischen uns und anderen. Wir können es nicht annehmen, nicht er­tragen, gleich zu sein wie die anderen, die gleichen Schwierigkeiten zu haben usw. Allein der Gedanke, gleich wie die anderen zu sein, gefällt uns nicht. Wir leiden darunter, wenn wir die gleichen Probleme haben wie die anderen. Wir werden unsere Schwierigkeiten verstecken, unsere Momente der Traurigkeit werden wir verstecken, die Momente, in denen wir an uns

64

Page 65: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

zweifeln, werden wir nicht zeigen mögen. Wir werden uns immer an einen Platz begeben, wo wir uns über den anderen empfinden. Dieser Platz über den anderen wird dann mehr und mehr zu einem Elfenbeinturm, in dem wir ganz alleine sind, in Einsamkeit. Wenn wir aber die Gleichheit zwischen uns und den anderen akzeptieren, langsam ein wenig loslassen und ak­zeptieren, dass wir das gleiche Potential haben wie die anderen, dass unsere Natur identisch ist, wenn wir die Idee von uns selbst ein bisschen loslassen und von unserem Elfenbeinturm heruntersteigen, dann können wir aufhören, uns die ganze Zeit zu verteidigen und den Ge­danken annehmen, wir könnten vielleicht gleich sein wie die anderen. Wenn wir akzeptieren, dass wir uns auf der gleichen Ebene wie die anderen befinden, dann wird das Leben sehr viel einfacher. All die Spannungen, die darin bestehen, dass wir uns verteidigen müssen, weichen von uns.

Das Gegenmittel gegen den Neid ist folgender Gedanke: „Wir teilen alle den gleichen Wunsch:Wir möchten glücklich sein. Wir alle suchen ein kleines bisschen Glück in unserem Leben.“ Als Gegenmittel gegen den Stolz sagen wir uns: „Ich bin genauso dumm wie die anderen! Warum bin ich denn immer noch in Samsara? Warum bin ich denn noch nicht er­leuchtet? Vielleicht habe ich doch etwas gemeinsam mit den anderen, die sich auch in Samsa­ra befinden? Warum ist es mir nicht gelungen, den Buddha zu treffen? Warum fällt es mir so schwer, die Belehrungen zu verstehen? Warum fällt es mir so schwer, Realisationen und Erfahrungen in der Praxis zu entwickeln? Warum steigen so viele Emotionen in meinem Geist auf?“ Daraus können wir schließen: „Ja, eigentlich bin ich genauso wie die anderen!“

Und Gendün Rinpoche hat empfohlen, die eigene Dummheit zu kontemplieren als Gegen­mittel gegen Stolz, um zu sehen, was ich mit den anderen teile: ich bin genauso dumm, mir fehlt es ebenso an Verdienst.

Sowohl der Stolze als auch der Neidvolle leiden dadurch, dass sie sich selber zu wichtig nehmen, d.h. sie drehen sich die ganze Zeit um sich selber. Sobald sie sich für die anderen öffnen, wird das Leben wesentlich einfacher.

Schauen wir, was Gampopa schreibt:

Wenn Stolz (bzw. Sich-wichtig-Nehmen) bei uns vorherrscht, praktizieren wir als Gegenmittel das Austauschen von sich selbst und anderen. Weil kindische Leute nur sich selbst für wichtig halten und nur um ihr eigenes Wohl besorgt sind, ist ihr Leben Leid in Samsara. Erwachte halten andere für wichtiger; sie sind nur um das Wohl der anderen besorgt und haben deshalb Buddhaschaft erlangt. Wenn wir es als Fehler er­kennen, uns selbst für wichtiger zu halten, werfen wir das Ichanhaften über Bord. Er­kennen wir es als Qualität, andere für wichtiger zu halten, behandeln wir sie, als wären wir es selbst.Schaut, ob das sehr viel ändern würde, wenn wir das Wort Stolz durch Neid austauschen würden.

Wenn wir uns an die Stelle anderer versetzen, wenn wir uns mit den anderen austauschen, haben wir das Gegenmittel gegen beide.

Wenn wir uns um andere kümmern, wenn uns das Wohl der anderen wichtiger ist als das eigene, verringert dieser Umstand unser Anhaften an ein Ich; er verringert, dass wir uns die ganze Zeit so wichtig nehmen. Wenn wir von Eifersucht erfasst sind, dann nehmen wir uns selber furchtbar wichtig. Wenn wir stolz sind, erkennt man es weniger, das ist nicht so of­fensichtlich wie bei jemandem, der eifersüchtig ist. Aber wir brauchen einen stolzen Men­schen nur geringfügig zu kritisieren, schon sehen wir, wie wichtig er sich nimmt. Es ist sehr schwierig für einen solchen Menschen, Kritik zu ertragen. Das zeigt, wie sehr er mit sich beschäftigt ist.

65

Page 66: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Ist es für uns schwierig, kritisiert zu werden? Ist es schwierig für uns, zu sehen, dass andere ein Glück haben und sich daran erfreuen?

Das sind ganz einfache Fragen, mit denen wir sehr schnell die Emotionen in uns identifizieren können.

Das Universalmittel ist Tonglen, der Austausch von einem selbst und anderen. Als Grundlage für das Tonglen können wir den Atem benutzen. Wir spüren das Leiden des anderen und schenken ihm unser Glück. Wir tauschen uns aus, bis dieser Austausch ein ständiger Aus­tausch ist, es gibt keinen Unterschied zwischen mir und den anderen.

Wir können unser Glück in dem Glück der anderen finden. Wenn das Glück der anderen be­trachten und uns mitfreuen, dann wird deren Freude zu unserer Freude.

Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um Unterweisungen zu Tonglen zu geben. Wenn jemand von Euch diese Übertragung noch nicht erhalten hat, wenn sie noch nicht zu Eurer täglichen Pra­xis gehört, dann ist es äußerst wichtig, diese Belehrungen über Tonglen, Lodjong zu erhalten. Das ist etwas, was wirklich Teil unseres Lebens werden sollte. Wir sollten den Gedanken entwickeln: „Was ist in diesem Moment nützlich für die anderen?“ und uns mit den anderen austauschen.

Schauen wir uns ein Beispiel an: Wir hier sind alle erwachsen. Wenn wir Kindern beim Spielen zuschauen und sehen, wie sich freuen, dann freuen wir uns spontan mit ihnen. Warum ist es so leicht, dass wir uns für sie freuen? Das kommt daher, dass wir sie als unterschiedlich von uns, als anders als uns selbst erleben, als weiter entfernt. Da fällt es uns leichter, uns mit­zufreuen. Aber wenn wir Erwachsene spielen und sich freuen sehen, dann fällt es uns schon sehr viel schwerer, uns mitzufreuen. Warum? Weil wir uns vergleichen. Wir vergleichen uns und haben dann Schwierigkeiten, uns mit ihnen zu freuen. Mit Kindern vergleichen wir uns nicht. Je näher uns jemand steht, der gleichen Klasse oder Kategorie zugehörig ist, je ähnli­cher er uns ist, desto schwerer fällt es uns, uns mitzufreuen. Wir könnten wirklich das gleiche Gefühl für alle entwickeln, das spontan entsteht, wenn wir Kinder spielen sehen.

Es wird schwierig, sobald wir andere sehen, die sich an einem Glück erfreuen, das wir uns für uns selber wünschen. Das müssen wir erst trainieren, wir müssen es erst einmal auf dem Kissen üben. Wir müssen uns wieder und wieder vorstellen, dass wir anderen das schenken, was sie sich am meisten wünschen. Wir stellen uns auch vor, dass wir anderen das schenken, was wir uns selber wünschen.

Wenn unsere Emotionen alle etwa gleich stark sind sowie bei starkem Gedankenzudrang üben wir die Meditation auf den Atem. Dabei gibt es sechs Methoden: das Zählen, das Dem-Atem-Folgen usw.Auf den Atem zu meditieren ist für jede Emotion sehr gut geeignet. Das wird diesen Tumult an Gedanken im Kopf beruhigen. Es gibt sehr viele Gegenmittel, sehr viele Meditationen, die für alle Emotionen geeignet sind so wie z.B. auch Tonglen. Tonglen ist nicht nur gut für Stolz und Eifersucht, es ist gut für alle Emotionen.

Tonglen ist die Anwendung von Bodhicitta. Meditation auf Bodhicitta hilft gegen jede Emoti­on, ebenso wie die Meditation auf den Lama, oder die Rezitation von OM MANI PEME HUNG.

Wir haben zusammen praktiziert, wir haben zusammen auf den Atem praktiziert, wir haben den Atem gezählt, wir sind dem Atem gefolgt. Jetzt liegt es an Euch, diese Methoden anzu­wenden. Es ist wichtig, nicht von einer Methode zur nächsten zu springen, sondern vielleicht für ein Jahr mit einer Methode oder einer Auswahl an Methoden zu verweilen. Es ist gut, den Lama, der Euch betreut zu fragen, um mit ihm zusammen diese Methoden auszuwählen,

66

Page 67: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

sodass Ihr nicht mit einer Methode aufhört und zur nächsten springt, bevor diese Methode ihre Frucht gezeigt hat.

Es ist gut, eine Methode, die sich für uns als gut erwiesen hat, unser ganzes Leben hindurch anzuwenden.

Ich bin ein Anhänger der Meditation auf den Atem. Ich schätze diese Methode sehr. Das war aber nicht die ganze Zeit so leicht, anfangs war es sehr schwierig für mich, diese Meditation zu machen, aber meine Lehrer haben mich immer wieder dazu bewegt, diese Meditation auf den Atem auszuführen und jetzt ist die Meditation auf den Atmen immer da. Sobald es nichts anderes zu tun gibt, meditiere ich auf den Atem. In schwierigen Situationen, oder z.B. jetzt, da ich ein bisschen krank bin und der Geist nicht ganz so klar ist, hilft es, auf den Atem zu meditieren. Das beruhigt, das öffnet den Geist und das entspannt. Die Meditation auf den Atem ist auch gleichzeitig eine Meditation auf die Vergänglichkeit und damit sehr heilsam für das ganze Leben.

Lama Gendün Rinpoche hat uns zwei Meditationsobjekte als besonders wichtig empfohlen. Das eine ist die Meditation auf den Atem und das andere ist, einen Buddha vor sich zu vi­sualisieren. Diese zweite Meditationsform macht Ihr automatisch, wenn ihr auf Tschenresi meditiert oder den Guru-Yoga oder einen Jidam praktiziert.

Wenn wir in erregten Zuständen sind, dann fällt es uns meistens sehr schwer, einen Buddha zu visualisieren. Der Vorteil der Meditation auf den Atem ist: sobald wir eine starke Emotion haben, beeinflusst das sehr stark unseren Atem – so ist es sehr leicht, sich auf den Atem aus­zurichten, um ihn zu beruhigen.

Aber nach dem Tod gibt es keinen Atem mehr, da ist es schwierig, auf den Atem zu me­ditieren, da ist es leichter, den Buddha zu visualisieren.

Deswegen sollten wir uns in beidem üben.

Wahre meditative Stabilität hat drei Aspekte: spürbar glücklich machende meditative Stabilität, Qualitäten hervorbringende meditative Stabilität und das Wohl der Wesen bewirkende meditative Stabilität. Durch die erste wird unser Geistesstrom zu einem ge­eigneten Gefäß, die zweite ruft in jemandem, der bereits ein geeignetes Gefäß ist, die er­leuchteten Qualitäten hervor und die dritte bewirkt das Wohl der Wesen.Es wäre gut, wenn wir diese drei Formen der meditativen Stabilität verstehen. Dann be­greifen,wir was wir entwickeln müssen.

1. Spürbar glücklich machende meditative StabilitätUm diese Form der meditativen Absorption zu beschreiben, zitiert Gampopa aus den Stufen der Bodhisattvas:

„Die meditative Stabilität der Bodhisattvas ist frei von jeglichem begrifflichen Denken.“Da sehen wir also: Samten, die Paramita der meditativen Stabilität, beginnt mit einem Zustand ohne Konzeptualisieren. Das heißt, wenn wir, ohne diesen Zustand berührt zu haben, von ‚meiner tiefen Meditation’ sprechen, dann ist das nicht richtig.

Um also von meditativer Stabilität sprechen zu können, müssen wir in einem Zustand sein, in dem sich – falls Gedanken aufsteigen –keine Ketten aus diesen Gedanken bilden.

„Sie bringt völlige Meisterschaft über Körper und Geist hervor und ist vortrefflichste, vollkommene Ruhe, frei von Einbildung. Sie ist ohne eine Erfahrung von Geschmack und frei von allen Merkmalen. Dies ist unter ‚glücklichem Verweilen in Meditation’ zu verstehen.“

67

Page 68: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Hier sind die Übersetzungen im Französischen und im Deutschen unterschiedlich, aber Ihr seht nachher in Gampopas Erklärungen, dass beides gleich ist.

Freisein von begrifflichem Denken ist einsgerichtetes Verweilen ohne das Hin und Her von Gedanken wie „Das ist es“ und „Das ist es nicht“.Das ist schon sehr tief, denn wenn in der Meditation der Gedanke aufsteigt: „Das ist jetzt Me­ditation!“, dann ist es schon keine Meditation mehr. Auch wenn der Gedanke aufsteigt oder das Urteil lautet „Das ist jetzt keine Meditation!“, ist das begriffliches Denken, das die Me­ditation verdirbt. In der Meditation geben wir den Gedanken– welche auch immer aufsteigen mögen –keine Wichtigkeit.

Völlige Meisterschaft über Körper und Geist hervorzubringen bedeutet, dass alles Nega­tive und Unharmonische in Körper und Geist aufgelöst wird.Während dieser tiefen Meditation von Schinä werden alle subtilen Energien des Körpers aus­balanciert und es findet ein Heilungsprozess von Krankheiten statt. Die meditative Versenkung bringt dem Körper sehr viel: die Verdauung verbessert sich, der Atem verbessert sich, alles wird ausgeglichen, die Haut verbessert sich. Das sind alles natürliche Qualitäten der Meditation. Das heißt aber nicht, dass nicht auch eine Reinigung stattfinden kann, um dann zu einem besseren Gleichgewicht zu führen, d.h. es kann ausgesprochen schwierige Pha­sen geben.

Wir können starke Schmerzen empfinden, aber wenn es uns gelingt, uns in einer sehr tiefen Meditation wirklich zu entspannen, dann verschwinden die Schmerzen für diesen Zeitraum.

In der meditativen Stabilität werden alle Emotionen des Geistes befriedet, in dieser Absorpti­on gibt es keinen Neid, keinen Zorn, keinen Stolz und auch keine Begierde, nur noch die Un­wissenheit.

Und der Text sagt:

Vortrefflichste, vollkommene Ruhe bedeutet natürliches Hineinfinden in den natürlichen Zustand. Das heißt: es gibt keine besondere Anstrengung in diesem Moment. Es sind Entspannung und Offenheit, die uns diese Tür öffnen.

Freisein von Einbildung ist Freisein von emotionaler Verblendung der Sicht.Das heißt, dass wir dann nicht hartnäckig in dem Gedanken „Ich existiere“ oder „Ich existiere nicht“ stecken. Es heißt, dass wir keine dickköpfige Haltung mehr einnehmen, die sonst sehr kontraproduktiv ist. D.h. der Geist wird solider, wird geschmeidiger.

Ohne eine Erfahrung von Geschmack bedeutet Freisein von emotionaler Verblendung in Hinblick auf weitere Existenz („Werden“).Ohne eine Erfahrung von Geschmack bedeutet, dass diese Freude der meditativen Absorption – wenn sie wirklich ein Paramita ist – frei ist von Anhaftung. Wenn wir an dieser meditativen Absorption anhaften, dann führt das nur zu einer göttlichen Wiedergeburt. Wir sprechen hier von Samten, Dhyana, von tiefer Absorption. Diese Versenkungszustände sind wirklich tiefe meditative Stabilität.

Freisein von Merkmalen ist Freisein von dem Sich-Erfreuen an Sinnesobjekten wie Formen und dergleichen.D.h. es ist hier die Abwesenheit der Sinneswahrnehmungen gemeint, der Geist ist nicht mehr mit den Sinneswahrnehmungen beschäftigt, er ist nicht mehr gebunden an das Gefühl des Be­rührens, des Sehens usw.

68

Page 69: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Nur sehr wenige Menschen haben Zugang zu diesen tiefen meditativen Versenkungszu­ständen, weil es an Verdienst mangelt, weil es an Entspannung mangelt, weil es auch an den richtigen Bedingungen mangelt. Aber glücklicherweise sind diese tiefen Versenkungen für den Eintritt in das Mahamudra nicht unbedingt notwendig.

Diese Dhyanas sind – wenn man gut von einem Lama geführt wird – keine Sackgasse, son­dern ein Trumpf, um den Wesen helfen zu können. Wenn jemand aber kein Vertrauen hat in die Belehrungen über Nicht-Dualität, dann können diese Dhyanas zu einer Falle werden, weil man darin bleiben möchte.

Und wie gelangt man dorthin?

Das Tor zu all diesen Qualitäten sind die vier Stufen meditativer Stabilität, die auch die erste, zweite, dritte und vierte Sammlungsstufe genannt werden. Die erste Stufe ist be­gleitet von Denken und Analyse, die zweite ist begleitet von Freude, die dritte von Glücksgefühl und die vierte von Gleichmut.Das ist eine sehr knappe Beschreibung der vier Versenkungszustände. Der erste beginnt mit einem „Ja, das ist wirkliche Meditation!“, aber dieser Gedanke löst sich auf, es gibt keine Analyse mehr.

Der zweite Dhyana wird begleitet von extremem physischen Wohlbefinden. Das hängt nicht mit den Sinneswahrnehmungen zusammen, sondern es entsteht im Körper ein sehr starkes Gefühl von körperlichem Glück.

Die dritte Versenkungsstufe wird charakterisiert von mentalem Wohlbefinden, der Körper spielt keine Rolle mehr.

Die vierte Stufe ist jenseits von Glücksgefühlen des Körpers und des Geistes, deswegen wird sie Gleichmut genannt.

Wenn wir diese Dhyanas kultivieren, uns darin üben, wird solch ein Wohlbefinden sich schon in diesem Leben einstellen.

Wie Ihr seht, Ihr seid nicht mehr bei der Sache, d.h. diese Belehrungen sind ein bisschen außerhalb unserer Reichweite, was unsere jetzige Realität betrifft. Das ist auch der Grund, warum das Samten Paramita und auch das nächste Paramita – Weisheit – früher Laienprakti­zierende nicht gelehrt wurde, weil es wirklich notwendig ist, die Bedingungen für eine länge­re Zurückziehung zu finden, um Zugang dazu zu erhalten.

Aber es ist wichtig zu wissen, dass das existiert, es ist eine Erfahrung der Praktizierenden.

* * *

Fragen und AntwortenIch wundere mich, warum Gampopa gar nicht über Achtsamkeit spricht.Das liegt daran, dass der Begriff „achtsam sein“ für diese weiten Geisteszustände gar nicht mehr zutrifft. Dieses Wort suggeriert eher eine Fixierung, wie sie am Anfang der Meditation vielleicht gebraucht wird. Aber wenn Gampopa sagt, man ist auf das Gute ausgerichtet, dann bedeutet das das gleiche.

Achtung ist wirklich eine Qualität, die zu entwickeln ist, aber sie wird langsam zu Achtsam­keit und dann eher zu so etwas, was ich ein einfaches Gegenwärtig-Sein nennen möchte, was kein Ziel mehr hat und auch kein Zentrum und keinen Fokus.

Ist das das gleiche, bloß das Objekt ändert sich?

69

Page 70: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Nein, es gibt kein Objekt mehr.

Zu den zwölf Gliedern: Wenn Kontakt entsteht und daraus kommen dann die Empfindungen, da findet doch auch etwas Begriffliches statt. Ich höre einen Vogel und denke “Vogel“, auch wenn das nicht sofort klar ist, dass begriffliches Greifen stattfindet. Wo hat denn das hier sei­nen Platz? Es ist schwierig, in der Meditation etwas wahrzunehmen, ohne dass Begriffe über­haupt auftauchen.Das ist der Punkt des Greifens. Wir haben also erst den Kontakt, dann sehen wir sofort angenehm – unangenehm. Wir haben also diese Begierde und dann das Greifen. Das Be­griffliche, einen Namen geben findet da statt, wo wir greifen, wir identifizieren das Objekt, das wir wahrgenommen haben. Das findet im Intellekt statt. Aber es ist extrem schwierig, auf dem Niveau der Empfindungen zu arbeiten, dort durchzuschneiden, weil es so schnell geht. Wir haben einen Kontakt und schon ist Greifen da. Diese Schritte sind äußerst schnell.

Dem Augenblick, in dem wir einer Wahrnehmung einen Namen geben, geht eine Etappe voraus. In dieser Etappe vergleichen wir: wir vergleichen diese Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen, wir suchen nach einem Unterschied oder nach dem, was gleich ist. Wir hö­ren das Geräusch, identifizieren es und suchen, was wir schon einmal gehört haben, in welche Kategorie es fällt. Das findet sehr schnell statt. Nur wenn wir nicht die zugehörige Kategorie finden, sehen wir, wie es funktioniert. Das alles gehört bereits zum Greifen der Wahrneh­mung. Wir wollen mehr darüber wissen, wir schauen, vergleichen und finden das Wort.

Wie ist das, wenn schon mehr Entspannung da ist und weniger diese Bezeichnungen wie „Vo­gel“ da sind und man einfach nur „Klang“ hört. Es kommt noch das Wort „Klang“, aber nicht mehr.Richtig. Du kannst mit der Meditation diesen Prozess entspannen und du kannst dann in immer „weniger begriffliche Meditation“ hineinfinden.

Es kommt vor, dass eine Emotion in uns aufsteigt, Stolz, Wut usw. und wir sehen, wir haben nicht die Fähigkeit, geschickt damit umzugehen. Was tun wir dann? Ist es dann besser, nichts zu sagen und nichts zu tun? Was erzeugen wir da für ein Karma? Also, was sollen wir ma­chen wenn eine Emotion auftaucht?Es ist bereits sehr gut, wenn wir die Fähigkeit haben, nichts zu sagen, wenn es uns gelingt, in so einer Situation nicht zu handeln. Das gibt uns Raum, dass wir nachdenken, schauen können, dass wir die Weisheit anwenden können, unsere Wahl treffen können. Es ist sehr gut, diese Fähigkeit zu nutzen, wenn wir sie uns erarbeitet haben. Aber manchmal reizt es den anderen noch mehr, wenn wir nicht reagieren. Doch prinzipiell ist es sehr gut, mehr und mehr diese Reaktion zu vermeiden und aus dem Spiel auszusteigen und eher Taten oder Hand­lungen zu setzen, die auf Nachdenken beruhen und nicht impulsiv sind.

Was heißt Reaktion? Es ist doch schon eine Reaktion, wenn eine Emotion da ist. Ist da nicht bereits der ganze Vorgang abgeschlossen?Du bist mitten drin und kannst das Ganze noch verschlimmern. Wir sind in einem Pingpong. Da ist eine Situation, wir reagieren und es eskaliert. Das sind alles Reaktionen, beim andern wie bei mir. Wenn einer von beiden aussteigen könnte und sich ein bisschen beruhigt und dann u.U. eine weisere liebevollere Handlung ausführt, dann hilft das sicher. Egal an wel­chem Punkt.

Kinder streiten und steigern sich in den Streit hinein. Ist es in Ordnung, an einem gewissen Punkt zu sagen: „Stopp!“?

70

Page 71: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Aber wirklich erst an einem gewissen Punkt, denn es nützt auch nichts, die ganze Zeit den Ausdruck ihrer Emotionen zu stoppen. Aber es ist klar, dass – wenn sie sich nur weiter strei­ten …???????

Eine etwas theoretische Frage: Habe ich es richtig verstanden, dass man Mahamudra ohne eine Stufe von Samten realisieren kann?Ja, du hast richtig verstanden. Samten – diese Meditationsversenkung – ist bereits die dritte Ebene von Schinä, auf der der Geist wie ein gedankenfreier Ozean wird. Mahamudra kann man bereits mit geringeren Stufen der meditativen Stabilität realisieren, also ohne diese dritte Ebene von Schinä.

Man benötigt eine gewisse meditative Stabilität, um Mahamudra zu realisieren, aber es reicht, dass sich die Gedanken ein wenig beruhigt haben, sodass es möglich ist, die Natur dieser Ge­danken zu betrachten.

Und die vier Kayas?Diese Kayas realisiert man am Ende des Weges. Wir sprechen hier vom Eintritt in die Reali­sation der Natur des Geistes und wenn wir am Ende des Weges sind, ist es auch keine Schwierigkeit mehr, sich in diese meditativen Versenkungen zu vertiefen.

— Meditation —

* * *

Elfte Unterweisung, 5. 8. 04Es wäre schade, heute zu sehr konzeptuell weiterzumachen, nachdem wir so viel Segen emp­fangen haben. Also bleiben wir lieber in diesem Segensstrom von gestern und erinnern uns daran, dass wir gestern bei der Ermächtigung Dordje Phamo waren, der Mutter aller Buddhas, in tanzender Haltung, in ihrem Herzen befindet sich Gampopa.

Diese Visualisation kommt aus einer anderen Gampopa Praxis, auf der die Ermächtigung ba­siert, die wir gestern erhalten haben. Aber nachdem wir diese Ermächtigung erhalten haben, können wir uns auch in dieser kleinen Praxis so visualisieren.

Wir werden jetzt die Meditationshaltung einnehmen und erinnern uns daran, dass wir selber Dordje Phamo – Vajravarahi sind. (Vajra-Ferrari). Sie ist rot, schnell…wir hätten alle gerne eine Vajra-Ferrari…

Sie ist bereits in uns vorhanden. Unser Körper ist rot, transparent, man kann durch unseren Körper hindurchschauen. Wir befinden uns in einer tanzenden Haltung, der linke Fuß berührt kaum die Erde und das rechte Bein ist angewinkelt.

Die linke Hand hält vor dem Herzen eine Kapala, eine Schädelschale, gefüllt mit Blut. Blut symbolisiert Weisheitsnektar.

In der rechten Hand halten wir in einer tanzenden Bewegung ein Trigug, das ist ein ge­schwungenes Haumesser mit einem kleinen Haken. Das ist ein spezielles Instrument, es wurde auf den Leichenäckern benutzt, dort wo Saraha praktiziert hat. Es wurde benutzt, um die Kadaver zu zerteilen und mit dem Haken konnte man die Haut festhalten und dann ab­reißen. Das heißt: Dordje Phamo ist ohne Mitleid mit dem Ich-Anhaften.

Sie tanzt auf einem Kadaver. Dieser Kadaver liegt auf dem Rücken, die Brust ist oben und Dordje Phamos linker Fuß steht direkt auf dem Herzen des Kadavers. Der Kadaver ist gerade erst tot, d.h. der äußere Atem hat aufgehört, aber innerlich ist noch ein kleiner Rest Leben.

71

Page 72: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Die subtilen Energien sind noch vorhanden. Das symbolisiert, dass Phamo sich jenseits von Tod und Leben befindet. Sie tanzt auf dem Zyklus von Tod und Leben, sie ist jenseits dieses Zyklus.

Auf ihrem Kopf hat sie ein Collier aus fünf Totenschädeln, das symbolisiert die Vereinigung und die Meisterschaft der fünf Buddhafamilien, die fünf Aspekte zeitlosen Gewahrseins. Sie hat auch noch andere Ornamente, die die fünf Paramitas symbolisieren und sie selbst ist das sechste, das Paramita der Weisheit, Prajnaparamita.

Sie ist umgeben von Flammen der Weisheit und das symbolisiert, dass dieses Feuer sämtli­ches dualistisches Bewusstsein verbrennt und die Fixierung der Emotionen. Sie ist nicht in Gefahr durch das Feuer, sie wird nicht vom Feuer erfasst. Denn sie selber ist von der Natur dieses Feuers. Das ist kein heißes Feuer, sondern das ist das Feuer der Weisheit.

Wir selber sind also Vajravarahi und singen gemeinsam die Lobpreisungen an Gampopa und laden die Weisheitsaspekte aus den reinen Ländern ein. Sie kommen in der Form von Vajra­varahi, Gampopa und allen Meistern der Linie und der Jidams. Sie kommen und verschmelzen mit uns.

Wenn sie in uns verschmelzen, dann ist Gampopa in unserem Herzen. Wir visualisieren Gampopa in unserem Herzen in der Größe eines Daumengliedes. Wir visualisieren uns also als Dordje Phamo und Gampopa so, wie wir ihn kennen, mit seinem Hut, die Beine in der Va­jrahaltung, beide Hände in der Haltung der Meditation und in den Händen die Schale mit dem wunscherfüllenden Juwel.

Diese Weisheitswesen kommen wie ein Schneesturm oder wie ganz viele Regentropfen auf uns, sie fallen auf uns. Und es gibt winzig Kleine, so wie Boten aus den reinen Ländern und andere sind so groß wie Berge. Es gibt keine Substanz, der Körper ist kein materieller Körper, all das ist nur Licht, das in Licht verschmilzt.

Njamme Dhagpo Daö Schönnu schabla sölwa deb so

— Meditation —

* * *

Fragen und AntwortenMacht man dabei die Vajra-Atmung mit OM AH HUNG?Bei dieser Meditation bleiben wir einfach nur entspannt. Aber wenn wir merken, dass wir nach einer gewissen Zeit geistiges Aufgewühltsein entsteht, dann können wir auf das OM AH HUNG zurückkommen, um uns zu entspannen.

Visualisiert man dabei auch vor einem selbst Phamo usw.?Man braucht dabei keine Visualisation vor sich ausführen. Es reicht, sich selbst als Phamo und Gampopa als Einheit von Lama und Jidam zu visualisieren.

Tanzt man dabei?Man tanzt nicht wirklich. Man tanzt, ohne sich den Vorstellungen von äußerem Tanzen hin­zugeben. Der Tanz ist ein innerer Tanz, der Tanz mit den Erscheinungen, d.h. es gibt keinen Widerstand gegen das, was im Geist auftaucht. Du fließt mit all dem, was ist und erkennst es in seiner illusorischen Natur. Das ist der eigentliche Tanz. Deswegen wird von äußeren Tanz­formen abgeraten.

Wir haben gestern das Versprechen gegeben, diese Praxis durchzuführen. Wenn ich noch nicht so weit bin und noch eine andere Praxis mache, was tu ich da?

72

Page 73: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wir haben gestern nicht versprochen, dass wir die Praxis als solche unbedingt ausführen. Wir haben gesagt, dass wir das Vertrauen in die Einheit von Lama und Jidam wahren, das Ver­trauen in Gampopa, und dass wir – wenn möglich – die Praxis ausführen werden. Lama Ye­sche hat uns da sehr viel Raum gelassen, ohne uns festzulegen. Aber ich möchte Euch sehr ermutigen, diese Praxis in Zukunft oder auch jetzt schon gelegentlich auszuführen. Und im Moment – da Ihr die andere Praxis nicht kennt und sie auch viel aufwändiger und schwieriger auszuführen ist – rate ich Euch, wenn ihr Gelegenheit habt, in einer Gruppe oder alleine, die Praxis durchzuführen, die wir hier im Kurs machen. Das reicht auch, um die Verbindung zu halten. Wenn Ihr obendrein noch die Visualisation macht, die wir gerade gemacht haben, dann haltet Ihr wirklich das Band gut warm.

Lama Yesche hat uns die Einweihung gegeben wie im Retreat-- mit all den ausführlichen Er­klärungen-- und eigentlich wäre es das Beste, morgen ins Retreat zu gehen und diese Praxis auszuführen.

Was ist denn die Sau oben auf ihrem Kopf?Das ist das Symbol dafür, dass sie selbst Ausdruck des Dharmakaya ist.

Eine Frage zur Visualisation: Was ist dann, wenn bei einem Element plötzlich sehr viel Klar­heit in unserem Geist auftaucht? Bei mir war das jetzt z.B. die Robe, der Hut, die Augen sind halb geschlossen und sehr präzise ist die Robe, aber in der Mitte ist alles leer. Ist das korrekt?Je klarer die Roben, desto stärker ist der Wunsch, Mönch zu werden. Wenn es in der Mitte leer und hohl ist, dann ist da kein Ergreifen.

Ich hab da etwas Liebevolles, Weiches und gleichzeitig etwas Zornvolles gesehen. Kannst du über diesen Aspekt noch etwas sagen? Ist das die Einweihung, die man für die Phamo-Praxis braucht, oder ist dazu eine andere Einweihung notwendig?Sie hat einen Ausdruck im Gesicht, der sehr anziehend ist, auch ein Lächeln, aber gleichzeitig ist da etwas Furchteinflößendes, auch ein bisschen Zornvolles, um die Augenbrauen, die Eck­zähne, die rausschauen. Man möchte gleichzeitig auf sie zugehen und andererseits – wenn man an sich selbst haftet – ist da auch Angst, die das auslöst. Das spiegelt die verschiedenen Buddha-Aktivitäten wieder, die uns einerseits unterstützen und anziehen und den Geist beru­higen, andererseits aber auch energisch alle unsere Anhaftungen durchschneiden und Respekt einflößen, die auch unerbittlich sind. Phamo ist nicht jemand zum Rumspielen. Das spielt von sich aus, und zwar gerade so, wie es das Ich-Anhaften nicht möchte und das ist dieses Furcht-Einflößende. Dordje Phamo ist Ausdruck aller vier Buddha-Aktivitäten und das wird durch dieses Gesicht gespiegelt.

Die Gampopa Praxis, die zu dieser Einweihung gehört, besteht aus einem äußeren, inneren und geheimen Teil und im äußeren Teil steht der Guru-Yoga im Vordergrund, im inneren Teil wird die Phamo-Praxis gemacht und der geheime Teil ist Mahamudra-Praxis. Diese Praxis eignet sich sehr für Praktizierende, die nicht ins Dreijahres-Retreat gehen können, die aber eine starke Verbindung mit Dordje Phamo spüren und zugleich damit ihren Guru-Yoga vertiefen möchten. Also ist das eigentlich die Praxis, die Euch später offen steht, wenn Ihr die vorbereitenden Übungen abgeschlossen habt, schon tiefer in den Guru-Yoga hineingewachsen seid und wenn der Lama sieht: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um noch tiefer in die Vajra­yana-Praktiken einzusteigen.

Die eigentliche Vajrayogini Praxis hat noch einmal eine andere Einweihung, die dieser ähnelt, aber der Praxistext selbst ist noch umfassender und sie ist noch ausführlicher in den Beschreibungen.

73

Page 74: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Bei dieser Art von Praktiken ist es nicht angebracht, dass die Praktizierenden den Lama bitten, ob sie das praktizieren können. Das schlägt der Lama von sich aus vor.

Eine Frage zur Visualisation: Wir selber visualisieren uns als Phamo, im Herzen ist Gampo­pa. Ist dann im Herzen von Gampopa nochmals Saraha und dann noch Dordje Tschang?Die Visualisation mit Saraha im Herzen und dann Dordje Tschang gehört zu dieser kleinen Praxis. Wenn wir Gampopa in unserem Herzen als Dordje Phamo visualisieren, dann ist in seinem Herzen noch einmal Saraha.

Kannst du noch was zur Übertragungslinie sagen, über die die Praxis zu Lama Yesche kam? Es hat gesagt, der Text sei versteckt gewesen und im 19. Jahrhundert gefunden worden.Gampopa selbst hat diesen Text als Terma versteckt. Der Tertön Djatsön Nyingpo, der im 19. Jahrhundert gelebt hat, hat diese Praxis notiert ( ???- Wort fehlte ), die von Gampopa selbst inspiriert ist, in der Gampopa Instruktionen gibt an Djatsön Nyingpo, wie jede einzelne Phase der Praxis auszuführen ist. Das hat dann Djatsön Nyingpo aufgeschrieben und zur Verfügung gestellt. Diese andere Praxis, die wir hier benutzen, ist – glaube ich – von Djamgön Kongtrul Lodrö Thaye.

Die Linie – das hat Lama Yesche nicht extra erwähnt – ist natürlich durch Gendün Rinpoche zu uns gekommen, und Gendün Rinpoche hat diese Praxis wahrscheinlich früher schon in sei­nem Kloster bekommen, aber er hat sie noch einmal vom 16. Karmapa bekommen und dann ist es einfach die normale Kagyü Linie.

Ich versuche mich zu erinnern, wie das Terma selbst aussieht, komm jetzt aber nicht drauf. Ich weiß nur noch, dass in dem Terma Zeilen mit Meditations-Instruktionen stehen. Ich glau­be, er hat eine Vision von Gampopa gehabt, in der er zusätzliche Instruktionen bekommen hat zu dem Terma, wo Gampopa Unterweisungen gibt, wie man Schinä zu praktizieren hat, wie man Lhaktong, die verschiedenen Stufen in der Mahamudra-Praxis ausführt. Das ist Teil des Termas.

Lama Djangchub ist ein Fan dieser Gampopa Praxis. Er bestätigt, es war ein geschriebener Text-Terma, der von dem Tertön Djatsön Nyingpo hinter einem Felsen in einer Höhle ge­funden wurde. Dieser geschriebene Text wurde dann noch vervollständigt mit durch Erklä­rungen, die dieser Tertön in einer Vision direkt von Gampopa erhalten hat.

— Meditation —

Wir meditieren mit den Silben OM AH HUNG. Die Anweisungen sind genau wie während der Ermächtigung: OM ist das Ausatmen, AH ist die Pause und HUNG das Einatmen.

Welche Farben haben die Silben bei dieser Praxis?Wir visualisieren bei dieser Praxis die Silben OM AH HUNG nicht, es ist nur der Klang.

Ist es bei dieser Praxis vollkommen verboten, irgendetwas zu visualisieren?Wenn wir merken, dass wir zu sehr abgelenkt sind, der Geist zu aufgewühlt ist, dann können wir uns erneut als Phamo visualisieren, Gampopa in unserem Herzen. Oder wir können statt­dessen auch Gampopa gegenüber von uns im Raum visualisieren und im Herzen von Gampo­pa Saraha und im Herzen von Saraha Dordje Tschang.

Wenn wir also mehr Meditationsstütze brauchen, dann können wir das machen.

Wichtig ist, nicht zu denen: „Was soll denn ich jetzt für meine Meditation tun? Wie kann ich meine Meditation verbessern?“ Auf diese Art und Weise fabrizieren wir unsere Meditation. Bei dieser Meditation bleiben wir einfach im Segensstrom, im Bewusstsein, wir sind in der Gegenwart der drei Buddhakörper, der Kayas, die durch OM AH HUNG symbolisiert werden. Alles ist bereits da und es reicht, in dieser einfachen Gegenwart zu sein.

74

Page 75: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wenn ich diese Praxis mit OM AH HUNG sehr anstrengend finde, mach ich da etwas ver­kehrt?Wahrscheinlich denkst du zuviel darüber nach.

Aber am Anfang ist es doch unvermeidlich, dass man sich das alles nacheinander vorstellt?Es ist doch nur OM AH HUNG!

Ja, das geht ja noch, aber die ganzen Details beim Visualisieren von Phamo. Ich mach das alles hintereinander, man soll das doch als Ganzes visualisieren.Am Anfang ist es notwendig, dabei Stückchen für Stückchen durchzugehen, sich Zeit zu lassen, dann braucht man etwas Entspannung, weil es anstrengend war, sich das alles vorzu­stellen, und die Praxis mit OM AH HUNG oder stilles Verweilen ist am Anfang ein Lernpro­zess, der ein bisschen anstrengend ist.

Macht euch keine Sorgen über meinen Schnupfen, der fließt gut.

Diese Praxis kann während dem Leben nützlich sein, wo man noch atmet, aber dann im Bardo? Wie ist es da möglich sich damit zu verbinden und Ruhe zu finden.Im Bardo, wenn du OM sagst, findest du Erleuchtung im Körper der Buddhas, wenn du AH sagst, findest du Erleuchtung in der Rede der Buddhas und wenn du HUNG sagst, dann findest du Erleuchtung im Geist der Buddhas.

Mit OM beendest du dein Leben, mit AH findest du in die große Öffnung und mit HUNG manifestierst du dich als Buddha. Ihr denkt, das seien Witze, aber es ist die Wahrheit.

Mit der Silbe OM lässt du alles los, das ist das Ausatmen. Mit AH ist dir große Öffnung, nicht definiert, und mit HUNG geht man wieder zur Manifestation.

Es gibt auch eine andere Erklärung, wo OM mit dem Einatmen zusammenhängt, AH mit der Pause und HUNG mit dem Ausatmen, aber damit hängen andere Erklärungen zusammen.

Diese Vajra-Atmung OM AH HUNG ist sehr, sehr tiefgründig, da sind alle Belehrungen des Buddha enthalten.

Diese drei Silben symbolisieren auch die ganze Entstehungsphase, Kyerim und auch die Vollendungsphase, Dzogrim und auch dieser natürliche Zustand zwischen beiden.

Ich fühle Dinge im Körper und fühle mich dem gegenüber ein bisschen verloren und kann nicht verhindern, dass ich Angst habe.Das liegt daran, dass du wissen willst, du willst kontrollieren. Wenn du dem einfach keine Wichtigkeit beimisst, was in deinem Körper vor sich geht, dann gibt es kein Problem. Es gibt im Körper nichts, was den Geist in Unruhe versetzen oder stören kann, wenn nicht greifen.

Wir können Spannung haben im Körper, es kann was brennen, es kann sich was verkrampfen vielleicht vibriert alles oder wir spüren irgendwas ganz vage, alles Mögliche kann vor sich ge­hen. Wenn wir uns mit dem entspannen, dann haben wir Meisterschaft über unseren Geist, dann beherrschen wir unseren Geist und es geht einfach vorbei. Aber sobald wir ergreifen:“ Woher kommt das? Was bedeutet das? Ist es gefährlich?“ und es kontrollieren wollen, ver­krampfen wir uns und das ganze wird schwierig. Es ist egal, ob das während der Meditation ist oder anschließend. Im Moment, wo wir ergreifen, ist es problematisch.

Während der Meditation öffnest du dich, d.h. dass die Dinge im Körper dann anders zirku­lieren. Kleine Knoten lösen sich, die Energie zirkuliert anders, weil dieses Loslassen da ist. Der ganze Organismus ordnet sich anders und das ist wichtig, einfach geschehen zu lassen und keine Angst zu haben vor dieser Öffnung.

75

Page 76: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wie lautet die Erklärung zu OM AH HUNG, wenn man beim OM einatmet?Dieselben Sachen, die ich für das HUNG gesagt habe, gelten dann für das OM.

Ich möchte diesen Moment der Öffnung beim AH verlängern und ruhen, ohne etwas zu tun.Du kannst auf drei AHs meditieren: Ausatmen AH, Pause AAAH, Einatmen AH.

Ihr denkt wahrscheinlich wieder, das sei ein Witz. Die kürzeste Erklärung des gesamten Dharma ist AH. Die ganze Prajnaparamita ist darin zusammengefasst. Die Meditation auf das AH enthält alles, es ist des Nicht-Ergreifen beim Ausatmen, das Nicht-Ergreifen in der Pause, das Nicht-Ergreifen beim Einatmen. In dieser Einheit von Manifestation und Leerheit ist die ganze Prajnaparamita enthalten. All das ist enthalten im AH.

Was wir realisieren müssen, ist, dass diese Pause nicht aufhört. Wir müssen realisieren, dass es da ist, wenn wir einatmen, wenn wir ausatmen. Diese Pause, diese Öffnung des Geistes ist immer präsent.

Zwölfte Unterweisung, 6. 8. 04Wir machen heute weiter mit den Belehrungen zur Paramita der meditativen Stabilität. Von den drei Formen der meditativen Stabilität haben wir uns bereits die erste angeschaut, die spürbar glücklich machende meditative Stabilität.Wir haben gesehen, dass diese Vertiefungen, von der Gampopa und auch die anderen erleuch­teten Meister sprechen, nicht einfach zu verwirklichen sind.

Aber es gibt eine Möglichkeit, diese meditative Stabilität zu entwickeln und da gibt es einen Weg, der vom neunten Karmapa beschrieben wurde im Ngedön Gyamtso dem „Ozean des wahren Sinnes“. Das sind Meditationsanleitungen, die den Schülern der Kagyü Linie gegeben werden, es ist ein progressiver Weg, wie wir langsam unseren Geist befrieden, beruhigen können. Die erste Etappe auf diesem Weg nennt man Wasserfall, da gibt es noch sehr viele Gedanken, die an einem vorbeirauschen wie ein Wasserfall, aber es ist schon ein kleines biss­chen Abstand da. Bei der zweiten Stufe beruhigt sich der Geist noch weiter, es strömen noch viele Gedanken, aber es ist schon eher wie ein Fluss. Dann verlangsamt sich diese Bewegung noch mehr und dieser Fluss tritt ein in einen Ozean. Das ist dann wirklich eine meditative Versenkung, samten oder dhyana.

Wenn wir mit dieser meditativen Versenkung weitermachen, die einem Ozean gleicht – einem Ozean, wo kein Wind ist; einem Ozean ohne Wellen, ganz ruhig – dann erscheinen Qualitä­ten, und das ist die zweite Form meditativer Stabilität:

2. Qualitäten hervorbringende meditative Stabilität.Gampopa schreibt dazu:

Hiervon gibt es zwei Formen: die spezielle und die gemeinsame. Die spezielle Form sind die vielfältigen, unfassbaren, grenzenlosen Versenkungen, die zu den zehn Kräften (der Bodhisattvas) gehören. Da Hörer und Alleinverwirklicher nicht einmal ihre Namen ge­hört haben, können sie diese auch nicht praktizieren.Wenn sie heißt ‚speziell’ oder außergewöhnlich, dann bedeutet das: vom Mahayana, d.h. durch das große Fahrzeug. Und wenn da steht ‚gemeinsam’ oder im Französischen gewöhn­lich, dann betrifft das das kleine Fahrzeug. Gemeinsam, weil es Belehrungen gibt, die allen Buddhisten gemein sind. Was ist speziell oder außergewöhnlich am Mahayana? Das ist diese Qualität der Liebe.

Diese spezielle Form der Versenkung ist die Versenkung ab der achten Bodhisattvastufe, also von sehr großen Meistern.

76

Page 77: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Diese gemeinsame Form beinhaltet alles, woran auch Hörer und Alleinverwirklicher An­teil haben, unter anderem die (acht) Befreiungen, die (acht) Versenkungen des Über­windens, die (zehn) Wahrnehmungen des Erschöpfens und die (vier) spezifischen, voll­kommenen Verständnisse. Diese Versenkungen tragen zwar einen gemeinsamen Namen, sie sind in ihrer Essenz aber keineswegs gleich.Für diese so genannten gemeinsamen Formen der Versenkungen existieren Namen, die es in allen verschiedenen Fahrzeugen gibt. Diese Formen der Versenkungen gibt es im Fahrzeug der Shravakas, im Fahrzeug der Pratyekabuddhas und im Fahrzeug der Bodhisattvas. Alle erfahren diese gemeinsamen Formen der Versenkung. Das ist eine gemeinsame Erfahrung von der ersten bis zur siebenten Bodhisattvastufe. Aber weil die Motivation bei den verschie­denen Praktizierenden unterschiedlich ist, ist es nicht wirklich das gleiche. Die Aspiration, der Wunsch des Bodhisattvas ist, dass er sich komplett geben möchte. Er hat diesen Wunsch, sich ganz zum Wohle der Wesen zu geben und den tiefen Wunsch wiederzukommen in den Existenzkreislauf, um den Wesen zu helfen. D.h. aufgrund dieser Aspiration sind diese Stufen der Versenkung anders als diese von den Pratyekabuddhas und der Shravakas, deren Mo­tivation es ist, sich so schnell wie möglich zu befreien.

Diese verschiedenen Qualitäten werden wir uns nicht im Detail anschauen, weil es uns eigent­lich noch wenig betrifft. Wir sind gerade damit beschäftigt, dass wir ein bisschen Abstand ge­winnen zu unseren Gedanken, ein bisschen Abstand zu dem Wasserfall unserer Gedanken. Wir sind noch damit beschäftigt, diesen Fluss der Gedanken zu beruhigen, um dann in der Lage zu sein, die einzelnen Gedanken sehen zu können. d.h. wir sind noch nicht in dieser Form der Versenkung.

3. Das Wohl der Wesen bewirkende meditative StabilitätAuf der Basis welcher meditativen Sammlung auch immer, kann es zahllose körperliche Ausstrahlungen geben. Durch diese Meditationen werden die elf hilfreichen Handlungen ausgeführt, wie zum Beispiel Wesen in ihren Bedürfnissen beizustehen usw.Wir sind davon weit entfernt, dass wir zum Wohl der Wesen Ausstrahlungen aussenden können, aber wir können zum Wohl der Wesen Gedanken aussenden und wir können diese elf positiven Handlungen ausführen, die zur Disziplin gehören. Wir können andere unterstützen, wenn sie dabei sind, etwas Positives zu tun. Wir können anderen helfen, wenn sie sich in Schwierigkeiten befinden, Dharmaunterweisungen geben, wenn es angebracht und erwünscht ist. All das aber in einem einzigen Körper.

Je größer die geistige Stabilität bei dieser Aktivität ist, desto weniger werden wir durchein­ander gebracht oder sind wir verwirrt von allem, was vor sich geht. Das heißt, es ist nötig eine gewisse meditative Stabilität zu haben.

Und dann spricht Gampopa von geistiger Ruhe und intuitiver Einsicht, also Schinä und Lhak­tong bzw. Samatha und Vipassana.

Geistige Ruhe und Intuitive EinsichtWas ist mit den bekannten Begriffen „Geistige Ruhe“ und „Intuitive Einsicht“ gemeint? Geistige Ruhe (Samatha) ist das Ruhen des Geistes in sich selbst aufgrund von wahrer, tiefer Meditation. Behalten wir die Definition: Der Geist, der in sich selber ruht. Der Geist, der nicht zerstreut ist. Der Geist, der entspannt ist. Das ist Samatha, Schinä.

77

Page 78: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Die daraus hervorgehende intuitive Einsicht (Vipassana) ist das vollkommene, unter­scheidende Verständnis der Natur aller Phänomene wie auch dessen, was zu tun und was zu unterlassen ist. Das ist eine sehr interessante Definition: ‚Das unterscheidende Verständnis der Natur aller Phänomene’. Dieses Verständnis bedeutet, die Natur des Geistes zu sehen. Das ist nicht das gleiche wie diese Fragen, die man sich stellt was das Subjekt und das Objekt betrifft. Dieses Fragen gehört noch der Schinä-Meditation an, wo wir die geistige Ruhe nutzen, um in der Lage zu sein, dass wir unseren Geist ausrichten können auf einen Aspekt, den wir verstehen wollen, über den wir uns Fragen stellen. Aber das Verständnis selbst, es ist der Moment dieses Verständnisses, das ist Lhaktong, das ist Vipassana.

Wenn es hier heißt, dass sie verstehen, was zu tun und was zu unterlassen ist, so ist das tiefer als das Verständnis von Karma, welche Handlungen zu vermeiden sind und welche Hand­lungen zu kultivieren sind. Bei diesem Aspekt von Karma bleibt man noch im Bereich der re­lativen Realität oder Wahrheit. Hier geht es darum, was zu tun ist, damit man die Natur des Geistes erkennt und was ist zu unterlassen, was einen daran hindert. Das heißt, wir wissen, was uns dazu bringt, Zugang zur Natur des Geistes zu bekommen und was wir vermeiden sollen, weil es Hindernisse schafft.

Und da gibt es dann ein Verständnis, wo keine Zweifel mehr da sind, dass wir wissen: Ent­spannung führt zu dieser Realisation der Natur des Geistes, Entspannung, Öffnung des Geis­tes. Und da ist eine Sicherheit, eine Gewissheit da und es gibt keine Zweifel mehr. Da ist eine Gewissheit da, dass das, was zu vermeiden ist, Anspannung, Spannungen und Handlungen und Gedanken sind, die zu einer Verkrampfung führen, die zu Zweifel führen.

Das ist nicht hilfreich, um die Natur des Geistes zu realisieren, und dieses ist das unter­scheidende Verständnis, was zu Vipassana gehört, zu dieser tiefen, intuitiven Einsicht. Dieses Verständnis, zu wissen, was zur Befreiung führt, zur eigenen Befreiung und zur Befreiung der anderen.

Am Anfang haben wir Vertrauen, dass es gut ist, zu entspannen. Wir haben viele Belehrungen gehört, in denen das gesagt wurde, und wir haben Vertrauen: „Ja, das ist die richtige Rich­tung!“ Aber wenn in unserem Leben ein Hindernis auftaucht, wenn es in der Praxis Schwie­rigkeiten gibt, dann haben wir ganz spontan die Reaktion: „Was muss ich tun? Was kann ich tun?“ Das heißt, diese Kraft des Reagierens hat sich noch nicht erschöpft. Aber wenn die Realisation da ist, wenn die Natur des Geistes gesehen wurde, dann gibt es eine Gewissheit. Eine Gewissheit, dass es in keinem Fall nützlich ist, mit diesem Wollen, mit Willensan­strengung zu reagieren. Das wird sich ganz schnell erschöpfen. Man hat gesehen, es ist nicht nur ein Glaube, es ist eine Gewissheit da, dass das Loslassen und das Sich- Öffnen uns wirklich hilft, die Hindernisse zu überwinden..

Mit geistiger Ruhe ist die eigentliche meditative Stabilität gemeint und mit intuitiver Einsicht der Aspekt der Weisheit.Das heißt Lhaktong, Vipassana ist bereits die Paramita der Weisheit, Prajnaparamita.

Heute gibt es sehr viele verschiedene Meditationsformen, die Vipassana genannt werden, z.B. im Theravada gibt es eine Praxis der geistigen Stabilität, die Vipassana genannt wird. Aber diese Praxis selbst ist nicht Vipassana, es ist die Praxis, die zu Vipassana führt, da besteht eine gewisse Verwirrung. Es ist der Name der Praxis, die erst dorthin führt. Vipassana selbst, das ist erst der Moment des Sehens, das ist nicht die Methode, die da hin führt, sondern das ist erst der Moment, in dem Erkenntnis entsteht.

Die gleiche Verwirrung besteht hinsichtlich eines Ausdrucks, der ziemlich weit verbreitet ist. Man sagt: „Ich praktiziere Lhaktong!“ Das ist nicht möglich. Erstens ist es nicht möglich,

78

Page 79: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Lhaktong zu praktizieren und zweitens ist es nicht „Ich“ praktiziere. Lhaktong gehört bereits zum Mahamudra. Lhaktong, das ist bereits die Prajnaparamita.

Wir können ein intelligentes Schinä praktizieren, ein Schinä, das unseren Geist öffnet für Momente von Lhaktong. Es ist also nicht korrekt zu sagen: „Ich praktiziere Lhaktong!“

Wenn man praktiziert, dann ist das immer Schinä, Samatha. Wir haben das Gefühl, wir prakti­zieren, und sobald es auch nur die leiseste Idee gibt, da gibt es ein Ich, das praktiziert, dann ist das der Beweis dafür, dass ein dualistisches Bewusstsein vorhanden ist. Das ist dann Schinä.

Das Gleiche gilt für Mahamudra. Wir können nicht Mahamudra praktizieren. Wir können die Unterweisungen der Schule praktizieren, die zur Übertragung des Mahamudra gehören, aber wir können nicht Mahamudra praktizieren. Mahamudra praktiziert sich ganz von alleine. Das sind die Momente, die jenseits des Praktizierens liegen, das sind die Momente jenseits von Anstrengung, das sind die Momente jenseits von Handeln.

Wenn jemand bereits selber diese Nondualität des Mahamudra erfahren hat, dann kann er sagen, „ich praktiziere Mahamudra“, wenn er sich in einem Moment der Dualität befindet. Das heißt, er erinnert sich daran, dass er diese Dimension des Mahamudra berührt hat, er ist in der Erinnerung an Mahamudra. Wenn dann erneut ein Loslassen stattfindet, ist wieder Maha­mudra da. Diejenigen, die diese Öffnung des Geistes noch nicht erfahren haben, können nicht sagen, „ich praktiziere Mahamudra“. Es gibt nicht den Moment der Erinnerung daran. Sie können die Instruktionen, die Anweisungen praktizieren, die zu Entspannung führen, die uns dahin leiten.

Ich höre von Schülern oft die Bitte: „Ich will Mahamudra praktizieren, unterrichte mich bitte in Mahamudra!“ Und darauf antworte ich: „Seit eh und je unterrichte ich euch in Mahamudra!“, denn all die Unterweisungen zu Schinä gehören zum Schinä des Mahamudra. Besonders die Art und Weise wie Gendün Rinpoche Schinä unterrichtet hat, ist in vollstän­diger Harmonie mit Mahamudra. Es wird unterrichtet auf eine Weise, die so wenig Hinder­nisse wie möglich schafft, um Mahamudra zu realisieren, damit sich die Natur der Dinge manifestieren kann.

Im Mahamudra gibt es nicht sehr viel zu unterrichten. Der Schlüsselpunkt ist, dass unser tiefer Geist selbst der Geist aller Buddhas ist.

Der Weg soll keine künstlichen Störungen erzeugen, die unsere tiefe Natur verschleiern. Das bedeutet, natürlich zu bleiben ohne Künstlichkeit, ohne Willensanstrengung, es soll sich manifestieren, was ist. Das ist der Weg der Praxis des Mahamudra. Das heißt, dass wir in der Meditation unser Ich loslassen, dass die Meditation von alleine geschieht. Der Geist erkennt sich selbst. Durch seine eigene Natur erkennt er seine eigene Natur.

In der Aktivität, im Handeln ist es genauso. Wir lassen unseren Geist natürlich, offen, sodass sich spontan alles ausdrückt zum Wohle der Wesen. Das ist die Handlung, die Aktion des Ma­hamudra.

Die Frucht ist die Buddhanatur, die sich vollkommen und vollständig manifestiert: Buddha­schaft, die vollkommene Erleuchtung, ohne Schleier. Die Frucht ist das, was schon immer da war, seit eh und je. Wir waren noch nie von unserer Buddhanatur getrennt, sie ist da. Wir müssen aufhören, zu verhindern, dass sie sich manifestiert.

Die verschiedenen Etappen von Schinä, Samatha sind Fortschritte, wie man mehr und mehr alles loslässt, was künstlich unseren Geist stört, aufwühlt, damit wir immer natürlicher werden.

Das lernt man auf dem Kissen. An einem Ort, in einer Stabilität, wo es nichts anderes zu tun gibt.

79

Page 80: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Und auch die Realisation findet in der Meditation statt, eigentlich fast immer. Das ist der Moment, in dem sich der Geist ganz öffnet, und aufgrund dieser geistigen Stabilität ist er in der Lage, sich vollständig zu öffnen. Das ist der Moment in der Meditation, in dem zum ersten Mal eine intuitive Einsicht aufscheint, die Einsicht, das Verständnis der Natur der Dinge zu erlangen.

In ganz seltenen Fällen kann es auch in einer Situation sein, in einer Aktivität, in der dieser Moment der Realisation erlebt wird. Ganz plötzlich gibt es da einen Moment der Meditation, und diese vollkommene Offenheit des Geistes zeigt sich.

Wer sich nicht durch Praxis auf dem Kissen vorbereitet hat, wird nicht wissen, wie er diesen Moment wieder finden kann. Dieser Moment taucht überraschend auf, und der Ungeübte kennt nicht den Weg, um wieder dorthin zu gelangen.

Aber derjenige, der sich geübt hat in den Phasen der Schinä-Meditation, derjenige, der die Pa­ramitas praktiziert hat – Freigebigkeit, Disziplin, Geduld und freudige Ausdauer – der hat den Boden gut vorbereitet. Wenn dann ein Moment der vollkommenen Offenheit des Geistes ent­steht, dann ist es für ihn leichter die Bedingungen wieder zu erzeugen, die günstig sind, damit noch einmal so ein Moment entsteht, ein Moment, in dem sich diese vollkommene Offenheit des Geistes manifestiert.

Wir finden auf Seite 34 unten noch Anweisungen, wie man meditative Stabilität noch verstär­ken kann, wie man sie reinigen kann. Das ist identisch mit dem, was wir schon bei den anderen Paramitas gesehen haben. Der essentielle Punkt ist, dass wir uns nicht mit der Praxis identifizieren, d. h. dass wir ständig widmen. Diese Widmung ist eine Des-Identifikation. Es gibt niemanden, der meditiert. Es gibt da kein Ich, das etwas für jemand anderen tut, der als getrennt von einem selbst betrachtet wird. Dadurch wird die Meditationspraxis stabilisiert. Solange es ein Ich gibt, das praktiziert, ist da keine Stabilität, ist die Praxis noch nicht rein, es gibt noch sehr viel Greifen.

Wenn jemand, der gut geübt ist in diesem stabilen Gegenwärtig-Sein, voller Einfachheit – das ist der beste Ausdruck, um diese Meditation zu beschreiben – ganz einfach gegenwärtig zu sein und stabil, der wird nicht zerstreut sein. Und dann gibt es auch eine Stabilität gegenüber den Emotionen. Auch Liebe und Mitgefühl werden stabil sein. Das heißt, wir sind nicht be­einflusst von all den emotionalen Gedanken, die im Geist auftauchen können.

Die Momente der Offenheit des Geistes werden immer häufiger werden, und es wird weniger Hochs und Tiefs geben im Leben und in den geistigen Zuständen. Die geistige Offenheit manifestiert sich dann Tag für Tag. Eine große Stabilität, die auch dazu führt, dass die Aktivi­tät etwas wird, worauf man zählen kann, worauf man vertrauen kann. Nicht großer Elan an einem Tag und am nächsten Tag ein depressiver Zustand!

Der Schlüssel für diese Stabilität ist die tägliche Praxis. Das schafft den ganzen Unterschied.

Fragen und AntwortenZu den Alleinverwirklichern: wenn sie Befreiung erlangen, manifestieren sie sich dann in einer anderen Welt? Wie kann man sich das vorstellen?Die Pratyekabuddhas gibt es in Zeiten, in denen die Belehrungen Buddhas nicht mehr präsent sind, nicht mehr erreichbar sind. Das sind Personen, die in ihrem vorherigen Leben Dharmabelehrungen erhalten haben, sie haben dann eine menschliche Wiedergeburt erlangt und aufgrund ihrer Übung, ihres Trainings und ihrer Weisheit sind sie in der Lage, selber über die zwölf Glieder abhängigen Entstehens nachzudenken und haben darin ein vollständiges Verständnis. Aber es fehlt ihnen an Verdienst, um in die Aktivität der Bodhisattvas einzu­

80

Page 81: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

steigen. Das heißt, nach ihrer Erleuchtung, nach ihrem Parinirwana werden sie keine Wieder­geburt annehmen, sondern sie werden sich in der Buddhanatur auflösen.

Wenn man sagt, sie lösen sich in der Buddhanatur auf, dann heißt das, dass ihr Geist eins wird mit dem Geist der Buddhas. Doch nach den Belehrungen in den Sutras des Mahayana, sagt man, dass trotzdem eine Spur von Identifikation zurückbleibt. Sie identifizieren sich noch eine kleine Spur mit einem Samadhi-Körper. Es ist dann die Aufgabe der vollkommen er­leuchteten Buddhas, mit ihnen in Kontakt zu treten und sie zu ermutigen, auch noch den letz­ten Schritt zu tun zu einer vollkommenen Öffnung des Geistes, einer vollständigen Öffnung auch gegenüber allen Phänomenen, einer vollständigen Öffnung gegenüber den Bedürfnissen der Wesen. Das ist ein Schritt, der für sie sehr leicht ist.

Heutzutage gibt es keine Pratyekabuddhas auf der Erde. Sie werden nur aufgeführt, damit die Liste vollständig ist. Aber es gibt heutzutage keinen Weg, keine Praxis für Pratyekabuddhas.

Eines Tages hat Buddha zusammen mit Schülern am Ufer eines Flusses einen Spaziergang gemacht. Da sahen sie am Ufer ein einsames Feuer. Ein Schüler fragte den Buddha: „Was ist das für ein Feuer ohne Holz?“ Der Buddha antwortete: „Das ist ein Pratyekabuddha, der die Versenkung des Samadhis des Feuers praktiziert.“ Gampopa hat – wie wir gesehen haben – in seinem Zimmer Meisterschaft über das Element des Feuers gezeigt. Und dieser Pratyekabud­dha war sich über die Gegenwart Buddhas nicht bewusst, er war einfach in seine Praxis versenkt, in der er ein Element nach dem anderen meisterte.

Frage nicht übersetztIch glaube, du verwechselst da zwei Ebenen. Jemand, der seinen persönlichen Frieden schützt, ist kein Mahamudra-Praktizierender. Wenn jemand Angst hat, dass er von Bewe­gungen, Aufgewühltheit zerstreut wird, Anhaftung an gewöhnlichen Frieden und Ruhe hat, dann ist das ein Zeichen, dass er anfängt, Schinä zu praktizieren, dass er den Geschmack von Ruhe und Frieden erhält und daran anhaftet. Das ist noch kein Mahamudra-Praktizierender. Aber selbst zu versuchen, diese Ruhe zu konservieren oder zu schützen, ist nicht unbedingt ein Fehler, denn am Anfang ist die geistige Stabilität eine kleine Pflanze, die sehr schnell zer­stört, zertreten werden kann. Sie hat noch nicht viel Kraft, also ist es notwendig, sie am Anfang unserer geistigen Stabilität zu schützen. Und dann ist es wichtig, einen Rahmen zu schaffen, in dem man diese kleine Pflanze schützt und sie kultivieren kann. Wenn die Stabili­tät von Schinä größer wird, dann kann man mehr Risiken eingehen, man kann sich in schwie­rigere Situationen wagen, ohne dass diese Stabilität dadurch in Gefahr gerät. Später kann sich die Stabilität sogar am Kontakt mit Herausforderungen in unserem Leben nähren. Es wird eine Herausforderung, um noch mehr Stabilität zu entwickeln, und da kann sich dann noch mehr Liebe entwickeln, noch mehr Offenheit des Geistes, noch mehr Geduld, Mitgefühl. Wenn die Stabilität des Mahamudra erlangt ist, kann man jedes Risiko eingehen, denn es gibt kein Greifen mehr. Es gibt keine Identifikation im Handeln. Es ist eine Realisation vorhanden, sodass in den Situationen wirklich kein Greifen mehr ist, und dann gibt es auch nichts mehr, was zu schützen ist.

Aber auch ein Mahamudra-Praktizierender kann für Momente in ein Greifen fallen, in denen er sich erneut identifiziert. Da kann es dann sein, dass er weniger aktiv ist, sich mehr zurück­zieht. Aber die wirkliche Mahamudra-Aktivität ist eine Aktivität ohne ein Ziel, das ist eine grenzenlose Aktivität, eine Aktivität, die von einem Nicht-Greifen motiviert ist. Und ein Nicht-Greifen ist automatisch Liebe und Mitgefühl.

Gestern haben wir eine Meditation gemacht, in der wir wie ein offenes Haus waren, ein Haus, das für alle Wesen geöffnet ist. Das war eine Metapher für Bodhicitta. Aber in Samsara ist der Geist der Wesen vollkommen offen, er ist vollkommen offen für alle Winde, die von allen Richtungen wehen und das ist Störung. Von diesem Haus war vorhin nicht die Rede.

81

Page 82: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Wenn wir den Geist der Wesen in Samsara mit einem Haus vergleichen, so ist das ein Haus ohne Fenster und Türen und doch sind wir davongetragen von allen möglichen Einflüssen. Wir sind ohne jegliche Stabilität davongetragen. Aber meditative Stabilität bedeutet, dass eine Verwurzelung entsteht, die es ermöglicht, dass wir uns nicht davontragen lassen, dass wir nicht davongetragen werden von den Gedanken oder den Emotionen, die aufsteigen oder von den Schwierigkeiten, die von außen kommen.

Es gibt eine samsarische Art und Weise, Stabilität zu erzeugen, d.h. wir bauen ein paar Fens­ter und Türen in unser Haus ein und dann schließen wir das alles hermetisch ab. Das bedeutet, wir machen Anstrengung, um uns zu konzentrieren, wir rezitieren das Mantra, um uns vor in­neren und äußeren Einflüssen zu schützen. Wir benützen das Mantra, um jeden Gedanken, der im Geist auftaucht, niederzuschlagen. Es ist also sehr viel Anspannung da und wenn wir ge­schickt sind, gelingt es uns möglicherweise, eine Art von Stabilität und Ruhe zu erzeugen.

All das sind Konzentrationen, die auf Willenskraft beruhen.

Die Praxis jedoch, die uns zur Befreiung führt, beruht auf Analyse; auf einer Analyse dessen, was unseren Geist wirklich stört. Es ist der Wind der Emotion, die Tatsache, dass wir diese Gedanken ergreifen, wir geben ihnen eine Existenz. Da ist z.B. der Wind der Emotion Wut und wir sagen uns gleich, „Ich habe Recht! So und so dürfte das wirklich nicht sein!“ und es entsteht eine ganze Kette von Gedanken. So lassen wir uns von diesem Wind dahinreißen. Immer wenn wir einen Widerstand aufbauen gegen den Wind der Emotionen, der aus allen vier Richtungen kommt, werden wir dahingetragen und ebenso werden wir dahingetragen, wenn wir anhaften. Es gibt diese zwei Möglichkeiten: anhaften oder ablehnen. Beide Male werden wir davongetragen von den Winden der Emotionen, die aus den vier Himmelsrich­tungen der Emotionen kommen.

Aber die wirkliche Meditation, die wirkliche Stabilität ist ein Nicht-Greifen.

Die Praxis von Mahamudra ist eine Praxis des Nicht-Greifens, eine Praxis, in der vollkom­mene Offenheit da ist. Man wird wie der Raum, der Raum wird nicht berührt von den Winden, die Winde können blasen, der Raum reagiert nicht darauf. So ist Mahamudra-Praxis eine Praxis, in der es kein Greifen gibt, keine Reaktion.

Die Praxis von Bodhicitta basiert auf einem Kontakt mit dem Raum, einem Kontakt mit der letztendlichen Dimension des Geistes. Da kann sich alles manifestierten, es ist wie ein offenes Haus, in dem sich alles manifestieren darf, es gibt keine Angst, keine Angst vor den anderen. Es gibt dieses Bedürfnis nicht mehr, sich gegen die Emotionen, gegen die anderen, gegen je­den Kontakt abzuschirmen, es ist eine Offenheit, ein Nicht-Greifen. Sämtliche Türen und Fenster sind offen, sämtliche Schwierigkeiten dürfen sich manifestieren, es ist kein Greifen da. Und dort, wo kein Greifen ist, sind immer Liebe und Mitgefühl.

Mein Ratschlag an Euch ist, diese zwei Momente abzuwechseln, so wie wir ein Ausatmen haben und ein Einatmen. Es gibt Momente, in denen es notwendig ist, sie zu schützen, in denen wir einen schützenden Raum aufbauen, um unsere meditative Stabilität zu schützen, diese kleine Pflanze der meditativen Stabilität zu kultivieren. Und dann – wie ein Ausatmen – gibt es den Alltag, wenn wir nach außen gehen und dann wieder ein Einatmen, wenn wir uns zurückziehen, vielleicht zweimal am Tag zum Praktizieren, wenn wir auf unserem Kissen Qualitäten entwickeln, die dann wieder mit dem Ausatmen nach außen gehen und in der Ak­tivität nützlich sind. Aber auch wenn wir uns auf dem Kissen befinden, ist es notwendig, dass – wenn wir vielleicht außen einen geschützten Raum entwickelt haben – im Herzen alle Fens­ter und Türen offen sind, dass wir mit den Wesen praktizieren. Äußerlich geschützt, aber in­nerlich ist die Arbeit eigentlich das Öffnen.

Wenn wir uns umschauen: es gibt sehr viele Wesen, die einen solchen kleinen Moment der Ruhe, der Zurückgezogenheit gar nicht kennen. Der ganze Tag ist ausgefüllt mit Aktivitäten

82

Page 83: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

und wenn Müdigkeit da ist, dann gibt es nur noch die Möglichkeit zu schlafen, das ist Zeit ohne Bewusstsein, d.h. viele kennen den Moment mit der Qualität des vollkommen klaren Be­wusstseins gar nicht, in dem wir wirklich mit Qualitäten in Kontakt treten können, die in uns vorhanden sind. Wenn wir schauen, so sind die Menschen meistens mit den beruflichen Dingen beschäftigt, dazu kommen die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die Verpflich­tungen der Familie gegenüber, dann ist man erschöpft und fällt ins Bett. Am nächsten Tag wiederholt sich das alles.

Aber im Dharma lernen wir, dass wir Momente mit einer hohen Qualität erzeugen, jeden Tag ein bisschen Raum schaffen. Dafür haben wir diese Momente, in denen wir studieren, kon­templieren, meditieren können, und das führt zu einer zusätzlichen Quelle von Verständnis, von Offenheit und sogar von Wohlbefinden. Sonst kennen wir als Unterbrechung all dieser Aktivitäten nur noch den Schlaf, aber im Schlaf können wir nicht nachdenken, im Schlaf ist das Bewusstsein nicht da. Es ist also gut, die besten Momente des Tages dazu zu nehmen, um zu schauen, um sich zu entspannen, um auch wieder aufzutanken. Diese formelle Praxis, von der man sagt, dass es wichtig sei, sie täglich auszuführen, sind diese Momente, in denen wir in Kontakt kommen können mit dieser Quelle.

Unsere menschliche Existenz ist eine Existenz, von der man sagt, sie sei privilegiert. Dieses Privileg sollten wir wirklich nutzen. Was ist dieses Privileg? Es besteht darin, dass wir einen Freiraum haben, wir haben Freizeit, wir haben Momente der Pause, in denen wir Praxis üben können: Reflexion, Kontemplation und Meditation. Und wenn wir dieses Privileg nicht nutzen, wozu ist es dann nütze, eine menschliche Existenz zu haben? Wir sollten dieses Privileg wirklich nutzen, um Befreiung zu erlangen.

— Meditation —

Dreizehnte Unterweisung, 7. 8. 04Ich möchte den Kurs heute beenden mit einem Freudengesang, den Gampopa am Ende seines Lebens gesungen hat und der sich „Der Yoga der Freude“ nennt. Ihr findet ihn auf den Seiten, die ich Euch zu Anfang des Kurses gegeben habe.

Es ist eine große Freude, mit euch diesen Kurs erlebt zu haben und ich habe das Gefühl, dass dieser Gesang „Der Yoga der Freude“ sehr gut passt, um diesen Kurs abzuschließen.

Wer den Namen eines heiligen Lamas gehört hat, sollte die Beschäftigung mit diesem Leben hinter sich lassen und auch die acht weltlichen Anliegen weit von sich weisen.Den Namen eines heiligen Lamas zu hören bedeutet nicht nur, einen Lama gehört zu haben, sondern einem lebenden Beispiel der Befreiung begegnet zu sein und wirkliche Inspiration erfahren zu haben. Natürlich ist damit nicht nur der Name gemeint, das sind auch die Un­terweisungen dieses Lamas, all das, was man ein Lebensbeispiel nennt, das Handeln und die Unterweisungen des Lamas. Wenn man solch einem Lama begegnet, dann merkt man, dass Befreiung möglich ist und richtet sein ganzes Leben darauf aus.

Wenn es da heißt, dass wir die Beschäftigung mit diesem Leben hinter uns lassen, dann be­deutet das natürlich nicht, dass wir die Verantwortung, die wir in diesem Leben mit Familie, Kindern, Beruf und sonstigem eingegangen sind, plötzlich nicht mehr erfüllen. Aber wir ge­ben dem ganzen Leben einen anderen Sinn. Wir machen weiter mit den Aufgaben, zu denen wir uns verpflichtet haben, aber sie sind nicht mehr das Kernanliegen unseres Lebens. Das Wichtigste im Leben wird, Befreiung zu erlangen, sich auf den Tod und die nächsten Leben vorzubereiten bzw. dieses Leben so zu nutzen, dass wir im Tod dann volle Befreiung

83

Page 84: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

erlangen. Das ändert sich, nicht notwendigerweise das eigentliche Handeln und Tun, sondern die Sichtweise, die Prioritäten haben sich wirklich vertauscht. Das bedeutet, das Beschäftigt­sein mit diesem Leben hinter sich zu lassen.

Wenn wir dann so weit sind, dass wir unsere Verantwortung erfüllt haben und dass wir frei sind, unser Leben dem Dharma noch intensiver widmen zu können, dann tun wir das. Das ist dann die klare Folge davon, aber zunächst müssen wir die Schritte im Alltag gehen und da geht es um die Änderung der Sichtweise.

Wenn Ihr jetzt nach Hause zurückkehrt und mit all Euren Verantwortlichkeiten konfrontiert werdet, dann stellt sich die Frage nicht, jetzt ganz auszusteigen und nur noch Dharma zu prak­tizieren. Die meisten sind gar nicht dazu in der Lage, den ganzen Tag Dharma zu praktizieren, das würde nach kurzer Zeit schon unbefriedigend, langweilig oder eine zu große Heraus­forderung sein. Jetzt geht es erst einmal darum, alle Aktivitäten im Alltag zur Dharmapraxis zu machen, jede Situation, egal, wo wir sind, zu nutzen und zu einer Praxis von Achtsamkeit, Freigebigkeit, Liebe und Mitgefühl und Verständnis zu machen, immer präsenter zu werden bei all dem, was wir tun. Wenn uns das gelingt, im Laufe der Jahre alle Situationen im Alltag zu transformieren, dass sie zu Dharmapraxis-Situationen werden, und wir darin stabil ge­worden sind, dann stellt sich die Frage: „Ja, was ist jetzt der nächste Schritt? Wie kann ich jetzt noch tiefer, noch weiter in den Dharma hinein finden?“ Dann ist vielleicht ein Moment gekommen, in dem es möglich ist, auch ganztägig über lange Zeit den Dharma zu prakti­zieren.

Wenn Gampopa weiter singt und sagt, dass wir die acht weltlichen Anliegen weit von uns weisen sollten, ist das nur eine Fortsetzung dessen, was es heißt, in diesem Leben damit beschäftigt zu sein. Damit ist gemeint, persönlichen Gewinn aus Situationen ziehen zu wollen, Anerkennung zu bekommen, berühmt zu werden, gelobt zu werden, in jeder Hinsicht für sich den Vorteil zu haben und anderen den Nachteil zu lassen. Diese Einstellung wird die acht weltlichen Dharmas genannt. Damit ist verbunden, dass wir Kritik vermeiden wollen, dass wir Tadel vermeiden wollen, dass wir vermeiden wollen, dass man uns herabwürdigt, dass wir eine Niederlage einstecken müssen. Dieses: Ich möchte besser sein und lasse die Schwierigkeiten den anderen, das ist die Einstellung, die sich durch die Dharmapraxis ändert.

Gampopa singt weiter:

Die Freude des Yogas frei von allem Haften, das ist die Freude jenseits des Intellekts, frei von begrenzenden Sichtweisen!Das Ziel unseres Lebens ist, Befreiung vom Ich-Anhaften zu erlangen. Der Dharma selbst ist der Yoga des Nicht-Haftens. So können wir den Dharma auch nennen, und die Freude der Dharmapraxis ist die Freude dieses Yogas frei von allem Haften. Das ist die Freude jenseits des Intellekts. – Intellekt steht hier für das Bewusstsein, das im Relativen, in der Begegnung mit der Welt immer ein Ich und anderes formuliert. Es ist hier nicht indirekt die Fähigkeit zu verstehen gemeint, sondern das dualistische Bewusstsein wird hier Intellekt genannt. –

Das ist die Freude, die aus dem Bereich jenseits des dualistischen Bewusstseins kommt, die frei ist von den begrenzenden Sichtweisen: „Ich existiere, andere existieren“ oder auch von nihilistischen Sichtweisen: „Nichts existiert, nichts hat Sinn!“ frei von all diesen begren­zenden Sichtweisen, die fixieren. Alle Fixierungen begrenzen den Geist und schränken die Freude ein.

Wenn wir in diesem Nicht-Haften sind, lösen sich die Bestrebungen zu fixieren in unserem Geist auf. Wir sind dann nicht mehr in dieser Suche nach einer Bestätigung „Ich bin!“ oder „Ich bin nicht!“. Wir leben mit dem Paradox zugleich zu sein und dieses Ich, das zu sein scheint, nicht finden zu können. Es ist ganz offensichtlich, dass ich Euch hier täglich unter­

84

Page 85: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

richtet habe. Dieses Ich Lhündrub scheint es zu geben als eine Einheit, die immer wieder hierher kommt und ein paar Worte sagt. Aber gleichzeitig: wenn Lhündrub in seinen Geist schaut, dann ist da nichts zu finden. Wo ist denn dieser Mensch? Wo ist das Ich? Wo ist das Subjekt? Und dieses Nicht-Finden relativiert das ganz offensichtliche Sein. Da ist auch ein Sein. Aber dieses Sein ist letztendlich nicht zu finden. Mit diesem Paradox zu leben, bedeutet, keine soliden Standpunkte einzunehmen, keine Fixierungen zuzulassen, die eine beschrän­kende Sichtweise sind. Wenn wir jenseits dieser beschränkenden Sichtweise leben, dann kom­men wir in Fluss. Dann sind wir im Fluss des Sich-gegenseitig-Durchdringens von relativer und letztendlicher Ebene, immer sind gleichzeitig beide Ebenen da: Ja, da ist etwas und doch ist es letztendlich nicht zu definieren. Da bleibt immer diese Offenheit und weil dieses Nicht-Festlegen überall mitschwingt, kommt das ganze Leben in Fluss. Daraus entsteht die Freude, bei allem in Fluss zu sein, nicht festzuhalten, nichts zu fixieren, sich mit nichts zu identifi­zieren.

Wenn Gampopa uns hier von der Freude des Yogas frei von allem Haften singt, dann spricht er uns von der Freude der Nicht-Identifikation, des Nicht-Festlegens eines Ichs und eines anderen.

Sich einfach nicht vom Dämon der Unachtsamkeit täuschen zu lassen,das ist die Freude des Nichtbegehrens der Meditation von Freude – Leerheit.Die Freude des Nichtbegehrens ist die Freude im Augenblick zu sein, ohne etwas anders zu wollen, ohne sich nach etwas zu sehnen, ohne einen Wunsch zu haben, dass jetzt im Moment gerade etwas anders sein müsste.

Wir haben in den letzten Tagen immer wieder die einfache Gegenwart praktiziert, das Gegen­wärtig-Sein in völliger Einfachheit. Gegenwärtig sein ist das, was Gampopa hier „sich nicht vom Dämon der Unachtsamkeit täuschen zu lassen“ nennt, d.h. achtsam zu sein, präsent zu bleiben, wirklich da zu bleiben und nicht abzugleiten in Gedankenketten, in Unachtsamkeit. Das ist das Element der Gegenwärtigkeit. Was wir einfache Gegenwärtigkeit nennen, bedeu­tet, eben nichts Komplizierendes im Geist zu haben, was etwas anders möchte als den gegen­wärtigen Zustand. Der gerade gegenwärtige Moment ist gut genug, er ist gerade so, wie er eben ist. Da einfach präsent zu sein, lässt Meditation entstehen. In dieser Meditation erfährt unser Geist große Gelöstheit, die Gampopa hier die „Freude des Nichtbegehrens“ nennt.

Einfach völlig im Nichtbegrifflichen verloren zu gehen, das ist die grundlose Freude spontanen Handelns.Die „grundlose Freude“, das ist ein wunderschöner Ausdruck, der genau das beschreibt, was sich als Freude im Geist ausbreitet, wenn wir den Dharma praktizieren. Es ist nicht so, dass uns etwas Bestimmtes glücklich macht, dass es äußere Anlässe gäbe oder Umstände, aufgrund derer wir glücklich wären, oder dass sich Freude ausbreitet, sondern diese Freude ist ganz einfach da als Ausdruck der Qualitäten unseres Geistes, der Natur unseres Geistes, sobald wir loslassen. Sobald wir loslassen, ist diese Freude da. Sie ist immer da als grundlose, nicht wei­ter zu erklärende Freude – es sei denn, man sagt, dass es eben einfach so ist, weil es die Natur unseres Geistes ist. Diese Freude begleitet jemanden, der im spontanen Handeln ist. Spon­tanes Handeln bedeutet erleuchtete Aktivität. Jemand, der in allen Situationen einfach ist, ohne persönliche Erwartungen, ohne etwas für sich selbst zu wünschen, wird spontan das tun, was in Übereinstimmung mit diesen Situationen ist und damit auch in Übereinstimmung mit all den Wesen, die in dieser Situation sind. Da es keine persönliche Erwartung gibt, kein Streben nach irgendeinem persönlichen Vorteil, wirken diese Handlungen natürlicherweise für das Wohl aller Beteiligten. Das ist die grundlose Freude, die jemanden begleitet, der

85

Page 86: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

einfach im Nicht-Begrifflichen aufgeht: einfach im Nicht-Begrifflichen verloren gehen. Das ist der Ausdruck, der hier benutzt wird als Übersetzung: sich völlig ins Nicht-Begriffliche hin­einfallen lassen. Verloren gehen bedeutet sich zu vergessen, nicht mehr die Vorstellung eines Ichs zu haben.

Bei solch einem Yogi, der im Nicht-Begrifflichen verloren geht, finden keine begrifflichen Mechanismen mehr statt, wie Rückmeldungen zum ‚central headquarter’, wo entschieden wird, ob das gut ist oder nicht, wo geschaut wird: „Soll ich das jetzt tun oder nicht? Was soll ich hiervon halten und was davon? Diese ganze Kontrollinstanz ist völlig überflüssig ge­worden im Geist eines Yogis, der frei von allem Ich-Anhaften ist. Kontrolle brauchen wir dort, wo emotionales Haften ist und wir aufgrund unserer Ich-Identifikation in Gefahr geraten, emotional zu handeln und anderen zu schaden. Da brauchen wir eine gewisse Achtsamkeit: „Hoppla! Was mache ich hier eigentlich?“, um uns eventuell auf die Finger klopfen zu können, wenn wir dabei sind, Schaden anzurichten. Aber je spontaner wir in der Nicht-Identi­fikation sind, desto weniger braucht es diese Kontrollen. Was Gampopa hier ausdrückt, ist das völlige Sich-Öffnen, Sich-Übergeben an die nonduale Dimension, in der die Dinge zum Woh­le aller Wesen geschehen.

Einfach nicht ins Extrem dualistischen Haftens zu fallen,das ist die Freude der Frucht, des klaren Lichtes.Das dualistische Haften als ein Extrem geistiger Haltung haben wir bereits erklärt. Wenn wir nicht in diese Fixierungen des dualistischen Haftens fallen, dann sind wir im klaren Licht. Klares Licht ist ein Ausdruck, der sich zunächst einmal auf den völlig offenen Geisteszustand bezieht, den ein erleuchtetes Wesen in der Nacht, im Tiefschlaf erfährt. Im Tiefschlaf ruht ein Yogi im klaren Licht. Aber dieses klare Licht – was ein anderes Wort für den Dharmakaya ist – das hört nicht auf, bloß weil man aufwacht. Es begleitet als grundlegende Dimension des Lichthaften alle Situationen im Laufe des Tages und stellt sich als einzig bleibende Erfahrung sofort ein, sobald keine sonstige Aktivität stattfindet, ist aber wie der Raum, in der all diese Aktivität stattfindet.

Einfach völlig im Streben auf spätere Zeiten zu weilen,das ist die Freude der Natur der Dinge jenseits des Intellekts.Wenn wir diesen Satz lesen, dann denken wir zunächst: „Moment mal – Streben nach spä­teren Zeiten! Darin ständig zu verweilen? Das ist doch jemand, der nicht in der Gegenwart ist, der ständig im Wunschdenken ist!“ Hier haben wir es mit Gampopa zu tun, der am Ende sei­nes Lebens als völlig Erleuchteter ständig in spontanen Wünschen, in spontanen Gedanken für das Wohlergehen aller Wesen für alle zukünftige Zeiten ist, und der völlig in dieser Herzensöffnung aufgeht, ständig Wünsche zu machen für das Wohlergehen aller und dafür, dass sich die erleuchtete Aktivität ständig fortsetzt. Dabei ist er nicht im mindesten von der Präsenz des gegenwärtigen Augenblicks abgelenkt. Diese Wünsche ergeben sich automatisch, sie entstehen ganz von selbst im Geist. Darin völlig aufzugehen, ist große Freude.

Wenn wir davon sprechen, dass die Freude der Natur der Dinge jenseits des Intellekts ent­springt, dann bedeutet das, dass diese spontanen Wünsche des erleuchteten Meisters einfach aus der Natur der Dinge entspringen. Es ist nicht ein Suchen nach Worten oder ein Formu­lieren von Gedanken. Es ist ein Wunsch, dass der erleuchtete Geist in seinem Weitblick -- in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig präsent sind ebenso wie alle Situa­tionen, die noch entstehen werden -- schon im vorhinein durchtrennt mit der erleuchteten Schau und mit dem Wunsch, dass sich alles einstellen möge, damit Wesen zum Dharma finden. Es ist der Wunsch, dass sie zu Befreiung und völliger Offenheit finden, dass sie aus

86

Page 87: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

allem Leid, aus allem Schmerz herausfinden. Dies sind Wünsche nicht-begrifflicher Art, wie wir sie uns kaum vorstellen können, weil unsere Wünsche normalerweise begrifflicher Art sind. Das ist, als ob das Herz des Buddhas sich für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffnen würde und sich bereits in Situationen hinein verströmt, die noch gar nicht entstanden sind; aber das Buddha-Auge sieht, dass sie entstehen werden.

Das Verweilen in der Natur der Dinge ist die Offenheit des Herzens, die von vorne herein alles, was kommt, erfasst und segnet.

Auf diese Weise kann man auch verstehen, was es bedeutet, dass alle Situationen Ausdruck der Wünsche der Buddhas sind. Ihr habt vielleicht im Unterricht schon einmal gesagt bekom­men – es wird häufiger bei Unterweisungen über Wunschgebete erwähnt – dass z.B. die heu­tige Situation die Folge von Wunschgebeten von Buddhas ist. Oder noch viel einfacher: Die Tatsache, dass wir genug Nahrung und Kleidung haben, ist die Folge der Wunschgebete der Buddhas. Damit ist das spontane Wohlwollen der Buddhas gemeint, die im Voraus die Situa­tionen erkennen und unterstützen, die zum Wohl der Wesen sind. Sie machen Wünsche, damit sich immer wieder genug einstellt, um praktizieren zu können, damit Bedingungen entstehen, dass Dharmalehrer und Schüler zusammenfinden, all diese vielen Elemente, die es braucht, damit Menschen sich befreien können.

Das ist auch die Freude frei von Benennen wie ‚ist’ und ‚ist nicht’.Dieses Benennen haben wir schon gesehen: „Das ist, das ist nicht! … Das ist gut, das ist schlecht! … Ich will es so, ich will es nicht so! … Das sollte sein, das sollte nicht sein! …“ All dieses bekräftigende Fixieren wird überflüssig in einem Geist, der es gelernt hat, ganz auf­zugehen im Bewusstsein der beiden Ebenen der Wirklichkeit, die sich ständig durchdringen.

„Tatsächlich: Dinge existieren! Aber von einem anderen Standpunkt aus hat es noch nie etwas gegeben, was jemals existiert hat!“ … „Tatsächlich: Das ist hilfreich, das ist gut, aber von dem anderen Standpunkt aus ist es nicht hilfreich.“

Diese Flexibilität des Geistes, ohne die Dinge festschreiben zu wollen, diese völlige Freiheit des Geistes, das ist die Freude frei von Benennen, frei von Fixierungen.

Das ist die Freude jenseits der Extreme von Existenz und Nichtexistenz.Das ist genau dasselbe, was ich vorher erklärt habe.

Die von innen her erscheint – welch großes Wunder!So sang er.Mit diesen Worten hat Gampopa seinen Schülern ein Geschenk gemacht. Er hat ihnen das Ge­schenk des Ausdrucks seiner Freude gegeben, der Freude eines Meisters, der völlig verwirklicht, völlig erleuchtet war, ohne die geringste Spur von Anhaften.

Ich möchte den Kurs auch mit diesen Worten der Freude beenden. Ich habe während des Kurses eine ganze Reihe heikler Punkte angesprochen, bin hie und da jemandem vielleicht auf die Zehen getreten, habe es vielleicht nicht ganz unabsichtlich gemacht, aber vielleicht war es manchmal etwas zu stark und unnötig stark, vielleicht unnötig insistierend. Aber ich wollte Euch nicht wehtun, sondern nur wach machen.

Wenn Ihr jetzt nach Hause geht und weiter praktiziert, dann würde ich mich freuen, wenn Ihr einfach diese Freude, dem Dharma begegnet zu sein, mitnehmt und bei all dem, was man so selbstkritisch an sich aussetzen könnte, immer daran denkt: „Das macht überhaupt nichts wie ich jetzt bin! Ich habe ja den Dharma! Ich weiß, was ich als nächsten Schritt tun kann, prakti­zieren kann, um mich allmählich von all dem zu befreien.“

87

Page 88: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Für diejenigen, die Vertrauen in den Dharma haben und das Vertrauen in die Zuflucht wach halten, wird es immer weiter aufwärts gehen. Da braucht man sich überhaupt keine Sorgen, keine Gedanken zu machen.

Selbst wenn Ihr 15, 16 Stunden am Tag arbeitet und nur noch Zeit habt, ins Bett zu fallen und zu schlafen, dann geht’s am nächsten Tag so weiter und ihr habt keinerlei Zeit für formelle Praxis. Wenn Ihr den Dharma im Herzen habt und Wünsche macht, dass eure Aktivität zum Nutzen aller Wesen sei, dann braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen.

Ganz herzlichen Dank an uns alle! Natürlich machen wir jetzt noch die Puja, das ist dann der Schlusspunkt. Es gibt keine größere Freude, als den Dharma zu unterrichten, aber dafür braucht es natürlich auch Leute, die zuhören. Deswegen auch Dank, dass Ihr mit offenem Herzen zugehört habt.

Dank auch an die Lamas und Drublas, die hier sind. Ich möchte mich bei jedem einzelnen be­danken. Wir waren vierzehn, die sich um Euch gekümmert haben während dieses Kurses und das ohne Spannung, völlig anstrengungslos.

Gibt es jemanden unter Euch Lamas und Drublas, der etwas sagen möchte?

Drubla Kerstin: Ich möchte noch einmal erwähnen, dass Patricia und Ildiko spontan für Lutz eingesprungen sind und so dazu beigetragen haben, dass der Kurs so gut laufen konnte.Lama Taschi: man hat es nicht so leicht an der Seite von Lama Lhündrub. Er ist ja so perfekt und hat schon alles gesagt. Ich kann mich nur noch anschließen und ein ganz großes Danke­schön an Dich (Lama Lhündrub) aussprechen.Auch für mich war es eine große Freude, mit Euch arbeiten zu dürfen, mit Euch den Dharma zu teilen, in den Ateliers so viel Zeit zu haben über die Paramitas zu sprechen, über einen Geist voll Liebe und Mitgefühl. Ich hoffe, dass wir so in der Praxis immer weiter machen und gemeinsam fortschreiten.Drubla Karin: Ein großes Dankeschön an das Team von Croizet, das unsichtbar und sichtbar an diesem Kurs mitorganisiert hat. Der Platz ist so schön hergerichtet, man fühlt sich von Jahr zu Jahr wohler…Wir machen jetzt noch eine kleine Meditation, eine geführte Meditation der Widmung. Wir widmen all das, was wir hier im Kurs an Gutem erfahren haben.

WidmungUm eine vollständige Widmung auszuführen, ist es gut, sich zunächst noch einmal an das zu erinnern, was wir in diesen dreizehn Tagen erlebt haben, was wir an Heilsamem erfahren haben.

Wir erinnern uns auch an die schmerzhaften Momente, an Momente, die uns ermöglicht haben, besser zu sehen, was ist und wer wir sind.

Dann weiten wir unser Bewusstsein aus und beziehen alle anderen Kurs-Teilnehmer mit ein, denken an all die heilsamen Momente, die sie erlebt haben. Wir denken an die Praxis, die sie mit uns gemeinsam ausgeführt haben.

Dann denken wir noch einen weiteren Kreis: an alle, die hier anwesend waren, an alle Kinder, alle Unterweisenden, dann an all die, die bei der Organisation geholfen haben. Wir denken daran, was sie für Energie investiert haben, wie viel Einsatz geflossen ist, dass dieser Kurs so gut hat stattfinden können.

Dann nehmen wir die gesamte Summe der Bedingungen, die notwendig waren, dass so eine Dharma-Unterweisung hat stattfinden können und beginnen damit, sie dem Wohl der Wesen darzubringen.

88

Page 89: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Dann denken wir daran, dass diese Dharma-Veranstaltung nicht hätten stattfinden können ohne Gampopa, sein Leben, seine Unterweisungen und an all die vielen Meister in den fast 900 Jahren, die in der Übertragungslinie seither überbrückt wurden. Wir denken an die Energie, die da hinein geflossen ist – von den vielen Meistern und Schülern, damit die Über­tragung bei Euch ankommen konnte. Wir opfern die Summe all des Heilsamen, das ent­standen ist, von Gampopa bis zur heutigen Zeit. Wir opfern es, wir bringen es dar, wir wid­men es dem Wohl aller Wesen.

Wir denken daran, dass Gampopa kein einzelner war, der einfach als erleuchteter Meister auf­getaucht ist, sondern Teil einer Übertragungslinie ist, die zurück geht bis zu Buddha Shakya­muni, also noch einmal 1600 Jahre zurück. Wir denken an all die Meister und an die Schüler, die ihre gesamte Energie eingesetzt haben, damit diese Übertragung lebendig geblieben ist. Wir denken an Buddha Shakyamuni, an die Verdienste aller Meister und Schüler und widmen sie vollständig dem Wohl der Wesen.

Wir denken an die Dharma-Unterweisungen, die bereits stattgefunden haben, bevor Buddha Shakyamuni erschienen ist. Die heilsame Kraft aus dieser Dharma-Praxis widmen wir der Er­leuchtung aller Wesen.

Dann denken wir an die Unterweisungen, an die Dharmapraxis, die gleichzeitig mit Buddha Shakyamunis Unterweisungen stattgefunden hat, hier auf dieser Erde: die verschiedenen Schulen und Traditionen, in denen zugleich der Dharma weiter gegeben wurde, an die Dharma-Praxis, die zur gleichen Zeit in anderen Universen stattgefunden hat, wo weitere Buddhas unterrichtet haben und unzählige Schüler praktiziert haben.

Wir widmen die Gesamtheit des Heilsamen, das hieraus entstanden ist, der Erleuchtung aller Wesen.

Wir denken an das Heilsame, das noch entstehen wird, an die Dharma-Unterweisungen, die noch gegeben werden, die Dharmapraxis, die in Zukunft stattfinden wird – hier und in allen Universen, dank der zukünftigen Meister, der zukünftigen Buddhas, die noch erscheinen werden.

Wir widmen die Gesamtheit des Heilsamen, das aus dieser Praxis entsteht, der Erleuchtung aller Wesen.

Wir widmen in dieser Weise die Gesamtheit des Heilsamen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Erleuchtung aller Wesen -- nicht nur das Heilsame, das aus Dharma-Un­terweisungen und Dharmapraxis entstand, sondern sämtliches Heilsame, was je entstanden ist oder noch entstehen wird. Jegliche kleine Handlung der Freigebigkeit, jede Handlung aus Liebe und Mitgefühl, die ausgeführt wurde, sämtliche kleinen und großen Handlungen, die es je zum Wohle der Wesen gab und noch geben wird, widmen wir der Erleuchtung aller Wesen.

Auf diese Weise schaffen wir eine Verbindung zwischen dem Heilsamen, das ohne Wissen um die Erleuchtung ausgeführt wurde bzw. ausgeführt werden wird mit der höchsten, unüber­trefflichen Erleuchtung und widmen diese Handlungen ebenfalls der höchsten Erleuchtung sämtlicher Wesen, ohne Ausnahme.

Um es noch klarer zu machen: Die gesamte Kraft dieses Heilsamen widme ich, schenke ich meiner Mutter, meinem Vater, meinen Großeltern und Urgroßeltern usw. Meinen Kindern, Enkelkindern, allen zukünftigen Generationen, meinen Schwestern und meinen Brüdern, allen Wesen, die um mich herum sind, die mir lieb sind, allen Wesen, die ich kenne, und allen Wesen, die ich nicht kenne.

Um es im Geist noch klarer zu machen: Ich widme die Kraft dieses Heilsamen allen Wesen, die es gibt und die es in Zukunft geben wird. Ich widme sie allen Tieren, ich widme sie allen Hungergeistern und allen Wesen in den Höllenbereichen.

89

Page 90: Dritter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ …...Das sechste Paramita, Weisheit, das Gampopa im „Schmuck der Befrei ung“ sehr ausführlich bespricht, heben wir uns für einen

Ich widme dieses Heilsame allen Wesen im Bereich der Halbgötter, im Bereich der Götter, allen unsichtbaren Wesen in allen Zeiten und in allen Universen.

Ich stelle mir vor, dass dank der Kraft des gesammelten Heilsamen aller Zeiten sämtliche Wesen die Bedingungen zur Dharmapraxis finden. Sie alle finden die Bedingungen, den Dharma zu hören, zu kontemplieren und zu praktizieren und dank ihrer Praxis finden sie alle völlig unübertreffliche Erleuchtung. Ich visualisiere, stelle mir vor, wie sie alle zu vollkom­menen, erleuchteten Buddhas werden.

Ich stelle mir vor, dass alle Wesen zu Tschenresi werden, zu Tara, Manjushri. All die Namen der Buddhas, die ich kenne, dienen mir als Spiegel dafür, was die Wesen sein werden, wenn sich ihr Potential als die vollkommene Befreiung manifestiert, als die volle Erleuchtung. Ich stelle mir vor, dass alle Wesen jetzt zu ihrem wahren Potential erwachen und Buddhas sind.

In dem Bewusstsein dessen, dass die Gesamtheit der Verdienste, der erleuchteten Kraft der Erleuchtung aller Wesen gewidmet ist, verweile ich jetzt in der Kontemplation der vollkom­menen Erleuchtung aller Wesen und lasse mich hineingleiten in den Zustand jenseits von Konzepten und bringe so das Siegel der Nicht-Identifikation ein.

Mögen alle Wesen glücklich sein und vollkommene Erleuchtung erlangen!

— Meditation —

* * *

90