[Enzensberger Hans Magnus] Der Kurze Sommer Der an(BookZZ.org)
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Karin Rebmann / Walter Tenfelde / Ernst Uhe
Berufs- und Wirtschaftspädagogik Eine Einführung in Strukturbegriffe
GABLER
Dr. Karin Rebmann ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg.
Professor Dr. WaIter Tenfelde ist Professor am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg.
Professor Dr. Ernst Uhe ist Professor am Institut für berufliche Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildungsforschung der Technischen Universität Berlin.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Rebmann, Karin: Berufs- und Wirtschaftspädagogik : eine Einführung in Strukturbegriffe / Karin Rebann ; Walter Tenfelde ; Ernst Uhe. - Wiesbaden: Gabler, 1998
ISBN 978-3-409-12302-0 ISBN 978-3-322-91241-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-91241-1
Alle Rechte vorbehalten
© Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Wiesbaden, 1998 Lektorat: Ralf Wettlaufer
Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtIich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Höchste inhaltliche und technische Qualität unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produktion und Auslieferung unserer Bücher wollen wir die Umwelt schonen: Dieses Buch ist auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
ISBN 978-3-409-12302-0
Vorwort
Für Erstsemester ist es erfahrungsgemäß eine große Hilfe, wenn ihnen Teilgebiete ihres
Studiums in knapper, leicht verständlicher und systematischer Form dargeboten werden.
Gleichzeitig müssen sie aber auch sicher sein können, daß alle relevanten Studieninhalte auch
tatsächlich in die ihnen angebotene Systematik eingearbeitet wurden. Unter diesen beiden
Aspekten sollte die Qualität von Studienbüchern für Studienanfänger beurteilt werden.
Die Vorarbeiten zum vorliegenden Studienbuch reichen bis in die 1980er Jahre zurück.
Nachdem die Gewerbe- und Handelslehrerausbildung an der Universität Hamburg im Jahre
1982 über eine Prüfungsordnung im Studiengang "Lehramt Oberstufe-Berufliche Schu1en"
zusammengeführt worden war, mußten auf diesen Studiengang abgestimmte Lehrveranstal
tungen entwickelt werden. Eine Schlüsselstellung im Lehrangebot sollte eine gemeinsame
Einführungsvorlesung einnehmen, in der auch zwei bisher getrennte wissenschaftliche Dis
ziplinen mit unterschiedlichen Selbstverständnissen, Erkenntnisinteressen, Zielsetzungen und
pragmatischen Ansprüchen zusammenzuführen waren. Insofern konnte nur auf Vorleistun
gen der Berufspädagogik zurückgegriffen werden, als sich diese mit den Fragen auseinander
setzte:
1. Welche spezifISchen Probleme, aber auch Chancen ergeben sich durch den Einfluß des
Berufs auf die Erziehung?
2. Wie ist auf den Beruf hin mit dem Ziel der beruflichen Tüchtigkeit zu erziehen bzw. aus-
zubilden?
Allerdings sind unter berufspädagogischen Systematikern nicht diejenigen einzureihen, mit
denen die Reflexion über Berufserziehung begann. Die von Georg Kerschensteiner begonne
ne und von Eduard Spranger, Aloys Fischer, Theodor Litt u. a. fortgeführte sogenannte
klassische Berufsbildungstheorie konnte nicht unter einem systematischen Anspruch entwik
kelt werden. Sie ging statt dessen von der Teilfrage aus, wie der Beruf bildend auf den Men
schen wirkt oder wirken kann.
Es war wohl das Verdienst von Friedrich Schlieper, eine Systematisierung des Gegenstand
bereichs mit seiner Veröffentlichung "Allgemeine Berufspädagogik" (1963) vorgelegt zu
haben. Dies blieb längere Zeit der einzige Versuch. Denn erst in den 1970er Jahren erschie
nen in kurzen Abständen Einführungsschriften mit teilweise sehr unterschiedlich akzentuier
ten Sichtweisen auf Berufs- oder Wirtschaftspädagogik. Sie konnten die jeweiligen Diszipli
nen zwar voranbringen, haben sie aber auch voneinander abgegrenzt
v
Die Entwicklung einführender Vorlesungen für Berufs- und Wirtschafts pädagogen an der
Universität Harnburg war deshalb auf den Versuch einer Neustrukturierung der Berufs- und
Wirtschaftpädagogik angewiesen. Diesen Versuch unternahmen zunächst die beiden Senior
autoren Walter Tenfelde und Ernst Uhe mit Vorlesungen zur Einführung in die Berufs- und
Wirtschaftspädagogik, die bezeichnenderweise unter dem Titel"Strukturbegriffe der Berufs
und Wirtschaftspädagogik" angeboten wurden. Daraus wurde dann das Strukturmodell der
Berufs- und Wirtschaftspädagogik, das auch der vorliegenden Buchveröffentlichung zugrun
de liegt. Entscheidend für die Veröffentlichung der Einführungsschrift auf der Basis von
Strukturbegriffen war jedoch die Unterstützung des Vorhabens durch die Juniorautorin Ka
rin Rebmann, die Strukturbegriffe bearbeitete, die Entwicklung des Strukturmodells voran
brachte und die einzelnen Themen in ihrer Einführungsvorlesung auf den Prüfstand einer
Vermittlung an Erstsemester stellte.
Gleichwohl bedarf auch die vorliegende Einführung in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik
der weiteren Systematisierung und Bearbeitung einzelner Aussagenbereiche. Dieser Heraus
forderung werden sich Autorin und Autoren gerne stellen, wenn vor allem Studierende des
Gewerbe- und Handelslehrarnts wie bisher die Strukturbegriffe der Berufs- und Wirtschafts
pädagogik mit ihren kritischen Rückmeldungen nachhaltig beeinflussen.
VI
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ......................................................................................................................... 1
Rahmenbedingungen (R) ................................................................................................ 5
1 Rechtlich-institutionelle Grundlagen der Berufsbildung .................................................. 5
2 Finanzierung .................................. '" ........................................................................... 11
3 Kosten und Nutzen ...................................................................................................... 14
4 Qualifizierungsvoraussetzung und Qualiftkationsverwertung ........................................ 17
5 Berufliche Weiterbildung ............................................................................................. 21
6 Internationalisierung ............................ '" ........... '" ....................................................... 25
literatur ................................ '" ....................................................................................... 31
Berufsbildungspolitik (B) .•••••.••.••••••••••.••••••••••.••.••....••••.•.••••...•••••.••••..•••••••••••.••••••••••••••• 33
1 Institutionen, Organisationen und Konfliktlinien .......................................................... 33
2 Bundesinstitut für Berufsbildung .................................................................................. 37
3 Abstimmung und Koordination .................................................................................... 40
4 Berufsbildungsforschung ............................................................................................. 43
5 Bildungspolitische Streitfälle ....................................................................................... 45
6 Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften ...................................................... 48
literatur .......................................................................................................................... 51
Beruf, Wirtschaft, Pädagogik (BWP) ........................................................................... 53
1 Systemzusammenhänge ............................................................................................... 53
2 Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration ......................................... 60
3 Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung ................................................. 68
4 Pädagogik: Bildung und Beruf ..................................................................................... 74
5 Systemische Innovationsleistungen .............................................................................. 78
literatur .......................................................................................................................... 82
VII
Zielsetzungen (Z) ••••••••••••••••••••.•••••••••••••••••..•.••.••.•••••..•..•••••.•..•..•..••...••..••..•••...•••••.••••••••• 85
1 Problematik wissenschaftlicher Zielsetzungen .............................................................. 85
2 Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit. .................................................................... 88
3 Vergesellschaftung und soziale Integration .................................................................. 90
4 Subjektivität und Persönlichkeitsentwicklung ............................................................... 92
5 Berufliche Handlungsfähigkeit ..................................................................................... 94
Literatur .......................................................................................................................... 99
Lernort Schule (LS) ..••••.•••..•••.•..•••.••••••.••••..•••..•.••...••••••..•.••..•..........•...•...•....•••••...•...••• 101
1 Berufliches Schulwesen ............................................................................................. 101
2 Berufsschule .............................................................................................................. 107
3 Merkmale schulischen Lernens .................................................................................. 114
4 Konzepte schulischen Lernens ................................................................................... 116
5 Schule und Wirtschaft ............................................................................................... 122
6 In der Diskussion: Doppelqualiftkation ...................................................................... 125
Literatur ........................................................................................................................ 128
Lernort Betrieb (LB) ................................................................................................... 131
1 Betriebliche Lernorte ................................................................................................. 131
2 Lernort "Betriebe der Wirtschaft" .............................................................................. 134
3 Merkmale betrieblichen Lernens ................................................................................ 138
4 Konzepte betrieblichen Lernens ................................................................................. 139
5 Betrieb und Gesellschaft ............................................................................................ 144
6 Arbeiten und Lernen .................................................................................................. 146
Literatur ........................................................................................................................ 151
Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens (D) ......................................................... 153
1 Didaktik - Fachdidaktik ............................................................................................. 153
2 Didaktik beruflicher Bildung ...................................................................................... 157
3 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens auf der Grundlage
großer didaktischer Positionen. .... ............ .................. ................................................ 161
4 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens auf der Grundlage
von neuen Leitideen, Ansätzen und Entwürfen ........................................................... 169
5 Berufsschuldidaktik für Lernschwache und Begabte .................................................. 174
Literatur ........................................................................................................................ 179
VIII
Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder (LA) ........................................................ 183
1 Lehrer: Fachmann und Pädagoge ............................................................................... 183
2 Professionalisierung der Lehrerausbildung ................................................................. 186
3 Theorie-Praxis-Problem ............................................................................................. 189
4 Betriebliches Ausbildungspersonal ............................................................................. 193
5 Kooperative Selbstqualifizierung ............................. .................................................. 197
Literatur ........................................................................................................................ 202
Perspektiven (P) .......................................................................................••..............•..• 205
1 Perspektiven eines Strukturmodells der Berufs- und
Wirtschaftspädagogik ................................................................................................ 205
2 Modularisierung ........................................................................................................ 208
3 Autonomiebestrebungen ............................................................................................ 211
4 Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit ............................................................... 213
5 Systemische Sichtweise ............................................................................................. 216
6 Entwicklung kognitiver Ansätze in der Didaktik ........................................................ 219
7 Schule als Lern- und Lebensraum .............................................................................. 221
8 Ausbildung erhalten und ausbauen ............................................................................. 224
9 Moderatorenausbildung ............................................................................................. 226
Literatur ........................................................................................................................ 228
Einzelne Strukturbegriffe wurden verlaßt von
Karin Rebmann: - Rahmenbedingungen
- Lernort Schule
- Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
Walter Tenfelde: - Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
Ernst Uhe: - Berufsbildungspolitik
IX
Einleitung
Das Erscheinen neuer Bücher wird zumeist damit begründet, daß Entwicklungen in bestimm
ten Bereichen vorangeschritten sind und es nunmehr höchste Zeit wird, diese Entwicklungen
beschreibend, analysierend und reflektierend einzuholen. Sicherlich trifft dies auch für die
Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu, bedenkt man die schnell voranschreitenden Verände
rungen von Produktions-, Arbeits- und Organisationsstrukturen. Eine Begründung des vor
liegenden Buches wäre deshalb auch unter diesem Aspekt sinnvoll und möglich, zumal die
derzeitigen Einführungen zumeist älteren Datums sind.
Die vorliegende Einführung in die Berufs- und Wirtschaftsplidagogik verfolgt jedoch noch
ein weiteres Ziel: die Entwicklung einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik, in der beide
Teildisziplinen stärker als bisher aufeinander bezogen werden können. Dies könnte einerseits
neue wissenschaftliche Fragestellungen befördern helfen, scheint aber andererseits auch not
wendig, um die Praxis mitgestalten zu können. Beispielhaft seien genannt die Annäherung
und Verschränkung gewerblich-technischer mit kaufmännisch-verwaltender Ausbildung in
Handwerk und Industrie. Neue wissenschaftliche Fragestellungen ergeben sich auch mit der
Annäherung der Lemorte über gemeinsam verfolgte Ziele, Konzepte und Programmatiken,
die gegenseitiges Orientieren auf gemeinsames Handeln im Feld der beruflichen Bildung er
leichtern.
Schließlich sollte auch die Institutionalisierung der beiden Disziplinen Berufs- und Wirt
schaftspädagogik an Universitäten mit der Verpflichtung auf eine gemeinsame Lehrerausbil
dung und mit den Optionen für die Erschließung auch außerschulischer Tätigkeitsfelder er
wähnt werden.
Diese Einführung in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik richtet sich an Leser und Leserin
nen, die sich erstmals mit der Berufs- und Wirtschaftspädagogik befassen und daflir einen
Überblick bekommen wollen. Das Buch richtet sich aber auch an diejenigen, die Erfahrungen
im Feld der beruflichen Bildung haben, sich schon mit einzelnen Gebieten, Fragen und Pro
blemstellungen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik auseinandergesetzt haben und diese
mit anderen zu einer Systematik zusammenführen möchten. Unsere Adressaten sind also
Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Lehrende an beruflichen Schulen, Aus
und Weiterbildende in Betrieben, Fach- und Seminarleiter und -leiterinnen in Studiensemina
ren, aber auch Dozenten und Dozentinnen.
2 Einleitung
Das Buch ist sprachlich einfach gestaltet worden. Es soll auch denen Mut machen, sich mit
Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu beschäftigen, die mit ihren bisherigen Annäherungen
an den wissenschaftlichen Diskurs steckengeblieben sind. Auf Formalisierungen wurde des
halb ganz, auf die Präsentation von Datenmaterial in Form von Statistiken großenteils ver
zichtet. Statt dessen sollen Beispiele und Schaubilder den Zugang zu berufs- und wirt
schaftspädagogischen Sichtweisen, Analysen und Erkenntnissen erleichtern.
Dem Buch liegt die Idee zugrunde, diese Annäherung durch Strukturbegriffe zu erleichtern.
Strukturbegriffe vermitteln einen Überblick über ausgewählte Teilgebiete der Berufs- und
Wirtschaftspädagogik, die jedoch den Gegenstandsbereich weitgehend abdecken. Die
Strukturbegriffe sind zwei Ebenen zuzuordnen: Auf der ersten Ebene befmden sich Begriffe,
die sich auf "Objekte" der Berufs- und Wirtschaftspädagogik beziehen, auf der zweiten Ebe
ne befmdet sich das "wissenschaftliche Selbstverständnis", mit dem Fragen einer Theorie der
Wissenschaft sowie Methodenfragen aufgegriffen werden. Letztere haben wir jedoch aus
didaktischen Überlegungen in die "Objektbegriffe" eingearbeitet. Im Abschnitt "Per
spektiven" werden sie wieder hervorgehoben und zur Diskussion gestellt.
Wie soll dieses Buch nun gelesen werden? Sicherlich kann es wie ein Buch von Anfang bis
zum Ende auf einer "Einbahnstraße" gelesen werden. Es läßt sich aber auch im freien Navi
gieren über die Strukturbegriffe und deren Module lesen. Für dieses freie Navigieren über
"Kreuzungen mit Ringverkehr" wurden in die Texte zahlreiche Hinweise für Verknüpfungs
möglichkeiten eingearbeitet. Diese machen einzelne Wiederholungen unumgänglich. Es wur
de jedoch darauf geachtet, daß Sachverhalte nur einmal vertiefend behandelt und an anderen
Stellen im Überblick und komprimiert vorgestellt werden.
Wer sich beispielsweise einen Überblick über die Lernorte der beruflichen Bildung verschaf
fen will, wird auf die Strukturbegriffe "Lernort Betrieb" und "Lernort Schule" verwiesen.
Ein analoger Aufbau der Gliederung dieser Strukturbegriffe erleichtert den Vergleich. Da
nach können dann weitere Strukturbegriffe zur Vertiefung herangezogen werden, beispiels
weise "Didaktik beruflichen Lehrens und Lernens" und/oder "Rahmenbedingungen berufli
cher Bildung".
Eine Verknüpfung ist aber auch auf der zweiten Ebene der Module möglich. Wer mit einer
spezifischen Fragestellung beginnt, z. B. mit Konfliktfeldern in der beruflichen Bildung,
sucht die Module "Schule und Wirtschaft" und "Betrieb und Gesellschaft" auf und erhält
über das Modul "Systemzusarnmenhänge" eine theoriegeleitete Interpretation. In diesen Mo
dulen wird der Leser wiederholt auf den Strukturbegriff "Zielsetzungen beruflicher Bildung"
verwiesen. Sofern das Interesse geweckt wird, mehr über mögliche Annäherungen von Ziel-
Einleitung 3
vorstellungen in den Konfliktfeldern zu erfahren, können weitere Module herangezogen
werden.
Autorin und Autoren des Buches können solche Verknüpfungen durch Hinweise jedoch nur
anregen. In jedem Fall stellen sie einen sehr persönlichen kreativen Akt des Lernenden dar,
in dem dieser sein Wissen in einem eigenen operativen Schema entwickelt. Dieses im ver
netzten Denken erworbene Wissen zu befördern und selbstorganisiertes Lernen in der sinn
gebenden Verknüpfung von Informationsangeboten zu wagen, ist der Verfasserin und den
Verfassern des Buches ein besonderes Anliegen. Ob uns dieses gelungen ist, können wir
nicht allein beurteilen. Über kritische (aber auch ermunternde) Rückmeldungen würden wir
uns deshalb freuen.
Strukturbegriff:
Rahmenbedingungen
Rahmenbedingungen
Ausbildung ff;.::..j~-\Lr~~~;---lV---+:::::::~ZielsetzungeD der Lehrer und der Ausbilder
Lernort Betrieb
1 Rechtlich-institutionelle Grundlagen der Berufsbildung
Berufliche Bildung umfaßt nach § 1 Berufsbildungsgesetz die Berufsausbildung, die berufli
che Fortbildung und die berufliche Umschulung. Hierbei lassen sich die berufliche Umschu
lung und auch die berufliche Fortbildung der beruflichen Weiterbildung zurechnen (vgl.
Schaubildl).
[Berufliche Bildung)
~/ ~~------.. [Berufsausbildung) [Berufliche Weiterbildung )
/ ~ [Berufliche Fortbildung) [Berufliche Umschulung)
Schaubild 1: Berufliche Bildung gemäß § 1 Berufsbildungsgesetz
6 Rahmenbedingungen
Für den Bereich der beruflichen Erstausbildung gelten andere Rahmenbedingungen als für
die berufliche Weiterbildung. Diese Unterscheidung ist begründet im föderativen System der
Bundesrepublik Deutschland und der im Grundgesetz festgeschriebenen Kompetenzvertei
lung.
Berufliche Erstausbildung fmdet in Deutschland überwiegend im dualen System statt und
bedeutet die Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf sowohl im Betrieb als auch
in der Berufsschule. Rund 70 % der Jugendlichen eines Altersjahrganges absolvieren derzeit
eine Ausbildung im dualen System. Diese Jugendlichen müssen zunächst einen Betrieb fin
den, mit dem sie einen Ausbildungsvertrag nach Privatrecht abschließen, bevor sie eine
Ausbildung beginnen können. Für sie gilt zudem die Berufsschulpflicht, die 1938 mit dem
Reichsschulpflichtgesetz für ganz Deutschland eingeführt wurde (~ LS, Berufsschule). Mit
Blick auf Europa lassen sich aber auch andere Ausbildungsmodelle erkennen, zum Beispiel
das Schulmodell und das Marktmodell.
Die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen legen unterschiedliche Zuständigkeiten für
die Ausbildung im Betrieb und in der Berufsschule fest. So verteilen sich die Kompetenzen
auf Bund, Länder, Unternehmen und deren Selbstverwaltungsorgane sowie die Organisatio
nen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (vgl. Schaubild 2).
Die Länder haben gemäß Artikel 7 Grundgesetz die Kulturhoheit, d. h. gesetzgebende und
administrative Kompetenz für alle Fragen der Kulturpolitik und -verwaltung und damit auch
für alle Fragen, die das öffentliche Schul- und Bildungswesen betreffen. Die Schulaufsicht
wird von den Kultusministerien bzw. den Schulämtern ausgeübt. Die Finanzierung der
Schulen erfolgt in aller Regel aus Steuereinnahmen der Länder und Gemeinden.
Die Schulgesetze bzw. Schulpflichtgesetze der einzelnen Länder regeln die berufliche Aus
bildung in den Schulen. Schulgesetze legen im wesentlichen Schulformen und Bildungsgänge
eines Landes fest. Stundentafeln legen rur jede Jahrgangsstufe das Gesamtaufkommen des
wöchentlichen Unterrichtes fest, bestimmen den Fächerkanon sowie die Verteilung der Wo
chenstunden auf die Lerninhalte (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 102). Auf die
sen Stundentafeln bauen die Lehrpläne auf, die mit den Ausbildungsordnungen abgestimmt
werden müssen (~ B, Abstimmung und Koordination). Lehrpläne sind die didaktischen
Grundlagen für den Unterricht in der Berufsschule. Sie enthalten in ihrem Kern einen Stoff
verteilungsplan, der das inhaltliche Grundgerüst eines Faches festlegt. Darüber hinaus finden
sich Hinweise auf die Zulassung von Schulbüchern und Empfehlungen für die methodische
Rechtlich-institutionelle Grundlagen 7
Umsetzung des Lerninhaltes zum Beispiel über den Einsatz von Planspielen (~ LS, Konzep
te schulischen Lernens).
Länderebene: Bundesebene: Landesregierung Bundesministerium !Ur Bildung, Wissenschaft, Kultusminister I+-- Forschung und Technologie in Abstimmung
mit anderen betroffenen Bundesministerien
Bundesinstitut !Ur
Berufsbildung
Kultusminister - i i konferenz
Arbeitgeber- Gewerk-verbände schaften
Rah- Lehr- Ausbil-
men- pläne dungs- Industrie- und lehr- verord- Handelskammern pläne nungen,
Gesetze
Prüfungs--- ausschüsse I+-
betriebliche Betriebsrat
Berufsschule 1++ Berufsausbildung - Jugendvertretung
Lehre
Schaubild 2: Institutioneller Rahmen der Berufsausbildung (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 558)
Neben den Stundentafeln und den Lehrplänen erlassen die Länder noch Verwaltungsvor
schriften. Sie betreffen Fragen der Schullaufbahn der Schüler. Hierzu zählen unter anderem
Vorschriften über Klassenarbeiten, Notengebung, Versetzung und Prüfungen. Davon abzu-
8 Rahmenbedingungen
grenzen sind solche Vorschriften der Länder, die sich hauptsächlich mit Fragen der Unter
richtsorganisation beschäftigen, zum Beispiel mit Angaben zu Klassenfrequenzen.
Die Länder sind ferner zuständig für alle Fragen der Ausbildung und Tätigkeit des Lehrper
sonals an beruflichen Schulen. Zum Lehrpersonal an beruflichen Schulen zählen Gewerbeleh
rer, Handelslehrer sowie Lehrer für Fachpraxis (wie z. B. Meister, Techniker, Werkstattlei
ter etc.) (~ LA, Professionalisierung). Letztere gibt es aber nicht in allen Bundesländern.
Daneben unterrichten noch nebenberufliche Lehrer, z. B. an Schulen des Gesundheitswesens
(~ LS, Berufliches Schulwesen). In der DDR dagegen unterschied man zwischen Berufs
schullehrern für den berufstheoretischen Unterricht, speziellen Lehrkräften für den be
rufspraktischen Unterricht und in Heimerzieher, denn viele Lehrlinge waren während ihrer
Lehrzeit in Lehrlingsheimen untergebracht
Folgende Institutionen der Länder sind für die berufsbildenden Schulen bedeutsam: die Kul
tusministerkonferenz und die Landesausschüsse für Berufsbildung. Das wichtigste Gremium
ist die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder. Sie dient der Koordination der
Kulturpolitik der Länder. In jedem Land besteht ein Landesausschuß für Berufsbildung. Die
ser Landesausschuß setzt sich zusammen aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern so
wie aus Beauftragten der obersten Landesbehörden (~ B, Institutionen und Organisatio
nen).
Der Bund ist gemäß Artikel 12 Grundgesetz für die betriebliche Berufsausbildung zuständig
(vgl. Schaubild 2). Wichtige rechtliche Regelungen für die betriebliche Ausbildung sind: Ar
beitsförderungsgesetz (AFG), Ausbildereignungsverordnung (AEVO), Berufsbildungsförde
rungsgesetz (BerBiFG), Berufsbildungsgesetz (BBiG), Berufsgrundbildungsjahr-Anrech
nungs-Verordnungen, Betriebsverfassungsgesetz (BVG), Handwerksordnung (HwO) und
Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG).
Das Berufsbildungsgesetz ist eines der wichtigsten Gesetze für die Berufsbildung. Schon vor
knapp 80 Jahren wurde der Versuch unternommen, ein solches Gesetz vorzulegen. Doch
erst 1969 gelang es, mit dem Berufsbildungsgesetz eine bundeseinheitliche Regelung für den
betrieblichen Teil der Berufsausbildung zu schaffen. Damit wurde die Berufsausbildung in
die staatliche Verantwortung gestellt. Heute gilt das Berufsbildungsgesetz für alle Bundes
länder in Verbindung mit dem Einigungsvertrag vom 31.8.1990 (vgl. Schaubild 3).
Grundlage für eine geordnete und einheitliche Berufsausbildung sind die Ausbildungsord
nungen gemäß § 25 Berufsbildungsgesetz. Die Ausbildungsordnungen werden durch das
Rechtlich-institutionelle Grundlagen 9
Bundesinstitut für Berufsbildung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) vorbereitet und
dann schließlich als Rechtsverordnungen nach einem Abstimmungsprozeß zwischen Bund
und Ländern vom Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie in
Absprache mit den zuständigen Fachministerien erlassen (~ B, Abstimmung und Koordina
tion). Die Ausbildungsordnungen bilden die Grundlage für Inhalt und Ablauf der betriebli
~~~!lAusbildung in jedem Ausbildungsberuf. Derzeit gibt es etwa 360 staatlich anerkannte
Ausbildungsberufe. Seit dem Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes wurden Neuordnun
gen der Ausbildungsberufe durchgeführt, so daß heute etwa 96 % aller Auszubildenden nach
neuen Ausbildungsordnungen ausgebildet werden.
I. Teil
Allgemeine Vorschriften
1. Definition
II. Teil
Berufsausbildungsverhältnis
1. Begründung (Vertrag)
2. Inhalt (Rechte und Pflichten)
3. Beginn und Beendigung
4. Sonstige
VI. Teil
Besondere Vorschriften für
einzelne Wirtschafts- und
Berujszweige
1. Handwerk
2. Bergwesen
3. Landwirtschaft
4. Öffentlicher Dienst
5. Anwaltsgehilfen
6. Gehilfe in steuerberatenden
Berufen
7. Hauswirtschaft
8. Sonstige
Berufsbildungsgesetz
III. Teil
Ordnung der Berufsausbildung
1. Berechtigung zum Einstellen und
Ausbilden
2. Anerkennung von Ausbildungs
berufen
3. Verzeichnis der Berufsausbil-
dungsverhältnisse
4. Prüfungswesen
5. Regelung und Überwachung
6. Berufliche Fortbildung und Um
schulung
7. Berufliche Bildung Behinderter
VII. Teil
Bußgeldvorschriften
VIII. Teil
Änderung und Außerkrafitreten
von Vorschriften
IX. Teil
Übergang und &hlußvorschriften
Schaubild 3: Aufbau des Berufsbildungsgesetzes
IV. Teil
Ausschüsse
V. Teil
Berufsbildungs
forschung
aufgehoben
10 Rahmenbedingungen
Ausbildungsordnungen sollen ein einheitliches Ausbildungsniveau befördern und Mindest
standards der beruflichen Ausbildung in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen sichern
helfen. Ausbildungsordnungen enthalten Angaben zu:
• Ausbildungsberuf (Berufsbezeichnung),
• Ausbildungsdauer,
• Ausbildungsberufsbild (Gesamtheit der zu erwerbenden Kenntnisse und Fertigkeiten),
• Ausbildungsrahmenplan (zeitliche und sachliche Gliederung der Kenntnisse und Fertigkei
ten),
• Prüfungsanforderungen.
Das Berufsbildungsgesetz und die Ausbildungsordnungen sind auch die Rechtsgrundlage für
Prüfungen. So werden die Zwischen- und Abschlußprüfungen bundeseinheitlich geregelt.
Die Durchführung der bundeseinheitlichen Prüfungen obliegt den Zuständigen Stellen (~ B,
Institutionen, Organisationen und Konfliktlinien). Sie erlassen die Prüfungsordnungen, set
zen die Prüfungsausschüsse zusammen und stellen bei erfolgreich bestandener Prüfung die
Facharbeiter-, Gesellen- und Gehilfenbriefe aus.
An den Prüfungen wirken auch die Ausbilder und Ausbilderinnen in den Betrieben mit Sie
üben ihre Aufgabe in den Betrieben als haupt- oder zumeist als nebenberufliche Kräfte aus.
Seit 1972 müssen sie in einer speziellen Prüfung berufs- und arbeitspädagogische Kenntnisse
nachweisen ( ~ LA, Betriebliches Ausbildungspersonal).
Folgende Institutionen des Bundes sind für die betriebliche Berufsausbildung bedeutsam: das
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, die jeweils be
troffenen Fachministerien, das Bundesinstitut für Berufsbildung sowie die sogenannten Zu
ständigen Stellen (Kammern).
Die unterschiedlichen Zuständigkeiten für die Berufsausbildung in Betrieb und Berufsschule
machen eine Abstimmung notwendig. Diese Abstimmung zwischen Betrieb und Schule er
folgt rechtlich-institutionell abgesichert seit 1974 durch den Koordinierungsausschuß des
Bundes und der Länder. Darüber hinaus gibt es keine weitere institutionalisierte Abstim
mung. Auf regionaler Ebene existiert beispielsweise keine Regelung hinsichtlich der Zusam
menarbeit von Ausbildern im Betrieb und Lehrern in der Berufsschule (~ B, Abstimmung
und Koordination; ~ LS, Schule und Wirtschaft).
Finanzierung 11
2 Finanzierung
In der mittelalterlichen Lehre erfolgte die Berufsausbildung "im ganzen Haus". Das bedeute
te für den Lehrling, daß er im Handwerksbetrieb des Meisters mitarbeitete und im Haushalt
des Lehrherrn lebte. Daraus erwuchs dem Lehrherrn kein Problem einer Finanzierung der
Berufsausbildung. Indem der Lehrling handwerklich mitarbeitete, erbrachte er produktive
Arbeitsleistungen, die den Großteil der Kosten für den Lebensunterhalt des Lehrlings ab
deckten. Außerdem hatten die Eltern von Lehrlingen in solchen Lehrverhältnissen, in denen
produktive Leistungen erst nach einer längeren Ausbildungszeit zu erwarten waren, wie bei
spielsweise im Kunsthandwerk und in feinmechanischen Ausbildungsberufen, Lehrgeld zu
entrichten.
Die Situation änderte sich jedoch mit Beginn der Industrialisierung und dem Niedergang des
Zunftwesens. Ausbildungsbegleitend traten in zunehmendem Maße Schulen auf. Sie konnten
über öffentliche Einnahmen ihrer Träger fmanziert werden. Des weiteren waren sie auch
privatwirtschaftlich als Ausbildungsbetriebe tätig, die Ausbildungsleistungen anboten und als
Gegenleistung Schulgeld und Arbeitsleistung der Lehrlinge einforderten. Eine bis heute gül
tige Regelung ergab sich mit der Einführung der Schulpflicht durch das Reichsschulpflicht
gesetz von 1938, das einen Besuch einer Berufsschule für drei Jahre regelhaft für alle Aus
zubildenden vorsah (~ LS, Berufsschule). Fortan mußte der schulische Teil der Berufsaus
bildung aus öffentlichen Einnahmen bestritten werden. Der betriebliche Teil der Berufsaus
bildung hingegen wurde weiterhin durch den Ausbildungsbetrieb fmanziert Dieses Modell
erschien solange unproblematisch, als die Finanzierung durch die öffentliche Hand gewähr
leistet war und die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe eine ausreichende Versorgung mit
Ausbildungsplätzen sichern konnte.
In der Reformphase der Berufsausbildung in den 1970er Jahren lebte die Diskussion über die
Finanzierung der Berufsausbildung mit den bildungspolitischen Anstrengungen wieder auf,
über eine Ausbildungsplatzabgabe der Betriebe (~ B, Bildungspolitische Streitfälle) ein
Steuerungsinstrument für die Sicherung des Ausbildungsplatzangebotes zu erlangen. Geplant
war eine Umlagefinanzierung, die sogenannte Berufsausbildungsabgabe, die bei einem gra
vierenden Unterangebot an Ausbildungsplätzen von jedem Unternehmen erhoben werden
und den tatsächlich ausbildenden Betrieben wieder zufließen sollte. Diese Berufsausbil
dungsabgabe wurde als Kernstück in das Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976 einge
schrieben, das jedoch 1981 nach einer Klage des Freistaates Bayern vor dem Bundesverfas
sungsgericht wieder aufgehoben wurde. Damit war aber die Diskussion über die Fmanzie
rung der Berufsausbildung nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Mit dem stagnierenden Wirt
schaftswachstum bei kontinuierlichem Abbau von Personalbeständen und Personalkosten
12 Rahmenbedingungen
verschärfte sich das Finanzierungsproblem der Berufsausbildung. Dauerhafte Lösungen die
ses Problems einer Sicherung der Berufsausbildung wurden energischer eingefordert.
Derzeit stehen drei Modelle der Finanzierung beruflicher Erstausbildung, nicht zuletzt auch
verknüpft mit Überlegungen zur Annäherung europäischer Bildungssysteme, zur Debatte
(vgl. Kell 1995, S. 391). Ein erster Vorschlag benennt das Zentralfondmodell, mit dem
berufliche Erstausbildung über eine Arbeitgeberumlage fmanziert werden soll. Ein zweiter
Vorschlag greift das Konzept des Arbeitsplatzförderungsgesetzes, die Umlagefinanzierung,
bei gravierender Unterdeckung von Ausbildungsplätzen einzuführen, erneut auf. Ein dritter
Vorschlag sieht tarif vertragliche Regelungen der Finanzierung durch Branchenfonds vor,
wie sie bereits für das Baugewerbe gelten.
Die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung ist kaum geregelt. Die fmanziellen Mittel zur
Durchführung der Weiterbildung können aus vier Hauptquellen stammen (vgl. Dikau 1995,
S. 433 ff.). Eine erste Quelle ist die private Wirtschaft als Hauptträger der Weiterbildung.
Eine zweite Quelle ist die Bundesanstalt für Arbeit, die über das Arbeitsförderungsgesetz
Drittmittel vergibt. Die dritte Quelle sind die Teilnehmer. Sie fmanzieren die von ihnen be
suchten Weiterbildungsveranstaltungen durch Zahlung von Gebühren bzw. durch die Preis
gabe arbeitsfreier Zeit. Eine vierte Quelle stellt die öffentliche Hand (Bund, Länder und Ge
meinden) dar mit ihren Sonderprogrammen, wie zum Beispiel Frauenförderprogramme,
Maßnahmen zur beruflichen Umweltbildung, Lehrerfortbildung und Förderung der Volks
hochschulen.
Knapp die Hälfte des Finanzierungsvolumens für die Weiterbildung bringen die Betriebe der
Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes auf, gefolgt von den Teilnehmern, die etwa ein
Fünftel der Weiterbildungskosten selbst fmanzieren, und schließlich die Bundesanstalt für
Arbeit.
Im Zuge der Harmonisierung europäischer Bildungssysteme wird die Frage der Finanzierung
der beruflichen Bildung auf der Folie alternativer Organisationsformen beruflicher Bildung
grundsätzlicher beleuchtet. In der Diskussion stehen das Marktmodell als Konzept der
Steuerung von Ausbildungsangebot und -nachfrage über einen Ausbildungsmarkt. Ferner
wird das Schulmodell erörtert mit der starken Stellung beruflicher Schulen in öffentlicher
Verantwortung. Ein drittes Modell ist die Mischform öffentlicher und privater Finanzierung,
wie sie im Rahmen des dualen Systems bereits vorliegt (vgl. Greinert 1993).
Im Marktmodell fmanzieren die Betriebe als Abnehmer die Berufsausbildung. Ausbildung
wird nach bildungsökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Im Lichte bildungsökonomi
scher Analysen betrachtet, ist Berufsausbildung dann eine Investition in Humankapital. Sie
Finanzierung 13
wird strengen Kosten-Nutzenanalysen unterzogen. Auf dem Bildungsmarkt stehen die Be
rufsschulen in freier Konkurrenz mit privaten Anbietern. Sie müssen sich dort um Auszubil
dende und Finanzierungsmittel bewerben. Die Lehrenden an staatlichen Berufsschulen sind
Angestellte und werden leistungsbezogen entlohnt, sie werden von den Schulen eingestellt
und sind auch kündbar. Der Staat, der seinen Bürgern und Bürgerinnen ein Bildungsrecht
garantiert, verteilt "Bildungsgutscheine", die von den Auszubildenden bei Ausbildungsbe
trieben eingelöst werden können (~ BWP, Wirtschaft).
Im Schulmodell erfolgt die Finanzierung der beruflichen Bildung dagegen ausschließlich über
öffentliche Haushalte. Lehrer sind staatliche Angestellte oder Beamte. Die Ausbildungslei
stung wird nach Maßgabe staatlicher Richtlinien und Anweisungen erbracht. Eine Bewer
tung der erbrachten Ausbildungsleistungen erfolgt durch staatliche Schulaufsichtsbeamte.
Im Modell der Mischform, die dem deutschen dualen System der Erstausbildung vergleich
bar ist, erfolgt die Finanzierung durch die Betriebe und durch öffentliche Hände. Daneben
gibt es die Fondfinanzierung von Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten für
kleinere und mittlere Betriebe (~ B, Bildungspolitische Streitfälle). Die Bewertung der
Ausbildungsleistungen wird in Kooperation von Betrieben und staatlicher Schulaufsicht
durchgeführt.
Eine Verschärfung der Finanzierungsproblematik der beruflichen Bildung hat sich nicht zu
letzt auch in der starken Trennung von berufstheoretischer Unterweisung und praktischer
Ausbildung ergeben. In dem Maße, in dem Ausbildung in eigenen Ausbildungsabteilungen,
in Ausbildungswerkstätten und Lehrecken konzentriert wurde, erhöhte sich auch der
"unproduktive" Anteil der Leistungen, die Auszubildende erbringen. Mit der
(Wieder)Verknüpfung von Arbeiten und Lernen in Konzepten einer dezentralen Ausbildung
dürfte sich aber der Anteil an produktiven Leistungen wieder erhöhen. Dadurch würde auch
das Finanzierungsproblem insoweit entschärft, als in der doppelten Zielsetzung von Arbeiten
und Lernen die Nettokosten der Berufsausbildung gesenkt werden könnten (~ LB, Arbeiten
und Lernen; ~ LS, Konzepte schulischen Lernens).
14 Rahmenbedingungen
3 Kosten und Nutzen
Die Frage nach Kosten und Nutzen der beruflichen Bildung ist nicht neu. Bereits in den
1960er Jahren entwickelte sich in Deutschland eine Diskussion über die Anwendbarkeit be
triebswirtschaftlicher Überlegungen auf Bildungsinstitutionen und Bildungsprozesse im
Schnittfeld von Wirtschaftswissenschaften und Erziehungswissenschaft. Wesentlich älter sind
sogar bildungsökonomische Fragestellungen zur Analyse und Gestaltung von Bildungsge
samtsysternen. Sie gewinnen bereits im 17. und 18. Jahrhundert an Bedeutung (--t BWP,
Wirtschaft). Aktuell bedeutsam sind Kosten-Nutzenanalysen vor allem im Zusammenhang
mit der Bewältigung von Problemen des zurückgehenden Ausbildungsplatzangebotes, sin
kender Ausbildungsplatznachfrage und der desolaten Finanzlage in den öffentlichen Haushal
ten. Des weiteren können Kosten-Nutzenanalysen herangezogen werden zur Steuerung von
Reformen beruflicher Bildung im Zusammenhang mit Bildungscontrolling und outsourcing
im Betrieb und auch zur Begründung von Teilautonomisierung von Schulen.
Kosten-Nutzenanalysen sind grundsätzlich auf zwei Wegen möglich. Zum einen können
Ausbildungsaufwendungen als eine Investition in Humanvermögen betrachtet werden. Wer
den Investitionen in Humanvermögen getätigt, wird Kapital umgewandelt. Investitionen in
das Humanvermögen erhöhen den Bestand an Leistungspotential der Arbeitskräfte wie ver
besserte Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse. Zum anderen können Kosten der Ausbil
dung auch ins Verhältnis zu Leistungen gesetzt werden. Kosten entstehen beispielsweise als
Personal-, Anlage- und Sachkosten. Erträge entstehen durch bewertete Leistungen, bei
spielsweise in Form von Einnahmen des Betriebes aus bewerteten Leistungen des Auszubil
denden oder in der Form einer monetär bewerteten, aber eingesparten Fachkraft. Betriebs
wirtschaftliche Überlegungen zu Kosten und Nutzen der beruflichen Bildung orientieren sich
zumeist am Konzept einer Kosten- und Leistungsrechnung, während sich volkswirtschaftli
che Betrachtungen vorzugsweise am Vermögens- bzw. Kapitalbegriff (Humanvermögen)
ausrichten (--t BWP, Wirtschaft).
Konzeptionen zur Erfassung von Kosten und Leistungen werden grundsätzlich in zwei
Schritten erstellt. In einem ersten Schritt gilt es, die Ausbildung als Kostenfaktor zu erken
nen und die auf die Ausbildung entfallenden Kosten zu ermitteln. Wie diese Kosten ermittelt
werden, hängt vom Zweck ab, der mit der Kosten- und Leistungsrechnung verfolgt wird. So
wird eine Vollkostenrechnung dann gewählt werden, wenn alle Kosten, die durch Ausbil
dung verursacht werden, erfaßt werden sollen. In eine Teilkostenrechnung hingegen gehen
nur solche Kosten ein, die unmittelbar durch die Ausbildung verursacht werden. Kosten der
Kosten und Nutzen 15
Ausbildung, die im Prozeß des Lernens durch Mitarbeit anfallen, werden deshalb nicht als
Ausbildungskosten ausgewiesen, sondern den Produktionskosten zugerechnet. In einem
zweiten Schritt werden schließlich die Leistungen ermittelt. Dies geschieht üblicherweise,
indem die Erträge bewertet werden. Hierzu zählen beispielsweise die verrechenbaren Lei
stungen eines Auszubildenden, der selbständig einen Kundenauftrag ausführt, oder die einge
sparten Ak:quisitionskosten, wenn der Auszubildende nach abgeschlossener Ausbildung im
Betrieb verbleibt Werden nun die so ermittelten Kosten (Bruttokosten) und die bewerteten
Erträge miteinander verrechnet, entstehen entweder Nettokosten oder Nettoerträge.
Hierzu ein Beispiel: Im Rahmen einer Untersuchung im Auftrag des Bundesinstituts für Be
rufsbildung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) wurden 1991 die Voll- und Teilkosten
sowie der jeweilige einzelbetriebliche Nutzen von 1370 Betrieben aus Industrie, Handel und
Handwerk erhoben. Es wurden 18051 DM Bruttokosten auf Teilkostenbasis pro Auszubil
denden und Jahr errechnet. Dabei machen die Personalkosten der Auszubildenden mit 80 %
den größten Anteil dieser Bruttokosten aus. Die restlichen Kostenarten sind in etwa gleich
verteilt (vgl. von Bardeleben & Beicht 1996, S. 30). Bei einer Vollkostenberechnung belau
fen sich die Bruttokosten dagegen auf knapp 30000 DM pro Auszubildenden und Jahr (vgl.
von Bardeleben & Beicht 1996, S. 32). Werden nun die Kosten getrennt für die Bereiche
Industrie und Handel sowie Handwerk betrachtet, zeigen sich deutliche Unterschiede in der
Höhe der anfallenden Kosten. So weist das Handwerk deutlich niedrigere Voll- und Teilko
sten auf, was auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann. Im Handwerk fallen
niedrigere Ausbildungsvergütungen als in Industrie und Handel an, und es werden auch
niedrigere tarifvertragliche und freiwillige Sozialleistungen gezahlt. Das Lernen am Arbeits
platz ist im Handwerk die Regel. Es ist kostengünstiger als die teuren Lehrwerkstätten der
Industrie. Zu bedenken ist außerdem, daß nebenberufliche Ausbilder im Handwerk häufiger
als in Industrie und Handel eingesetzt werden (~ LA, Betriebliches Ausbildungspersonal).
Nach Abzug der Erträge verblieben pro Auszubildenden und Jahr im Bereich Industrie und
Handel durchschnittlich 9194 DM Nettoteilkosten sowie im Bereich Handwerk 399 DM
Nettoteilkosten (vgl. von Bardeleben & Beicht 1996, S. 32). Das Verhältnis von Kosten und
Erträgen verändert sich zudem in Abhängigkeit von der Betriebsgröße, vom Ausbildungs
jahr, von der Organisationsform der Berufsausbildung sowie von den Wirtschaftsbereichen.
So steigen beispielsweise die Nettokosten mit der Betriebsgröße an und fallen im Laufe der
Ausbildungsdauer trotz steigender Ausbildungsvergütungen.
16 Rahmenbedingungen
Wenngleich die Ennittlung des Ausbildungsertrages in dieser Studie noch auf Schätzgrößen
beruht, können die Erkenntnisse über Nettokosten der Ausbildung schon in Argumente für
den Nutzen der betrieblichen Bildungsarbeit eingearbeitet werden. Nutzen kann in verschie
denen Fonnen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen (vgl. von Bardeleben, Beicht &
Feher 1995, S. 106 ff.). Nutzen kann erstens als produktive Leistungen der Auszubildenden
während der Ausbildungszeit und damit als Ertrag anfallen. Zweitens kann man von einem
Nutzenvorteil bei Berücksichtigung des langfristigen Aspekts der Fachkräfte- und Nach
wuchssicherung sprechen. Drittens kann Nutzen in Fonn von Kosteneinsparungen nach der
Ausbildung anfallen. So hat ein ausbildender Betrieb Kostenvorteile im Vergleich zu einem
Betrieb, der seine Fachkräfte vom externen Arbeitsmarkt beziehen muß. Er muß in der Regel
höhere Personalbeschaffungskosten aufwenden. Er hat höhere Kosten für Einarbeitung und
Anpassungsqualiftzierung. Es fallen höhere Personalkosten für extern zu beschaffende Fach
kräfte an. Er geht ein höheres Fehlbesetzungsrisiko ein, muß höhere Fluktuationskosten in
Kauf nehmen und erleidet unter Umständen sogar einen Imageverlust
Ein Fazit dieser Studie lautet (von Bardeleben & Beicht 1996, S. 39 f.):
"Werden alle Fonnen des Ausbildungsnutzens zusammen betrachtet, also die produktiven Leistungen der Auszubildenden während der Ausbildungszeit, die Kosteneinsparungen im Vergleich zum nicht ausbildenden Betrieb sowie die langfristigen Aspekte der Fachkräfte- und Nachwuchssicherung, und diese den Ausbildungskosten gegenübergestellt, dann liegt klar auf der Hand, daß der Nutzen der Ausbildung für die Betriebe höher ist als die Kosten. ... Bei diesen Überlegungen bleibt schließlich der individuelle und gesellschaftliche Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung noch ganz außer Betracht"
Es können Erkenntnisse aus Kosten-Nutzenanalysen vielfältig verwendet werden (vgl. Ste
pan & Ortner 1995, S. 352). Sie können beispielsweise die kontroverse Diskussion über die
Allokation von Ressourcen in der beruflichen Bildung einer begründeten Entscheidung zu
führen. Sie können das Aushandeln der Tarifpartner über Fragen des zahlenmäßigen Ange
bots an Ausbildungsplätzen argumentativ stützen. Dabei können sie unter Umständen helfen,
beispielsweise das Vorurteil "Berufsausbildung ist zu teuer" abzubauen. Des weiteren kön
nen Kosten-Nutzenanalysen Systemvergleiche zwischen schulischen, betrieblichen und dua
len Organisationsfonnen erleichtern.
Qualifizienmgsvoraussetzung und Qualifikationsverwertung 17
4 Qualifizierungsvoraussetzung und Qualifikationsverwertung
Das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland besteht aus einem differenzierten Sy
stem von Institutionen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind (Primar-, Sekun
darstufen I und 11 sowie tertiärer Bereich) und die Übergänge gestatten (~ LS, Berufliches
Schulwesen). An den Übergängen zwischen Bildungseinrichtungen der verschiedenen Ebe
nen werden Zertiftkate vergeben und verlangt. Sie sind als Berechtigungsnachweise für die
Nutzung dieser Übergänge zwar notwendig, häuftg jedoch nicht mehr hinreichend.
Gerade die Berufsausbildung im dualen System ist von diesem Problem einer eingeschränk
ten Durchlässigkeit betroffen (vgl. Schaubild 4).
Zertifizierte Zertiftzierte Individuelle Bewertung Lernleistungen Lemleistungen von (teil-
von Lernleistungen
~
I I
Studium
und voll-) Allgemeinbildender Schulen berujsqualifizierenden
I Bewertung erworbener Qualifikationen
Bewertung von Qualiftzierungsvoraussetzungen
I Berufsausbildnng im dualen System
Berufsschule und Betrieb
I Bewertung beruflicher Qualifikationen
Bewertung von QuaJiftzierungsvoraussetzungen
I I I
Beruf! Freizeit Weiterbildung
Schulen
}-
I I
PolitikJ Wirtscbaft/ Gesellschaft
Schaubild 4: Behinderung der Durchlässigkeit im System der Berufsausbildung durch die doppelte Bewertung von Lemleistungen
18 Rahmenbedingungen
Das Problem stellt sich im dualen System selbst, stärker aber noch an den Übergängen, über
die das duale System betreten oder aber verlassen werden könnte. Eine Problemursache ist
darin zu sehen, daß Berufsschule und Betrieb erstens sowohl aufnehmende als auch abge
bende Institutionen sind und zweitens Institutionen verschiedener sozialer Systeme sind, die
ihre "Systemleistungen" folglich auch unterschiedlich bewerten (~ BWP, Systemzusam
menhänge). Hierdurch entstehen Vorgänge einer doppelten Bewertung von Qualiftkationen.
Diese Vorgänge sind im dualen System besonders ausgeprägt
Zu den bedeutendsten abgebenden Institutionen an die Berufsausbildung im dualen System
zählen die allgemeinbildenden Schulen: Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Ge
schichtlich betrachtet handelt es sich dabei um Schultypen mit unterschiedlichen Funktionen
innerhalb des Bildungssystems: Das Gymnasium sollte vor allem auf Führungspositionen in
staatlicher Verwaltung und Wirtschaft vorbereiten. Die Realschule war auf die Einnahme
mittlerer Positionen in Betrieb, Wirtschaft und Verwaltung ausgerichtet, auf die Ebene der
Meister und Techniker. Die Volks- bzw. Hauptschule schließlich sollte auf die Mehrzahl
beruflicher Tätigkeiten im Beschäftigungssystem vorbereiten (vgl. KeIl 1982, S. 298). Auf
diese Funktion war das jeweilige Bildungsangebot abgestimmt: Das Gymnasium vermittelte
Allgemeinbildung. Die Realschule stellte gehobene Anforderungen an eine theoretische
Durchdringung von Realien. Die Volks- bzw. Hauptschule vermittelte Elementarbildung in
Verbindung mit Arbeits- und Berufsvorbereitung.
Kennzeichnend für die Schultypen waren also die Vorstellungen von ihrem Beitrag zur sozia
len Schichtung und ein darauf abzustimmender Bildungskanon. Diese tradierten Vorstellun
gen von den Funktionen eines dreigliedrigen Bildungssystems werden aber zunehmend de
mentiert: Die quantitative und auch qualitative Bedeutung der Hauptschule als abgebende
Institution an das duale System ist kontinuierlich zurückgegangen. Dagegen drängen Abitu
rienten verstärkt in das duale System. Die sogenannten allgemeinbildenden Schulen können
sich nicht mehr allein darauf zurückziehen, Allgemeinbildung für soziale Oberschichten im
fachlich geordneten Lernen zu vermitteln. Sie werden zunehmend auch mit Erziehungsauf
gaben zur Förderung von Lernbereitschaft, Sozialverhalten, Wertorientierungen u. a. kon
frontiert und müssen sich dabei ganz auf ihre Schüler einlassen, um noch erfolgreich Bil
dungsarbeit leisten zu können. Selbst Schulgesetze, die immer besonders lange an tradierten
Vorstellungen von Schulbildung als Beitrag zur Stabilisierung von Gesellschaft festhielten,
erkennen mittlerweile veränderte Bildungsaufträge besonders auch an allgemeinbildenden
Schulen an (~ Z, Vergesellschaftung; ~ Z, Subjektivität).
Qualijizierungsvoraussetzung und Qualifikationsverwertung 19
Als Konsequenz ist abzulesen, daß schulische Lemleistungen besonders an allgemeinbilden
den Schulen primär rückblickend und bezogen auf speziftsche Schulziele bewertet werden,
und sich diese Schulen dabei als relativ abgeschlossen auch gegenüber weiterführenden
Schulen und anderen Bildungseinrichtungen betrachten. Thr Erfolg bemißt sich daran, ob und
inwieweit sie ihre eigenen Schulziele erreichen, und nicht etwa an den Qualifikationen, die
sie für andere Sozialsysteme erzeugt haben. Zertifikate, die sie ausstellen, dokumentieren
dies: Ein Hauptschulabschluß besagt nur, daß ein Hauptschüler das Ziel der Hauptschule
erreicht hat und macht keine zuverlässige Aussage darüber, daß er sich auch in einer Berufs
ausbildung bewähren wird. Ebenso wenig bestätigt eine bestandene Abiturprüfung, daß ein
Abiturient auch erfolgreich studieren wird, wie die hohen Abbrecherquoten an Universitäten
belegen. Solange sich jedoch Schüler im System Schule bewegen, wird an der Fiktion, daß
die zertifizierte AbschlußqualifIkation zugleich auch ein hinreichender Nachweis für eine
geforderte Eingangsqualifikation ist, festgehalten.
Die Situation ändert sich aber dann, wenn der Schüler das System Schule verläßt und in eine
Berufsausbildung eintreten möchte. Dann nämlich gehören abgebende fustitution und auf
nehmende fustitution verschiedenen Systemen an, und die zertifizierte Abschlußqualiflkation
wird einer Neubewertung unterzogen.
Schüler, die einen Ausbildungsplatz haben möchten, müssen sich in der Regel in einem Aus
wahlverfahren bewähren. Sie müssen psychologische Tests bestehen, sich in einem Assess
ment Center profilieren oder sich in einem Bewerbungsgespräch bewähren. Zwar orientieren
sich auch Betriebe bei Einstellungen zunächst an Dokumenten über bisher erbrachte Lem
leistungen, entscheidend ist jedoch letztlich die neue Bewertung, die der Bewerber durch
den Betrieb erfährt.
Die für das duale System so charakteristische Neubewertung von zertifizierten Lernleistun
gen zeigt sich besonders auch beim Übergang von teil- und vollqualifIZierenden beruflichen
Schulen in das duale System. Bei teilqualifizierenden schulischen Berufsausbildungen ist eine
Verkürzung der Ausbildung im dualen System ebenfalls nur mit einem anrechenbaren Teil
dieser Ausbildung zu begründen. Selbst berufliche VollqualifIZierungen in beruflichen Schu
len werden von der Umwertung nach betrieblichen Bedeutungen nicht ausgenommen. Schu
lische Ausbildungen in Assistentenberufen, beispielsweise in der Ausbildung zur kaufmänni
schen Assistenz, erfahren dagegen eine nur geringe Akzeptanz als berufliche Vollqualifikati
on. Sie werden allenfalls als einstiegserleichternde Qualifikationen in eine Ausbildung im
dualen System gewertet
20 Rahmenbedingungen
Das Problem der doppelten Bewertung von Lernleistungen im dualen System läßt sich aber
auch an der zweiten Schwelle der Berufsausbildung aufzeigen. Relativ unproblematisch
scheint der Übergang von der Berufsausbildung in den Beruf und in die betriebliche Wei
terbildung zu sein, weil sich dabei die systemspeziflSche Bewertung bisherigen erfolgreichen
beruflichen Lernens nicht oder nicht grundlegend ändert: Gesellen-, Facharbeiter- oder Ge
hilfenbriefe zertifizieren eine erfolgreiche Berufsausbildung und werden als günstige Ein
stiegsqualiftkation für eine berufliche Tätigkeit anerkannt. Beruflicher Erfolg seinerseits ist
wiederum eine günstige und unter Umständen sogar notwendige Voraussetzung für die In
anspruchnahme von betrieblicher Weiterbildung. Auch für die staatlich geregelte berufliche
Weiterbildung zu Meistern, Technikern, Fachwirten gilt: Zuvor erbrachte schulische lei
stungen sind neben Berufserfahrung wichtige Qualiftkationen, die auch als Eingangsqualift
kationen gewertet werden, solange deren Verwertung innerhalb desselben Systems erfolgt.
Die Situation ändert sich jedoch sofort, wenn berufliche und betriebliche Qualiftkationen in
Eingangsqualiftkationen für Fachhochschul- und Universitätsstudien umgemünzt werden
sollen. Dann nämlich werden berufliche Qualiftkationen, erworben in qualifizierten Erstaus
bildungen und Weiterbildungen, nicht oder nur mit erheblichen Abstrichen als Eingangsqua
liftkationen gewertet. Dies ist nach einer Berufsausbildung der Fall, wenn diese etwa nur
einem mittleren Bildungsabschluß gleichgestellt wird, oder wenn beruflich Qualiftzierte ein
Studium aufnehmen wollen. Diese müssen sich dann einer Eingangsprüfung unterziehen,
werden nur zum Probestudium zugelassen und können nur fachgebunden studieren.
Allerdings zeichnet sich derzeit eine generelle Neubewertung beruflicher QualifIkationen ab,
damit diese auch im Studium verwertbar sind (~ LS, DoppelqualifIkation). In der tradierten
Sichtweise auf berufliche Qualiftkationen wird zwar immer unterstellt, daß eine Studierfä
higkeit allein über ein fachlich geordnetes Lernen auf der gymnasialen Oberstufe und ver
gleichbarer (zusätzlicher) Bildungsangebote beispielsweise durch die Fachoberschule erreicht
werden kann. Empirische Untersuchungen, aber auch Erfahrungen mit beruflich Qualifizier
ten im Studium zeigen jedoch, daß diese tradierte Sichtweise unbegründet ist. Werden an
Stelle der fachlichen Lernleistungen die im fachlichen Lernen vermittelten Kompetenzen für
eine Bewertung herangezogen, läßt sich auch für beruflich Qualiftzierte unter Umständen
eine Studierfähigkeit nachweisen (vgl. Bremer, Heidegger, Schenk:, Tenfelde & Uhe 1993).
Dennoch bleibt die doppelte Bewertung von Qualiftkationen einerseits als Abschlußqualift
kation und andererseits als EinstiegsqualifIkation eine Rahmenbedingung beruflichen Ler
nens, die in dieser diskriminierenden Form sonst nirgends anzutreffen ist.
Berufliche Weiterbildung 21
5 Berufliche Weiterbildung
Die historischen Wurzeln der Weiterbildung können bis in die Aufklärung des 18. Jahrhun
derts zurückverfolgt werden. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten sich erste Handwer
ker- und Arbeiterbildungsvereine mit dem Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs
ihrer Mitglieder (~ BWP, Vergesellschaftung). Auch die Kirchen trugen zum Weiterbil
dungsangebot bei (z. B. Kolpingvereine). Trotzdem bedeutete berufliche Bildung noch bis in
die 1970er Jahre hinein in der Regel berufliche Erstausbildung von Jugendlichen. Erst mit
dem Strukturplan des Deutschen Bildungsrates (~ B, Institutionen und Organisationen)
1970 wurde nun die gesellschaftliche Bedeutung auch der beruflichen Weiterbildung als ein
eigenständiger Bereich innerhalb der beruflichen Bildung besonders herausgestellt
In der DDR dagegen war die Weiterbildung in der Bezeichnung "Erwachsenenbildung"
schon früher von großer Bedeutung. So war bereits 1965 per Gesetzesbeschluß der Bereich
der Weiterbildung in das staatliche Bildungswesen integriert und diente insbesondere der
Ausbildung der Un- und Angelernten zu Facharbeitern sowie zur Aufstiegsqualifizierung der
Facharbeiter zu Meistem. Aber auch Hochschul- und Fachhochschulabsolventen wurden in
die Weiterbildungaktivitäten eingeschlossen. Einerseits wurde so die Gelegenheit des berufli
chen und sozialen Aufstiegs angeboten, andererseits konnten die Betriebe bedarfsgerecht
(weiter)qualifizieren. Die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung erfolgte denn auch
durch die Betriebe. Die Trägerschaft lag dementsprechend bei den Betriebsakademien, aber
auch bei Berufsverbänden, Innungen des Handwerks und Kammern der Technik (vgl. Ar
beitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 725).
Verschiedene Formen der Weiterbildung können unterschieden werden.
Nach dem Merkmal des Abschlusses lassen sich abschlußbezogene und nicht
abschlußbezogene Weiterbildung differenzieren. Abschlußbezogene Weiterbildungsmaß
nahmen haben in der Regel mittlere QualifIkationsebenen als Zielgruppe. Eine marktgängige
Verwertung dieser Maßnahmen wird möglich durch Zertifizierung (z. B. in der Meisteraus
bildung). Bei nicht-abschlußbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen, die in Deutschland be
sonders bedeutsam sind und zumeist betrieblich organisiert sind, sind die Betriebe sowohl
Nachfrager als auch Anbieter entsprechender Qualiflzierungsmaßnahmen (vgl. Dobischat
1996, S. 166). Je nach Aufgabe der beruflichen Weiterbildung lassen sich folgende Arten
kennzeichnen: Anpassungsfortbildung, die bereits erworbene berufliche QualifIkationen auf
den neuesten Stand bringt, Aufstiegsfortbildung, die bereits erworbene QualifIkationen wei
terentwickelt, berufliche Umschulung, die eine aktuell angeforderte neue QualifIkation
22 Rahmenbedingungen
vermittelt und berufliche Reaktivierung, die nach längerer Unterbrechung den Wiedereintritt
ins Erwerbsleben vorbereitet. Des weiteren ist berufliche Weiterbildung auch berufliche Re
habilitation für die Wiedereingliederung Erwachsener, deren berufliche QualifIkationen oder
Arbeitsfähigkeit durch Unfall oder Krankheit teilweise oder vollständig verloren gegangen
sind. Der Vollständigkeit halber seien noch die folgenden Formen genannt: berufliche Reso
zialisation für Straffällige, berufliche Einarbeitung sowie der Sonderfall der beruflichen Er
stausbildung Erwachsener (vgl. Dikau 1995, S. 429; Münch 1994, S. 63). Je nach Sektoren
gibt es innerbetriebliche, überbetriebliche und außerbetriebliche Weiterbildungsmaßnahmen
(Schlaffke 1982, S. 62). Die innerbetriebliche Weiterbildung richtet sich an Firmenangehöri
ge und ist nur auf betriebsinterne Zwecke ausgerichtet. Die überbetriebliche Weiterbildung
hingegen wird meist in Kooperation mit anderen Betrieben z. B. in Bildungswerken und
ähnlichen Bildungseinrichtungen der Kammern, Innungen, Wirtschaftsverbände etc. durchge
führt. Die außerbetriebliche Weiterbildung wird in einer vom Unternehmen unabhängigen
Weiterbildungseinrichtung durchgeführt (z. B. Kirchen, Volkshochschulen, Akademien von
Gewerkschaften, Stiftungen).
Bereits die aufgeführten unterscheidbaren Formen von Weiterbildungsmaßnahmen deuten
an, wie vielfältig und zum Teil auch intransparent sich das Weiterbildungssystem darstellen
läßt, beispielsweise mit den Worten:
" ... das Weiterbildungssystem (ist) ein historisch gewachsenes komplexes Gebilde divergierender Funktions- und Aufgabenzuweisungen ... , (spiegelt) unterschiedliche soziale Bezüge und gesellschaftliche Interessen wider ... und (ist) durch vielfältige rechtliche, organisatorische, fmanzielle und curriculare Bezugspunkte und Zuständigkeiten gekennzeichnet" (Dobischat 1996, S. 165).
Für den Bereich der beruflichen Weiterbildung existiert keine einheitliche gesetzliche Rege
lung. Er ist vielmehr durch große Heterogenität an Zuständigkeiten gekennzeichnet. Soweit
dennoch gesetzliche Regelungen getroffenen wurden, ist der Bund für Fragen der berufli
chen Weiterbildung zuständig, während die Länder in Fragen der allgemeinen Erwachse
nenbildung entscheiden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Staat insgesamt eine nur
schwach ausgeprägte Ordnungs- und Gestaltungsfunktion gerade im Bereich der Anpas
sungsfortbildung ausübt. Hierfür sind die (in der Regel privatwirtschaftlichen) Betriebe zu
ständig, denen auch die Organisation und Finanzierung obliegt.
Zum wichtigsten Träger der beruflichen Weiterbildung gemessen an der Zahl der Teilnehmer
und nach Zahl des Weiterbildungsvolumens zählen die Betriebe, gefolgt von den privaten
Institutionen, den Kammern und Fachschulen sowie den Berufsverbänden und Gewerkschaf-
Berufliche Weiterbildung 23
ten (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 727). Bemerkenswert ist, daß die Hoch
schulen kein nennenswertes Angebot im Bereich der Weiterbildung anbieten, obgleich sie
bereits mit dem 1976 verabschiedeten Hochschulrahmengesetz auch die (berufliche) Wei
terbildung in ihr Aufgabenspektrum aufgenommen haben. Die geringe Rolle der Hochschu
len im Bereich der beruflichen Weiterbildung läßt sich im übrigen auch für die Europäische
Union bestätigen (vgl. Europäische Kommission 1996, S. 88).
Wie in der betrieblichen Erstausbildung so sind auch für die betriebliche Weiterbildung Wirt
schaftlichkeitsüberlegungen bedeutsam. Nach einer Untersuchung von 1993 fielen in den
befragten Unternehmen pro Teilnehmer 2722 DM Kosten für sogenannte klassische Wei
terbildung an, das sind umgerechnet auf die Beschäftigten 533 DM (vgl. Grünewald &
Moraal1995, S. 12). Die Untersuchung konnte keine signiftkanten Unterschiede in der Ko
stenhöhe in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße nachweisen. Unterschiede bestehen
jedoch zwischen den alten und neuen Bundesländern. So fallen in den alten Bundesländern
signiftkant mehr Weiterbildungskosten an. Weitere Unterschiede bestehen zwischen den ein
zelnen Branchen. Die größte Differenz in den anfallenden Weiterbildungskosten konnte zwi
schen den Branchen Maschinenbau und Einzelhandel aufgewiesen werden (vgl. Grünewald
& Moraal 1995, S. 12 ff.). Kritisch muß hierzu angemerkt werden, daß es ähnlich wie bei
der betrieblichen Erstausbildung auch im Weiterbildungsbereich schwer fällt, die Kosten zu
ermitteln. Und dies angesichts der Tatsache, daß sich auch im Bereich der Weiterbildung
Betriebe zu Kürzungen veraniaßt sehen und dann auf Grundlage ungenauer Daten und Ein
schätzungen entscheiden!
Allerdings stehen Entscheidungen über betriebliche Weiterbildung letztlich in einem depen
denten Verhältnis von rechtlichen, ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingun
gen.
Das Personal in der Weiterbildung besteht zumeist aus nebenberuflichen, zum Teil auch eh
renamtlichen, seltener aus hauptberuflichen Weiterbildnern. Insgesamt scheint dabei die
fachliche, kommunikative und methodische Kompetenz des Weiterbildungspersonals ein
Problemfeld zu sein (vgl. Dikau 1995, S. 438; Münch 1994, S. 73), weshalb auch häufig der
Vorteil eigener Praxiserfahrungen im zu lehrenden Bereich nicht umgesetzt und genutzt
werden. Schwierigkeiten im Professionalisierungsgrad des Personals sind nicht zu übersehen
(~ LA, Betriebliches Ausbildungspersonal).
24 Rahmenbedingungen
Das Teilnehmer- und Teilnahmeverhalten an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen zeigt
bereits eine Studie von 1979 auf. An- und ungelernte Arbeiter sowie Facharbeiter stellen den
weitaus geringeren Anteil an Weiterbildungsteilnehmern als Angestellte und Führungskräfte.
Dieses Ergebnis konnte fünfzehn Jahre später im wesentlichen bestätigt werden. Genauer: Es
nehmen 42 % der Führungskräfte, 26 % der Fachkräfte und lediglich 7 % der un- oder ange
lernten Kräfte an entsprechenden Lehrveranstaltungen teil (vgl. Bundesinstitut für Berufsbil
dung 1996, S. 7). Dadurch werden bereits vorhandene Ungleichgewichte in Bildung und
Ausbildung durch die Weiterbildung noch verstärkt. Gerade die erste Gruppe erhält in der
Regel kurzfristige Einweisungen, die nach dem Schema des leaming by doing ablaufen und
nicht zu den Weiterbildungsmaßnahmen gerechnet werden. Doch nicht nur die berufliche
Position stellt ein Differenzierungskriterium der Teilnahme an beruflichen Weiterbildungs
maßnahmen dar, sondern auch Branche, Betriebsgröße, Geschlecht und Alter. Es konnte
aber gezeigt werden, daß die Bereitschaft, an Weiterbildung teilzunehmen, insgesamt beför
dert werden kann, wenn besonders den bisher Weiterbildungsabstinenten angemessene inner
oder außerbetriebliche Angebote gemacht werden, sie gezielt durch Kollegen angesprochen
werden, die Unterweisung praxisnah und anschaulich erfolgt und eine befriedigende fman
zielle Regelung getroffen wird (vgl. Kuwan 1996, S. 82 f.). Förderlich haben sich auch die
Transparenz der Angebote und Zugangsmöglichkeiten, eine angemessene zeitliche Organi
sation und Erreichbarkeit der Bildungsstätten erwiesen.
Die klassische Form der Lernorganisation ist immer noch die der Kurse und Lehrgänge. Die
Weiterbildungsangebote jenseits der klassischen Formen zeichnen sich durch eine Verbin
dung von Lernen und Arbeiten aus, z. B. als Qualifizierung im Rahmen von sogenannten On
the-job-Maßnahmen (-+ LB, Arbeiten und Lernen). Zu diesen Maßnahmen gehören bei
spielhaft Lernstatt, Qualitätszirkel, Job-Rotation und selbstgesteuertes Lernen (-+ LB, Kon
zepte betrieblichen Lernens). Bei einer Bewertung des Erfolgs betrieblicher Bildungsmaß
nahmen (Evaluation) steht die Bewertung der Kosten meist noch im Vordergrund. Die Be
wertung des Erfolgs bzw. der Efftzienz der durchgeführten Bildungsmaßnahmen stellt insge
samt nach wie vor eine Schwachstelle dar.
Internationalisierung 25
6 Internationalisierung
Im Zuge der zunehmenden Globalisierung der Märkte, des stetigen Wirtschaftswachstums
und des weltweiten technologischen Fortschritts wird der Berufsbildung und den Qualifi
kationen der Humanressource große Bedeutung beigemessen. Diese Bedeutung zeigt sich z.
B. in der zunehmenden Beachtung des Bildungsbereiches innerhalb der Vertragswerke für
die Europäischen Gemeinschaften.
Wenngleich die Römischen Verträge vom 25. März 1957 Fragen der allgemeinen und be
ruflichen Bildung noch nicht abdeckten, entstanden ab Mitte der 1970er Jahre erste Koope
rationen der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich auf der Basis von Erschließungen. So las
sen sich zum Beispiel ganz konkrete Aktionen der Europäischen Union hinsichtlich einer
gemeinsamen Bildungspolitik aufweisen. Hierunter fällt die Gründung des Beratenden
Ausschusses für die Berufsausbildung (1963), des Ausschusses für Bildungsfragen (1974),
des Europäischen Hochschulinstituts (1976) sowie des Europäischen Zentrums für die För
derung der Berufsbildung (1975) (~ B, Berufsbildungsforschung) (vgl. Schweitzer &
Hummer 1996, S. 497). In die Einheitliche Europäische Akte (1986) ist dann endgültig
auch die europäische Frage im Bildungswesen festgeschrieben worden (vgl. Kommission
der Europäischen Gemeinschaften 1993, S. 16).
Der Vertrag über die Europäische Union von Maastricht vom 7. Februar 1992 hat neue
Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Bildungswesen durch Artikel 126 und 127 geschaf
fen. Die Verantwortung für Inhalt und Gestaltung der allgemeinen und beruflichen Bildung
verbleibt jedoch weiterhin aufgrund des Subsidaritätsprinzips bei den einzelnen Mitglied
staaten der Gemeinschaft. Allerdings darf die Gemeinschaft gemäß Artikel 126 IV Förder
maßnahmen im Bereich der Bildung und gemäß Artikel 127 IV Maßnahmen im Bereich
der beruflichen Bildung vorschlagen und erlassen, allerdings in erster Linie als Unterstüt
zung und Förderung. Eine Harmononisierung wird explizit ausgeschlossen (§ 127 (1»:
"Die Gemeinschaft führt eine Politik der beruflichen Bildung, welche Maßnahmen der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für Inhalt und Gestaltung der beruflichen Bildung unterstützt und ergänzt".
Mit der möglichen Umsetzung von Maßnahmen werden folgende Ziele versucht zu errei
chen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1993, S. 4):
• "Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen, insbesondere durch Erlernen und Verbreitung der Sprachen;
26 Rahmenbedingungen
• Förderung der Mobilität von Lernenden und Lehrenden, auch durch die Förderung der akademischen Anerkennung der Diplome und Studienzeiten;
• Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen; • Ausbau des Informations- und Erfahrungsaustausches über gemeinsame
Probleme im Rahmen der Bildungssysteme der Mitgliedstaaten; • Förderung des Ausbaus des Jugendaustausches und des Austausches sozial
pädagogischer Betreuer; • Förderung der Entwicklung der Fernlehre. "
Deutlicher auf Berufsbildung abgestellt sind die im Weißbuch "Wachstum, Wettbewerbs
fähigkeit, Beschäftigung" der Europäischen Kommission (1994, S. 143 f.) aufgeführten
Ziele:
• Ausbildung als Katalysator einer Gesellschaft im Wandel
• Erlernen des lebenslangen Lernens
• Kürzere und stärker praxisbezogene Ausbildung
• Ausbau der Berufsausbildung - auch als Alternative zur Universität
• Entwicklung, allgemeine Verbreitung und systematische Gestaltung der Weiterbildung
• Einführung flexibler und offener Ausbildungssysteme
• Entwicklung der Anpassungsfähigkeit des einzelnen
• Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und der Wirtschaft
• Verbesserung der Koordinatierung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Ausbil
dungsangebot
Zur Erreichung dieser Ziele werden seit den 1980er Jahren ganz konkrete Aktionspro
gramme der Europäischen Union erarbeitet. Bei diesen konkreten Aktionsprogrammen
handelt es sich im Bereich der Berufsbildung um Programme mit dem Schwerpunkt auf der
beruflichen Erstausbildung, der Sprachbildung, der beruflichen Bildung in Zusammenarbeit
mit Nicht-EU-Ländern, der Höheren Bildung sowie der ständigen Weiterbildung (vgl.
Collins 1993, S. 14). Zu den Aktionsprogrammen der "ersten Generation" gehören insbe
sondere Comett (Hochschulbildung), Erasmus (Hochschulbildung), Petra (Berufs
ausbildung), Iris (Netzwerk für berufliche Bildung für Frauen), Ligua (Fremd
sprachenkenntnisse), Tempus (Hochschulsystementwicklung in den Ländern Mittel- und
Osteuropas), Eurydice (Fernlehre), Arion (Informations- und Erfahrungsaustausch), Force
(Berufliche Weiterbildung), Comenius (Schulbildung), Euroform (Förderung neuer Be
rufsqualiflkationen, Fachkenntnisse und Beschäftigungsmöglichkeiten), YES (Aus
tauschprogramme für junge Arbeitskräfte und Jugendliche), NOW (Chancengleichheit von
Frauen in der Beschäftigung und beruflichen Bildung) und Eurotecnet (Innovationen in der
Internationalisierung 27
beruflichen Bildung). Diese Programme liefen Ende 1994 aus und führten bis dahin zum
verstärkten Austausch von Schülern, Auszubildenden, Studenten, Wissenschaftlern und
Lehrenden, halfen bei der ModifIkation von Bildungs- und Ausbildungssystemen, unter
stützten die sprachliche Fortbildung und förderten den Erwerb von Auslandserfahrungen.
1995 wurden diese Einzelprogramme in zwei großen EU-Bildungsprogrammen zusam
mengefaßt, Socrates und Leonardo da Vinci, die die Zusammenarbeit im Bereich der all
gemeinen und beruflichen Bildung innerhalb der Europäischen Union fördern und gestalten
helfen sollen. Socrates ersetzt die Programme Erasmus, Comenius, Lingua, Eurydice sowie
Arion. Damit werden insbesondere Maßnahmen auf dem Hochschulsektor und des Schul
bereichs gefördert. Leonardo faßt die Programme Comett, Petra, Force und Eurotecnet
sowie Teile von Lingua zusammen und will die Qualität der Berufsbildungspraxis in den
Mitgliedstaaten sichern und erhöhen. Gefördert werden Projekte und Maßnahmen unter
anderem aus dem Bereich der beruflichen Ausbildung. "Gründung eines eigenen Unter
nehmens im Ausland" stellt ein Beispiel für ein im Rahmen des Leonardo Programms ge
förderten europäischen Projektes im Bereich der beruflichen Ausbildung dar. Hier wird von
den beteiligten Handelsschulen aus Dänemark, Luxemburg, Portugal und den Niederlanden
die Gründung transnationaler Firmen simuliert. Aber auch der Bereich der beruflichen
Weiterbildung wird gefördert. Betrachtet man nämlich die Ausgestaltungen beruflicher
Weiterbildung in den Mitgliedstaaten, zeigt sich zwar ein einheitliches, aber unzufrieden
stellendes Bild (vgl. Schmidt 1997, S. 168 ff.). So kann sowohl die Transparenz des Wei
terbildungsangebotes als auch die Transparenz der erwerbbaren QualifIkationen und Zerti
fIkate als ungenügend eingestuft werden. Hinzukommt, daß bestimmte Arbeitnehmergrup
pen von Maßnahmen der Weiterbildung ausgeschlossen werden. Mit Hilfe von Maßnah
men, wie z. B. dem Aufbau von Weiterbildungsstatistiken, der Gewährung fmanzieller Hil
fen für kleine und mittlere Betriebe sowie der Unterstützung von betrieblicher Weiterbil
dungsplanung versucht die Europäische Kommission, den Bereich der Weiterbildung in
Europa zu verbessern (vgl. Schmidt 1997, S. 173).
Neben diesen Maßnahmen und Aktionsprogrammen haben folgende Verordnungen, Richt
linien und Entscheidungen des Europäischen Rates und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften trotz Subsidiaritätsprinzip ganz direkte Auswirkungen auf die jeweils na
tionalen Berufsbildungspolitiken der Mitgliedstaaten (piehl & Sellin 1995, S. 443 ff.):
• Regelungen und Richtlinien über die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Zeug
nissen und sonstigen Befähigungsnachweisen;
28 Rahmenbedingungen
• Regelung über Hochschulabschlüsse, die den Zugang zu sogenannten reglementierten
Berufen eröffnet;
• Richtlinien über Gesundheits- und paramedikale Berufe, Architektur und einige typische
Selbständigenberufe;
• Richtlinie zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Be
rufsausbildung abschließen;
• Regelung für reglementierte Berufe unterhalb der Hochschulebene;
• Entsprechungen der beruflichen Befähigungsnachweise auf der Basis eines fünfstufigen
Entsprechungssystems. Dieses System ordnet der ersten Stufe die Pflichtschule und kur
ze Einführungsausbildung in den Beruf zu. Die zweite Stufe umfaßt die Pflichtschule
und eine volle Berufsausbildung. Die dritte Stufe umschließt die Pflichtschule und eine
Berufsausbildung mit zusätzlicher Fachausbildung bzw. eine sonstige Fachausbildung
auf der Ebene der Sekundarstufe. Zur vierten Stufe gehört die allgemeinbildende oder
berufsbildende Sekundarschule mit anschließender Fachausbildung und zur fünften Stu
fe schließlich die allgemeinbildende oder berufsbildende Sekundarschule und abge
schlossene Ausbildung an einer Hochschule oder eines anderen tertiären Bereiches (vgl.
Rat der Europäischen Gemeinschaften 1985, S. 59). Zu beachten ist, daß sich dieses Sy
stem auf Überlegungen in vollzeitschulischen Berufsbildungsbereichen stützt. Absolven
ten des deutschen dualen System müssen daher "schlechter" abschneiden.
Die Notwendigkeit von Entsprechungsverfahren macht deutlich, daß es verschiedene Vari
anten der beruflichen Ausbildung gibt. So lassen sich folgende Varianten der beruflichen
Ausbildung weltweit feststellen (vgl. Blossfeld 1993, S. 24; Münch ,).997, S. 181 f.; für
weitere Klassifizierungsversuche siehe u. a. Deißinger 1995; Greinert 1988):
• die Ausbildung innerhalb eines Systems von allgemeinbildenden oder berufsbildenden
Schulen (Schulmodelle); vorfmdlich z. B. in Frankreich, den Beneluxstaaten und
Schweden.
• die Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten.
• die Ausbildung im Rahmen von dualen Systemen (Kooperationsmodelle); insbesondere
in den deutschsprachigen Ländern und in Dänemark.
• das On-the-job-Training am Arbeitsplatz im Betrieb (Betriebsmodelle); primär u. a. in
Großbritannien, Italien, aber auch den USA.
Diese Varianten kommen in allen Ländern vor, wenn auch in jeweils ganz spezifischer
quantitativer Bedeutung und Ausprägung (vgl. Blossfeld 1993, S. 24).
Internationalisierung 29
Die Anwendung des Entsprechungsverfahrens zeigt ferner, daß verschiedene nationale Be
rufsbildungssysteme miteinander verglichen werden, um als Ergebnis eine qualitative
Rangfolge zu erhalten. Es werden Kategorisierungen entwickelt, die Vorzüge und Nachtei
le der verschiedenen nationalen Berufsbildungssysteme aufdecken wollen. Mißachtet wer
den dabei allerdings ihr jeweils spezifischer kultureller, historischer und sozialer Entste
hungs- und Entwicklungshintergrund:
"Unabhängig von den jeweils benutzten Vergleichskriterien für die Systematisierung von Berufsbildunsgsystemen greift allein die Fokussierung auf das soziale Handlungssystem "berufliche Bildung" zu kurz, weil es die Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Handlungssystemen unberücksichtigt läßt. Die jeweilige Interaktion mit den vor-, neben- und nachgelagerten sozialen Teilsystemen und deren funktional-struktureller Zusammenhang erklären aber erst den "Sinn" des jeweiligen Berufsbildungssystems" (Georg 1997b, S. 158 f.).
Internationale Vergleiche vermögen statt dessen, gemeinsame Lösungsversuche anzuregen,
das Voneinanderlernen zu fördern, ein allgemeines Erkenntnisinteresse zu befriedigen, die
Selbstbeobachtung zu stärken usw. (vgl. Georg 1997b, S. 164; Münch 1997, S. 180).
Auch außerhalb der Europäischen Union finden sich Partner für internationale Zusammen
arbeit in Fragen der Berufsbildung. So werden Projekte und Maßnahmen im Bereich der
beruflichen Bildung von bundesdeutscher Seite mit Staaten in Mittel- und Osteuropa, mit
Staaten der früheren Sowjetunion und allgemein mit den sogenannten Entwicklungsländern
durchgeführt. Organisationen, die entsprechende Studien z. B. in Südkorea, Taiwan, Ma
laysia, Thailand, Usbekistan, Kasachstan oder im Nahen Osten in Auftrag geben bzw.
selbst ausführen, sind u. a. die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, die
Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung und die Carl-Duisberg-Gesellschaft. In
aller Regel handelt es sich bei diesen Studien und Projekten um (vgl. Bundesministerium
für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996, S. l36):
• allgemeine Erfahrungsaustausche,
• Hilfen beim Aufbau von modellhaften Berufsbildungsstätten und Berufsbildungsinstitu
ten,
• Entwicklungen neuer Berufe, deren curricularer Ausgestaltung und didaktisch
methodischer Umsetzung,
• Modernisierungsbemühungen der Aus- und Weiterbildung von ausgewählten Berufen,
• Fortbildungen für Lehrende etc.
30 Rahmenbedingungen
Hinter dem Begriff der "Berufsbildungszusammenarbeit" verbirgt sich meist ein einseitiger
Prozeß der Entwicklungshilfe an sogenannte Entwicklungsländer. "Die ökonomisch über
legene Seite gibt, die ökonomisch unterlegene Seite nimmt" (Schoenfeldt 1997, S. 206).
Damit wird unausgesprochen unterstellt, daß die ökonomisch überlegene Seite - die westli
chen Industrieländer - gleichermaßen auch im Bereich der Berufsbildung überlegen sei
(vgl. Nölker 1997, S. 206). Eine weitere, lange Zeit unangefochtene Unterstellung besteht
darin zu glauben, daß sich Berufsbildungssysteme ungeachtet ihrer spezifisch kulturellen,
historischen und sozialen Entstehungs- und Entwicklungskontexte beliebig auf andere Na
tionen übertragen ließen. Mit dem steigenden Einfluß von Japan und anderen asiatischen
Staaten auf das Weltwirtschaftsgeschehen und den negativen Erfahrungen mit dem Export
von Berufsbildungssystemen in Entwicklungsländer gerieten diese Unterstellungen in die
Kritik. Es reifte die Erkenntnis,
"daß Berufsbildung immer nur im Rahmen der im jeweiligen Land vorhandenen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen einen Entwicklungsbeitrag leisten kann" (Georg 1997a, S. 5).
Nölker spricht mittlerweile gar von einer "Trendwende in Richtung freier Grundlagendis
kussion und Theoriesuche" auch im Bereich der entsprechenden Forschungen (Nölker
1995, S. 418). Zugleich zeigt sich die WeiterentwiCklung der Zusammenarbeit im Bereich
der Berufsbildung darin, daß verstärkt auf die Selbstverantwortung und Selbsthilfe der Ko
operationspartner und auf die Förderung konkreter Sozialgruppen und regionaler Projekte
abgestellt wird. Darüber hinaus werden im Hinblick auf Systemberatung und Systement
wicklung Zusammenhänge der Berufsbildungshilfe mit anderen Bereichen, langfristige
Wirkungen und Rückkoppelungsprozesse berücksichtigt (vgl. Nölker 1995, S. 421).
literatur 31
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Strukturbegriff:
Berufsbildungspolitik
RahmeabedinBUl1gen
Ausbildung ef::.==----I-~I-i~~;;;:.:;:liV---+-::::::::~ Zielsetzungen dcc Lehrcc und der Ausbilder
Lernort Betrieb
1 Institutionen, Organisationen und KonDiktlinien
Politik sei grob definiert als Umgang mit Macht. Wenn verschiedene Akteure versuchen,
durch Macht und Machtausübung auf Entscheidungen und Handlungen anderer Akteure
Einfluß zu gewinnen, werden sie politisch tätig. Solche politische Betätigung fmdet zumeist
in Institutionen und durch Institutionen statt und zielt auf eine Mitgestaltung bestimmter
Bereiche gesellschaftlichen Handeins ab.
Wenn allgemein von Bildungspolitik die Rede ist, ist in erster Linie eine Politik gemeint, die
Bildungsprozesse, die in den Institutionen Schule und Hochschule stattfinden, direkt oder
indirekt zu beeinflussen versucht. Berufsbildungspolitik ist aber komplizierter. Zwar ist
einigermaßen klar zu umreißen, daß sich diese Politik auf eine Mitgestaltung der beruflichen
Bildung ausrichtet. Jedoch sind die berufsbildungspolitischen Akteure und Institutionen nicht
so leicht auszumachen, weil sich Berufsbildungspolitik in vielfältigen gesellschaftlichen Ver
flechtungen und mit vorwiegend wirtschaftlichen Interessen an einer Mitgestaltung entwik
kelt (~ BWP, SystemzusammenhäDge).
Warum ist Berufsbildungspolitik so kompliziert? MÜDCh benennt hierfür folgende Gründe
(1995, S. 398):
"- Der rechtliche Dualismus im Bereich der Lehrlingsausbildung (Bundeskompetenz für die Ausbildung in den Betrieben - Länderkompetenz für die Berufsschule)
34 Berufsbildungspolitik
- die relative Nähe der Berufsbildungspolitik zur Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik
- das unmittelbare und starke Interesse der Arbeitgeberorganisationen an der Berufsausbildung
- das unmittelbare und starke Interesse der Gewerkschaften an der Berufsbildung
- die Vielfalt der Gremien und Institutionen, die sich mit Fragen der Berufsbildung befassen."
Berufsbildungspolitik wird betrieben, seit berufliche Bildung institutionalisiert und regle
mentiert ist (~ BWP, Beruf). Der Begriff "Berufsbildungspolitik" ist aber noch relativ jung.
Er wird erst seit ungefähr dreißig Jahren benutzt. Vorher sprach man von Berufsbildungsre
form, Berufsschulreform usw. Erst in den 1960er Jahren ging der Begriff insbesondere im
Zusammenhang mit dem Berufsbildungsgesetz in die wissenschaftliche Diskussion ein (~ R,
Rechtlich-institutionelle Grundlagen).
Trotz der Schwierigkeiten, die vielen berufsbildungspolitischen Akteure und Institutionen zu
beschreiben, läßt sich über Berufsbildungspolitik nur dann gehaltvoll reden, wenn zumindest
einige bedeutende Institutionen und Organisationen vorgestellt und die zwischen ihnen ver
laufenden politischen Konfliktlinien analysiert werden können.
Auf der Bundesebene wird Berufsbildungspolitik im Parlament durch Gesetzgebung und
von der Bundesregierung durch Gesetzanwendung praktiziert. Mehrere Ministerien, u. a. das
Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie und das Ministerium für
Wirtschaft, sind daran beteiligt Von großer Bedeutung sind auch nachgeordnete Behörden,
wie beispielsweise das Bundesinstitut für Berufsbildung. Auf Bundesebene wirken aber auch
die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber, wie der Deutsche Industrie- und Handelstag und
der Deutsche Handwerkskammertag, und die Organisationen der Arbeitnehmer, wie der
Deutsche Gewerkschaftsbund, mit. Eine besondere Rolle nimmt das Institut der Deutschen
Wirtschaft ein, weil in ihm arbeitgeberorientierte Positionsbeschreibungen, Stellungnahmen
und Analysen zur Berufsbildungspolitik erarbeitet und publiziert werden.
Schließlich ist noch die Konferenz der Kultusminister zu erwähnen, die durch ihre Stellung
nahmen und Empfehlungen zur Gestaltung von beruflichen Schulen und Berufsschulunter
richt eine berufsbildungspolitisch bedeutende Institution darstellt. Gelegentlich vorgetragene
Meinungen, diese Institution sei überholt und sollte besser abgeschafft werden, reflektieren
kaum die praktische Bedeutung, die dieser Institution bisher auch für die Berufsbildungspo
litik zukam.
Institutionen. Organisationen und Konjliktlinien 35
Auf der Länderebene wird Berufsbildungspolitik durch die Kultusministerien dominiert.
Kultusministerien erarbeiten die Lehrpläne für berufliche Schulen. Sie berücksichtigen dabei
die Rahmenvereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Sie stellen und bezahlen auch die
Lehrerschaft und sind in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftsressorts und den Universitä
ten für die Lehrerausbildung zuständig (-+ LA, Professionalisierung).
Zwischen diesen Einrichtungen auf Bundes- und Länderebene (gegebenenfalls auch regiona
ler Ebene) sind nun politische Beziehungen auszumachen, die als Konfliktlinien bezeichnet
werden können (vgl. Dauenhauer 1997). Schaubild 1 zeigt eine Reihe von geradezu vorpro
grammierten Konflikten im Bereich der beruflichen Bildung auf.
Schaubild 1: Konfliktmöglichkeiten im Bereich der beruflichen Bildung (vgl. Dauenhauer 1997, S. 105)
Eine wichtige Konfliktlinie zwischen dem Bund und den Ländern entsteht dadurch, daß der
Bund versucht, mehr Rechte und damit auch mehr politische Macht im Feld der beruflichen
Bildung zu bekommen. Die Länder andererseits wachen sehr genau darüber, keine der bis
herigen Kompetenzen abgeben zu müssen (-+ R, Rechtlich-institutionelle Grundlagen).
Eine andere Konfliktlinie besteht zwischen dem Bund, repräsentiert durch die Institutionen
Bundesregierung und Bundestag, und den Institutionen "der Wirtschaft", die die Ausbil
dungsbetriebe vertreten. Die auftretenden Konflikte lassen sich etwa folgendermaßen umrei
ßen: Von seiten des Gesetzgebers, des Bundes, wird versucht, die "naturwüchsige Land-
36 Berujsbildungspolitik
schaft" der beruflichen Bildung dadurch zu kultivieren, daß Standards gesetzt und möglichst
vergleichbare Ausbildungen geschaffen werden. Ausbildungsbetriebe dagegen sind daran
interessiert, berufliche Bildung möglichst individuell nach einzelwirtschaftlichen Anforderun
gen zu gestalten und möglichst für diesen Betrieb und nur für diesen Betrieb zu qualifizieren,
auch wenn dies nicht dem gesamtwirtschaftlichen Vorteil beruflicher Mobilität entspricht
Eine weitere Konfliktlinie markiert das Verhältnis zwischen den Kultusministerien der Län
der und den Verbänden, die die Interessen der Betriebe vertreten, etwa dem Deutschen In
dustrie- und Handelstag oder dem Deutschen Handwerkskammertag. In der Sache geht es
dann beispielsweise um Stundenanteile in der beruflichen Bildung und um Organisationsfor
men des Berufsschulunterrichts. So wird etwa darüber gestritten, wieviele Stunden Unter
richt pro Woche in der Berufsschule erteilt werden und wie lange Auszubildende im Betrieb
verweilen sollen.
In diesen Konflikt einbezogen sind auch Auseinandersetzungen über Inhalte der beruflichen
Bildung, zum Beispiel über die Frage, ob und gegebenenfalls welche Fremdsprachen in der
beruflichen Erstausbildung vermittelt werden sollen. Konflikte entstehen auch über Fragen
einer Verkürzung der Ausbildung, wenn zuvor schon ein anderer Beruf erlernt wurde. Dann
nämlich kann eine verkürzte zweite Ausbildung ausgehandelt werden. Eine Verkürzung ist
auch dann auszuhandeln, wenn eine Berufsausbildung nach dem Erwerb der Allgemeinen
Hochschulreife begonnen wird. Diese Verkürzung kann bereits im Ausbildungsvertrag fest
gelegt werden. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit der vorzeitigen Meldung zur Prüfung.
Werden beide Möglichkeiten genutzt, kann eine normalerweise dreijährige Ausbildung auf
zwei Jahre verkürzt werden, sofern der Betrieb keine Einwände hat und die Berufsschule der
Verkürzung mit einem entsprechenden Gutachten zustimmt
Eine weitere Konfliktlinie kann man zwischen den Institutionen auf Kammerebene, den für
die Berufsausbildung Zuständigen Stellen nach dem Berufsbildungsgesetz, und den Betrie
ben ausmachen. Die Kammern müssen entscheiden, welche Betriebe ausbilden dürfen und
welchen Betrieben gegebenenfalls die Ausbildungsberechtigung aberkannt werden muß.
Weiterhin sind die Kammern für die Durchführung von Prüfungen zuständig.
Am Schaubild 1 fallt auf, daß keine Parteien vorkommen. Dabei wurde doch in das Grund
gesetz eingeschrieben, daß Parteien an der Willensbildung mitwirken. Zwar entscheiden
Parlament und Regierung, jedoch werden diese von Parteien beschickt, die so ihren Einfluß
auf Gesetzgebung und Exekutive geltend machen. Darin ist ein weiteres Konfliktpotential zu
erkennen.
Bundesinstitut für Beruj"sbildung 37
2 Bundesinstitut ("ür Berufsbildung
Das Bundesinstitut für Berufsbildung betreibt Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet
der betrieblichen Berufsbildung und nimmt Dienstleistungs- und Beratungsfunktionen ge
genüber der Berufsbildungspraxis und der Bundesregierung wahr. Es entwickelt Grundlagen
für die Aus- und Weiterbildung, modernisiert und verbessert Ausbildungskonzepte und
Ausbildungsmaßnahmen. Dabei hat es die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftli
chen Entwicklungen bei der Modernisierung zu berücksichtigen (vgl. Dehnbostel in Druck).
Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist eine Institution, die in der Bundesrepublik einmalig
ist. Es verfügt über einen Hauptausschuß als eigentlich entscheidendem Beschlußgremium.
Dieser Hauptausschuß ist zusammengesetzt nach folgender Parität: 16 Beauftrage der Ar
beitnehmer, der Arbeitgeber und der Länder sowie fünf Beauftragte des Bundes. Die Beauf
tragten des Bundes führen 16 Stimmen, die sie nur einheitlich abgeben können. Die vier
Parteiungen: Bundesländer, Bundesregierung, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sitzen gleich
berechtigt nebeneinander. Die Kosten werden allerdings nur vom Bund getragen. Angesichts
leerer Kassen auch auf Bundesebene sind deshalb schon Überlegungen angestellt worden,
zumindest auch die Länder zur Finanzierung des Bundesinstituts für Berufsbildung heranzu
ziehen.
Für die Berufsbildungsforschung als junger Forschungsdisziplin nimmt das Bundesinstitut für
Berufsbildung mit der Verklammerung von Theorie und Praxis eine wichtige Funktion wahr.
Eigene Forschungsbeiträge des Bundesinstituts für Berufsbildung zielen sowohl auf Analyse
und Erkenntnisse im Feld der beruflichen Bildung als auch auf Praxisgestaltung und Hand
lungsanleitung. Es kooperiert dabei mit anderen Trägem der Berufsbildungsforschung wie
Hochschulen, gemeinwirtschaftlichen und privatwirtschaftlichen Instituten. Gegenüber hi
storischen Vorläufern des Instituts zeichnet sich das Bundesinstitut für Berufsbildung beson
ders durch integrierte Aufgabenwahmehmung und durch Interdisziplinarität aus. Damit sind
günstige Voraussetzungen gegeben, gegenwärtige und zukünftige Qua1iftkations- und Be
rufsbildungsanforderungen theorie- und praxisbezogen zu erfassen, zu erkennen und mitzu
gestalten.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist eine Behörde, die dem Bundesministerium für Bil
dung, Wissenschaft, Forschung und Technologie nachgeordnet ist. Zu ihrem Aufgabenbe
reich gehört neben der Planung auch die Statistik im Bereich der beruflichen Bildung, mit
der das Bundesinstitut für Berufsbildung an der Vorbereitung des Berufsbildungsberichts
38 Berufsbildungspolitik
mitwirkt. Der Berufsbildungsbericht ist eine Veröffentlichung, die die Bundesregierung jähr
lich zu erstellen hat. In diesen Bericht wird das statistische Material eingearbeitet. Darin
werden aber auch Beschreibungen und Analysen zu einzelnen und aktuell bedeutsamen Fra
gen und Problemen der beruflichen Bildung vorgelegt. Dieser Bericht wird zwar von der
Bundesregierung vorgelegt, die Zuarbeit hat jedoch das Bundesinstitut für Berufsbildung zu
leisten.
Das Bundesinstitut ftir Berufsbildung hat weiterhin die Planung, Errichtung und Weiterent
wicklung überbetrieblicher Ausbildungsstätten zu unterstüzten. Überbetriebliche Ausbil
dungsstätten gibt es in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Besonders bekannt sind Beispie
le aus der Bauindustrie und aus dem Bauhandwerk. Dort gibt es überwiegend kleine Betrie
be, die ausbilden, jedoch in ihren Betrieben nicht die ganze Breite der geforderten Ausbil
dungsinhalte abdecken können. Um dennoch ausbilden zu können, müssen sie mit anderen
Betrieben in der Berufsausbildung kooperieren oder ihre eigene Ausbildung durch überbe
triebliche Unterweisungen ergänzen. Dabei wird eine zentrale Institution wie das Bundesin
stitut benötigt, die Hilfen anbieten kann. Besonders nach der Wende wurden überbetriebliche
Ausbildungsstätten in den neuen Bundesländern benötigt, als dort die Betriebe, die bisher die
Ausbildung durchführten, in schneller Folge und in großer Zahl zusammenbrachen. Für diese
Betriebe wurden ersatzweise überbetriebliche Ausbildungsstänen geschaffen, die teilweise
sogar Vollausbildungen anbieten konnten.
Zu den Aufgaben des Bundesinstituts für Berufsbildung zählt auch, die Bundesregierung in
Fragen der beruflichen Bildung zu beraten. Das ist immer dann der Fall, wenn die Bundes
regierung ein neues Gesetz zur beruflichen Bildung plant und hierfür Daten benötigt. Bera
tend wird das Bundesinstitut für Berufsbildung unter anderem auch dann tätig, wenn bei
spielsweise Ausführungsverordnungen zu bestehenden Gesetzen bearbeitet oder überarbeitet
werden.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung soll sich auch neben Hochschulen und speziellen For
schungseinrichtungen an der Berufsbildungsforschung beteiligen. Im Unterschied zu anderen
Forschungseinrichtungen geht es dem Bundesinstitut für Berufsbildung jedoch besonders
darum, Berufsbildungsforschung durchzuführen, die sich u. a. auf Ausbildungsordnungen
bezieht. Diese Forschung soll beispielsweise solche Entscheidungen unterstützen, in denen
festgelegt wird, welche Ausbildungsinhalte in welchem Berufsbild enthalten sein müssen,
was davon ergänzt werden kann und muß, welche Organisationsformen der beruflichen Bil
dung besonders vorteilhaft sind und welche Handreichungen für die Umsetzung benötigt
Bundesinstitut /Ur Berufsbildung 39
werden. Besonders bei der Neuordnung von Berufen werden Forschungsleistungen des
Bundesinstituts für Berufsbildung angefordert. Sie werden von den Tarifpartnern als Er
kenntnisse herangezogen, die dann in die Konstruktion und rationale Begründung der Ord
nungsmittel eingehen. Des weiteren betreibt das Bundesinstitut für Berufsbildung intensiv
Lehr-Lernprozeßforschung und Curriculumforschung. Darüber hinaus beschäftigt sich das
Bundesinstitut für Berufsbildung mit Fragen der Weiterbildung und internationalen Aspekten
beruflicher Bildung. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß das Bundesinstitut für
Berufsbildung eine eigene Fachzeitschrift und Schriftenreihen zur beruflichen Bildung her
ausgibt
Zu den Aufgaben des Bundesinstituts für Berufsbildung zählt weiterhin, Modellversuche zu
betreuen. Modellversuche werden eingerichtet, um Erkenntnisse an einem Beispiel zu ge
winnen in der Hoffnung, diese Erkenntnisse verallgemeinern und über die Versuchsbetriebe
hinausgehend in das Regelsystem übernehmen zu können. Die meisten Modellversuche ha
ben zwei Teile: einen betrieblichen und einen schulischen Teil. Die Federführung liegt jeweils
beim Bundesinstitut. Finanziert werden die meisten Modellversuche durch die Bund-Länder
Kommission. Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist aber von der Antragstellung bis zur
Abwicklung für die Modellversuche mitverantwortlich und auch der erste Ansprechpartner,
wenn ein Betrieb oder eine überbetriebliche Einrichtung einen Modellversuch beantragt
Eine weitere wichtige Aufgabe des Bundesinstituts für Berufsbildung ist die Führung des
Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe. Es gibt derzeit etwa 360 staatlich aner
kannte Ausbildungsberufe. Ein anerkannter Ausbildungsberuf muß Angaben über Art, Dauer
und Ziel der Ausbildung und zu erwerbende Fertigkeiten und Kenntnisse enthalten (~ R,
Rechtlich-institutionelle Grundlagen). Das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe
enthält auch genaue Hinweise, ob der Beruf ein Industrie- oder ein Handwerksberuf ist. Es
erscheint jedes Jahr neu mit dem Titel, der es auch dadurch schon als Verzeichnis der staat
lich anerkannten Ausbildungsberufe ausweist
Schließlich gehört zum Aufgabenbereich des Bundesinstituts für Berufsbildung die Überprü
fung und Anerkennung von Fernlehrgängen. Dieser Bereich wird bisher allerdings nicht sehr
intensiv gepflegt. In der DDR gab es hingegen ein differenziertes Angebot an Fernlehrgän
gen. Es ist zu erwarten, daß dieser Aufgabenbereich in Zukunft ausgebaut und dadurch an
Bedeutung gewinnt.
40 Berufsbildungspolitik
3 Abstimmung und Koordination
Da berufliches Lernen an verschiedenen Lernorten erfolgt, bedarf es der Koordination. Da
durch sollen unnötige Wiederholungen von Lerninhalten verhindert oder Lücken im Fächer
spektrum und im fachlich geordneten Lernen vermieden werden. Eine Koordination soll zu
dem die Reihung der zu vermittelnden Ausbildungsinhalte nach lernpsychologischen, fach
systematischen und unterrichtsorganisatorischen Gesichtspunkten sichern helfen.
Im besonderen Fall der beruflichen Bildung im dualen System von Berufsschule (-7 LS, Be
rufsschule) und Betrieb kommt hinzu, daß die Abfolge der Lerninhalte an einem dieser Ler
norte, dem Betrieb, nicht immer nach fachsystematischen, berufspädagogischen oder lern
psychologischen Gesichtspunkten festgelegt werden kann. Am Lernort Betrieb bestimmt
häufig der Fertigungsauftrag oder die zu erbringende Dienstleistung die Reihung der Ausbil
dungsschritte. Auf die Besonderheiten bei Projekten, die an mehreren Lernorten durchge
führt werden, wird an anderer Stelle eingegangen (-7 BWP, Systemische Innovationslei
stung).
Unter diesen Bedingungen ist es nun Aufgabe der Berufsbildungspolitik, ein geeignetes In
strumentarium zu entwickeln und anzuwenden, das Reibungsverluste mangels ausreichender
Koordination möglichst vermeidet. Dieses Instrumentarium greift auf verschiedenen Ebenen:
der Bundesebene, der Ebene einzelner Bundesländer, der regionalen Ebene der Zuständigen
Stellen (Kammern) sowie der lokalen Ebene. Auf die Bundesebene und die Länderebene soll
besonders eingegangen werden, da diese Ebenen für Fragen der Abstimmung und Koordinie
rung von Ausbildungsordnungen mit Lehrplänen von besonderer Bedeutung sind.
Schon bald nach der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes im Jahre 1969 (-7 R,
Rechtlich-institutionelle Grundlagen) wurde für die Bundesebene im Jahre 1972 eine Rege
lung eingeführt: das "Gemeinsame Ergebnisprotokoll". Dieses Protokoll und die folgenden
Absprachen regeln seit dieser Zeit das Verfahren zur Abstimmung der Ordnungsmittel, das
heißt der Ausbildungsordnungen und der Rahmenlehrpläne der Kultusminister bzw. der
Kultusministerkonferenz (vgl. Schaubild 2).
Das Verfahren hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt, wenngleich von verschie
denen Seiten immer wieder kritisiert wird, daß die Überarbeitung von Ausbildungsordnun
gen und die Neuordnung von Berufen zu lange dauern würde. Der Bundesminister für Bil
dung, Wissenschaft, Forschung und Technologie hat diese Kritik aufgegriffen und angekün
digt, daß künftig mit erheblich geringeren Bearbeitungszeiten gerechnet werden könne.
Abstimmung und Koordination 41
Verfahren zur Erarbeitung und AbstImnnmg von AusbUdungsordnungen und Rahmenlehrplänen
Aottagsgespräch: Fest1egung biIdungspolilisdler EckweIte
Vor-VorbereilllDg eines Projel<!anlnges ver·
,---.. faII-SreUungnahme des
~ Läoderausscbusses
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Projektbeschlu8 im Koordinierungssusscbu8
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Ausbildungs- Rahmenlellrplan-zen- onInungsemwurfes enIWUrfes organ!- Erar-
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'-----' ~ Beschlu8im
Länderausschu8
Beschlu8 im H.uptausschu8
Beschlu8im Koordinierungsausschuß Erlaß
Erlaß und Veröl'Centllcbung
Schaubild 2: Verfahren zur Erarbeitung und Abstimmung von Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen (Benner 1982, S_ 67)
Besonders wichtig und schwierig zugleich ist die Regelung auf der untersten Ebene zwischen
den Einzelbetrieben und den jeweiligen Berufsschulen_ Absprachen auf der unteren Ebene
erfolgen meist zufällig und sind häufig überhaupt nicht koordiniert. Zuweilen treffen sich die
beteiligten Ausbilder und Berufsschullehrer bei anderen Gelegenheiten, zum Beispiel in Prü
fungsausschüssen. Deshalb ist gefordert worden, diese Absprachen zu organisieren. Bisher
gibt es jedoch noch keine zufriedenstellenden Regelungen, die institutionalisiert und auf
Dauer angelegt werden könnten. Es darf deshalb gefragt werden, welche Interessen auf sei
ten der Berufsschule und des Betriebes überhaupt an einer Kooperation bestehen. Erst dann
42 Berujsbildungspolitik
könnte geklärt werden, welche organisatorischen Maßnahmen getroffen werden sollten, um
zu einer besseren Kooperation zu gelangen.
Es liegt sicherlich im Interesse der Lehrenden an Berufsschulen, wenn die dort vermittelten
Inhalte auf die im Betrieb zu vermittelnden in möglichst naheliegenden Zeitpunkten abge
stimmt würden. Die Ausbildungsbetriebe andererseits müßten sehr daran interessiert sein,
daß die von ihnen vermittelten Erfahrungen, Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten mög
lichst umgehend im berufsschulischen Lernen in größere Zusammenhänge eingeordnet und
theoriegeleitet verallgemeinert würden. Eine solchermaßen funktionierende Abstimmung und
Koordination wäre sicherlich im Sinne einer effektiven Ausbildung wünschenswert, wie
kompliziert diese Prozesse auch immer sein mögen. Darüber hinaus sind beide Lernorte für
die vollständige Bearbeitung der in der Ausbildungsordnung vorgesehenen Inhalte verant
wortlich zu machen.
Die vielfältigen Ideen zur Lösung dieses Problems könnten aber leichter umgesetzt werden,
wenn neben den Berufsbildungs- und den Prüfungsausschüssen auf Kammerebene auch
Abstimmungsausschüsse auf örtlicher Ebene gebildet würden, die sich in regelmäßigen Ab
ständen abwechselnd in der Berufsschule und in den Betrieben träfen (vgl. Uhe 1995, S. 2).
Alle beteiligten Lehrer, auch die der sogenannten allgemeinbildenden Fächer, und Ausbilder
aus allen Betrieben müßten teilnehmen. Das ganze Spektrum der Lernziele und Lerninhalte
von Schule und Betrieb, aber auch Methoden- und Medienfragen könnten in die Abstim
mung und Koordination einbezogen werden. Da sich aber prinzipiell in jeder Berufsschul
klasse aufgrund der dort vorfmdlichen unterschiedlichen Zusammensetzung von Auszubil
denden das Koordinationsproblem anders stellt, kann es nur von den beteiligten Personen
und nicht zentral von einer anderen Institution gelöst werden. Lehrer und Ausbilder müssen
also "vor Ort" zusammengeführt werden (~ BWP, Systemische Innovationsleistung).
Berufsbildungsjorschung 43
4 Berufsbildungsforschung
In verschiedenen Institutionen und Organisationen wird in der Bundesrepublik Berufsbil
dungsforschung betrieben. Dabei ist zur Zeit zwischen den einzelnen Organisationen und
Institutionen noch keine zufriedenstellende Aufgabenteilung und Zusammenarbeit erkennbar.
Das 1970 gegründete Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, 1976 umbenannt in
"Bundesinstitut für Berufsbildung" , hat einen Teil dieser Aufgaben in einem relativ engen
Spektrum wahrgenommen und ausgebaut
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit in NÜffi
berg betreibt ebenfalls Berufsbildungsforschung. Ihm geht es vor allem darum, Daten aus
den Bereichen "Arbeitsmarkt", "Berufe" und "berufliche Bildungsmöglichkeiten" für die
konkreten Entscheidungen der Bundesregierung bereitzustellen. Es unterstützt das Ministe
rium für Arbeit und Sozialordnung.
In den einzelnen Bundesländern gibt es Landesinstitute, die vorwiegend konzipiert wurden,
um unterstützend für die Schulen zu wirken. Sie beschäftigen sich mit der Entwicklung von
Lehrplänen, mit der Erarbeitung von Handreichungen und betreiben Lehrerfortbildung. So
weit sich die Arbeit auf berufliche Schulen bezieht, kann in eingeschränkter Weise auch von
Berufsbildungsforschung gesprochen werden.
Berufsbildungsforschung wird in Universitäten und dort insbesondere von den Arbeitsberei
chen für Berufs- und Wirtschaftspädagogik betrieben (vgl. DFG-Senatskommission 1990).
In einem erweiterten Forschungsspektrum überschneidet sich Berufsbildungsforschung mit
benachbarten Disziplinen wie beispielsweise der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften
oder der Politikwissenschaft. Berufsbildungsforschung ist deshalb ein Forschungsbereich,
der sich für disziplinübergreifende Kooperation geradezu anbietet und in dem Interdiszipli
narität auch tatsächlich gefördert und praktiziert wird.
Auch wenn sich Berufsbildungsforschung an Universitäten durchaus schon in eigenen Ar
beitsbereichen etablieren konnte, ist sie derzeit noch sehr an Einzelpersonen gebunden. Da
die Institute für Berufs- und Wirtschaftspädagogik häufig sehr klein und die in diesen Institu
ten zu vertretenden Disziplinen in der Regel noch getrennt sind, werden Forschungsaufgaben
durchweg von einer einzigen oder ganz wenigen Personen bearbeitet. Dieses Faktum ist im
mer wieder beklagt worden, eine Koordinierung konnte jedoch bisher nicht gelingen. Das
hängt auch damit zusammen, daß die Berufsbildungsforschung einzelner Hochschullehrerin
nen und Hochschullehrer häufig ohne nennenswerten Einsatz von Forschungsmitteln und
44 Berufsbildungspolitik
deshalb nur im Zusammenhang mit der Lehre durchgeführt werden kann und ihren Nieder
schlag günstigenfalls in Buchveröffentlichungen oder Berichten in Fachzeitschriften fmdet
Mit Einschränkungen fmdet auch bei den Tarifpartnern Berufsbildungsforschung statt. So
forscht das Institut der Deutschen Wirtschaft für die Arbeitgeber, und auch Forschungsarbei
ten, die auf gewerkschaftliche Initiative durchgeführt werden, tragen diesen Namen zu
Recht. Als eine bedeutende Einrichtung auf internationaler Ebene ist das CEDEFOP (centre
europeen pour le developpement de la formation professionnelle!Europäisches Zentrum für
die Förderung der Berufsbildung) zu erwähnen, daß 1975 eingerichtet wurde und seinen Sitz
1995 von Berlin nach Thessaloniki verlegte. Im Forschungsprogramm dieser Institution geht
es um Fragen der Berufsbildung und der ständigen Weiterbildung und dabei insbesondere um
Fragen der Anerkennung von Berufsbildung einschließlich der Abschlüsse auf europäischer
Ebene (~ R, Internationalisierung).
Die ungünstige Forschungslandschaft und insbesondere die mangelhafte Zusammenarbeit in
der Berufsbildungsforschung hat dazu geführt, daß 1993 das "Forschungsnetz Berufsbil
dungsforschung" gegründet wurde. Angeregt wurde diese Kooperation schon knapp zwei
Jahrzehnte früher durch Erich Dauenhauer (1975, S. 3). Träger dieser Initiative sind neben
dem Bundesinstitut für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeit auch die Universi
tätsinstitute. Das Forschungsnetz hat sich zur Aufgabe gemacht, die Forschung im Bereich
der beruflichen Bildung zu fördern und durch gegenseitigen Informations- und Gedanken
austausch zu koordinieren. Dazu führt es unter anderem Fachtagungen in regelmäßigem
Abstand durch.
Bildungspolitische Streitfälle 45
5 Bildungspolitische Streitfalle
Ein intensiver bildungspolitischer Streit entzündet sich am Zeitanteil, der der Berufsschule
(~ LS, Berufsschule) im Rahmen der dualen Ausbildung zur Verfügung gestellt werden
soll. Eigentlich sollte diese Auseinandersetzung seit den Ausführungen des Deutschen Aus
schusses im Jahre 1964 abgeschlossen sein. Der Ausschuß für das Erziehungs- und Bil
dungswesen empfahl (1964, S. 131):
"Die Schulpflicht gliedert sich in eine zunächst neunjährige, später zehnjährige Vollschulpflicht und in eine Berufsschulpflicht - in der Regel Teilzeitpflicht - bis zum Abschluß der Berufsausbildung, mindestens bis zum 18. Lebensjahr .. , Ausmaß und Dauer des Berufsschulunterrichts bleiben oder werden den Ausbildungsanforderungen der einzelnen Ausgangsberufe elastisch angepaßt. Zwölf Wochenstunden Unterricht gelten als Richtmaß für die obligatorischen Aufgaben der Berufsschule."
Die Empfehlungen des Ausschusses wurden von der Kultusministerkonferenz so interpre
tiert, daß 12 Wochenstunden an zwei Tagen mit je sechs Unterrichtsstunden die Regel sein
sollten. Dieser Anteil entspricht bei Blockunterricht einer Dauer von 13 Wochen pro Jahr.
Jedoch wurde diese Empfehlung längst nicht in allen Bundesländern umgesetzt. Im Gegen
teil: Gerade in jüngerer Zeit ist wieder die Forderung erhoben worden, den betrieblichen
Anteil der Ausbildungszeit zu erhöhen und den Berufsschulunterricht zu kürzen. Insbesonde
re wird dabei an eine Reduzierung des Berufsschulunterrichts im zweiten und dritten Jahr
gedacht, da die Auszubildenden dann noch effektiver im Sinne der betrieblichen Leistungs
erstellung eingesetzt werden können als während der Grundausbildung.
Andere Forderungen laufen darauf hinaus, die 12 Stunden pro Woche beizubehalten, aber
anders zu organisieren (~ LS, Schule und Wirtschaft). So gibt es Überlegungen, die Unter
richtszeiten zu konzentrieren und pro Unterrichtstag bis zu neun Stunden anzubieten. Solche
Organisationsformen sind aus pädagogischer und lernpsychologischer Sicht höchst fragwür
dig, da die nachlassende Konzentration der jungen Menschen den Unterricht nach der sech
sten Stunde nicht mehr effektiv erscheinen läßt. Auch die Verlegung von Teilen des Unter
richts auf den Samstag ginge zu Lasten der Auszubildenden. Diese hätten dann kaum noch
Möglichkeiten einer sinnvollen Freizeitgestaltung und der beruflichen Weiterbildung. Aller
dings ist prinzipiell die Forderung, die Organisation des Berufsschulunterrichts flexibler zu
gestalten, das heißt auf regionale oder saisonale Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, nicht
generell abzulehnen.
46 Berufsbildungspolitik
Bis zum Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes im Jahr 1969 gab es neben den dreijähri
gen auch zahlreiche zweijährige Berufsausbildungen. In jüngster Zeit spielen solchennaßen
verkürzte Berufsausbildungen in der bildungspolitischen Diskussion wieder eine bedeu
tende Rolle. Insbesondere von Arbeitgeberseite (-t LB, Betrieb und Gesellschaft) wird ver
langt, kürzere und damit den betrieblichen Anforderungen besser angepaßte Ausbildungs
gänge einzurichten. Diese Forderung wird u. a. damit begründet, daß heutzutage die berufli
che Erstausbildung nur noch eine Einstiegsqualiftkation sein kann, die durch berufsbegleiten
de Weiterbildung erhalten und weiterentwickelt werden muß (-t LB, Konzepte betrieblichen
Lernens).
Häuftg werden auch zweijährige Ausbildungen für lernschwache Auszubildende gefordert,
die der Ausbildung in der tradierten Fonn nicht gewachsen sind (-t D, Lernschwache und
Begabte). Es wäre aber falsch, das Problem lediglich als Aufgabe einer quantitativen Erhö
hung oder Venninderung insbesondere der theoretischen Anteile beruflichen Lernens zu in
terpretieren: Erfahrungen mit Konzepten integrierten Lernens zeigen nämlich, daß bei ent
sprechender Lernorganisation auch Lernschwache den üblichen Anforderungen genügen
können und aus dem integrierten Lernen sogar einen besonderen Nutzen ziehen können (-t
LB, Arbeiten und Lernen).
Jungen Menschen, die sich mit tradierten Fonnen des beruflichen Lernens schwertun, müß
ten im Prinzip längere Qualillzierungszeiten eingeräumt werden. Die Gewerkschaften lehnen
deshalb im Interesse der lernschwachen Jugendlichen und aus Sorge um mögliche Lohndiffe
renzierungen unterschiedlich lange Ausbildungszeiten ab. Sie erhalten für ihre ablehnende
Haltung gegenüber Kurzzeitausbildungen auch die Unterstützung durch das Wahlverhalten
der Jugendlichen: Im Baugewerbe gibt es seit 1974 zwei- und dreijährige Ausbildungen. Die
kürzeren Ausbildungen werden aber von den jungen Menschen nicht angenommen. Weniger
als fünf Prozent wählen die zweijährigen Ausbildungsgänge.
In der öffentlichen Diskussion ist derzeit der Mangel an Ausbildungsplätzen ein beherr
schendes Thema. Im Ausbildungsjahr 1996/97 wurden von der Wirtschaft 7,4 % weniger
Lehrstellen zur Verfügung gestellt, obwohl 6,9 % mehr Jugendliche mit Lehrstellen zu ver
sorgen waren. Es fehlten insgesamt rund 200000 Ausbildungsplätze.
Mit spektakulären Briefschreibe-Aktionen von Politikern und Klinkenputzen in Ausbil
dungsbetrieben ist dem Problem der mangelnden Ausbildungsbereitschaft und Ausbildungs
beteiligung der Betriebe jedoch nicht beizukommen. Auch die verschiedenen "Bündnisse für
Ausbildung" zeugen von einer naiven Sichtweise auf das zu bewältigende Problem: Ökono
mische Kalküle können eben nicht dauerhaft durch moralische Appelle ersetzt werden (-t R,
Kosten und Nutzen). Gefragt sind dagegen strukturelle Lösungen, damit sich die im Verlauf
Bildungspolitische Streitflille 47
der jüngeren Geschichte wiederholt aufgetretenen Phasen des Ausbildungsplatzmangels und
hoher Jugendarbeitslosigkeit möglichst nicht wieder einstellen.
Die Bereitschaft der Betriebe, Auszubildende einzustellen, hängt sehr stark von wirtschaftli
chen Erwartungen ab. Zudem läßt sich eine zunehmende Neigung der Betriebe feststellen,
mit Hinweis auf die hohen Kosten auf die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zu verzich
ten. Diese Betriebe suchen statt dessen ausgebildete Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt,
anstatt diese selbst auszubilden (~ R, Kosten und Nutzen). Einzelbetriebliche Interessen an
einer Senkung der Personalkosten können hier in einen scharfen Gegensatz zu gesamtgesell
schaftlichen Aufgaben der Ausbildung und Beschäftigung treten. Da Entscheidungen über
die Zahl der Ausbildungsplätze jedoch Angelegenheit von Betrieben sind, greifen bildungs
politische und vor allem gesetzliche Maßnahmen nur sehr begrenzt. Hinzu kommt die Erfah
rung, daß sich demoskopische Entwicklungen zum Angebot an Ausbildungsplätzen wieder
holt geradezu gegenläufig verhielten, so daß durch die Doppelung der Effekte sehr viele
junge Menschen in der Vergangenheit keinen Ausbildungsplatz bekamen.
Mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976 sollte diesen Risiken von Ungleich
gewichten auf dem Lehrstellenmarkt gegengesteuert werden. Das Gesetz sah vor, daß das
Angebot an Ausbildungsplätzen mindestens 12,5 % über der Nachfrage liegen müsse. Würde
diese Vorgabe nicht erfüllt, könnte eine Ausbildungsplatzabgabe erhoben werden. Dieses
Gesetz wurde aber 1981 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben, da die Zustimmung des
- damals eDU-geführten - Bundesrates nicht vorlag. Die Aufhebung erfolgte jedoch nicht
wegen der Ausbildungsplatzabgabe, sondern aus (formalen) Verfahrensgründen.
Erneut angefacht wurde die Diskussion dadurch, daß die Oppositionsparteien im Bundestag
Gesetzentwürfe zur Ausbildungsplatzabgabe vorgelegt haben. Es sind verschiedene Mög
lichkeiten denkbar, einem sinkenden Ausbildungsplatzangebot über die Sicherung der Aus
bildungsfmanzierung zu begegnen (~ R, Finanzierung). Gegenwärtig wird eine Umlagefi
nanzierung favorisiert. Mit einem solchen Verfahren, das verbindlich nur durch ein Gesetz
eingerichtet werden könnte, wäre möglicherweise ein relativ großer Verwaltungsaufwand
verbunden. Mit dem Gesetz ist aber auch die Hoffnung verknüpft, jugendliche Ausbildungs
platzsuchende zukünftig kontinuierlich mit Ausbildungsplätzen versorgen zu können. Noch
nicht garantiert wäre damit ein Recht auf einen Ausbildungsplatz, etwa vergleichbar dem
grundgesetzlieh garantierten Recht auf Bildung oder einer der Schulpflicht entsprechenden
Ausbildungspflicht
48 Berufsbildungspolitik
6 Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften
In einer pluralistisch und föderalistisch gestalteten Gesellschaft, die diese Gesellschaft zu
einer hochkomplexen macht (~ BWP, Systemzusammenhänge), ist die Berufsbildungspoli
tik einer ständigen Gratwanderung vergleichbar: Starker Einfluß von Interessengruppen
könnte dazu fuhren, daß Berufsbildungspolitik für partikulare Interessen vereinnahmt wird.
An verschiedenen Trends soll diese Gefahr aufgezeigt werden.
Wenn die Bereitschaft der Betriebe, genügend Ausbildungsplätze bereitzustellen, nicht mehr
gewährleistet ist, liegt es nahe, mehr schulische Bildungsgänge mit entsprechenden Ab
schlüssen einzurichten, um diesen Mangel zu kompensieren. Kann aber eine vollzeitschuli
sche Ausbildung überhaupt relativ frei von ökonomischen und betrieblichen Anforderungen
agieren, und kann sie die duale Ausbildung unter Beteiligung des Lernortes Betrieb auch
tatsächlich ersetzen? In jedem Fall hätten die Absolventen mit großen Akzeptanzproblemen
bei den Betrieben als späteren Abnehmern zu rechnen. Denn die betrieblichen Abnehmer
würden die mangelnde Auseinandersetzung mit der betrieblichen Wirklichkeit in der voll
schulischen Ausbildung vermissen und darauf verweisen, daß ein zusätzliches Angebot an
vollzeitschulisch qualifizierten Fachkräften vom Arbeitsmarkt ohnehin nicht aufgenommen
würde. Der Lernort Betrieb läßt sich also im Nonnalfall durch eine vollschulische Berufs
ausbildung nicht ersetzen. Von den Kosten, die bei einer solchen Entscheidung im wesentli
chen dem Steuerzahler aufgebürdet würden, soll hier einmal abgesehen werden.
Eine Alternative zur vollschulischen Berufsausbildung wäre die Verbetrieblichung der
Ausbildung. Die Betriebe übernähmen die gesamte Ausbildung, und der Lernort Berufsschu
le im dualen System würde in seiner jetzigen Form dadurch überflüssig. Diese Beftirchtung
ist keineswegs herbeigeredet. Durch die Neuordnung der Berufe ist die althergebrachte Auf
gabenteilung zwischen Berufsschule und Betrieb ohnehin obsolet geworden. Hinzu kommt,
daß die Berufsschule in einer Krise steckt und ihre Zukunft neu bedacht werden muß (~ LS,
Berufsschule; ~ P, Modularisierung). Jedoch wäre bei einer Verbetrieblichung der Ausbil
dung die Gefahr groß, daß Berufsbildung sich nicht mehr von einer QualifIzierung für weni
ge Arbeitsverrichtungen im Sinne eines training for the job unterscheiden würde.
Die Lösung dieses Problems ist sicherlich weder in einer rein schulischen noch in einer rein
betrieblichen Ausbildung zu suchen. Die duale Ausbildung scheint trotz aller kritischen Ein
wände eine Organisationsform der beruflichen Ausbildung zu sein, die den besonderen, hi
storisch gewachsenen und aktuell vorfmdlichen Bedingungen in der Bundesrepublik
Deutschland angemessen erscheint. Dennoch konnte es dazu kommen, daß dieses duale Sy-
Ben4sbildungspolitiJc in komplexen Gesellschaften 49
stern zur Zeit besonders heftig kritisiert wird und sogar vom "Ende des dualen Systems" die
Rede ist.
Kritiker des dualen Systems behaupten, es besitze faktisch keine Dualität mehr, weil immer
größere Anteile der beruflichen Bildung in außerschuIische und außerbetriebliche Einrich
tungen verlagert werden. Die verstärkte Bedeutung außerfachlicher Qualifikationen und au
ßerbetrieblicher Qualifizierung gilt diesen Kritikern als Ausdruck einer stetigen Ablösung der
Berufsausbildung von den Anforderungen der bestehenden Berufsbilder.
Kritiker verweisen zudem darauf, daß Berufsausbildung im dualen System von immer mehr
jungen Menschen nur als eine Zwischenstation auf dem Wege zum Studium gesehen wird
und daß dabei der beruflichen Erstausbildung eher die Funktion eines "Parkens im Prakti
kum" zukommt. Wiederholt wird auch die Frage gestellt, ob das herkömmliche Berufsprin
zip noch der gegenwärtigen gesellschaftlichen Form der Organisation von Arbeit entspricht
und seinen Beitrag zur sozialen Integration leisten kann (~ BWP, Beruf). In diesem Zu
sammenhang wird dann diskutiert, ob nicht andere Organisationsformen der beruflichen Bil
dung etwa nach dem Konzept einer modularisierten Ausbildung erfolgversprechender sein
könnten (~ P, Modularisierung).
Vor dem Hintergrund, daß heute junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Bildungsvor
aussetzungen in Berufsausbildungen eintreten und zu befürchten ist, daß zukünftig viele von
ihnen nicht mehr die anspruchsvollen Ziele einer Berufsausbildung erreichen können, scheint
die Modularisierung einen Ausweg aus einer schwierigen Problemlage anzuzeigen. Gestützt
wird diese Meinung durch Entwicklungen zu einem europäischen Binnenmarkt und der Sich
daraus ergebenden Notwendigkeit, berufliche Qualifikationen vergleichen und zertifizieren
zu können (~ R, Internationalisierung). Eine konsequente Modularisierung würde allerdings
bedeuten, daß berufliche Strukturen und das Prinzip der Beruflichkeit aufgegeben würden.
Ob eine so weitreichende Reform auf grund der langen geschichtlichen Entwicklung des
dualen Systems und der Konzessionen, die mit einem solchen Einschnitt gemacht würden,
sinnvoll und überhaupt durchsetzbar wäre, ist höchst fraglich. Modularisierung mag ein in
teressantes Konzept für strategische Überlegungen zur Veränderung von Rahmenbedingun
gen der beruflichen Bildung sein. Modularisierung sollte aber kein Thema für kurzzeitige
bildungspolitische Eingriffe in ein komplexes System sein.
Für die Bundesrepublik Deutschland käme aufgrund der gewachsenen Berufsstrukturen
wohl nur die Möglichkeit in Betracht. Module an der Nahtstelle zwischen Aus- und Wei
terbildung unter genereller Beibehaltung des Berufsprinzips vorzusehen. In dieser Möglich-
50 Berufsbildungspolitik
keit wird denn auch eine gute Chance für die berufliche Bildung gesehen, flexibler als bisher
auf neue technische oder wirtschaftliche Entwicklungen und Anforderungen zu reagieren. In
diesem Konzept einer teilmodularisierten Aus- und Weiterbildung wäre dann auch ein trag
fähiger Ansatz für eine Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften zu erkennen.
Literatur 51
Literatur
Benner, H. (1982). Ordnung der staatlich anerkannten Ausbildungsberufe. Berlin: Bundesinstitut für Berufsbildung.
Dauenhauer, E. (1975). Funktion, Bedeutung und Stand der Berufsbildungsforschung in der Bundesrepublik: Deutschland. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 5, S. 2-4.
Dauenhauer, E. (1997). Berufsbildungspolitik (4. Aufl.). Münchweiler: Walthari. Dehnbostel, P. (in Druck). Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB). In J.-P. Pahl & E. Uhe
(Hrsg.), "Betrifft: berufsbildung". Begriffe für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung.
Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen (1964). Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen. Folge 7/8. Stuttgart: Klett.
DFG-Senatskommission (1990). Berufsbildungsforschung an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland: Situation, Hauptaufgaben, Förderungsbedarf. Weinheim: VCH, Acta Humanoria.
Münch, 1. (1995). Berufsbildungspolitik. In R. Arnold & A. Lipsmeier (Hrsg.), Handbuch Berufsbildung (S. 398-408). Opladen: Leske+Budrich.
Uhe, E. (1995). Abstimung "vor Ort". berufsbildung, 32, S. 2.
Strukturbegriff:
Beruf, Wirtschaft,
Pädagogik
1 Systemzusammenhänge
Ausbildung ~::""f-~I-r~::::';;;:'::---liV--+-::::::::~Ziels_CD der Lehrer und dcrAusbilder
LernOr!
Betrieb
Immer wenn von Berufs- und Wirtschaftspädagogik die Rede ist, stoßen wir auch auf den
Systembegriff: Beruf und Wirtschaft werden als Systeme bezeichnet Pädagogisches Wissen
wird System genannt, und die Vermittlung dieses Wissens kann systematisch erfolgen. Die
Berufsausbildung insgesamt wird als ein System beschrieben, in das ein besonderes duales
System eingelagert ist. Viele weitere Beispiele ließen sich finden.
Es wird jedoch selten erläutert, was mit "System" oder "systematisch" eigentlich gemeint ist
Statt dessen wird durchweg unterstellt, daß sich mit der häufigen Verwendung des Begriffes
auch schon ein vernünftiger Gebrauch einstellt Diese Unterstellung mag berechtigt sein,
wenn wir mit "System" lediglich einen Ordnungszusammenhang von Elementen und der Be
ziehungen dieser Elemente zueinander meinen. Dann nämlich können wir immer und überall
Systeme "entdecken".
Wir werden aber mit Hilfe dieser allgemeinen Vorstellungen vom System als einem Ord
nungszusammenhang kaum in der Lage sein, Unterscheidungen zu treffen: Wir können nicht
zwischen einem technischen und einem sozialen System unterscheiden, also keine Klassen
von Systemen beschreiben. Wir können nicht die Grenzen eines Systems angeben, also nicht
entscheiden, was zu einem System und was zu seiner Umwelt gehört. Mit der nur vagen
Vorstellung vom System als einem Ordnungszusammenhang können wir auch nicht erklären,
wie und warum Systeme überhaupt entstehen, wie sie operieren und sich zueinander verhal-
54 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
ten, unter welchen Bedingungen sie sich entwickeln oder auflösen, ob und gegebenenfalls
wie in diese Systeme gestaltend eingegriffen werden kann usw.
Solange wir also nicht differenziert über Systeme sprechen können, bringt die Verwendung
des Systembegriffs keinen Erkenntnisgewinn. Eine undifferenzierte sprachliche Verwendung
des System begriffs ist wissenschaftlich sinnlos.
Da wir aber den Gegenstandsbereich einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Zusam
menwirken von den drei Systemen Beruf, Wirtschaft und Pädagogik vorstellen und folglich
den Systembegriff verwenden, müssen wir zuvor unser Verständnis von Systemen zumindest
skizzieren. (Genau genommen stellen wir Berufs- und Wirtschaftspädagogik als soziale Be
reiche der Kooperation von drei Netzwerken sozialer Systeme vor (vgl. auch Kutscha 1990).
Wir wollen aber vereinfachen und nur von Berufs- und Wirtschaftspädagogik als System
reden.)
In einem ersten Schritt werden wir deshalb erläutern, was wir unter "System", genauer unter
einem "sozialen System" verstehen. In einem zweiten Schritt werden wir sodann Beruf,
Wirtschaft und Pädagogik im Überschneidungsbereich gesellschaftlicher Bedeutungssysteme
(Sinnsysteme) vorstellen.
Was verstehen wir unter einem sozialen System? Soziale Systeme bestehen aus Lebewesen.
Sie werden erzeugt, indem diese Lebewesen durch Kommunizieren und Handeln ein Netz
werk von Interaktionen produzieren. Beruf, Wirtschaft und Pädagogik, so behaupten wir,
sind unterscheidbare soziale Systeme. Alle Handlungen eines sozialen Systems werden sinn
haft miteinander verknüpft und zwar so, daß diese Handlungen an bisherige anschließen und
zugleich an zukünftige angeschlossen werden können. Handlungen treten deshalb als
"Sinnträger" auf und verweisen auf weitere Handlungen, denen wiederum Sinn zugeschrie
ben werden kann (vgl. Schmid 1987, S. 27 f.). Welche Handlungen als sinnvoll angeschlos
sen oder als nicht sinnvoll zurückgewiesen werden, wird über Kommunikation und soziale
Festlegungen entschieden. Schaubild 1 zeigt Beispiele für Themen, die sinnvollerweise nur in
bestimmten sozialen Bereichen verhandelt werden können.
Systemzusammenhänge
Beruf
• Neue Informations- und Kommunikationstechniken
• Duales System • Berufliche Weiterbildung
Pädagogik
55
Wirtschaft
Schaubild 1: Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich sozialer Bereiche systemischer Kommunikation und Handlung ("Gegenstandsbereiche")
Ein erstes Beispiel: Räuberischer Erwerb ist ein gesellschaftliches Phänomen und Problem
zugleich. Dennoch löst dieses Phänomen nur in bestimmten sozialen Systemen Kommunika
tion und Handlung aus. Für das System "Wirtschaft" ist dieses Phänomen irrelevant. Es ist
nicht Gegenstand wirtschaftlichen Kommunizierens und Handeins, obwohl es eine beachtli
che Wirtschaftskriminalität gibt. Gleiches gilt für das System "Beruf'. Einen Beruf "Räuber"
fmden wir nicht im System der Berufe, obwohl es durchaus Menschen gibt, die mit dem räu
berischen Erwerb "professionell" und dauerhaft ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dagegen
ist dieses Phänomen des räuberischen Erwerbs für das System "Pädagogik" - und natürlich
auch für das Rechtssystem - sicherlich bedeutsam, weil mit erzieherischen Maßnahmen und
Maßnahmen der Rechtsprechung und des Justizvollzugs auf Kinder und Jugendliche so ein
gewirkt wird, daß sich dieses Phänomen möglichst nicht einstellt.
Ein zweites Beispiel: Wissen über aktuelle Veränderungen der Sparquote ist für Wirtschafts
theoretiker und -politiker gleichermaßen von großer Bedeutung. Es ist nämlich wichtig für
die Beschreibung, Erklärung und Gestaltung wirtschaftlicher Entwicklungen. Veränderungen
56 Beruf, Wirtschaft, Ptidagogik
der Sparquote sind aber kein Thema, das im Berufssystem oder im Erziehungssystem einen
besonderen Stellenwert einnimmt.
Daneben lassen sich aber auch Phänomene und Beispiele benennen, die Kommunikation und Handlung in allen drei Systemen auslösen. So ist beispielsweise die Verbreitung neuer In
formations- und Kommunikationstechnologien ein wichtiges Thema, das im Berufs-, Wirtschafts- und Erziehungssystem zugleich behandelt wird. Allerdings sind Kommunikation und Handlung, die dieses Thema in den drei Systemen auslöst, sehr verschieden. Für einen Unternehmer sind diese neuen Technologien nur im Rahmen ökonomischer Nutzungskonzepte bedeutsam. Einen Berufsforscher interessieren dagegen die von einer massenhaften ökonomischen Nutzung zu erwartenden gesellschaftlichen Veränderungen in der Qualiftkations
und Berufsstruktur, die Neupositionierung gesellschaftlicher Gruppen wie beispielsweise der berufstätigen Frauen usw. Und von pädagogischer Bedeutung könnte die Frage sein, inwie
weit die Einrichtung von Heimarbeitsplätzen mit Hilfe der neuen Technologien vorzugsweise für Frauen wieder Kindererziehung zu Hause und in der Familie möglich macht.
Die Erfahrung, daß jedes System ein spezifisches Netzwerk von Interaktionen produziert, hat weitreichende Konsequenzen für die in diesen Systemen handelnden Menschen. Stellen wir uns einmal folgende Situation vor: Die Abteilungsleiter eines Unternehmens diskutieren, warum es für das Unternehmen vorteilhaft sein könnte, Teile der Massendatenverarbeitung
durch Lohnaufträge an Heimarbeiterinnen zu vergeben, und einer von ihnen begründet dieses Vorhaben mit dem Argument, daß damit Erziehungsaufgaben von Kindertagesstätten und Vorschulen wieder in die Familien zurückgebracht werden könnten. Die Reaktion der Kollegen auf diesen pädagogisch engagierten Mitarbeiter lassen sich schon erahnen: Kopfschüt
teln, Unmutsäußerungen, Zurechtweisungen und eventuell auch Ausschluß aus der Diskussionsrunde. Systeme wie Beruf, Wirtschaft und Pädagogik entstehen und erhalten sich also, indem sie
Grenzen ziehen. Diese Grenzen trennen das System von seiner Umwelt. Alles was diesseits der Grenzen liegt, zählt zum System. Alles andere gehört zur Umwelt des Systems. Systemdifferenzierung entsteht also durch Systemgrenzen. Die Beispiele zeigen aber auch an, wie diese Grenzen entstehen: Eine Systemdifferenzierung fmdet statt, wenn ein System eine Unterscheidung von System und Umwelt trifft, wenn alles, was für das System geschieht, daraufhin bewertet wird, ob und inwieweit damit für die Systemmitglieder bedeutungsvolle und aufeinanderbezogene Kommunikation und Handlung erzeugt werden. Diese systemspezifische Bedeutung von Handlung und Kommunikation, die
das System erzeugt, wird in der Sprache von Soziologen "Sinn" genannt. Erst durch diesen
Systemzusammenhiinge 57
Bezug auf den Sinn und gleichzeitigem Abblenden sinnloser Kommunikation und Handlung
differenzieren sich soziale Systeme. Indem sie fortwährend Kommunikation und Handlung
bewerten, bilden sie ein Repertoire von Interaktionen aus, die unter den Systemmitgliedem
als "angemessen" oder "sinnvoll" gelten. Dies ist gleichsam die Geschäftsgrundlage für alle
Systemmitglieder (vgl. Hej11990, S. 319 ff.).
Auch Beruf, Wirtschaft und Pädagogik haben ein jeweils spezifISChes Repertoire von Inter
aktionen ausgebildet. Wir können dieses Repertoire beschreiben, wenn wir Kommunikation
und Handlung dieser Systeme in den sozialen Bereichen, in denen sie kooperieren, verglei
chen und dann unterscheiden. Wir können dabei besonders das Bedeutungssystem von Be
ruf, Wirtschaft und Pädagogik in den Blick nehmen, um Systemgrenzen zu erkennen. Be
rufs- und Wirtschaftspädagogik wäre dann zu beschreiben im Überschneidungsbereich von
drei Bedeutungssystemen (vgl. Schaubild 2). Das Schaubild 2 soll folgendes verdeutlichen:
Die Systeme Beruf, Wirtschaft und Pädagogik erzeugen Kommunikation und Handlung mit
Hilfe spezifischer Bedeutungen, mit denen sie sich zugleich voneinander abgrenzen. Gleich
wohl bilden sie im Überschneidungsbereich Berufs- und Wirtschaftspädagogik ein eigenes
System von Bedeutungen aus: "Wirtschaftlichkeit", "Berufliche Sozialisation", "Selbstbe
stimmung", "Berufliche Mobilität", "Persönlichkeitsentwicklung" u. a. Allein in diesem Be
reich fmdet also sinnvolles berufs- und wirtschaftspädagogisches Handeln statt
Zugleich wird aber auch die besondere Problematik einer Beschreibung von Berufs- und
Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von Beruf, Wirtschaft und Pädagogik
deutlich: Einzelne Bedeutungen wie beispielsweise Wirtschaftlichkeit, berufliche Sozialisati
on und Selbstbestimmung liegen nur im Überschneidungsbereich von Bedeutungssysteme
zweier sozialer Systeme, können deshalb sinnvolles Handeln nur aus berufspädagogischer
oder wirtschaftspädagogischer Sicht begründen. Insgesamt markieren solche Bedeutungen
Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Berufspädagogik und Wirtschaftspädagogik.
Zwar lassen sich auch Bedeutungen für alle drei Systeme ausweisen, beispielsweise
"Persönlichkeitsentwicklung" und "Berufliche Mobilität". Dabei muß jedoch bedacht wer
den, daß diese, vom Standpunkt der jeweiligen Systeme betrachtet, durch ihre Verknüpfun
gen in deren spezifISChen Bedeutungssystemen sehr unterschiedlich sind.
Es ist deshalb sozialtheoretisch geradezu naiv, schon dann von "Versöhnung" oder
"Koinzidenz" sozialer Systeme zu reden, wenn einzelne Bedeutungen sprachlich gleichlau
tend verwendet werden. Vom System "Wirtschaft" aus betrachtet macht Persönlichkeits
entwicklung nur Sinn im Zusammenhang mit Wirtschaftlichkeit Erst in diesem Zusammen-
58 Beruf, Wirtschaft, Piidagogik
hang erhalten beide ihre systemspeziftsche Bedeutung. Andere unterscheidbare systemspezi
ftsche Bedeutungen erhält Persönlichkeitsentwicldung deshalb aus beruflicher Sicht, wenn es
mit beruflicher Sozialisation, und aus pädagogischer Sicht, wenn es mit Selbstbestimmung
verknüpft wird. In der Verknüpfung entstehen strenggenommen neue Qualitäten von Bedeu
tungen, die nicht mehr über einzelne Bedeutungen und auch nicht über deren Summe be
schrieben werden können. Auch hier gilt der fundamentale Satz der System theorie: Das
Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!
S,: Wirtschaftlichkeit S,: Berufliche Sozialisation S,: Selbstbestimmung S.: Persönlichkeitsentwicklung S,: Berufliche MobilitJit SB,W,P: Bedeutungen von B. W. p. die ftlr soziale Bereiche der Berufs- und Wirtschaftspädagogik
bedeutungslos sind
Schaubild 2: Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von drei Bedeutungs- bzw. Sinnsystemen
Die Besonderheit einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von
Beruf, Wirtschaft und Pädagogik entsteht also dadurch, daß sie nicht als autonomer Bereich
für pädagogisches Handeln gedacht werden kann. Die immer wieder diskutierte Frage, ob
Berufs- und Wirtschaftspädagogik eine eigenständige Disziplin ist, erübrigt sich in dieser
Systemzusammenhänge 59
gedanklichen Konstruktion eines Überschneidungsbereichs von Beruf, Wirtschaft und Päd
agogik.
Sinnvolles berufs- und wirtschaftspädagogisches Handeln und Kommunizieren kann sich
nicht abgelöst von den Bedeutungssystemen Beruf, Wirtschaft und Pädagogik entfalten. hn
zentralen sozialen Bereich der beruflichen Bildung beispielsweise interagieren Mitglieder
aller drei Systeme. Dabei bewerten sie ihre Handlungen mit den spezifischen Bedeutungen,
die für die sozialen Systeme gelten, denen sie sich zugehörig fühlen. So haben Lehrer andere
Vorstellungen von einer sinnvollen beruflichen Bildung als Ausbilder und Ausbildungsleiter,
die Tarifpartner andere Erwartungen an die Berufsausbildung als die Kultusminister. Ju
gendliche machen als Auszubildende andere Erfahrungen als in der Schülerrolle usw. Daß
besonders in der beruflichen Bildung unterschiedliche Bedeutungssysteme ständig
"ausgehandelt" werden müssen, ist sicherlich ein besonderes Problem der Berufs- und Wirt
schaftspädagogik, das diese nicht einfach durch normatives Setzen von Bildungszielen auf
heben könnte (~ Z, Problematik einer wissenschaftlichen Zielsetzung). Darin liegt aber auch
die besondere Chance für deren Weiterentwicklung.
Festgehalten werden kann: Soziale Systeme entstehen, indem
• Menschen soziale Netzwerke von Kommunikation und Handlung (Interaktion) bilden,
• Systeme Grenzen ziehen und damit unterscheiden, was zum System und zu seiner Um
welt gehört,
• Systeme Sinnkriterien für aufeinander bezogenes Kommunizieren und Handeln sozial
festlegen und zu einem systemspeziftschen Bedeutungssystem verknüpfen.
Schließlich lassen sich Grenzen (bzw. die Umwelt) von sozialen Systemen erkennen
• an systemspeziflSCher Sprache, Kommunikation und Handlung, mit denen sich das System
von anderen Systemen unterscheidet,
• an Sanktionen (Ignorieren, Tadeln, Ausgrenzen), mit denen Systemmitgliedern angezeigt
wird, daß sie dabei sind, das soziale System zu verlassen.
60 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
2 Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration
Berufstätig zu sein, meint nicht nur, tätig zu werden, um damit den Lebensunterhalt bestrei
ten zu können und Pensionen und Rentenansprüche zu erwerben. "Beruf' steht auch für den
persönlichen Sinn, für Interessen, Wertvorstellungen und Ziele, für Wissen und Fähigkeiten,
die wir mit diesen Tätigkeiten verbinden. "Beruf' steht aber auch für die speziftsche gesell
schaftliche Wertschätzung, die Menschen als "Berufsträger" erfahren, und über die soziales
Ansehen und gesellschaftliche Achtung verteilt werden. Berufe formen sich demnach zum
einen aus den individuellen Vorstellungen von der Erwerbsarbeit und zum anderen aus ge
sellschaftlichen Festlegungen ("Bündelungen") von Arbeitstätigkeiten zu typischen Mustern
gesellschaftlicher Wertschätzung (Sozialprestige).
Im Berufsbegriff verschmelzen also zwei verschiedene Klassen von Bedeutungen zu einem
System von Bedeutungen. Wann immer wir den Berufsbegriff geschichtlich vorftnden, ftnden
wir auch diese beiden Bedeutungen von "Beruf' wieder.
Schon Martin Luther (1483-1546) benannte die zuvor genannten zwei Aspekte des Berufs
begriffs, den "inneren" Beruf (vocatio spiritualis) und den "äußeren" Beruf (vocatio exter
na). Mit dem "inneren" Beruf meinte Luther die geistige Berufung, sich als Christ in der Ar
beit zu bewähren und Gott und dem Nächsten zu dienen. Der "äußere" Beruf bezeichnet bei
Luther dagegen den weltlichen Stand.
Nun war Luther aber kein Berufsforscher sondern Theologe. Er betrachtete den Beruf vom
Standpunkt der Theologie. Und in dieser Betrachtung machte er allerdings eine deutliche
Unterscheidung: Nur das, was bedeutsam ist für die Bewährung als Christ und dem Dienst
an Gott und dem Nächsten, rechnete er der Religion zu. Das war der "innere" Beruf. Den
"äußeren" Beruf trennte er ab und verwies ihn in einen Bereich jenseits der Grenzen seiner
Religion. Der "äußere" Beruf war für Luther reine Erwerbsarbeit, und die war für Luthers
theologisches System unbedeutend.
Der Schweizer Reformator Jean Calvin (1509-1564) zog wie Luther eine deutliche Grenze
durch das Bedeutungsfeld von "Beruf'. In Abgrenzung zur reinen "Erwerbsorientierung" -
dem "äußeren" Beruf bei Luther - anerkannte er den Beruf nur insoweit, als dieser einen
Beitrag auch zur religiösen Ethik leisten konnte, d. h. zur Verpflichtung zum Verzicht zu
gunsten Bedürftiger und zur gewissenhaften Verwendung der von Gott anvertrauten Güter.
"Beruf' hatte also besonders in der theologischen Sichtweise von Calvin auch eine soziale
thische Verpflichtung, die die reine Erwerbsarbeit ausschloß. Erst im Spätcalvinismus und
Beruf' Zwischen Individualisierung und sozialer Integration 61
durch eine stärkere Orientierung an produktionskapitalistischen Idealen verloren die soziale
thisch begründeten beruflichen Orientierungen an Bedeutung.
Das, was vom Religionssystem ausgegrenzt wurde, der "äußere" Beruf, hatte jedoch für das
Wirtschaftssystem, speziell für die zünftisch organisierte Wirtschaftsordnung des Mittelal
ters, eine große Bedeutung und zwar in doppelter Hinsicht: Über Beruf und Berufsausbil
dung in den Zünften wurden die wirtschaftlichen Aktivitäten des damals noch bestimmenden
Handwerks reguliert und zugleich die ständische Gesellschaftsordnung reproduziert und
stabilisiert. Indem die Zünfte genau festlegten, wann ein Handwerksgeselle Meister werden
konnte, ob und gegebenenfalls wo dieser Meister seinen Handwerksbetrieb errichten konnte,
wieviele Gesellen er beschäftigen und wieviele Lehrlinge er ausbilden durfte, betrieben sie
eine durchgreifende Marktregulierung. Es wurden immer nur so viele Handwerksbetriebe
zugelassen und eingerichtet, wie diese auch imstande waren, den Lebensunterhalt des Mei
sters und seiner Familie zu sichern. Wer im Mittelalter in der Zunft lebte, erfuhr damit die
dauerhafte - und das meinte damals: lebenslange - Sicherheit seiner beruflichen Tätigkeit
("Berufstreue") und auch die lebenslange Sicherung der materiellen Versorgung durch Be
rufsarbeit
Mit dem Leben in den Zünften zugleich verbunden war jedoch auch die Einordnung in eine
soziale Hierarchie von Über- und Unterordnung im System der Ständegesellschaft: Den
niedrigsten sozialen Status hatten noch die Lehrlinge. Davon bereits deutlich abgehoben wa
ren die Gesellen und Gehilfen. Und darüber waren die Meister und selbständigen Kaufleute
sozial geschichtet. Über berufliche Bildung und Berufserfahrung wurden so soziale Wert
schätzungen verteilt und soziale Hierarchien erzeugt und stabilisiert.
Mit der Industrialisierung begann der Niedergang der mittelalterlichen Zünfte und damit
auch der Niedergang der Ständegesellschaft. Mit dem endgültigen Zusammenbruch des
zünftischen Wirtschaftssystems zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der zuvor schon einge
leiteten Säkularisierung veränderte sich die Situation jedoch grundlegend. An die Stelle der
religiösen Sinngebung von Beruf trat zunächst die neue ökonomische der Industrie. Für die
Industrie war "Beruf' lediglich verkörperte Arbeitskraft. Und Arbeitskraft war bloß Ware.
Die Arbeitserziehung trat an die Stelle der Berufserziehung in der Ständegesellschaft. Das
hieß für die vielen Kinder in den Industrieschulen schlicht Vorbereitung auf repetitive Tätig
keiten in den entstehenden Manufakturen, insbesondere in der Textilbranche. Ausbildung
zielte auf Verwertbarkeit von Arbeitskraft - und das möglichst früh und möglichst intensiv.
Sechzehn- bis achtzehnstündige Arbeitstage auch für Kinder und Frauen waren die Regel.
Für Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) war Berufsausbildung in den
62 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
Industrieschulen schlichtweg die Vorbereitung von Kindern auf spätere Ausbeutung und
Verelendung. Die Industrieschulen glichen Gewerbeunternehmen, die von Kindern betrieben
wurden.
Die Bedeutung von "Beruf' für die gesellschaftliche Eingliederung in soziale Schichten, die
mit dem Zunftwesen des Mittelalters entstand, verschwand und wurde durch eine ökono
misch orientierte Arbeitserziehung ersetzt. Diese übernahm auch die Funktion der gesell
schaftlichen Integration. Auch die Arbeitserziehung erfolgte nämlich nur in solchen Berufs
feldern, die bereits durch die Schichtzugehörigkeit der Eltern vorbestimmt war. Soziale
Mobilität zwischen Berufen und Berufsfeldern bzw. zwischen sozialen Schichten fand prak
tisch nicht statt. Besonders die soziale Schicht der Arbeiter - Marx und Engels nannten sie
das Proletariat - reproduzierte sich immer wieder selbst. Industriesoziologische Untersu
chungen konnten diese Reproduktion sozialer Schichten über den Beruf bis in die 1970er
Jahre hinein immer wieder bestätigen. Berufsausbildung und Beruf bestimmten somit auch in
der Industriegesellschaft die soziale Schichtung und legten die Möglichkeiten der Teilnahme
am gesellschaftlichen Leben und dessen Mitgestaltung fest.
In neueren wie auch älteren DefInitionen von "Beruf' sind diese Bedeutungen - die persönli
che wie auch die gesellschaftliche - noch zu erkennen. Zwei Beispiele hierfür:
"Wir verstehen heute unter Beruf die vom Zeitpunkt der geistigen Mündigkeit an lebenslänglich dauernde Einstellung eines Menschen auf spezialisierte Arbeit, auf eine Sonderleistung innerhalb der Wirtschaft und des Lebens seiner Nation, eine Spezialisierung seiner Tätigkeit, durch die er in der Auswirkung eigener Interessen und Kräfte zugleich die beglückende Vollendung seines persönlichen Wesens und der Sicherung eines inhaltsreichen, geachteten und materiell ausreichend entlohnten Daseins gewinnt" (Fischer 1930, S. 466).
"Beruf ist eine historisch-gesellschaftliche Kategorie ... Für viele ist der Beruf der wichtigste Faktor sozialer Integration und Bildung. Begrifflich ist er doppelseitig bestimmt. Er ist nicht nur funktionsbezogen (Objektseite gesellschaftlicher Anforderungen und Strukturen), sondern auch ichbezogen (Subjektseite individueller Motive und Interessen)" (Hobbensiefken 1996, S. 69).
Auch wenn wir uns heute am Ausgang der Industrialisierung und im Übergang zu einer In
formationsgesellschaft befmden, haben Berufsausbildung und Beruf ihre Bedeutung rur ge
sellschaftliche Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behalten. Jedoch sind
die Zusammenhänge zwischen Berufsausbildung, Berufstätigkeit und gesellschaftlicher Inte
gration komplexer geworden. Heute müssen wir unterscheiden zwischen Ausbildungsberuf
und Erwerbsberuf (vgl. Schaubild 3).
Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration
Ausbildungsbemf
• wird über das Berufsbild definiert
• defmiert zu vermittelnde individuelle
berufsbezogene Fähigkeiten,
Fertigkeiten und Erfahrungen
• bestimmt maßgeblich den
sozialen Status
• reguliert soziale Integration und
Teilhabe an gesellschaftlicher
Kommunikation und Handlung
Erwerbsbemf
• bezeichnet die betrieblich
festgelegten Arbeitsaufgaben
und Tätigkeiten
• definiert betriebliche
Arbeitsverrichtung
• ist Voraussetzung für
Erwerbseinkommen
• weist Positionen im Betrieb zu
Schaubild 3: Ausbildungsberuf - Erwerbsberuf
63
Trotz Arbeitslosigkeit, Lehrstellenknappheit und weitgehender Desillusionierung und Ent
mutigung von Jugendlichen hat "Beruf' im Sinne des Ausbildungsberufs eine persönliche
Bedeutung behalten. "Beruf' steht immer noch für den Zusammenhang mit persönlichen
Neigungen und Interessen, markiert individuelle berufliche Orientierungen, die weit über
berufliche Tätigkeiten hinausreichen. "Beruf' steht immer noch für persönliche Ziel- und
Wertorientierungen ebenso wie Berufsausbildungen auch Bildungs- und Entwicklungsmög
lichkeiten vermitteln oder versperren und das persönliche soziale Umfeld beeinflussen.
"Beruf' verweist darüber hinaus auch heute noch auf den sozialen Status, die berufliche
Stellung in einer gesellschaftlichen Hierarchie. Wenn wir jemanden bitten, sich uns oder an
deren vorzustellen, nennt er zumeist seinen Namen, dann nennt er seinen Beruf. Menschen
beschreiben sich und ihre gesellschaftliche Stellung fast automatisch über ihren Beruf. Von
der erlangten Berufsposition hängt es wesentlich ab, mit wem der einzelne zusammenkommt,
wen er kennenlernt, mit wem er soziale Kontakte aufnehmen kann, aber auch, welche sozia
len Rollen er in der beruflichen Öffentlichkeit übernehmen kann.
Der soziale Gesamtstatus des einzelnen wird nach wie vor durch seinen Ausbildungsberuf
und die damit zu erlangende berufliche Position bestimmt Obwohl Berufe für die Leistungs
fähigkeit der Wirtschaft von gleicher Bedeutung sein können, sind sie dennoch in der gesell
schaftlichen Wertschätzung deutlich voneinander verschieden. Berufe entfernen Menschen
voneinander, erzeugen soziale Distanz. Sie legen persönliches Ansehen und Sozialprestige
fest. Über Berufe werden nach wie vor Chancen zur Selbstverwirklichung und zur aktiven
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verteilt
64 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
"Beruf' meint aber auch Berufstätigkeit. Mit "Beruf' wird dann eine Arbeitsaufgabe be
schrieben, um die herum sich typische Verrichtungen gruppieren. "Beruf' bezeichnet dann
die charakteristische Bündelung der auf eine Aufgabe bezogenen Verrichtungen, mit der
auch Zweck und Ziel der im jeweiligen Beruf zu verrichtenden Tätigkeiten in einem Funkti
onsbild festgelegt werden. Es konnte in einer empirischen Berufsanalyse zum Funktionsbild
des Kraftfahrzeug-Instandsetzers aufgezeigt werden, daß trotz einheitlicher Bezeichnung für
einen Ausbildungsberuf sich die spätere Berufstätigkeit in diesem Beruf stark unterscheiden
kann (vgl. Schanne 1988). Es läßt sich also nur sehr unzuverlässig von der Berufsausbil
dung auf die tatsächlich zu leistende Berufsarbeit schließen. In der Studie konnte weiterhin
nachgewiesen werden, daß über den jeweiligen Erwerbsberuf als funktionale Seite des Be
rufs auch die tatsächlichen Chancen auf berufliche Weiterbildung, beruflichen Aufstieg, Ar
beitseinkommen, Arbeitsplatzsicherheit und Arbeitsqualität unterschiedlich verteilt werden.
Neben der Berufsausbildung ist damit der Erwerbsberuf als weitere wichtige Determinante
für soziale Wertschätzung, aber auch für gesellschaftliche Eingliederung getreten (~ LB,
Betrieb und Gesellschaft).
Beruf hat nach wie vor eine Bedeutung für die gesellschaftliche Integration. Allerdings sind
die Mechanismen, über die eine soziale Stellung durch Berufsausbildung und Berufstätigkeit
"zugewiesen" werden, komplexer geworden. Klar ist auch, daß dieser Mechanismus der so
zialen Integration durch "Zuweisung" gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung
über den Beruf an Bedeutung verliert. Die Jugendforschung konnte aufzeigen, wie sich die
eigene Berufsbiographie stetig aus gesellschaftlichen Festlegungen löst und mehr in die Ent
scheidung und Verantwortung des einzelnen gelegt wird. Sie wird zunehmend Teil einer
individuellen, ganzheitlichen, aber auch riskanten Lebensplanung.
Ob deshalb "Beruf' und "Beruflichkeit" noch Bezugspunkte für sinnvolles Kommunizieren
und Handeln von Berufs- und Wirtschaftspädagogen sein können, ist zumindest zweifelhaft
Kritiker von "Beruflichkeit" als Leitidee einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik verweisen
auf die Prozesse einer Entkoppelung von Berufssystem und Beschäftigungssystem: Einer
seits nimmt die Zahl der staatlich anerkannten Berufsausbildungen kontinuierlich ab, ande
rerseits wird von einer noch stärkeren Ausdifferenzierung von Erwerbsberufen ausgegangen.
Berufsausbildung wird dadurch notwendigerweise allgemeiner, konzentriert sich auf die
Vermittlung allgemeiner, theoretisch anspruchsvollerer und extrafunktionaler Kompetenzen.
Sie wird - langfristig betrachtet - zur beruflichen Grundqualiftkation, auf der ein an betriebli
chen Anforderungen orientiertes, der staatlichen Reglementierung und Regulierung entzoge
nes und damit vermeintlich flexibel gestaltbares System der beruflichen Weiterbildung auf-
Beruf· Zwischen Individualisierung und sozialer Integration 65
setzt. Welchen Sinn macht es dann überhaupt noch, weiter an der Idee von "Beruflichkeit"
festzuhalten ?
Weitere Zweifel an der berufs- und wirtschaftspädagogischen Bedeutung von "Beruf' und
"Beruflichkeit" werden genährt durch die sogenannte "Meritokratisierung" von Berufskarrie
ren. Zwar treten immer noch mehr als zwei Drittel eines Altersjahrganges in eine Berufs
ausbildung im dualen System ein (~ LS, Berufsschule). Dabei darf aber nicht übersehen
werden, daß für große Teile dieser "Berufsschüler" ihre Berufsausbildung nur eine Durch
gangsstation zum Besuch weiterführender Schulen und Hochschulen ist, die
(allgemeinbildende!) Abschlüsse zertifizieren und dann bessere Einstiegschancen in Berufs
karrieren bieten als Berufstätigkeit und berufliche Qualifizierung.
Wird die Bedeutung von "Beruf' und "Beruflichkeit" allein in der mehr oder weniger mißlin
genden Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem aufgesucht, mögen diese
Zweifel berechtigt sein. In diesem einseitigen Bild von "Beruflichkeit" wird es kaum noch
möglich sein, in staatlich geordneten Berufsausbildungen einen beachtlichen Beitrag zur Be
wältigung von Prozessen der Flexibilisierung und Deregulierung zu erkennen. Unklar er
scheint auch, wie sich eine staatlich geordnete Berufsausbildung mit der angeforderten Indi
vidualisierung von Lebensentwürfen, in die berufliche Karrieren maßgeschneidert einzupas
sen sind, sinnvoll verbinden läßt
Die Perspektive ändert sich jedoch, wenn wieder die drängenden Probleme der Integration in
die sozialen Systeme unserer Gesellschaft in den Blick genommen werden und nach dem
möglichen Beitrag der beruflichen Bildung zur Bearbeitung dieser Probleme gefragt wird.
Nehmen wir beispielsweise die zehn am stärksten von Frauen besetzten Ausbildungsberufe in
den Blick, dann ist zu erkennen, daß es allesamt typische Frauenberufe sind: Arzthelferin,
Bürokauffrau, Kauffrau im Einzelhandel, Zahnarzthelferin, Friseurin und andere. Mit den
von Männem am häufigsten gewählten Ausbildungsberufen gibt es jedoch kaum Überschnei
dungen. Die historisch gewachsene Auf teilung des Berufssystems in Männer- und Frauenbe
rufe dauert also noch an (~ LS, Berufliches Schulwesen). Sie wird sogar noch durch zwei
Tendenzen verstärkt.
Wie den Berufsbildungsberichten des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, For
schung und Technologie zu entnehmen ist, sinkt der Anteil von Frauen in gewerblich
technischen Berufen weiter ab. Der Trend geht für Frauen eher zu den Dienstleistungsberu
fen (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996, S.
56). Zugleich werden die Pflegeberufe auch weiterhin Frauenberufe bleiben, die bisher nicht
bundeseinheitlich nach Berufsbildungsgesetz geregelt sind (~ LS, Berufliches Schulwesen).
66 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
Unterstützt durch die Einstellungspraxis von Betrieben werden über die Segmentierung des
Beschäftigungssystems auch unterschiedliche soziale Chancen verteilt. Die Benachteiligung
von Frauen ist dadurch festgeschrieben, daß mit der Auf teilung des Berufssystems in Frauen
und Männerberufe zugleich auch den Frauen ein höheres Arbeitsplatzrisiko, ein geringeres
Lebenseinkommen, bescheidenere berufliche Karrieren und Weiterbildungsmöglichkeiten
zugemutet werden. Das ist aber mit der praktisch immer noch wirksamen geschlechtsspezifi
schen "Zuweisung" von Berufen tatsächlich der Fall.
Die Sicht auf Probleme der gesellschaftlichen Integration von Frauen verschärft sich noch,
wenn die besondere Problemlage von Migrantinnen in den Blick genommen wird. Migran
tinnen haben nicht nur die allgemeinen Benachteiligungen von Frauen in Kauf zu nehmen,
sondern auch die besonderen von Ausländerkindem. Von den jungen Migrantinnen nimmt
etwa ein Fünftel weniger eine Berufsausbildung im dualen System auf als vergleichbare deut
sche weibliche Jugendliche. Die Benachteiligung erfahren sie bereits an der ersten Stufe des
Auswahlverfahrens, wenn sie wegen negativer Zuschreibungen von Ausbildungsbetrieben
gar nicht erst in die engere Wahl einbezogen werden. Inländische Bewerberinnen haben
selbst dann noch einen Vorteil gegenüber jungen Migrantinnen, wenn sie vergleichsweise
geringer vorqualifiziert sind (vgl. Paul-Kohlhoff 1994).
Die Benachteiligung setzt sich an der nächsten Hürde fort. Im Einstellungstest und im Be
werbungsgespräch erwachsen ihnen Nachteile durch Wahmehmungsstereotypen, Vorstel
lungen von Bildung und Qualiftkation, Verfahrensweisen, Gespräch und Gesprächsführung,
die allesamt kulturgeprägt und wohl nur für den mitteleuropäischen Kulturraum repräsenta
tiv sind.
Die aktuelle Ausbildungssituation von Frauen zeichnet sich also nach wie vor durch ein en
ges Spektrum von Berufen und Berufswahlen für Mädchen und zudem durch ein Berufs
wahlverhalten aus, das Mädchen mehrheitlich in solche Berufe lenkt, die am unteren Ende
der Berufshierarchie liegen. Die nach wie vor ungelöste Frage der Gleichstellung und Chan
cengleichheit von Mädchen und Frauen ist aber nur ein Beispiel für eine Sichtweise auf be
rufs- und wirtschaftspädagogisches Handeln und Kommunizieren, die sinnvoll nur über die
Bedeutungen von Beruf und Beruflichkeit entfaltet werden können (vgl. auch Mayer 1996).
Festgehalten werden kann: Von "Beruf' zu sprechen und berufsbezogen zu handeln macht
dann Sinn, wenn damit gemeint ist
• die materielle Sicherung der eigenen Existenz durch Einkommen,
Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration 67
• die anforderungsgerechte Anpassung an sozial festgelegte Arbeitsaufgaben und Arbeits
verrichtungen und deren Bündelung zu marktfähigen Qualiflkationen,
• die IBewußtseinsformung", das heißt Anpassung an gesellschaftlich angeforderte
Wertorientierungen und Haltungen (berufliche Sozialisation),
• die Chance zur Entwicklung von Lebensentwürfen und Lebensplänen,
• die soziale Integration in ein System gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung.
68 Beruf, Wirtschaft. Plidagogik
3 Wirtschaft: Ökonooüe und Politik beruflicher Bildung
Eine Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die sich am Beruf orientiert, geht von der Leitidee
"Beruflichkeit" aus. Das mag sogar hinreichend sein für eine Berufspädagogik, die ihr Be
deutungssystem allein über den Berufsbegriff entfaltet. Für eine Berufs- und Wirtschaftspäd
agogik reicht das nicht Dafür tritt als weiteres Bedeutungssystem das System "Wirtschaft"
hinzu.
Besonders die Wirtschaftspädagogik hat sich nämlich nie als Wirtschaftsberufspädagogik
oder gar als Wirtschaftsberufsschulpädagogik verstanden. Wirtschaftspädagogik schließt
auch die Konsumentenerziehung, die hauswirtschaftliche Erziehung und die Erziehung zum
wirtschaftspolitisch mündigen Staatsbürger im Sinne einer ökonomischen Allgemeinbildung
ein, für die sich allesamt keine direkten beruflichen Bezüge aufzeigen lassen.
Wir versuchen deshalb, dieses für eine Berufs- und Wirtschaftspädagogik ebenso wichtige
System von Bedeutungen im Überschneidungsbereich von Berufs- und Wirtschaftspädago
gik zu entfalten und zwar über einen Bereich, der sich ausdrücklich auch mit Bildung be
schäftigt, aber dabei die für das Bedeutungssystem "Wirtschaft" ökonomische Perspektive
nicht verläßt: die Bildungsökonomie.
Eine ökonomische Sichtweise auf Bildung besagt, daß das Gut "Bildung" ein knappes Gut
ist. Knapp heißt, daß die Herstellung dieses Gutes bzw. dessen Beschaffung Ressourcen
verbraucht und Kosten verursacht. Bei Knappheit ist aber Wettbewerb um dieses Gut un
vermeidlich. Wird der Wettbewerb über den Preis ausgetragen, erfolgt die Allokation über
die Produktivität, d. h. das knappe Gut "Bildung" wird dort eingesetzt, wo es den größt
möglichen Ertrag an Produktionsgütern und Dienstleistungen einbringt. Für die Steuerung
dieser Allokation müssen also Kriterien für die Diskrimination, d. h. Entscheidungshilfen für
eine produktionsfördernde Investition in Humankapital bereitgestellt werden.
Bereits die Merkantilisten führten Mitte des 17. Jahrhunderts erste Versuche durch, das
Humankapital zu berechnen. Sie gingen dabei von der Frage aus, wie durch wirtschaftliche
Entwicklung die Staatsrnacht gefestigt und erweitert werden kann. Dabei erkannten sie
schon deutlich, daß wirtschaftliche Entwicklung eng mit einem Ausbau des Bildungswesens
einhergehen muß. Sie forderten deshalb auch vom Staat, Ausbildungsstätten einzurichten
und selbst Ausbildungsaufgaben zu übernehmen. Schließlich sollte nach merkantilistischer
Vorstellung das ganze Unterrichtswesen wirtschaftlich ausgerichtet werden.
Diese noch recht allgemeinen Vorstellungen von Bildung als einem knappen Gut, das wirt
schaftlichen Wohlstand befördern und Staatsrnacht festigen hilft, wurden dann im 18. Jahr-
Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung 69
hundert von der klassischen Nationalökonomie beschrieben. Es war vor allem Adam Smith
(1723-1790), der kapitaltheoretische Überlegungen zur wirtschaftlichen Bedeutung dieses
knappen Gutes anstellte und formulierte (zitiert nach Immell994, S. 29):
"Ein solcher Erwerb ist stets mit Kosten verbunden, da der Lebensunterhalt während der Ausbildung, dem Studium oder der Lehrzeit gesichert sein muß. Diese Ausgaben zählen zum Anlagevermögen, das unmittelbar in den Menschen investiert ist."
Smith betrachtete also die Umwandlung von Geld in Humankapital durch Ausbildung wie
die Investition in eine Maschine. Nach Smith sollte deshalb Bildung auf eine Erhöhung der
Arbeitsproduktivität gerichtet sein. Dabei unterstellte er folgenden Zusammenhang zwischen
Investition in Ausbildung und Arbeitsproduktivität: Nur solche Investitionen in Ausbildung
wurden von ihm als "produktiv" anerkannt, die materielle Werte schaffen. Da sich aber nicht
alle Fähigkeiten direkt zur Herstellung von Gütern einsetzen lassen, unterschied er die ver
meintlich unproduktiven von den produktiven. So trennte er sehr klar in seinem Begriff von
"Arbeitsproduktivität" jegliche Form geistiger Arbeit als unproduktiv ab. Eine Unterschei
dung, die uns heute sehr befremden mag. Unproduktive Arbeit verrichten in diesem Sinne
beispielsweise Geistliche, Rechtsanwälte und auch Lehrer. Investitionen in deren Ausbildun
gen enthalten nach seiner Meinung überwiegend konsumtive Anteile, und Erträge aus geisti
ger Tätigkeit entsprächen niemals dem Aufwand für diese Tätigkeit.
Ähnlich wie geistige Arbeit als unproduktiv diskriminiert wurde, erging es der Wertschät
zung der Bildung für die Frau (Smith, zitiert nach Immel1994, S. 33):
"Alles in ihrer Erziehung ist auf einen praktischen Zweck ausgerichtet. Sei es ihre natürliche Anmut zu vervollkommnen, sei es, sie zu Sittsamkeit, Bescheidenheit, Keuschheit und Sparsamkeit zu erziehen, mit dem Ziel, sie gleichermaßen darauf vorzubereiten, Hausfrau und Mutter zu werden und ihre Aufgabe als solche gut zu erfüllen."
Obwohl - oder gerade weil - Smith sich nachdrücklich für die Beförderung von Fähigkeiten
zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität durch Investitionen in Bildung einsetzte, schloß
er Mädchen und Frauen aus seinen weiteren Überlegungen aus. Erkennbar sind hier die öko
nomischen Wurzeln für die Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben. Die Arbeitspro
duktivität von Frauen wird noch heute vergleichsweise gering eingeschätzt. Beispielsweise
zählen Hausfrauen auch heute nicht als Produktionsfaktor. Sie tragen -statistisch betrachtet -
nichts zur Wertschöpfung eines Volkes bei.
70 Beruf, Wirtschaft. Pädagogik
Unmittelbar an die Lehren von Adam Smith knüpfte vor allem Jean Baptiste Say (1767-
1832) an, der dessen Lehren über Knappheit und Wettbewerb auch im Bildungsbereich prä
zisierte. Mit Say wurde die Investition in Ausbildung zu einer eigenen Kapitalform, zum
Humankapital und zum Mittel für die Produktion. Später wurde sie neben Arbeit, Boden und
Kapital zum vierten Produktionsfaktor. Diese, vor allem von ihren (pädagogischen) Kritikern
als "funktionalistisch", "instrumentalistisch" oder "utilitaristisch" charakterisierte Sichtweise
auf Bildung wurde etwa 30 Jahre nach Say von John Stuart Mil1 (1806-1873) nochmals prä
zisiert (zitiert nach Immel1994, S. 45):
"Der Mensch als solcher (wie schon früher bemerkt) gilt nicht als Vermögen; aber seine persönlichen Fähigkeiten, die nur als Mittel bestehen und durch Arbeit hervorgerufen sind, fallen meines Erachtens nach sehr wohl unter diesen Begriff ... Thr Wert zeigt sich in der Arbeit dann, wenn sie als Mittel in der Produktion eingesetzt werden".
Mit der Umdeutung des Humanvermögens in Produktionsmittel wurde eine Sichtweise vor
bereitet, die schon 50 Jahre früher bei dem deutschen Ökonomen Heinrich von Thünen
(1783-1850) angedeutet wurde: Als Produktionsmittel steht menschliche Arbeit aber in
Konkurrenz zu anderen Produktionsfaktoren. Sie tritt über Alternativkosten mit anderen
Produktionsfaktoren in eine Substitutionskonkurrenz ein.
Wie sehr diese ökonomische Sichtweise auf Bildung die Vorstellungen von Bildung als Ko
stenfaktor prägte, zeigt beispielsweise John Stuart Mil1 mit seinen Überlegungen zur Beför
derung von Arbeitsfähigkeiten an: Zur Beförderung von Arbeitsfähigkeiten schlägt Mil1 als
Aufgabe der Elementarschulen vor, die Körperkraft zu stärken, die Geschicklichkeit zu ver
mehren und Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu befördern. Naturwissen
schaft und Mathematik seien zu fördern, um Geschäfte betreiben zu können. Der Verstand
müsse geschärft werden zum Nachdenken darüber, was überall die Arbeit wirksamer mache.
Selbst die moralische Bildung, eine für Mil1 sehr wichtige Kategorie der zu erbringenden
Erziehungsleistungen, sah er im engen Zusammenhang zum volkswirtschaftlichen Nutzen.
Wenn moralische Bildung die Zuverlässigkeit steigern hilft, so argumentiert Mill, wird weni
ger gesetzwidrig gehandelt. Die Administrationskosten für Polizei und Justiz würden da
durch gesenkt. Der Gesamtertrag der Arbeit als materielle Produktion steige. Mill beschrieb
also schon sehr klar den Bildungsnutzen in niedrigeren Alternativkosten (vgl. Immel1994, S.
48).
Die klassische Vorstellung von der Bedeutung der Bildung als knappem Gut
(Humankapital), in das investiert wird, das Kosten verursacht und Erträge abwirft, das im
Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung 71
Wettbewerb mit anderen Produktionsfaktoren steht, über Faktorpreise und mit Hilfe des
Marktmechanismus reguliert wird, ist dann etwa 100 Jahre später konsequent zum Markt
modell der Berufsbildung ausgeformt worden. Es war vor allem Milton Friedman, der diesen
Ansatz konsequent in einem doppelten Effizienzkriterium entfaltete: (1) Die Leistungsfähig
keit von Bildungsleistungen und deren Produktion in Bildungsbetrieben sind nach ökonomi
schen Kriterien zu bewerten. Dieser Gesichtspunkt der internen EffIzienz von Bildung wird
heute vor allem im sogenannten Bildungscontrolling verfolgt. (2) Bildungs- und Beschäfti
gungssysteme sind über den Bildungsmarkt optimal abzustimmen. Diese Selbstregulierung
von QualifIkationsangebot und Qualiftkationsnachfrage auf einem Bildungsmarkt mache
letztlich die teure und dennoch ineffIziente Bildungsplanung überflüssig (~ B, Abstimmung
und Koordination; ~ B, Bildungspolitische Streitfälle).
Ökonomische Analysen des Bildungs- und Ausbildungssektors wurden schon immer in der
Einsicht durchgeführt, daß Bildungsausgaben auch anders verwendet werden können. Bil
dungsökonomische Analysen können gesamtwirtschaftlich ansetzen als polit-ökonomische
Analysen des Bildungs- und Ausbildungssektors. Erstrecken sie sich auf einzelne Bildungs
einrichtungen und Bildungsmaßnahmen, dann sind sie als einzelwirtschaftliche Kosten- und
Effektivitätsanalysen angelegt (~ R, Kosten und Nutzen). Gerade heute, da die Problem
sicht auf einen möglichst effektiven Einsatz auch der knappen Bildungsressourcen wieder
geschärft ist, werden sie zunehmend bedeutsamer (~ LS, Schule und Wirtschaft; ~ LB,
Betrieb und Gesellschaft).
In gesamtwirtschaftlicher Sichtweise auf berufliche Bildung wird derzeit ein ordnungspoliti
sches Modell als Alternative zum dualen System diskutiert, das unverkennbar Züge der
neoklassischen und neoliberalen Bildungsökonomie aufweist: das Marktmodell. In der Dis
kussion wird vor allem mit ökonomisch begründeten Argumenten für eine tiefgreifende ord
nungspolitische Strukturreform in der beruflichen Bildung geworben (~ R, Rechtlich
institutionelle Grundlagen; ~ B, Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften):
• Ausgleich von Ausbildungsangebot und -nachfrage über den Marktmechanismus;
• Abstimmung der beruflichen Bildung auf langfristig zu erwartende Verwendungssituatio-
nen;
• Planung, Organisation und Bewertung von beruflicher Bildung durch Betriebe als Ab
nehmer;
• Finanzierung der Berufsbildung durch Abnehmerbetriebe nach bildungsökonomischen
Gesichtspunkten;
72 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
• Konkurrenz von privaten und staatlichen Bildungsträgern (~ R, Finanzierung);
• Beschränkung des staatlichen Einflusses auf eine Beförderung von Wettbewerb und Ver
hinderung von Wettbewerbsbeschränkungen in der beruflichen Bildung.
Eine bildungsökonomische Diskussion über Alternativen zum dualen System wird noch da
durch befördert, daß das deutsche System der Berufsausbildung im Zuge der Europäisierung
in die Konkurrenz zu anderen Systemen eintritt und damit selbst unter Legitimationsdruck
gerät (~ R, Internationalisierung). Angeregt wird die bildungsökonomische Diskussion auch
durch die weltweite Suche nach Alternativen für die Neugestaltung und Aktualisierung von
Berufsbildungssystemen, seitdem klar ist, daß Bildungsinvestitionen über technischen Fort
schritt, Wirtschaftswachstum und Konkurrenzfähigkeit auf internationalen Märkten mitent
scheiden.
Das einzelwirtschaftliche Gegenstück zur ordnungspolitischen Diskussion zeigt sich derzeit
in einer Entwicklung, die mit dem Namen outsourcing belegt wurde. Darunter ist die Ausla
gerung bzw. Ausgliederung der Aus- und Weiterbildung in ein eigenes Unternehmen oder in
einen sogenannten Profit-Center gemeint Outsourcing meint deshalb auch den Verzicht des
Unternehmens auf die "Eigenproduktion" von Bildungsleistungen. Begründet wird dieser
Verzicht zugunsten eines "Fremdbezugs" von Bildungsleistungen mit Wettbewerbsvorteilen.
Diese Wettbewerbsleistungen können u. a. sein:
• Kostenentlastung durch Kostensenkung;
• Abbau von Ressourcenüberhängen durch effektiven Mitteleinsatz auch des professionali
sierten Aus- und Weiterbildungspersonals (~ LA, Professionalisierung; ~ LA, Betriebli
ches Ausbildungspersonal);
• Kundenorientierung bei der Produktion von Bildungsleistungen;
• effektive Steuerung der Bildungsausgaben durch Bildungscontrolling;
• Risikostreuung durch ein marktorientiertes Leistungsangebot auch an externe Kunden.
Völlig falsch wäre es jedoch, im outsourcing lediglich einen Ansatz zur effektiven Aus- und
Weiterbildung im Sinne einer wirtschaftlicheren Verwendung von Mitteln bei ansonsten un
veränderten Bedingungen zu sehen. Outsourcing macht letztlich nur dann Sinn, wenn beruf
liche Bildung an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien gemessen und bewertet wird. Das
setzt aber voraus, daß Bildungsziele überprüft, Bildungsergebnisse exakt bewertet und Bil
dungsprozesse möglichst frei gestaltet werden können.
Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung 73
Ökonomische Sichtweisen auf berufliche Bildung können auch bisher vertraute und akzep
tierte Vorstellungen von beruflicher Bildung wieder in Frage stellen. Zu diesen Vorstellun
gen gehört beispielsweise die berufspädagogisch begründete Forderung nach beruflicher
Mobilität. Berufliche Mobilität wird zum einen als eine wichtige Voraussetzung für Selbst
bestimmung und Selbstgestaltung persönlichkeitsfördernder Berufsarbeit angesehen. Zum
anderen ist berufliche Mobilität aber auch ein gesellschaftspolitisch relevantes Ziel, weil sie
z. B. der Reproduktion gesellschaftlicher Schichten über Berufsausbildung und Berufstätig
keit entgegenwirkt, soziale Aufstiege (aber auch Abstiege) befördern und Einkommen, Ar
beitsplatz und berufliche Karrieren sichern hilft
Auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht kann berufliche Mobilität vorteilhaft sein, wenn da
durch personale Ressourcen dorthin geleitet werden können, wo sie den größtmöglichen
Ertrag bringen. Einzelwirtschaftlich betrachtet, ist berufliche Mobilität jedoch nicht in jedem
Fall vorteilhaft für den Betrieb. Zwar unterstützt berufliche Mobilität die Flexibilität von
betrieblicher Produktion und Verwaltung. Da aber Mobilität bei zunehmender Qualiftzierung
innerhalb eines Berufes auch häufigeren Wechsel des Arbeitsplatzes zwischen den Unter
nehmen bedeutet, zeigt sich die Kehrseite der Medaille: Humankapital ist nicht marktfähig.
Es läßt sich in der Regel nicht wieder zurück in Geldkapital verwandeln. (Nur bei Fußball
spielern gilt diese Regel nicht!) Es bleibt an die Person gebunden, in die investiert wurde.
Die Beförderung von beruflicher Mobilität durch betriebliche (Weiter)Bildung kann deshalb
bei Betriebswechsel auch zu einer betriebswirtschaftlichen Fehlinvestition werden. Sie ist in
jedem Fall eine riskante unternehmerische Entscheidung (vgl. Pichler 1992, S. 82).
Es gilt somit zu bedenken, daß alle Entscheidungen über Bildungsaktivitäten im Unterneh
men immer auch betriebswirtschaftlich begründete Entscheidungen sind. Klarerweise muß
berufs- und wirtschaftspädagogisches Kommunizieren und Handeln, wenn es praktisch be
deutsam sein will, immer auch eine gründliche Analyse und Reflexion ökonomischer Bedeu
tungen von Bildung und Berufsbildung einschließen.
Festgehalten werden kann: Von "Wirtschaft" zu sprechen und wirtschaftlich zu handeln
macht dann Sinn, wenn damit gemeint ist:
• Bildung ist knappes Gut,
• Wettbewerb um Bildung als knappe Ressource (produktionsfaktor),
• Investitition in Humankapitall-vermögen (Umwandlung von Geldkapital in Humankapi
tal),
• Diskriminierung durch Preise, Leistung (produktivität), Kaufkraft (Geld) und Geschlecht,
• Substitutionskonkurrenz (Alternativkosten).
74 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
4 Pädagogik: Bildung und Beruf
Gegen eine rein ökonomische Sichtweise auf (berufliche) Bildung, die etwa die Frage nach
Individualität und Selbstbestimmung des Menschen als geradezu philosophischen Ballast
über Bord wirft, wendet sich ganz entschieden das neuhumanistische Bildungsideal, das ins
besondere von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) vertreten wurde.
Anders als die klassischen und neoliberalen Nationalökonomen, die das Verhältnis von Indi
viduum und Gesellschaft von "außen nach innen" zu bestimmen versuchten und dabei ein nur
sehr pauschales Bild vom freien Menschen zeichneten, entwarf der Neuhumanismus Hum
boldtscher Prägung ein Bildungsideal, in dem die Entfaltung der Persönlichkeit zum Aus
gangspunkt und zur Bezugsgröße gemacht wurde. Er entwarf ein Bild vom idealen Men
schen, in dem es zur Bestimmung des Menschen gehört, sich zum Menschen "zu bilden".
Wird dieses Ziel der Menschenbildung konsequent verfolgt, muß alles, was Erfahrungen
auslösen kann und Forderungen an den Menschen heranträgt, daraufhin bewertet werden,
was es zur Menschwerdung beiträgt. Das ist der "antropozentrische" Ansatz des Neuhuma
nismus Humboldtscher Prägung, in der die Welt nur Mittel zum Zweck der Menschwerdung
ist, der Mensch das Maß aller Dinge ist.
Dieses Bildungsideal war deutlich gerichtet gegen eine Halbierung des Menschen, die auch
im ökonomischen Denken und vor allem in der wirtschaftlichen Praxis der Nutzung und
Verwertung als Arbeitskraft stattfand und sich dort im Bild vom "homo oeconomicus" aus
drückte. Dieser "zerstückelte" Mensch erschien den Neuhumanisten als ein Wesen, daß ent
gegen seinem Entwicklungsauftrag gewaltsam vereinnahmt wurde.
Besonders Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und J ohann Friedrich Herbart (1776-1841)
haben neben Humboldt "den Menschen" mit dem idealisierenden Maßstab der Humanität
gemessen. Dennoch blendeten sie die Wirklichkeit nicht einfach aus. Sie vertraten die An
sicht, daß die Wirklichkeit sich nur als Medium zur Verfügung stellt, um die dem Menschen
innewohnenden Kräfte freisetzen und Persönlichkeit bilden zu können. Die Wirklichkeit muß
sich das Individuum im Prozeß der Selbstbildung aneignen. Indem vor allem Humboldt den
Prozeß der Bildung gleichsam "von innen nach außen" konstruierte, warnte er zugleich auch
davor, das "Innere" mit dem "Äußeren" zu vermischen, weil sonst die Gefahr bestünde, sich
an die Welt zu verlieren.
Mit dieser kompromißlosen Trennung des "Inneren" vom "Äußeren" war dann auch die
Formel gefunden, mit der für die Pädagogik weitreichende Konsequenzen gezogen wurden
(-t LS, Merkmale schulischen Lemens). Die Redeweise vom "pädagogischen Schonraum",
der abgeschirmt werden müsse von den vereinnahmenden Kräften des "Äußeren" und einzu-
Pädagogik: Bildung und Beruf 75
richten sei für die behütende Entfaltung von Bildungsprozessen, verbreitete sich. Das Erzie
hungsverhältnis wurde auf die Beziehung des Erziehers zu seinem "Zögling" zurückgeführt,
die "Welt" als unmittelbar bildungswirksam abgewiesen.
Die bedingungslose Überordnung des Inneren und die Abschottung der äußeren Welt, die
wir heute als Wirtschaft, Technik, Beruf und Gesellschaft erfahren können, kennzeichnet
immer deutlicher die anthropozentrische Denkweise der neuhumanistischen Bildungstheorie.
Sie hat eine bis in die heutige Zeit bedeutungsvolle Konsequenz für die berufliche Bildung,
die Trennung der Allgemeinbildung von einer Spezialbildung, und das hieß vor allem von der
Berufsbildung. Erst auf der Grundlage einer allgemeinen Menschenbildung - so lautete eine
zentrale neuhumanistische These - könne eine Berufsausbildung aufsetzen. Noch heute ver
treten deshalb neuhumanistisch orientierte Bildungstheoretiker, die sich auf Humboldt beru
fen, die Ansicht, daß jeder Versuch einer Umdeutung des Verhältnisses von Bildung
Allgemeinbildung-Berufsbildung im "Apädagogischen" enden müsse, d. h. daß damit die
Grenze dessen, was Pädagogik einschließt zu anderen Bereichen sozialen Handelns über
schritten wird.
Die neuhumanistische Bildungstheorie hat mehr als 150 Jahre lang über die Bedeutung von
"Beruf' und "Berufsausbildung" entschieden. In dieser Phase der Entwicklung der klassi
schen Bildungstheorien mit der Idee einer allgemeinen Menschenbildung wurden die Grund
lagen der neuzeitlichen Pädagogik geschaffen. Diese Bedeutung wurden Beruf und Berufs
ausbildung von einer Pädagogik zugeschrieben, die nur erkennen konnte, daß Beruf und
Berufsausbildung im Zuge der Industrialisierung auf ökonomische Verwertung ausgerichtet
waren, und mit der Humanitätsidee ein Bildungsideal als Leitvorstellung für Bildung - auch
der beruflichen Bildung - entgegenhielt
Wie Herwig Blankertz jedoch zu bedenken gab, ist der neuhumanistische Standpunkt als
Reaktion auf die maßlose Übersteigerung des Nützlichkeitsdenkens bei den utilitaristisch
orientierten Pädagogen des 18. Jahrhunderts zu verstehen, gleichsam als Kampfansage aus
Sorge um den Verbleib des Menschen und dessen Individualität unter den Zumutungen ge
sellschaftlicher Brauchbarkeit. Mit der "unbedingten Zwecksetzung" der Freigabe des Erzo
genen zur Mündigkeit, arbeitet die Erziehungswissenschaft ihre besondere Bedeutung her
aus. Sie beschreibt damit auch den Erziehungsprozeß als Prozeß der Emanzipation, d. h. der
Befreiung des Menschen aus unnötiger Herrschaft und zu sich selbst (vgl. Blankertz 1982, S.
306 f.). In diesem Sinne ist mit dem Bildungsbegriff der persönliche wie auch gesellschaftli-
76 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
che Anspruch auf humane Fonnen des Lebens und Zusammenlebens wieder diskutierbar
geworden.
Während die Neuhumanisten streng zwischen Bildung und Berufsbildung unterschieden,
wurde spätestens seit der klassischen Berufsbildungstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts
eine Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung betont. So fonnulierte Georg
Kerschensteiner 1904: "Die Berufsbildung steht an der Pforte zur Menschenbildung"
(Kerschensteiner 1904/1966, S. 94). Für ihn ist Menschenbildung ohne Berufsbildung nicht
denkbar. Der Beruf rückt damit in das didaktische Zentrum des Bildungswesens. Kerschen
steiners Gedanken wurden danach von anderen Klassikern der Berufsbildungstheorie wie
Eduard Spranger, Aloys Fischer und Theodor Litt weiterentwickelt.
Bildungspolitisch bedeutsam wurde dieses Gedankengut aber erst in den 1970er Jahren, als
der Deutsche Bildungsrat in seinem Strukturplan schrieb: "Auch wird es nicht länger zu
rechtfertigen sein, einer allgemeinen eine nur berufliche Bildung gegenüberzustellen. Das
Lernen soll den ganzen Menschen fördern" (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 30). Diese Ma
ximen wurden dann 1974 in der Bildungsempfehlung des Deutschen Bildungsrates "Zur
Neuordnung der Sekundarstufe 11. Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und be
ruflichem Lernen" fortgeführt. Für die erzieherische Bedeutsamkeit noch wichtiger wurde
das nordrhein-westfälische Kollegschulmodell, das in über 30 Schulversuchen die Integration
von beruflichem und allgemeinem Lernen voranzutreiben versucht (vgl. Kollegstufe NW
1972).
In die Berufs- und Wirtschaftspädagogik erneut eingebracht wurde die pädagogische An
thropologie mit Entwürfen zur Programmatik der Vennittlung von Schlüsselqualiftkationen.
Hier war es besonders eine anthropologische Fundierung in Anlehnung an Heinrich Roth,
mit der die Humanitätsidee im Bild des "reifen Menschen" weiterentwickelt wurde. In die
sem Bild vom Menschen gilt es, Erziehung als Aufgabe zu erkennen,
" ... die Befreiung des Menschen zum Ziel hat, ein Freiwerden der menschlichen Handlungsfähigkeiten in Richtung auf Freiheit und Mündigkeit zum Wohl des Individuums und der Gesellschaft, wobei beide nur als frei und mündig gelten können, wenn mit der zunehmenden Freiheit eine Verantwortung einhergeht, die sich über zunehmende Sach-, Sozial- und Werteinsicht ... entfaltet" (Roth 1971, S.596).
Auf dem Weg zum "reifen Menschen" beschreibt Roth (1971, S. 439) die entscheidenden
Entwicklungsstufen also als
• Erlernen sacheinsichtigen Verhaltens und Handeins,
Ptidagogik: Bildung und Beruf 77
• Erlernen sozialeinsichtigen Verhaltens und HandeIns und
• Erlernen werteinsichtigen Verhaltens und HandeIns.
Wie schon die klassische Anthropologie geht auch Roth der Frage nach, wie der Mensch
durch Erziehung zu sich selbst kommen kann. Seine Antwort verdichtet er zu der Einsicht,
daß Erziehung helfen kann, die menschliche Lebensfonn der mündigen Handlungsfähigkeit
zu erreichen, zugleich aber eigenverantwortliches Handeln auch an eine soziale, moralische
und politische Verantwortung zu binden.
Festgehalten werden kann: Von "Bildung und Erziehung" zu sprechen und pädagogisch zu
handeln macht dann Sinn, wenn damit gemeint ist
• ein Eigenrecht des Menschen auf Selbstbestimmung,
• Individualität, Universalität und Totalität (Menschenbild),
• Umwelt als "Stoff' (Medium) für die Entfaltung von Individualität,
• Freisetzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten in Richtung von Freiheit und Mündig
keit,
• Freiheit der Person in gesellschaftlicher Verantwortung.
78 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
5 Systemische Innovationsleistungen
Angesichts der vielfältigen Bedeutungen, die in berufs- und wirtschaftspädagogische Kom
munikation einfließen und sich dort handlungsorientierend und handlungsregulierend auswir
ken, stellt sich die Frage, ob konsensuelles Handeln überhaupt zustande kommen kann. Die
se Frage verweist auf ein Problemfeld von Kooperationsschwierigkeiten, die vielfältige For
men annehmen können (~ B, Institutionen und Organisationen; ~ B, Abstimmung und Ko
ordination).
Beispielhaft ist die Lernortkooperation zu nennen. Obwohl sie fUr die Funktionsfähigkeit des
dualen Systems geradezu vorausgesetzt werden muß, wird sie doch geprägt durch die
"Unterwerfung unter die Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen Subsystems" (Schwiedrzik 1990,
S. 22 f.): Ausbilder und Lehrer wissen wenig voneinander. Sie haben erfahrungsgeprägte
Vorstellungen von beruflicher Bildung, ein Austausch fmdet allerdings kaum statt, wird un
ter Umständen nicht einmal gewünscht. Thre unterschiedliche Sprache befördert Ressenti
ments gegeneinander. Initiativen für Kooperation versickern. Verbesserungen an einem Ler
nort verbleiben an diesem Ort und werden nicht auf den anderen Lernort • bertragen.
Ein weiteres Beispiel sind die immer noch langen Abstimmungsprozesse bei Neuordnungen
von Berufsausbildungen, die durch komplizierte Abstimmungsverfahren reguliert werden
müssen (~ B, Abstimmung und Koordination). Als Problem ist auch zu nennen, daß sich
konsensuelle Bereiche, wie sie beispielsweise mit den Neuordnungen fUr Berufsausbildungen
und ihren Leitideen entwickelt wurden, schnell wieder auflösen können, wenn sich die Ein
schätzung der ökonomischen Rahmenbedingungen für berufliche Bildung ändert (~ LS,
Schille und Wirtschaft; ~ LB, Betrieb und Gesellschaft).
Werden Systeme also als relativ autonome ("autopoietische") Handlungssysteme betrachtet,
die nach spezifischen Bedeutungen Kommunikation und Handlung erzeugen, scheinen sy
stemübergreifende Interaktionen immer problematisch zu sein, weil sie die Autopoiese der
Systeme gefährden könnten. Systemübergreifende Interaktion scheint deshalb an konservati
ve Strategien gebunden zu sein. Welches System sich dabei schließlich durchsetzt, könnte
über die Machtfrage entschieden werden.
Gleichwohl können fUr das duale System beachtliche systemische Innovationspotentiale
beschrieben werden, wenn bedacht wird, daß sich mit der Entstehung sozialer Systeme die
darin interagierenden lebenden ("kognitiven") Systeme nicht auflösen. Es sind weiterhin de
ren Handlungen, die zu Systemhandlungen werden und die nur aus dem Handeln der Men
schen in diesen Systemen hervorgehen können. Für die Analyse von systemischen Innovati-
Systemische Innovationsleistungen 79
onsleistungen ist es nun besonders wichtig zu erinnern, daß diese kognitiven Systeme in der
Regel stets Mitglied mehrerer Systeme sind und mehrere Systeme über ihre Kommunikation
und Handlung mitgestalten (vgl. Hejl 1990, S. 329 ff.). So handeln Auszubildende durch
Betriebszugehörigkeit in einem wirtschaftlichen und in der Schülerrolle in einem pädagogi
schen Bedeutungszusammenhang. Lehrer und Ausbilder arbeiten in Prüfungsausschüssen
zusammen, und Tarifpartner handeln zusammen mit Bildungspolitikern die Rahmenbedin
gongen beruflicher Bildung aus usw.
Als Konsequenz dieser systemübergreifenden Vernetzung von Mitgliedern verschiedener
Sozialsysteme entsteht für alle Systemmitglieder die Situation, daß sie im systemübergrei
fenden Kommunizieren und Handeln die unterschiedlichen Rollenerwartungen integrieren
müssen. Dabei übertragen sie Sichtweisen, Vorstellungen, Werthaltungen, Konzepte, Erfah
rungen, die sie in "ihrem" System gemacht haben in das andere, so wie sie auch vergleichba
re Ideen, Konzepte, Problemlösungen aus dem anderen System in "ihr" System importieren.
Aber auch Neuentwicklungen in der gegenseitigen Orientierung auf gemeinsames Handeln
sind möglich.
Obwohl soziale Systeme also prinzipiell konservative Systeme sind, deformieren sie nicht
notwendigerweise die in ihnen operierenden individuellen (kognitiven) Handlungssysteme zu
Systemmitgliedern, wie Kritiker systemtheoretischer Sichtweise befürchten, wenn sie be
haupten, daß "... die Kommunikationsprozesse sozialer Systeme eine Eigenständigkeit ge
genüber den Motiven und Interessen der beteiligten Individuen (gewinnen)" (Kutscha 1995,
S. 276). Indem Systeme auch system übergreifend mit anderen kooperieren, erzeugen sie
notwendigerweise auch das Phänomen des sozialen Wandels (vgl. Hej11990, S. 329).
Systemische Innovationsleistungen sind allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden:
Vorhanden sein muß zunächst einmal ein gemeinsames Interesse, das Menschen verschiede
ner Systeme überhaupt zusammenführt Institutionen sollten das Zusammentreffen und die
darin erwachsende Kommunikation und Handlung befördern. Der Politik fiele dabei die Auf
gabe zu, Interaktionen anzuregen, ohne sie anzufordern (~ B, Berufsbildungspolitik in
komplexen Gesellschaften).
Zwar sollten soziale Festlegungen von Bedeutungen, die die Systemmitglieder in Interaktio
nen einbringen, beachtet und respektiert werden, Interaktionen sollten jedoch auch Freiheits
grade für gegenseitiges Interpretieren, Verstehen und Verständigen belassen. Wichtig ist
dabei, daß systemspezifische Sprache den Verständigungsprozeß nicht blockiert. Das ist aber
dann der Fall, wenn Systemmitglieder darauf bestehen, daß nur ihre Fachsprache als pro
blemangemessene Sprache anerkannt wird. Eine Fachsprache hat aber keinen Wert an sich.
80 Beruf, Wirtschaft, Ptidagogik
Sie ist immer nur wertvoll für diejenigen Fachleute, die es bereits gelernt haben, sich darin
gegenseitig zu orientieren und zu verständigen. Fachsprache ist immer nur dann eine effekti
ve Sprache, wenn sie auch tatsächlich als erfolgreich erlebt wurde. Bei system übergreifender
Kommunikation dagegen muß diese Erfahrung des erfolgreichen Operierens in der Sprache
zumeist erst erarbeitet werden und zwar im Prozeß des Sprechens und Kommunizierens
selbst
Und schließlich werden systemische Innovationsleistungen besonders dann befördert, wenn
das zu verhandelnde Problem "mehrperspektivisch" angelegt ist. Das ist fast immer bei
Handlungen der Fall, in denen disziplin- und berufsübergreifend zusammen an einer Problem
lösung gearbeitet wird. Hierbei gilt es nämlich, widersprechende Handlungsanforderungen
vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bedeutungssysteme auszuhandeln.
Ein Beispiel aus der Lehrerbildung: An der Technischen Universität Berlin werden im Rah
men eines Studienrefonnprojektes zum Berufsschullehrerstudium fachwissenschaftliche mit
berufspädagogischen und fachdidaktischen Veranstaltungen aufeinander bezogen. Den Rah
men für diese Verknüpfungen geben gemeinsam durchzuführende Projekte ab.
Ein solches Projekt trägt den Titel "Stahlbetonsanierung" (vgl. Busch 1997). In diesem Pro
jekt geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der Betonsanierung. Danach sind das öko
logische Risikopotential der Sanierungsmaßnahmen zu erörtern, Aspekte des Arbeitsschut
zes im Zusammenhang mit Überlegungen über Sandstrahlarbeiten zu bedenken und ökono
mische Berechnungen zur Wirtschaftlichkeit alternativer Sanierungsmethoden anzustellen.
Schließlich sind in dieser mehrperspektivisch angelegten Problembearbeitung verschiedene
Bezugssysteme (technische, ökologische, ökonomische und andere) aufeinander zu beziehen.
Das Projekt kann deshalb nur interdisziplinär und berufs- bzw. berufsfeldübergreifend - und
das heißt auch systemisch - angelegt werden.
Der Projektablauf wird folgendermaßen beschrieben (Dittmann & Erbe 1996, S. 49 ff.):
"Zwischen den Studierenden und Lehrenden werden der Projektablauf und die Schwerpunktsetzung in der Thematik besprochen. Eine Anpassung an die konkreten Bedingungen des jeweiligen Projektes ist selbstverständlich. Die zeitliche Abfolge könnte beispielsweise wie folgt vorgenommen werden. 1. Woche: Infonnation über Projekte im Studium, Zielsetzung des Projektes; Bestimmung des konkreten Projektthemas; kurze Einführung. 2. Woche: Festlegung des Zeitplans; Verteilung der Aufgaben auf die einzelnen Gruppen (max. 5 Personen); Formulierung des zu bearbeitenden Problems, Verteilung der Aufgaben, Zusammenstellung der grundlegenden Informationen. 3. - 4. Woche:
Systemische Innovationsleistungen
Anknüpfen an das Vorwissen aus dem Fach Baustoftlrunde: Autbau, Bestandteile des Betons, Festigkeitsklassen, w/z-Wert, Zementsteinbildung, Karbonarisierung, Prüfverfahren, optimaler Beton, Qualitätssicherung. 5. Woche: Besonderheiten des Stahlbetons, Schadensbilder durch Exkursion oder Dias, Ursachen für Schäden an Stahlbetonbauten, Identifikation von typischen Schwachstellen bei der Konstruktion, Klassifizierung von Schäden. 6. Woche: Sanierungsmöglichkeiten bei leichten, mittleren und schweren Schäden; Aufbringen von Spezialmörtel, Betone oder Spritzbeton, Oberflächenschutzmaßnahmen. ggf. Einladung von Experten (Firmenvertretern) 7. - 13. Woche: Erarbeitung von Modellen wie Poster, Wandtafeln, Betonmodelle für unterschiedliche Schadensursachen sowie Sanierungsmaßnahmen. An geeigneter Stelle Zwischenbilanz: Vorstellen der Zwischenergebnisse, damit die Gruppen die Herangehensweise und die Inhalte der anderen Gruppen kennenlernen. 14. Woche: Abschlußpräsentation und Reflexion des Projektes."
81
Auch auf internationaler Ebene sind system ische Innovationspotentiale auszumachen. Be
sonders die Heterogenität von Berufsbildungssystemen hat immer wieder internationale Ko
operationen angeregt, wenn es galt, die Wirksamkeit von Berufsbildung unter den Bedin
gungen unterschiedlicher historischer, kultureller und sozialer Kontexte herauszufmden.
Obwohl sich die Berufsbildungssysteme in Europa schon sehr voneinander unterscheiden
und ostasiatische sich mit europäischen noch weniger vergleichen lassen, müssen sie - sy
stemisch betrachtet - allesamt doch als mehr oder weniger effektiv bezeichnet werden (~ R,
Internationalisierung).
Erst langsam reift die Erkenntnis, daß sich ihre Effektivität erst im Systemzusammenhang
mit anderen sozialen Systemen beschreiben läßt, systemische Innovationsleistungen sich erst
im Systemzusammenhang einstellen können. Die immer wiederkehrende Frage, welches Sy
stem der Berufsbildung das überlegenere ist und deshalb exportiert oder importiert werden
sollte, läßt sich nur mit dem Blick auf diesen Zusammenhang beruflicher Bildung mit anderen
sozialen Systemen sinnvoll erörtern. Reformen der beruflichen Bildung können deshalb auch
nur dann erfolgreich sein, wenn mit den Korrekturen am System auch die damit ausgelösten
Veränderungen in anderen Systemen mitbedacht werden. Reformen der beruflichen Bildung
lösen deshalb notwendigerweise immer auch systemische Innovationen aus, wie auch Verän
derungen in anderen sozialen Systemen Innovationen in der beruflichen Bildung anregen
können.
82 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik
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Strukturbegriff:
Zielsetzungen
Rahmenbedingungen
Ausbildung ~:::='-~~./--J.F~~~-r...L_j-=::~ Ziel-der Lehrer und setzungen der Ausbilder
Lernort Betrieb
1 Problematik wissenschaftlicher Zielsetzungen
Ziele und Zielsetzungen in der beruflichen Bildung sind sicherlich notwendig. Aber welchen
Sinn macht es, sich wissenschaftlich damit zu beschäftigen? Eine scheinbar klare und einfa
che Antwort findet sich in folgender Feststellung von Bunk (1982, S. 21):
"Berufserziehung als Praxis ist ein komplexes Geschehen ... mit jeweils besonderen Zielen. Die Aufstellung dieser Ziele kann nicht Gegenstand der Wissenschaft sein, weil hier die intersubjektive Überprütbarkeit fehlt ... Wer pädagogische Ziele und Normen setzt, muß diese begründen und rechtfertigen ... Wirken Wissenschaftler bei Zielfmdungen und Zielsetzungen mit, so tun sie dies in ihrer Rolle als Politiker".
Halten wir fest: Das Setzen von Zielen beruflicher Bildung fällt hiernach nicht in den Aufga
benbereich einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Ziele beruflicher Bildung werden ihr
vielmehr vorgegeben. Wenn sie sich dennoch mit Zielen beruflicher Bildung befaßt, muß sie
sich auf einige Aspekte dieses Problemfeldes beschränken.
Sie kann vorfmdliche Ziele der beruflichen Bildung beschreiben und zu systematisieren ver
suchen, beispielsweise um sich zu vergewissern, woran sie sich als Wissenschaft orientieren
muß oder zumindest orientieren sollte. Sie kann mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Zu
sammenhänge von Zielsetzungen beruflicher Bildung deutlich machen: Wer verfolgt ver
gleichbare, wer konkurrierende Ziele der beruflichen Bildung? Berufs- und Wirtschaftspäd
agogik als Wissenschaft kann Ziele darüber hinaus logisch und empirisch auf Widersprüche
86 Zielsetzungen
untersuchen. Sie kann Ansprüche beruflicher Bildung empirisch auf deren Realisierbarkeit
hin überprüfen und praktische Folgewirkungen von Zielen aufzeigen.
Eine Beschränkung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zielen und Zielsetzungen
auf diese Aspekte des Problemfeldes markiert die Position des Kritischen Rationalismus. Der
Kritische Rationalismus ist ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das sich in den 1970er
Jahren stark verbreitete und in dieser Zeit auch für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik
sehr bedeutsam wurde. Diesem Selbstverständnis liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Zielset
zungen letztlich immer auf Wertentscheidungen beruhen, Werte aber grundsätzlich nicht
objektiv überprüfbar sind. Ziele beruflicher Bildung können deshalb nicht "gut an sich" sein.
Sie sind es immer nur für konkrete Menschen oder Gruppen von Menschen in bestimmten
Zeiten und im Hinblick auf bestimmte Zwecke.
Wird dieser Wissenschaftsauffassung gefolgt, wäre das Thema "Zielsetzungen der berufli
chen Bildung" tatsächlich wissenschaftlich uninteressant, es sei denn, der Wissenschaftler
schlüpft in die Rolle des Politikers. Aber genau hier liegt ein Problem, auf das uns Vertreter
eines anderen wissenschaftlichen Selbstverständnisses, Vertreter des sogenannten radikalen
Konstruktivismus, aufmerksam gemacht haben.
Zwei Kernaussagen, auch Aphorismen genannt, kennzeichnen das wissenschaftliche Selbst
verständnis des radikalen Konstruktivismus (Maturana & Varela 1990, S. 32):
"Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun." "Alles Gesagte ist von jemandem gesagt"
Der erste Satz "Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun" besagt, daß auch Er
kennen ein Tun ist und daß auch dieses Tun - nämlich das Erkennen - deshalb an Ziele ge
bunden ist. Wie die biologische Gehirnforschung eindrucksvoll nachweisen konnte, ist eine
Orientierung an Zielen eine notwendige Voraussetzung für Tun. Ein Tun ohne Zielorientie
rung ist biologisch und neurophysiologisch nicht nachweisbar (vgl. von Foerster 1985, S. 25
ff.).
Es muß daher wohl akzeptiert werden, daß auch dann, wenn über Berufs- und Wirtschafts
pädagogik geforscht wird, dieses immer nur zielorientiert geschieht. Andernfalls käme eine
Erkenntnis gar nicht erst zustande. Zielsetzungen und zielorientiertes Handeln einerseits und
Erkenntnisgewinnung andererseits gehören also untrennbar zusammen. Sie bilden in jedem
Menschen eine operationale Einheit Egal, ob sich jemand als Wissenschaftler betätigt oder
in die Rolle des Politikers schlüpft, die operationale Einheit wird nicht aufgelöst, es sei denn,
er hört auf, als Mensch zu existieren.
Problematik wissenschaftlicher ZielsetZWlgen 87
Wer folglich vom Wissenschaftler verlangt, auf Zielsetzungen zu verzichten, weil dies nur
Aufgabe von Politikern sei, fordert strenggenommen von ihm, das Denken und Handeln zu
unterlassen. Nur als nichtbiologisches Konstrukt wäre er nämlich in der Lage, dieser Forde
rung nachzukommen, nicht aber als Mensch mit einem Gehirn.
Der zweite Satz "Alles Gesagte ist von jemandem gesagt" bedeutet folgendes: Auch ein
Wissenschaftler, der Untersuchungen über Ziele und Zielsetzungen durchführt und seine
Untersuchungsergebnisse beschreibt, vermag diese Beschreibungen nur im Rahmen seiner
eigenen sprachlichen Möglichkeiten anzufertigen. Seine sprachlichen Möglichkeiten gestat
ten und begrenzen zugleich seine wissenschaftlichen Aussagen. Immer bleiben sie an seine
persönlichen Möglichkeiten gebunden, wissenschaftliche Erkenntnisse auch sprachlich zu
fassen. Außerhalb dieser subjektiven Möglichkeiten zu "objektiven" Erkenntnissen zu gelan
gen, ist erkenntnistheoretisch und empirisch nicht zu begründen. Über Ziele und Zielsetzun
gen der beruflichen Bildungen "an sich" zu reden, ohne dabei die eigene Sprache zu beden
ken und zu reflektieren, macht keinen Sinn.
88 Zielsetzungen
2 Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit
Die Ziele "Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit" weisen auf eine Dominanz beruflicher
Bildung durch privatwirtschaftlich organisierte Ausbildungsbetriebe hin (~ BWP, Wirt
schaft). Diese Dominanz ist in der beruflichen Ausbildung besonders durch die Ankoppelung
der beruflichen Schulen an betriebliche Qualiflzierungsprozesse befördert worden, mit der
eine anforderungsgerechte QualifIZierung für Arbeitsplätze und betriebliche Produktion und
Dienstleistung gesichert werden soll (~ R, Qualiflkationsvoraussetzung und -verwertung).
Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit sind primär ökonomisch begrüfldbare Ziele.
Zielsetzungen beruflicher Bildung in Wirtschaftsbetrieben orientieren sich deshalb am Wirt
schaftlichkeitsprinzip. Aus der Sicht der Personalwirtschaftslehre lassen sich folgende Ziel
setzungen beruflicher Bildung ableiten:
• Herstellen und Sichern von Disponibilität (Verfügbarkeit) über Personal: Entwicklung des
Humanpotentials
• nach Aufgabenzuschnitt, benötigten Qualiflkationsstrukturen, verfügbaren Posi
tionen (Stellen),
• nach hierarchischer Verteilung von Leitungs- bzw. Anweisungsbefugnissen und
Ausführungsfunktionen,
• nach Verteilung von Verantwortlichkeiten.
• Kontrollierte Nutzung des Personal potentials
• Leistungsbereitschaft und Leistungswilligkeit,
• IdentifIkation mit den Unternehmenszielen ("Wir-Gefühl", corporate identity),
• Akzeptanz wechselnder QualifIkationsanforderungen und flexiblen Personaleinsat-
zes,
• Erkennen und Annehmen von Verhaltenserwartungen der Unternehmensleitung
und Vorgesetzten,
• Umsetzen und Mitgestalten von unternehmerischen Zielsetzungen,
• Qualitätskontrolle und Qualitätsentwicklung von Produktion und Dienstleistung.
Diese Zusammenstellung läßt sich pointiert folgendermaßen erläutern. Aus der Sicht der
Personalwirtschaftslehre wird solches Personal benötigt, das betriebliche Aufgaben effektiv
im Sinne unternehmerischer Zielsetzungen erledigen kann, das die dafür zugeschnittenen
QualifIkationen besitzt und die verfügbaren Stellen auch tatsächlich einnimmt Das Personal
muß sich problemlos in das betriebliche Gefüge von Leitung und Anweisung, von Vorge-
Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit 89
setzten und Untergebenen einfügen können. Es muß Verantwortung nach den betriebsorga
nisatorischen Zuschnitten von Stellen übernehmen können.
Darüber hinaus wird den QualifIZierten aus betrieblicher Sicht Leistungsbereitschaft und
Leistungswilligkeit abverlangt. Sie müssen sich mit den Unternehmenszielen identifIZieren
und den zukünftig häufiger werdenden flexiblen Einsatz an unterschiedlichen Arbeitsplätzen
akzeptieren. llmen wird abverlangt, daß sie die betrieblichen Verhaltenserwartungen anneh
men und nach diesen handeln. Sie sollen zum Umsetzen von Unternehmenszielen und zum
Mitgestalten ihres Unternehmens bereit und fähig sein. Das bedeutet auch, ihren individuel
len Beitrag zur Kontrolle der Qualität von Dienstleistung und Produktion sowie zur Ent
wicklung neuer Unternehmensstrukturen zu erbringen.
90 Zielsetzungen
3 Vergesellschaftung und soziale Integration
Jedes gesellschaftliche Teilsystem liefert Beiträge zur Stabilisierung und Weiterentwicklung
der Gesellschaft insgesamt: So koordiniert das Politiksystem die verschiedenen Interessen
der Gesellschaftsmitglieder und ihrer Gruppierungen, das Rechtssystem formuliert Rahmen
bedingungen als Gesetze und Verordnungen und kontrolliert gesellschaftliches Handeln
durch die Rechtsprechung. Das Erziehungssystem übernimmt Aufgaben der Erziehung und
Bildung, das Wirtschaftssystem die Sicherung der materiellen Voraussetzungen für unser
Leben in der Gesellschaft und das Berufssystem die Aufgabe der Vergesellschaftung von
Individuen und deren soziale Integration (~BWP, Systemzusammenhänge).
In der berufspädagogischen Diskussion wurde deshalb der Forderung nach Funktionalität
und beruflicher Tüchtigkeit immer auch entgegengehalten, daß berufliche Bildung einen
"Überschuß an Qualiflkation" (Wolfgang Lempert) zu erzeugen habe. Dieser Überschuß
müsse in Mitbestimmung und Mitgestaltung von sozialen Systemen der Gesellschaft einge
bracht werden (~ BWP, Systemische Innovationsleistung).
Berufliche Bildung soll demnach aus dieser Sicht Prozesse der Vergesellschaftung und sozia
len Integration unterstützen helfen (~ BWP, Beruf). Heute bedeutet dies, daß berufliche
Bildung die Jugendlichen stützen soll, wenn sie ihren Weg in unsere "Risikogesellschaft"
(Ulrich Beck) suchen und diese "Risikogesellschaft" als Erwachsene mitgestalten wollen.
"Risikogesellschaft" ist zum Schlagwort geworden, mit dem wir unsere postindustrielle Ge
sellschaftsformation bezeichnen, die sich deutlich von der Klassengesellschaft der Nach
kriegszeit unterscheidet. Waren in der industriellen Klassengesellschaft beispielsweise
Schulbildung und Berufswahl noch weitgehend durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen
Schicht bestimmt, sind in der heutigen Risikogesellschaft die Zugänge zu Schul- und Be
rufsbildung für alle sozialen Schichten offener geworden. Aber sie sind auch riskanter ge
worden.
Niemand kann heute mehr sagen, daß eine höhere Schulbildung dauerhaft das Einkommen
sichert. Niemand vermag heute sicher anzugeben, welche Berufsausbildungen für künftige
Jobs gebraucht werden und wieviele Jobs in Zukunft überhaupt angeboten werden. Gleich
wohl haben Jugendliche heute diese Unsicherheiten in ihren Lebensentwürfen zu berücksich
tigen und in riskanten Entscheidungen über ihren Lebensweg zu bearbeiten.
Zielsetzungen der beruflichen Bildung, die von einer Funktion der sozialen Integration und
gesellschaftlichen Differenzierung ausgehen, können wie folgt markiert werden.
Vergesellschaftung und soziale Integration 91
Vorbereiten auf die Eingliederung in die "Risikogesellschaft" und Mitgestalten des sozialen
Zusammenlebens, d. h.
• dauerhafte Sicherung eines Einkommens, um erwachsen werden zu können,
• Sicherung der (horizontalen) beruflichen Mobilität durch berufs- und berufsfeldübergrei
fende Qualifikationen und Kompetenzen,
• Sicherung des sozialen Aufstiegs (bzw. Verhinderung des sozialen Abstiegs) durch le
benslanges Lernen,
• Beförderung von Akzeptanz, Toleranz und Verständigung zwischen Menschen mit ande
ren Wertsystemen und aus anderen Kultur- und Sozialsystemen,
• soziale Integration von Randgruppen und Frauen.
Um überhaupt erwachsen handeln zu können, müssen junge Menschen über eigenes Ein
kommen verfügen. Sie müssen den gesellschaftlich angeforderten häufigeren Berufswechsel
bewältigen. Dies erfordert berufliche Mobilität, die über den Erwerb von berufs- und berufs
feldübergreifenden Qualifikationen und Kompetenzen zu sichern ist. Junge Menschen sollen
aber auch die beträchtlich verbesserten gesellschaftlichen Chancen zum sozialen Aufstieg,
die nicht mehr allein schon durch die Schichtzugehörigkeit der Eltern verteilt sind, nutzen.
Diese Sicherung des sozialen Aufstiegs bzw. der Vermeidung des sozialen Abstiegs erfordert
Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen.
Junge Menschen sollen zudem erkennen, daß die Risikogesellschaft nur erhalten und weiter
entwickelt werden kann, wenn akzeptiert wird, daß wir in einer multikulturellen Gesellschaft
leben, in der die verschiedensten Wert- und Kultursysteme aufeinander treffen und zu ge
samtgesellschaftlichem Handeln verknüpft werden müssen. Jugendliche sollen nicht nur wis
sen, daß soziale Ausgrenzung von Randgruppen und Frauen in einer
"Zweidrittelgesellschaft" letztlich das Ende dieser Gesellschaft und damit auch ihrer eigenen
spezifischen Chancen für Entwicklung ist (-7 LS, Berufliches Schulwesen; -7 BWP, Beruf).
Sie sollen sich auch mit den Möglichkeiten beruflichen Handelns gegen jede soziale Aus
grenzung solidarisch zur Wehr setzen können.
92 Zielsetzungen
4 Subjektivität und Persönlichkeitsentwicklung
Als wohl bedeutendster Bezugspunkt für pädagogisch angeleitetes Reflektieren über Ziele
und Zielsetzungen in der beruflichen Bildung gilt seit der (deutschen) Aufklärung und Klas
sik mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bildungsbegriff (~ BWP, Päd
agogik). Er wurde besonders von Wilhelm von Humboldt, Philosoph, Diplomat und zeitwei
se auch Leiter der Sektion Unterricht und Kultur im preußischen Innenministerium, geprägt.
Humboldt entwickelte seinen Bildungsbegriff im Kontext seiner Vorstellungen von einer
neuhumanistischen Pädagogik. In diesen Vorstellungen von Bildung ist der Auftrag der Päd
agogik zur Entwicklung aller Kräfte des Menschen zentral. Bildung, verstanden als Allge
meinbildung, wurde in der neuhumanistischen Pädagogik zur Grundlage der sittlichen
Menschwerdung schlechthin erklärt.
Die Vorstellung von Bildung im Sinne der neuhumanistischen Pädagogik trennte aber die
Idee der Allgemeinen Bildung von der Berufsbildung ab, der pure Ausrichtung des Men
schen auf Nützlichkeit unterstellt wurde. Sie grenzte sich scharf ab von den Erwartungen
und Ansprüchen von Wirtschaft und Gesellschaft ihrer Zeit, die sie nur mit Einschränkungen
von individueller Freiheit und Subjektwerdung verbinden konnte.
Aktuell bedeutsam für pädagogisches Reflektieren über Ziele und Zielsetzungen der berufli
chen Bildung ist u. a. die pädagogische Anthropologie vor allem in ihrer Fassung durch
Heinrich Roth (vgl. Roth 1971). Auch sie geht vom Bildungsgedanken aus und transformiert
ihn im Bild vom "reifen Menschen", dessen verwirklichte Lebensform die mündige Hand
lungsfähigkeit ist. Die Befreiung des Menschen, das Freiwerden für menschliche Hand
lungsmöglichkeiten, für Freiheit und Mündigkeit ist auch in der pädagogischen Anthropolo
gie leitende Zielvorstellung für berufliche Bildung. Besonders im Konzept der Programmatik
der Vermittlung von Schlüsselqualiftkationen kommen anthropologische Zielvorstellungen
zum Tragen. Allerdings verweist die pädagogische Anthropologie auch auf Verantwortung
als eine relevante berufspädagogische Kategorie. Verantwortung wird hier verstanden als
gesellschaftliche Mitverantwortung jedes einzelnen Menschen für die Freiheit des anderen.
In Stichworten zusammengefaßt können die Bildungsidee und ihre Transformation in eine
pädagogische Anthropologie folgendermaßen ausgedrückt werden:
• Freisetzung des Menschen zu seinen humanen Möglichkeiten (Wilhelm von Humboldt),
• Verhinderung von Einschränkungen der Berufswahl und des Berufswechsels,
• Orientierung am Idealtypus einer freien Gesellschaft,
Subjektivitlit und PersiJnlichkeitsentwicklung 93
• Erreichen der Daseinsmöglichkeit der freigesetzten Subjektivität (Herwig Blankertz).
• Entfalten zum reifen Menschen in der Entwicklung von Subjektivität (Heinrich Roth).
• Verantwortung gegenüber der Freiheit des anderen.
• Befähigung zur Selbstbestimmung und Subjektwerdung.
• allgemeingültige. das heißt für alle Menschen gültige Bildung und Vielseitigkeit der Bil
dung (Wilhelm von Humboldt).
94 Zielsetzungen
5 Berufliche Handlungsfähigkeit
Funktionalität und Disponibilität, Vergesellschaftung und soziale Integration, Subjektivität
und Persönlichkeitsentwicklung bezeichnen Ansprüche an die berufliche Bildung, die über
Wirtschaft, Beruf und Pädagogik an die berufliche Bildung herangetragen werden. Sollen
diese Ansprüche nicht bloß nebeneinander stehen bleiben, wird eine Zielfonnel benötigt, auf
die diese verschiedenen Ansprüche bezogen werden können. Diese Zielfonnel kann lauten:
Beförderung beruflicher Handlungsfähigkeit Sie bietet derzeit wohl die größte Chance, alle
an der Gestaltung beruflicher Bildung beteiligten Interessengruppen in den Prozeß der ge
genseitigen Orientierung über Ziele beruflicher Bildung einzubinden.
Dabei kann aufgezeigt werden, daß die analytische Unterscheidung verschiedener Zielsyste
me beruflicher Bildung kein Glasperlenspiel ist, sondern für den Prozeß des Aushandelns von
Zielvorgaben auch praktisch bedeutsam ist. Dies soll an den Zielvorstellungen des Deutschen
Bildungsrates, den Zielen des Berufsbildungsgesetzes, den Zielen im Schulgesetz der Freien
und Hansestadt Hamburg und personalwirtschaftlichen Zielen beruflicher Bildung exempla
risch vorgeführt werden.
Der Deutsche Bildungsrat (~B, Institutionen und Organisationen) war in den Jahren 1965-
1975 ein Beratungsgremium der Bundesregierung in Bildungsfragen. Im Strukturplan des
Deutschen Bildungsrates wurde 1970 ein Vorschlag für eine weitreichende Reform des ge
samten Bildungswesens vorgelegt (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 29):
"Das umfassende Ziel der Bildung ist die Fähigkeit des einzelnen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben, verstanden als die Fähigkeit, die Freiheit und die Freiheiten zu verwirklichen, die ihm die Verfassung gewährt und auferlegt"
Der Deutsche Bildungsrat bezog sich dabei auf das Grundgesetz und besonders auf Artikel
2, der das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und den Schutz der Person garan
tiert. Festgehalten werden kann: Ziele der Bildung insgesamt - und damit auch der berufli
chen Bildung - sind gemäß dem Deutschen Bildungsrat die freie Entfaltung der Persönlich
keit und die Verwirklichung von Freiheit
Auch wenn der Deutsche Bildungsrat nur Empfehlungen aussprechen konnte, war die Erin
nerung an die grundgesetzlich verankerten Ziele von Bildung wichtig. Empfehlungen sind
jedoch keine Gesetze, haben also keinen bindenden Charakter. Dies ist jedoch anders mit
dem Berufsbildungsgesetz, das 1969 verabschiedet wurde. Es bildet die Grundlage flir den
Berufliche HandlungsJiihigkeit 95
betrieblichen Teil der Berufsausbildung. Ziele, die im Berufsbildungsgesetz festgeschrieben
wurden, sind (§ 1 (2-4) Berufsbildungsgesetz):
"(2) Die Berufsausbildung hat eine breit angelegte berufliche Grundbildung und die für die Ausbildung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen. (3) Die berufliche Fortbildung soll es ermöglichen, die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erweitern, der technischen Entwicklung anzupassen oder beruflich aufzusteigen. (4) Die berufliche Umschulung soll zu einer anderen beruflichen Tätigkeit befähigen."
Festgehalten werden kann: Ziele beruflicher Bildung nach dem Berufsbildungsgesetz sind die
Vermittlung fachlicher Fertigkeiten und Kenntnisse, die Ermöglichung von Berufserfahrun
gen, der Erhalt und die Anpassung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten, die Ermögli
chung des beruflichen Aufstiegs und die Befähigung zu anderen beruflichen Tätigkeiten.
Diese Ziele sind im Vergleich zu den Zielen des Deutschen Bildungsrates schon sehr konkret
gefaßt. Allerdings ist von der freien Entfaltung der Persönlichkeit, wie es noch der Deutsche
Bildungsrat mit dem Blick auf unser Grundgesetz vortrug, nicht die Rede.
Darüber hinaus macht das Berufsbildungsgesetz eine Unterscheidung, die es notwendig
macht, hinsichtlich weiterer Ziele beruflicher Bildung die Schulgesetze der Länder heranzu
ziehen. So besagt nämlich § 2 (1) Berufsbildungsgesetz:
"Dieses Gesetz gilt nur für die Berufsbildung, soweit sie nicht in berufsbildenden Schulen durchgeführt wird, die den Schulgesetzen der Länder unterstehen".
Wer also über Ziele der beruflichen Bildung nachforscht, muß deshalb auch in den Schulge
setzen der Länder nachschauen. Folgende Ziele schulischer Bildung, also auch der berufli
chen Bildung soweit sie schulisch vermittelt wird, sind in das Schulgesetz der Freien und
Hansestadt Hamburg 1997 eingeschrieben worden (§ 2 (1, 2, 4) Hamburgisches Schulge
setz):
"Es ist Aufgabe der Schule, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen und ihre Bereitschaft zu stärken, ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz, der Gerechtigkeit und Solidarität sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, an der Gestaltung einer der Humanität verpflichteten demokratischen Gesellschaft mitzuwirken ... Unterricht und Erziehung sind auf die Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten sowie auf die Stärkung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auszurichten ... Die Schule soll durch die Vermittlung
96 Zielsetzungen
von Wissen und Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten die Entfaltung der Person und die Selbständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen ... fördern
11
Festgehalten werden kann: Ziele des schulischen Teils der beruflichen Bildung können also
sein:
• Entwicklung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten,
• Gestaltung der sozialen Beziehungen nach Grundsätzen von Achtung, Toleranz, Gerech-
tigkeit und Solidarität,
• Mitwirkung an der Gestaltung einer humanen Gesellschaft,
• Entfaltung der Person und
• Förderung der Selbständigkeit
Diese Ziele mögen vielleicht abgehoben klingen, weil Erfahrungen in Berufsausbildung und
beruflicher Tätigkeit sich darin nicht widerzuspiegeln scheinen. Aber es sind Ziele für Schule
und Unterricht, die zumindest in Hamburg gesetzlich festgeschrieben wurden und zwar für
alle Schulen. Eine Unterscheidung hinsichtlich der Ziele für allgemeinbildende Schulen und
berufliche Schulen macht das Gesetz nicht.
Allerdings unterscheiden sich diese Ziele schulischer Bildung deutlich von denen, die im Be
rufsbildungsgesetz festgeschrieben wurden. Waren es im Berufsbildungsgesetz überwiegend
Ziele, die auf berufliche Tüchtigkeit, den beruflichen Aufstieg und den Erhalt der Berufsfä
higkeit abstellten, sind es im Schulgesetz Ziele der Beförderung von Humanität und Solidari
tät, des Ausgleichs jeder Form der Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung, der Sicherung
von Chancengleichheit und Integration, wie diese Ziele im Vorwort zu diesem Gesetz ge
nannt wurden. Von Tüchtigkeit und Förderung der Leistungsbereitschaft und Leistungsfä
higkeit steht dort nichts. Dies hat schon im Vorfeld der Gesetzgebung zu heftiger Kritik am
Gesetz geführt.
Wenn aber nun für den Lernort Betrieb mittels Berufsbildungsgesetz und für den Lernort
Schule mit den Landesschulgesetzen sehr unterschiedliche Ziele der beruflichen Bildung in
den jeweiligen Rahmenbedingungen festgeschrieben wurden, muß schon jetzt gefragt wer
den: Verfolgen schulische und betriebliche Berufsausbildung völlig unterschiedliche Ziele?
Wie ist dann überhaupt eine an einem stimmigen Zielsystem ausgerichtete Berufsausbildung
im dualen System möglich? Wie verarbeiten die Betroffenen, die Lehrerinnen und Ausbilde
rinnen und vor allem die Auszubildenden mögliche und sogar sehr wahrscheinliche Zielkon
flikte (~ BWP, Systemische Innovationsleistung)?
Berufliche Handlungsjiihigkeit 97
Die Differenzen zwischen den Zielen beruflicher Bildung werden noch deutlicher, wenn Ziele
der beruflichen Bildung in Wirtschaftsbetrieben, wie sie die Personalwirtschaftslehre be
schreibt, hinzugefügt werden: Wirtschaftsbetriebe sind keine Einrichtungen für die allgemei
ne Wohlfahrt. Sie operieren am Markt und unterliegen Marktgesetzen. Wirtschaftsbetriebe
müssen Marktanteile erobern, Umsätze steigern, Produktivität und Rentabilität sichern,
Gewinne erzielen. So lauten ihre Zielformeln. Berufsausbildung wird deshalb auch als eine
Investition in das Betriebskapital betrachtet. Für die betriebliche Weiterbildung konnte des
halb die Personalforschung folgende Aussage treffen (Kossbiel1991, S. 247):
"Aus betriebswirtschaftlicher Sicht wird Weiterbildung weder im Sinne von "l'art pour l'art" noch "just for fun" betrieben. Selbst Weiterbildungen ohne direkten Bezug zu bestimmten betrieblichen Aufgaben - z. B. als freiwillige Sozialleistungen konzipiert - sind nicht zweckfrei und wohl auch nicht das reine Vergnügen. Wenn aber schon solche Bildungsrnaßnahmen in den Zusammenhang betrieblicher Zweckerfüllung gestellt sind, um wieviel mehr muß dies für die üblichen betrieblichen Anpassungs- und Aufstiegsweiterbildungen gelten? ... Für die Vorstellung vom betrieblichen (Weiter)Bildungswesen als einem relativ selbständigen, primär an Zielen der Mitarbeiter orientierten "eigenen Gesetzen unterliegenden Bereich" personalwirtschaftlicher Betätigung, bleibt damit wenig Raum."
Festgehalten werden kann: Zielsetzungen beruflicher Bildung aus ökonomischer Sicht kön
nen sein:
• Herstellung und Sicherung der Verfügbarkeit über Personal und
• Herstellung und Sicherung der Wirksamkeit des Personals.
Damit schließt sich der Kreis zu der schon vorher erwähnten Zielformel von der beruflichen
Tüchtigkeit, wie sie im Berufsbildungsgesetz formuliert wurde, und es kann der Versuch
unternommen werden, berufliche Handlungsfähigkeit als Leitidee für eine gegenseitige Ori
entierung über Ziele beruflicher Bildung zu skizzieren. Berufliche Handlungsfähigkeit kann
umschrieben werden mit:
• Sachkompetenz: Erwerb berufsrelevanten Wissens;
• Metbodenkompetenz: Fähigkeit, berufsrelevantes Wissen im praktischen Handeln über
prüfen und berufliche Praxis beschreiben und erklären zu können;
• Gestaltungskompetenz: Fähigkeit, an der Gestaltung beruflicher Praxis sachkompetent
und orientiert an moralischen und ethischen Leitvorstellungen mitzuwirken;
• moralischer Kompetenz: Entwickeln eigener Wertvorstellungen, Orientierung beruflichen
Handelns und Gestaltens an gemeinsamen Wertvorstellungen, Solidarität mit anderen,
aber auch Kritikfähigkeit;
98 Zielsetzungen
• Sozialkompetenz: Entwicklung von beruflichem Selbstbewußtsein und Ich-Identität, Be
förderung von Sprache und Kommunikation;
• Abstraktionsfähigkeit: Entwickeln sprachlicher Verallgemeinerungen, Fähigkeit zur
sprachlichen Verständigung mit anderen.
Berufliche Handlungsfähigkeit meint zunächst die berufliche Sachkompetenz
(Fachkompetenz). Gemeint sind damit das berufsrelevante Wissen und die Fähigkeiten, im
Beruf sachlich angemessen und fachlich kompetent zu handeln. Berufliche Handlungsfähig
keit meint aber auch die Methodenkompetenz, das heißt die Fähigkeit, berufsrelevantes Wis
sen und Problemlösungen in der beruflichen Praxis überprüfen und für Probleme der berufli
chen Praxis Lösungsvorschläge entwickeln zu können. Berufliche Handlungsfähigkeit um
faßt darüber hinaus auch die Gestaltungskompetenz und die moralische Kompetenz. Gestal
tungskompetenz und moralische Kompetenz sind Zielsetzungen beruflicher Bildung, die sich
auf die Gestaltung beruflicher Praxis, orientiert an moralischen und ethischen Vorstellungen
und zusammen mit anderen, bezieht. Und schließlich umschließt berufliche Handlungsfähig
keit auch Sozialkompetenz und Abstraktionsfähigkeit, mit denen Sprache und Kommunika
tion, aber auch die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Ich-Identität befördert werden
(~ LB, Arbeiten und Lernen (vgl. Schaubild 9)).
literatur 99
Literatur
Beck, u. (1986). Risikogesellschajt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung (Hrsg.) (1997). Hamburgisches Schulgesetz
vom 16. April 1997. Hamburg: Schüthe. Bunk, G. P. (1982). Einführung in die Arbeits-, Berufs- und Wirtschajtspädagogik. Heidel
berg: Quelle und Mexer. Deutscher Bildungsrat (1970). Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für
das Bildungswesen (2. Aufl.). Stuttgart: KIett. Foerster, H. von (1985). Sicht und Einsicht. Braunschweig: Vieweg. Kossbiel, H. (1991). Personalplanung und betriebliche Weiterbildung. In K. Aschenbrücker
& U. Pleiß (Hrsg.), Menschenführung und Menschenbildung. Perspektiven für Betrieb und Schule (S. 247-266). Hohengehren: Schneider.
Maturana, H. R. & Varela, F. 1. (1990). Der Baum der Erkenntnis. Bern: Goldmann. Roth, H. (1971). Pädagogische Anthropologie (Bd. 1 und 2). Hannover: Schroedel.
Strukturbegriff:
Lernort Schule
1 Berufliches Schulwesen
Rahmenbed.iosuogeo
Ausbi1dUD8 ({;,:::"l-~I-f~~~;;-IV---+:::::::~ ZiebelZun8eD der Lehrer Ulld der Ausbilder
Lemort Schule
Lernon Beuieb
Seit dem Gutachten über das berufliche Ausbildungs- und Schulwesen des Deutschen Aus
schusses für das Erziehungs- und Bildungswesen von 1964 wird der Begriff duales System
für das deutsche berufliche Ausbildungsmodell verwendet. Es soll darunter das Zusammen
wirken von Betrieb und Berufsschule in der Berufsausbildung junger Erwachsener verstan
den werden. Im Gegensatz hierzu wird europaweit außerdem in einem vollzeitschulischen
System (z. B. in Frankreich) und in einem rein betrieblichen Ausbildungssystem (z. B. in
Großbritannien) sowie in sogenannten Mischsystemen (z. B. in Dänemark) ausgebildet (~
R, Internationalisierung; ~ R, Finanzierung).
Das duale System durchlaufen bundesweit jeweils etwa zwei Drittel aller Jugendlichen eines
Geburtenjahrganges. Die Berufsausbildung fmdet in Deutschland jedoch nicht nur im dualen
System statt. Eine andere Möglichkeit - jedoch weitaus seltener - besteht im Besuch einer
berufsbildenden Vollzeitschule. Hierunter fällt zum Beispiel die berufliche Ausbildung an den
Berufsfachschulen und an den Schulen des Gesundheitswesens.
Neben der Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf im Rahmen
des dualen Systems und der Berufsausbildung in einem vollzeitschulischen Bildungsgang
existieren in manchen Bundesländern noch alternative Ausbildungsgänge im tertiären Be
reich (z. B. Berufsakademien). Das berufliche Schulwesen besteht darüber hinaus noch aus
weiteren Schulformen und ist in das Gesamtbildungssystem eingebunden (vgl. Schaubild 1).
102 Lernort Schule
Weiterbildung (allgemeine und berufsbezogene Weiterbildung in vielfältigen Formen)
zeit-scbul-pflicht 16117
Teil- [
15/16'--_--,.-____ .-"*"""........,k-~-
Vollzeitschulpflicht
3 Lebensalter
Realschule
Gymnasium (Gymnasiale Unter- und Mi ttelstufe)
Kindergarten (freiwillig)
~ Hauptbildungs- und Ausbildungsabscblüsse
...::::::::... Hauplabgangswege in die Berufstätigkeit
Gymnasium, BeruflidIes
Gymnasium, Facbgymnasium,
Gesamtscbule
Gesamtschule
Sekundarbe-
reich I1
Sekußdarbe-
reich I
mentarbereich
Bereiche
Schaubild 1: Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Münch 1994, S. 23)
Berufliches Schulwesen 103
Gemäß Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 8.12.1975 werden im beruflichen Schul
wesen bundeseinheitIich folgende Schulformen unterschieden: die Berufsschule, die Berufs
fachschule, die Berufsautbauschule, die Fachoberschule sowie die Fachschule. Daneben
existieren noch länderspezifische berufliche Schulen, wie z. B. die Berufsoberschule, die
Fachakademie, das Berufskolleg, die Berufsakademie und das Fachgymnasium.
Berufsschulen werden von Berufsschulpflichtigen bzw. -berechtigten besucht. Berufsschulen
lassen sich je nach beruflicher Fachrichtung in kaufmännische, gewerbliche, hauswirtschaftli
che, landwirtschaftliche und gemischtberufliChe differenzieren und sind entweder als Teilzeit
schule oder als Blockunterricht organisiert
Berufsautbauschulen gibt es in Vollzeit- und Teilzeitform. In der Vollzeitform wird die Be
rufsaufbauschule in einem Schuljahr nach abgeschlossener Berufsausbildung besucht. In der
Teilzeitform wird sie von Jugendlichen neben der Lehre oder einer Berufstätigkeit abends
besucht. Die Berufsautbauschule führt zum Realschulabschluß bzw. zur Fachoberschulreife.
Fachoberschulen setzen den RealschulabschIuß voraus. Sie führen nach erfolgreichem Be
such von einem Jahr in Vollzeitform und von zwei Jahren in Teilzeitform zur Fachhochschul
reife. Sie vermitteln keine eigenständige Berufsausbildung.
Die Fachschulen sind in der Regel ein- bis zweijährige Bildungsgänge in Vollzeitform, die
bereits einen abgeschlossenen Beruf oder eine praktische Berufstätigkeit voraussetzen. In
Teilzeitform handelt es sich um vierjährige Bildungsgänge. Fachschulen stellen eher Schulen
der beruflichen Fortbildung dar (z. B. Meisterschulen, Technikerschulen und Fachschulen für
Betriebswirtschaftslehre).
Berufsfachschulen sind Vollzeitschulen mit mindestens einjähriger Dauer, die in der Regel
den Hauptschulabschluß voraussetzen, jedoch keine Berufstätigkeit oder eine Berufsausbil
dung. Berufsfachschulen sind nach Fachrichtungen gegliedert und streben an: erstens einen
Abschluß in einem Beruf, der nur an Schulen erlernt werden kann (dann ist der Lehrgang
dreijährig; z. B. Ausbildung zum Uhrmacher, Datentechnischen Assistenten, Biologisch
technischen Assistenten), zweitens - und das ist weitaus seltener - einen Abschluß in einem
anerkannten Ausbildungsberuf (auch dreijährig) oder drittens Lehrangebote, die auf eine
spätere Berufsausbildung im dualen System angerechnet werden können (1-2 Jahre Dauer;
hierzu zählen die Handelsschulen und Höheren Handelsschulen sowie hauswirtschaftliche
Berufsfachschulen).
Von 1960 bis 1994 stieg die Zahl der Schüler und Schülerinnen in Berufsfachschulen von
125700 auf 295000 an, dabei liegt der Anteil an Schülerinnen derzeit bei etwa 65 % (vgl.
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996b, S. 54, S.
62). Die Zunahme an Schülern in dieser Schulform erklärt sich vor dem Hintergrund des
104 Lemort Schule
angespannten Lehrstellenmarktes. Der besonders hohe Anteil an Schülerinnen ist in histo
risch bedingten differenten Berufskonzepten für Männer und Frauen begründet (vgl. Mayer
1996). Während das des Mannes aus der Tradition der Handwerkslehre und des Handels
entspringt, stellt sich das der Frauen je nach Schichtzugehörigkeit entweder als Konzept des
Berufes als Hausfrau, Mutter und Ehefrau oder als Konzept der Erwerbsarbeit im pädagogi
schen, sozialen oder typisch haushaltsbezogenen Bereich (z. B. Näherin, Wäscherin, Webe
rin etc.). Gefördert wurde diese Herausbildung unterschiedlicher Berufskonzepte auch da
durch, daß es Frauen noch bis in die 1920er Jahre rechtlich untersagt war, eine Lehre im
Handwerk oder Handel aufzunehmen. So befmden sich auch heute nur etwa 40 % Frauen in
einer Ausbildung im Rahmen des dualen Systems. Durch den Einfluß der ersten Frauenbe
wegung und der Berufsverbände für Frauen wurden schließlich berufliche Schulen für Frau
en gegründet. Dabei dominierte die schulbezogene Erziehung und Ausbildung in hausbezo
genen Tätigkeiten noch bis in die 1960er Jahre hinein und erst langsam trat die Beschäfti
gung auch außerhalb des Hauses hinzu (vgl. Mayer 1996, S. 40).
Dieses insgesamt von Männerberufen unterschiedliche Berufskonzept flir Frauen wirkte auf
die Entwicklung der modemen Berufsausbildung ein, wie es sich noch heute an zwei
Hauptmerkmalen zeigen läßt: erstens im System der beruflichen Bildung und Ausbildung,
namentlich in Form von beruflichen Vollzeitschulen, wie insbesondere den Berufsfachschu
len und den Schulen des Gesundheitswesens, in denen der Frauenanteil bei durchschnittlich
65 % liegt. Und zweitens in der Struktur der von Frauen aufgenommenen Berufstätigkeiten.
So zählen zu den am häufigsten von jungen Frauen gewählten Ausbildungsberufen z. B. die
Ausbildung zur Zahnarzthelferin, Arzthelferin, Bürokauffrau, Kauffrau im Einzelhandel, Fri
seurin, Hotelfachfrau sowie Fachverkäuferin im Nahrungsmittelhandwerk (vgl. Bundesmini
sterium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996a, S. 125). Das darin
zum Ausdruck kommende Bild ist zwar das Ergebnis der Berufswahlentscheidung von jun
gen Frauen, diese wird aber durch das entsprechende Angebotsverhalten der Ausbildungsbe
triebe gestützt Beurteilend läßt sich zusammenfassen, daß es sich hierbei um Berufe handelt,
die eine eher problematische Berufsperspektive bieten. Denn es handelt sich um stark bela
stende Berufe mit relativ ungünstigen Einkommens- und Aufstiegschancen, mit ungünstigen
Arbeitszeitregelungen sowie einem geringen Transferpotential für einen möglichen Berufs
wechsel (vgl. Arbeitsgruppe BiIdungsbericht 1994, S. 613).
Neben den Berufsfachschulen gibt es noch eine weitere schulische Form der Berufsausbil
dung, die von den Schulen für die Berufe des Gesundheits- und Sozialwesens angeboten
wird. Diese stellen die zweitgrößte Gruppe von Schulen dar, welche eine volle berufliche
Erstausbildung vermitteln und überwiegend von jungen Frauen besucht werden. Die Ausbil-
Berufliches Schulwesen 105
dung verbindet theoretischen und praktischen Unterricht mit praktischer Ausbildung. Die
Schulen des Gesundheits- und Sozialwesen stehen außerhalb des Geltungsbereiches des Be
rufsbildungsgesetzes und sind in Folge davon sehr uneinheitlich und unübersichtlich hinsicht
lich ihrer Prüfungen, ihrer Bezeichnung, ihrer Eingangsvoraussetzung und ihrer Träger gere
gelt (vgl. Mönch 1994, S. 57). Als Träger kommen meist Krankenhäuser und damit Kom
munen, Kirchen und karitative Einrichtungen in Frage. Im Bereich des Gesundheitswesens
werden Ausbildungen z. B. zum Krankenpfleger, zur Hebamme und zum Logopäden durch
geführt. Im Bereich des Sozialwesens werden z. B. Erzieherinnen und Altenpflegerinnen
ausgebildet
Zum Teil bundesländerspeziflsch gibt es neben den im Kultusministerkonferenz-Beschluß
benannten Schulformen noch weitere berufliche Schularten. Hierzu zählen die Fachgymnasi
en in Form der Wirtschafts- und technischen Gymnasien, die zur allgemeinen oder zur fach
gebundenen Hochschulreife führen und den Realschulabschluß voraussetzen. Weiterhin ge
hören dazu die Berufsvorbereitungsklassen sowie das Berufsgrundbildungsjahr, die jeweils
eine Vorbereitung auf eine Berufsausbildung leisten. Hier werden Jugendliche ohne Haupt
schulabsehluß oder ohne Ausbildungsvertrag in einem Vollzeitschuljahr auf einen Beruf vor
bereitet. Zum Teil ist es möglich, den Hauptschulabschluß nachzuholen. Der Unterricht wird
größenteils über Projekte gestaltet, also in einer sehr praxisorientierten Lemform.
Eine weitere landesspeziftsehe Schulform ist die Kollegschule (ursprünglich Kollegstufe).
Kollegschulen gibt es nur in Nordrhein-Westfalen. Sie haben das Ziel, die Trennung zwi
schen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulbereichen aufzuheben. Hierfür wurden
in der Regel bereits bestehende berufliche Schulen um die gymnasiale Oberstufe erweitert
(vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 585). Der erfolgreiche Besuch dieser Schule in
Vollzeitform führt zu einer Doppelqualitizierung: erstens wird ein beruflicher Abschluß
vermittelt und zweitens berechtigt der Schulabschluß zu einem Studium an einer Fachhoch
schule bzw. zum Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule. Als weitere länderspezifl
sehe Einrichtungen werden in dem Kultusministerkonferenz-Beschluß die Berufsakademien
genannt. Berufsakademien sind streng genommen Einrichtungen des tertiären Bildungsberei
ches außerhalb und unterhalb der Hochschulebene, setzen die Fachhochschulreife voraus und
führen in drei Jahren zu einem wissenschaftlichen und berufsqualiflzierenden Abschluß. Die
Ausbildung fmdet wie in der dualen Ausbildung alternierend in einem Ausbildungsbetrieb
und in der Akademie statt. Mögliche Berufsabschlüsse führen u. a. zur Diplom-Betriebs
wirtin (BA), Diplom-Ingenieurin (BA), Mathematisch-technischen Assistentin (BA), Wirt
schaftsassistentin (BA) und Ingenieurassistentin (BA).
106 Lernort Schule
Die aufgeführten berufsbildenden Schulen umfassen also berufsvorbereitende, berufsqualifi
zierende, studienqualifizierende oder doppelqualiftzierende Schulformen. Zu den berufsvor
bereitenden Angeboten zählen neben sechs- bis zwölfmonatigen Maßnahmen des Arbeitsam
tes das Berufsvorbereitungsjahr und - faktisch, aber nicht geplant - das Berufsgrundbildungs
jahr. Zu den berufsqualiftzierenden Bildungsgängen gehören die Ausbildung im dualen Sy
stem sowie die Angebote der Berufsfachschulen. Zu den studienqualiftzierenden Bildungs
gängen gehören die Fachoberschulen und die Fachgymnasien, deren erfolgreicher Besuch
zum Studium an Fachhochschule oder Universität berechtigt. Im Rahmen der doppelqualifi
zierenden Bildungsgänge wird sowohl ein allgemeiner Schulabschluß als auch eine berufliche
QualifIkation vermittelt.
Ben4sschule 107
2 Berufsschule
Zu den direkten Vorläufern der Berufsschule gehören die religiösen und gewerblichen
Sonntagsschulen, die im 18. Jahrhundert gegründet wurden und die sich im späten 19. Jahr
hundert zu den Fortbildungsschulen allgemeiner und beruflicher Art hin entwickelten (vgl.
Thyssen 1954, S. 48). Diese beiden Fortbildungsschularten haben sich schließlich im Verlau
fe des 19. Jahrhunderts angeglichen in Richtung Teilzeitschule, die ausbildungsbegleitend in
der Regel abends stattfand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten sich schließlich die
nach Berufen gegliederten Fortbildungsschulen. Etwa 1920 setzte sich für diesen schulischen
Lernort der Begriff der Berufsschule durch. Mit dem Reichsschulpflichtgesetz vom 6.7.1938
wurde in Deutschland schließlich für alle Jugendliche die allgemeine Berufsschulpflicht, in
der Regel drei Jahre, eingeführt. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg wurde die Berufsschu
le als fester Bestandteil des Ausbildungssystems in der Bundesrepublik Deutschland allge
mein anerkannt. Mit dem 1.10.1990 trat das Berufsbildungsgesetz und damit auch das duale
Ausbildungssystem für das Gebiet der DDR in Kraft
In Folge der zum Teil grundlegend veränderten Rahmenbedingungen für die berufliche Er
stausbildung (Internationalisierung der Märkte, Globalisierung, starker und rasanter techno
logischer Wandel, Selbstverwirldichungsanspruch an die Arbeit etc.) sieht sich die Berufs
schule vor verschiedene Problembereiche gestellt (vgl. Rebmann 1996). Hierbei ist zu beach
ten, daß es sich weitgehend um sich überlagernde, einander bedingende Problembereiche
handelt, die daher auch gleiche Lösungsprozeduren bzw. -versuche erfordern.
Ein erster Problembereich besteht in der zunehmend erkennbaren Gewichtsverlagerung von
der beruflichen Erstausbildung hin zur betrieblichen Weiterbildung. Ursächlich für den Be
deutungsgewinn der betrieblichen Weiterbildung ist zum einen, daß sich diese für das Unter
nehmen als eine kostengünstigere Alternative zur Erstausbildung darstellt, die zudem eine
flexiblere Planung für die Betriebe erlaubt (vgl. Kau 1995, S. 63). Zum anderen fordern die
raschen technologischen Veränderungen, die damit verbundene geringere "Halbwertzeit" des
Wissens sowie die bislang eher unflexible berufliche Erstausbildung zusätzliche Weiterbil
dungsmaßnahmen ein. Dies hat zur Folge, daß das Ausbildungsengagement sowie das Ange
bot an Ausbildungsplätzen der Betriebe reduziert werden, damit wird sich die Zahl der
Schiller in den Berufsschulen verringern und der Wettbewerb der Schulen um die Schüler
steigen.
108 Lemort Schule
Ein zweiter Problembereich stellt die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes dar und
die damit verbundene Gewährleistung der Freizügigkeit beim Zugang zu Bildung und Beruf.
Hierduch werden die bestehenden Berufsbildungssysteme der Mitgliedstaaten in Konkurrenz
zueinander gestellt. Mit anderen Worten, das deutsche duale Modell muß gegenüber einer
überwiegend vollschulischen Berufsausbildung und einer überwiegend betrieblichen Berufs
ausbildung seine Konkurrenzfähigkeit unter Beweis stellen (~ R, Internationalisierung).
Weiterhin stellt sich in einem internationalen Vergleich die Frage nach der Gleichwertigkeit
der erreichbaren Abschlüsse. Eine problematische Frage insofern, als sich die deutschen be
ruflichen Bildungsabschlüsse nicht mit den schulisch erworbenen Abschlüssen in anderen
Ländern der Europäischen Union vergleichen lassen, die in der Regel zunehmend an allge
meinbildende Inhalte geknüpft sind.
Einen dritten Problembereich stellen die veränderten gesellschaftlichen sowie individuellen
Wertorientierungen dar, die den Anspruch auf mehr persönliche Autonomie, auf Persönlich
keitsbildung und Selbstbestimmung der eigenen Zukunft für den einzelnen zur Folge haben.
Nicht nur die unterschiedlichen Wertvorstellungen der Klientel der beruflichen Bildung bil
den eine Herausforderung, sondern auch die Polarisierung dieser Klientel, die sich durch die
Heterogenität und das gestiegene Bildungsniveau der Auszubildenden zunehmend verstärkt.
Insgesamt haben sich durch diese Veränderungen die Bildungsorganisation, die die institu
tionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen, Zertiflzierungen, Lehrpläne und Lerninhalte
umfaßt, und die Bildungsbedeutung, die der einzelnen mit seiner Ausbildung sinnhaft verbin
det, voneinander abgelöst und gegeneinander verselbständigt (vgl. Beck 1986, S. 242 f.).
Hierdurch sieht sich die Berufsschule verstärkt vor die Aufgabe gestellt, neben ihren institu
tionellen und rechtlichen Gegebenheiten und ihrer Einbindung ins Berechtigungswesen ihre
Lehrpläne und Lerninhalte kritisch zu reflektieren, ein stärker differenziertes Lernangebot für
das gespaltene Klientel zu entwerfen sowie die didaktisch-methodische Ausgestaltung des
Unterrichts auf die unterschiedlichen Lernbedingungen und Lernvoraussetzungen dieser Kli
entel abzustimmen.
Grundlegende technologische, organisatorische und strukturelle Veränderungen, die neue
bzw. neu akzentuierte Anforderungen an Arbeitskräfte und deren QualifIkationen mit sich
bringen, sind ein weiterer, vierter Problembereich. Insbesondere im kaufmännisch
verwaltenden Berufsfeld nehmen die entsprechenden Tätigkeiten an Abstraktheit und Kom
plexität zu. Für die Lernenden werden hierdurch betrie?liche Abläufe zunehmend intranspa
renter und unanschaulicher. Zudem wird trotz systemischer Rationalisierung und Verschlan
kung die Möglichkeit reduziert, ganzheitliche Erfahrungen in der Ausübung der jeweiligen
Berufsschule 109
Tätigkeit zu erwerben. Als Ursache hierfür werden häufig angeführt: die strikte arbeitsteilige
Trennung von bestimmten Tätigkeiten (planung, Ausführung und Kontrolle) sowie die Zer
schneidung von organisatorischen, betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhän
gen. Wie beim letztgenannten Problembereich ist auch durch diese Entwicklungen ein Über
denken traditioneller Lerninhalte und traditioneller Unterrichtsgestaltung der Berufsschule
gefordert.
Ein flinfter aufzuflihrender Problembereich ist darin zu sehen, daß die berufsschulischen
Lerninhalte als theorielastig und nicht praxisrelevant vor allem von betrieblicher Seite ange
sehen bzw. als solche erfahren werden. Dem kann man entgegensetzen: "So wichtig das Er
fahrungslernen in authentischen (betrieblichen) Situationen auch ist, so wichtig bleibt die
kognitive Verarbeitung (Reflexion) und die emotionale Integration von Erfahrungen, Erleb
nissen und Erkenntnissen, die einander oft widersprechen" (Reetz 1995, S. 190). Und gerade
die Berufsschule kann sich zu dem Ort etablieren, an dem diese Reflexion und Integration
"gefahrlos" erfolgen kann und mögliche Widersprüche aufgelöst werden können.
Welche Handlungsperspektiven bestehen nun angesichts dieser skizzierten Problembereiche
frtr die Berufsschule?
Zunächst ist eine verstärkte Durchlässigkeit der Ausbildungs- und Berufswege zu fördern.
Hierzu gehört eine Durchlässigkeit in Richtung auf höhere Positionen auch frtr Absolventen
mit berufsbildenden Abschlüssen (vgl. Adler, Dybowski & Schmidt 1993, S. 6). Diese For
derung setzt voraus, daß es zur gesellschaftlichen Anerkennung der Gleichwertigkeit von
allgemeiner und beruflicher Bildung kommt, daß die Berufsbildung generell an Ansehen und
Attraktivität gewinnt und daß in der dualen Ausbildung Abschlüsse erworben werden kön
nen, die zum Hochschulzugang berechtigen (vgl. Frömsdorf 1995, S. 82; Greinert 1994, S.
391). Zusammenfassend gilt es frtr eine Berufsbildungspolitik, verschiedene Möglichkeiten
zu verfolgen bzw. zu bedenken (vgl. Lutz 1991, S. 34 f.). Hierunter fallen die Doppelquali
ftzierung, die Entkopplung der berufsqualiftzierenden Ausbildungsgänge von der Hierarchie
der allgemeinbildenden Abschlüsse und die Schaffung von Perspektiven beruflichen Auf
stiegs nach der Berufsausbildung. Ferner sollten Möglichkeiten der Rückkehr nach Abschluß
des berufsqualifizierenden Ausbildungsganges ins Bildungssystem beleuchtet werden.
Ungeachtet der rechtlichen und bildungspolitisch tradierten Voraussetzungen scheint eine
verstärkte gesellschaftliche Akzeptanz der Berufsschule dadurch erreichbar zu sein, daß sich
deren Image verändert. Hierzu kann die Berufsschule beitragen, indem sie sich neue Aufga
benbereiche erschließt. So kann innethalb der Berufsschule eine Verzahnung von beruflicher
110 Lemort Schule
Erstausbildung und Weiterbildung erfolgen. Eine entsprechende formale Basis hierfür wurde
bereits 1991 mit einem Beschluß der Kultusministerkonferenz geschaffen, wonach die Be
rufsschule "zusätzlich bei Aufgaben der beruflichen Fort- und Weiterbildung mitwirken"
kann (Münch 1994, S. 70). So soll die Berufsschule in ihren Angeboten auch Kompensati
ons- und Korrektivfunktionen übernehmen, sie soll allgemeinbildende Berechtigungen nach
liefern, bestehende Qualiftkationsdefizite ausgleichen, Umschulungen fördern, Fördermaß
nahmen anregen sowie berufliche Aufstiegsmöglichkeiten eröffnen (vgl. Pukas 1990, S. 10).
Eng mit obiger Aufgabenerweiterung verknüpft, gilt es, die Kooperationsbeziehungen mit
betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten auf- bzw. auszubauen und altherge
brachte Arbeitsteilungen neu zu überdenken. Damit wird die aktuelle Diskussion der Ler
nortkooperationen und damit das technisch-organisatorische und pädagogische Zusammen
wirken des Lehr- und Ausbildungspersonals der an der Berufsbildung beteiligten Lemorte
berührt (vgl. Pätzold 1995, S. 3). Dabei zeichnen sich die jeweiligen Lemorte durch ganz
spezifische Aufgabenbereiche und rechtliche Grundlagen aus. Allerdings gibt es schon längst
keine klare Abgrenzung zwischen der traditionellen Funktionszuschreibung, fachpraktische
Ausbildung im Betrieb (HandelnlPraxis) und fachtheoretischer Unterricht in der Berufsschu
le (DenkenfTheorie), was die Forderung nach Informationsaustausch und Lernortkooperati
on verstärkte. Erstens scheint mit dem Prinzip der Handlungsorientierung eine Möglichkeit
gefunden zu sein, diese getrennt gedachten Ansätze zu überwinden bzw. Denken und Han
deln zu verbinden (~ D, Neue didaktische Leitideen, Ansätze und Entwürfe). Denn sol
chermaßen innovative Lerninhalte und -methoden lassen sich nicht in ihren jeweiligen Theo
rie- und Praxisanteil aufteilen. Zweitens erhofft man sich von einem entsprechenden Zusam
menwirken, das über die bloße Informations- und Abstimmungsebene hinausgeht, neben
allgemeinen Impulsen für die Berufsausbildung, eine Öffnung der Berufsschule für betriebli
che Belange (und umgekehrt!), eine erfolgreiche Implementierung innovativer Konzepte
sowie eine schnellere und einfachere Aufgabenbewältigung (vgl. Pätzold 1995, S. 4).
In der Praxis zeigt sich, daß "die Berufsausbildung im Dualen System offenbar derart orga
nisiert (ist), daß sie ohne umfassende Kommunikation und enge Kooperation zwischen den
Lehrenden an den einzelnen Lemorten auskommt" (Pätzold 1995, S. 4). So belegen Unter
suchungen, daß Kontakte in der Regel nur in Not- bzw. Ausnahmefällen zustande kommen
und daß sich die Lehrenden an den verschiedenen Lemorten eine Verbesserung der Zusam
menarbeit im Sinne einer zeitlichen und thematischen Abstimmung der Lerninhalte wünschen
(vgl. Frömsdorf 1995, S. 90 f.). Ursachen einer mangelnden Zusammenarbeit können zum
einen in gegenseitigen Vorurteilen gesehen werden, im unterschiedlichen Selbstverständnis
der Lehrenden sowie in den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Lemorte. So hat der
Berufsschule 111
Betrieb rechtlich und faktisch ein größeres Gewicht bei der Berufsausbildung. Eine Verbes
serung der dauerhaften Beziehungen auf informeller Ebene könnte z. B. durch folgende
Maßnahmen bewirkt werden (vgl. Frömsdorf 1995, S. 90 f.; Pätzold 1995, S. 5): Informati
onsveranstaltungen und Betriebserkundungen, gemeinsame Weiterbildungs- und Fortbil
dungsprojekte und die Einrichtung von gemeinsamen Arbeitskreisen. Darüber hinaus werden
die gegenseitige Achtung der jeweiligen Autonomiebereiche, gegenseitiges Vertrauen und
die Überlassung von Gestaltungsfreiräumen bedeutsam.
Weiterhin könnte in zunehmendem Maße eine (binnen)differenzierte und zugleich individua
lisierte Gestaltung der Ausbildung in der Berufsschule neue attraktive Perspektiven öffnen
(vgl. Adler, Dybowski & Schmidt 1993, S. 9; Greinert 1994, S. 393). Diese scheint nicht nur
für die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der europäischen Bildungssysteme förderlich, son
dern scheint auch angesichts der Heterogenität der Klientel in der Berufsschule (aufgrund
unterschiedlicher soziokultureller, anthropogener und motivationaler Lemvoraussetzungen
etc.) generell eine angemessene Antwort zu sein. Denn mit einer Individualisierung geht eine
Zielgruppenorientierung einher, das heißt, es können die ganz speziflSChen Ausgangslagen
der einzelnen Betroffenen bzw. ganzer Gruppen von Betroffenen berücksichtigt werden (vgl.
Keune & Zielke 1992, S. 34). Bei einer Differenzierung schließlich sollen zu Kern- bzw.
Basisqualiftkationen spezielle zusätzliche Ausbildungsinhalte und Ausbildungsanforderungen
treten, die eine gezielte individuelle Leistungsförderung, z. B. leistungsstarker und leistungs
schwacher junger Erwachsener (~ D, Lemschwache und Begabte), ermöglichen (vgl. Keu
ne & Zielke 1992, S. 35). Wenn insgesamt mit der "DiversiflZierung des Lemangebots ein
erfolgversprechender Weg aus der Misere der Berufsschule" gefunden zu sein scheint
(Kutscha 1992, S. 153), sind an eine entsprechende Umsetzung einige Bedingungen ge
knüpft, wie eine generelle Flexibilisierung der Ausbildung, eine grundlegende Umstrukturie
rung der Berufsschule sowie ein neues Lernerbild und ein neues Lehrerselbstverständnis
(vgl. Keune & Zielke 1992, S. 35).
Dieses neue Selbstverständnis der Lehrenden hebt sich ab vom Bild des Lehrers als Fach
mann und Stoffvermittler. Die Rolle des Lehrenden wird sich in zunehmendem Maße hin
zum Beobachter, Betreuer, Berater (Moderator) und Organisator von verstärkt schülerori
entierten Lernprozessen entwickeln. Hier zeigt sich, daß die bisherigen folgenden Verände
rungen gemeinsam durchgesetzt werden müssen. Zum Beispiel muß mit einer veränderten
Lehrerrolle eine Kompetenzerweiterung für Lehrer einhergehen, die vorheriger Organisati
onsveränderungen der Institution Schule bedarf. Weiterhin beinhaltet diese neue Rolle auch
Austausch, Kooperation und Teamarbeit untereinander, das heißt, der Lehrende ist hier als
112 Lemort Schule
Lernender gefordert. Zugleich muß sich auch das bestehende Lernerbild des Lehrenden än
dern, das von Reetz (1994, S. 13) als ein pessimistisches beschrieben wird. Der Lernende im
Unterricht wird als passives, rezeptives Objekt begriffen und nicht als aktives, handelndes,
kooperatives, selbstbestimmendes Subjekt. Damit verbindet sich zugleich, daß Schulen, Leh
rer und Schüler mehr Möglichkeit zur Selbstorganisation erhalten und daß der Lehrer in die
sem Zusammenhang den Lernprozessen einen höheren Stellenwert einräumt als den Lern
produkten (vgl. Reetz 1994, S. 34). Darüber hinaus muß Schule zu dem Ort werden, in dem
die Vermittlung allgemeinen Handlungswissens im Mittelpunkt steht, das als komplementär
zu dem in den Betrieben zu vermittelnden berufsbezogenen, speziellen Handlungswissen
aufzufassen ist.
Eine Einlösung dieser Forderungen ist in der zielstrebigen und konsequenten Umsetzung
handlungsorientierter schulischer Lehr-Lernprozesse zu sehen, die nachgefragte Qualiftka
tionen wie Team- und Kooperationsfähigkeit, Problemlösefähigkeit, Flexibilität, System
kenntnis etc. berücksichtigen. Solche Lehr-Lernprozesse können durch den Einsatz von
Planspielen, Fallstudien, Projekten etc. initiiert werden. Allerdings zeigt sich, daß sie noch
nicht ausreichend eingesetzt werden und daß auch auf der Ebene der gesamten Schulorgani
sation weitere Veränderungen vonnöten sind. Solche Veränderungen bahnen sich mittlerwei
le jedoch an; dafür sprechen die zahlreichen Neuentwicklungen der gesetzlichen Verordnun
gen für die berufsbildenden Schulen.
Eine weitere Handlungsperspektive wird in den letzten Jahren verstärkt unter dem Stichwort
Schulautonomie an den beruflichen Schulen diskutiert (-? P, Autonomiebestrebungen). Mit
diesem Begriff verbindet sich die Vorstellung, den Betroffenen in der Schule mehr Hand
lungsfreiräume sowie mehr Eigenverantwortlichkeit im Rahmen eines unverändert politisch
wie rechtlich zu bestimmenden und zu verantwortenden Auftrages zu ermöglichen (vgl.
Lange 1995, S. 21). Diese Handlungsfreiheit bezieht sich zum einen auf pädagogisch
unterrichtliche Entscheidungen und zum anderen auf organisatorische sowie fmanzielle Fra
gestellungen (vgl. Lange 1995, S. 24). Dabei soll jede Schule je nach regionalen Erfordernis
sen ein eigenständiges pädagogisches Schulproftl entwickeln können. Angeregt wurde diese
Diskussion nicht nur aus den bereits genannten veränderten Rahmenbedingungen für die
berufliche Ausbildung allgemein. Sondern gerade die permanente Verschlechterung der
Schulwirklichkeit, die sich mit den Stichworten Gewalt an Schulen, Schulmüdigkeit, Burn
out-Syndrom, Knappheit an fmanziellen Mitteln etc. umreißen läßt, führte zum Nachdenken
über äußere und innere Schulreformen an den beruflichen Schulen (vgl. Kallbach 1994, S.
345). Die Bestrebungen hinsichtlich der äußeren Schulreform beziehen sich auf Schulbehör-
Berufsschule 113
de und Schulgesetze. Die inneren Reformen sind z. B. in organisatorischen Veränderungen
und in didaktischen Umgestaltungen zu sehen.
Festgehalten werden kann: Für die Berufsschulen eröffnet sich ein großes Entwicldungspo
tential durch die dargestellten Reaktionsmöglichkeiten auf die veränderten Rahmenbedin
gongen, wie
• Verstärkung der Durchlässigkeit der Ausbildungs- und Berufswege,
• Erschließung neuer Aufgabenbereiche in der Weiterbildung,
• Verstärkung der Kooperationsbeziehungen zu den Partnern in der Berufsausbildung,
• differenzierte und individualisierte Gestaltung der Ausbildung in der Schule,
• Verfestigung eines neuen Selbstverständnisses von Lehrenden und Lernenden,
• Stärkung der gegenwärtigen Bestrebungen nach Schulautonomie.
Die Nutzung dieses Entwicldungspotentials obliegt auch und gerade jeder Schule selbst, und
damit den dort Lehrenden und der Schulleitung. Von deren Lernbereitschaft, Engagement
und Kooperationsfähigkeit sowie der entsprechenden bildungspolitischen, wissenschaftlichen
und betrieblichen Unterstützung wird es wesentlich abhängen, ob sich die aufgezeigten Perspektiven langfristig erfüllen lassen.
114 Lemort Schule
3 Merkmale schulischen Lernens
Der Begriff des Lernortes Schule ist nicht gleichzusetzen mit der Institution Schule, dem
Ort, an dem Menschen unterschiedlichen Alters zusammentreffen, "zum Zwecke der geplan
ten und verantworteten Organisation von Erziehungs- und Unterrichtsprozessen im Auftrag
der Gesellschaft mit dem Ziel, das Leben des einzelnen und den Fortbestand der Kultur zu
sichern" (fwellmann 1981, S. 3).
Schulisches bzw. verschultes Lernen und Lehren fmdet im Rahmen der Berufsausbildung
auch jenseits von Schule statt, z. B. in überbetrieblichen Ausbildungsstätten, privatwirt
schaftlichen Bildungszentren und im Rahmen des innerbetrieblichen Unterrichts. Überbe
triebliche Ausbildungsstätten stellen "Einrichtungen (der Berufsbildung) außerhalb der
Ausbildungsstätte" dar (§ 27 Berufsbildungsgesetz), werden seit den 1960er Jahren insbe
sondere im gewerblich-handwerklichen Bereich eingerichtet. Privatwirtschaftliche Bildungs
zentren z. B. von Kreditinstituten und Versicherungen sind im kaufmännisch-verwaltenden
Bereich das Gegenstück zu den überbetrieblichen Ausbildungsstätten (z. B. Sparkassenaka
demie). Wird die praxisgebundene Ausbildung in Betrieben zunehmend durch betrieblich
organisierte Qualiflzierungsprozesse in Lehrgangsform ersetzt, dann spricht man von Ver
schulung (vgl. Kutscha 1990, S. 289). Mit der Verschulung fant einerseits das Privileg der
Unmittelbarkeit von Praxiserfahrungen seitens der Betriebe, andererseits wird dadurch die
schulspeziflsche Systematisierung beruflichen Lernens auf überbetriebliche Lernorte und
innerbetriebliche Schulungsanteile ausgedehnt (vgl. Dauenhauer 1997, S. 54).
Welches sind nun die Merkmale schulspeziftschen Lernens? Der Lernort Schule ist insbeson
dere durch seinen Bildungsauftrag mit einer Betonung des pädagogischen Aspektes geprägt.
Zugleich läßt sich schulisches Lernen kennzeichnen als eine stoff-systematische, wissen
schaftsorientierte Einführung in grundlegende Sachverhalte. Damit erklärt sich auch der
Rollenkonflikt vieler Lehrender, die sich einerseits als Pädagoge verstehen und andererseits
als Fachvertreter (~ LA, Pädagoge und Fachmann). Darüber hinaus erfolgt schulisches Ler
nen in einem Schonraum jenseits der Praxis. Das bedeutet zugleich, daß "Fehler" keine
schwerwiegenden Folgen wie in der Berufswelt haben können. Fehler zu machen, sollte im
Schonraum der Schule vielmehr erlaubt und erwünscht sein. In organisatorischer Hinsicht
zeigt sich ferner, daß schulisches Lernen zeitlich und inhaltlich standardisiert erfolgt. So sind
45 bzw. zunehmend auch 90 Minuten dauernde Unterrichtsstunden die Regel im Schulalltag.
Die inhaltliche Standardisierung wird durch Lehrpläne, aber auch durch feste Stundenpläne
und die Fächereinteilung festgeschrieben.
Merkmale schulischen Lemens 115
Schulisches Lernen läßt sich weiterhin charakterisieren durch eine Beobachtung des
Schulalltags und der schulischen Lehr-Lernprozesse. Empirisch-analytische Analysen von
Lehrplänen, Lehrbüchern und Prüfungen sowie Unterrichtsbeobachtungen der verwendeten
Aktions- und Sozialformen im Unterricht zeigen nämlich speziftsche Merkmale schulischen
Lernens auf.
Beispielhaft sind die seit Mitte der 1970er Jahre durchgeführten Analysen von Lehrbüchern
und Lehrplänen (vgl. z. B. Krumm 1973; Rebmann 1994; Reetz 1984; Reetz & Witt 1974).
Diese Untersuchungen beziehen sich insbesondere auf den Wirtschaftslehrebereich, können
aber tendenziell auch auf andere Bereiche übertragen werden. Die Befunde ergeben ein recht
einheitliches und eindeutiges Bild: so weisen sie einen Mangel an Sozial- und Schülerbezü
gen sowie an Realitäts- und Praxisbezügen nach. Ferner zeichnen sich Schulbücher und auch
Lehrpläne durch eine große Stofftille aus, wobei der Anteil von Detail- und Faktenwissen
überwiegt. Statt Verbundenheit und angemessener Komplexität der einzelnen Lerninhalte
dominieren Linearisierung und Isolierung der Lerninhalte, die durch ebenso defizitäre Zwi
schen- und Abschlußprüfungen der Zuständigen Stellen (~ B, Institutionen und Organisa
tionen) in Multiple-choice-Form (richtig/falsch-Beantwortung) für die beruflichen Schulen
festgeschrieben bzw. verstärkt werden.
Empirische Studien zur methodischen Umsetzung von schulischen Lerninhalten zeigen eine
Ein- bzw. Gleichförmigkeit des methodischen Einsatzes auf. Eine bereits in den 1980er Jah
ren durchgeführte Studie von Hage und anderen zum "Methodenrepertoire von Lehrern"
zeigte beispielsweise auf, daß gut 75 % der Methoden in den beobachteten Unterrichtsstun
den als Frontalunterricht zu kennzeichnen waren, gefolgt von einem lO%igen Anteil an Ein
zelarbeit. Gruppenorientierte Arbeitsformen spielten nur eine untergeordnete Rolle (vgl.
Hage et al. 1985). Eine Untersuchung von 349 Lehrenden an kaufmännischen Berufsschulen
konnte einerseits die Dominanz des Frontalunterrichts bestätigen (86,4 % der Lehrenden
gaben an, diesen vorzugsweise umzusetzen). Andererseits spielte der Methoden-Mix eine
große Rolle. Das bedeutet: Neben dem Frontalunterricht fmden sich auch in großem Aus
maß weitere Aktions- und Sozialformen (vgl. Rebmann in Vorbereitung). Lediglich hand
lungsorientierte Methoden werden noch in einem relativ geringen Umfang verwendet. Dies
gilt beispielsweise für den Einsatz von Planspielen. So gaben knapp 80 % der befragten Leh
rer und Lehrerinnen an, daß ihnen die Planspielmethode (weitgehend) unbekannt sei. Eine
Veränderung der gegenwärtigen Unterrichtspraxis hat daher insbesondere bei veränderten
Ausbildungsbedingungen angehender Lehrer und Lehrerinnen, aber auch bei veränderten
Weiterbildungsmöglichkeiten anzusetzen (~LA, Professionalisierung).
116 Lemort Schule
4 Konzepte schulischen Lernens
Welches sind die vorfmdbaren Konzepte schulischen Lernens? Basierend auf den Merkmalen
schulischen Lernens sind es insbesondere Simulationskonzepte für die Ausbildung im kauf
männisch-verwaltenden Bereich (Bürosimulationen sowie Simulationsspiele). Hierunter fal
len - aufgeführt nach ihrer abnehmenden Simulationsstärke - Übungsfmnen, Lernbüros,
Planspiele sowie Rollenspiele. Für den gewerblich-technischen Bereich lassen sich noch die
Produktionsschulen benennen. Sie können sowohl dem schulischen als auch dem betriebli
chen Lernen zugerechnet werden (~ LB, Arbeiten und Lernen). Gerade für die Simulati
onskonzepte gilt, daß sie aufgrund ihres Modellbezugs grundsätzlich ein Lernen im Modell,
aber auch ein Lernen am Modell erlauben.
Es fmden sich noch weitere Formen des schulischen Lernens. Diese sind das Lernen mit Fäl
len, das Lernen an Projekten, das Lernen mit Lern- und Arbeitsaufgaben, das Lernen mit
Experimenten, das Lernen anhand von Leittexten sowie das computerunterstützte
(multimediale) Lernen.
Bereits im vergangenen Jahrhundert entstanden die ersten Übungsfinnen, in denen kauf
männische Funktionen wie Einkauf, Verkauf, Lagerhaltung und Verwaltung durch die
Nachbildung der Praxis dargestellt und vermittelt werden sollten. Dabei soll in den Übungs
fmnen der Ernstfall betrieblichen Handelns eingeübt werden, ohne daß Produkte oder
Dienstleistungen tatsächlich erzeugt werden. In den deutschsprachigen Ländern sind die
Übungsfmnen zum Deutschen Übungsfmnenring zusammengeschlossen, der insbesondere
die Außenbeziehungen für die Übungsfmnen, z. B. in Form von Banken, Finanzamt, Versi
cherungen, Post etc. simuliert.
Übungsfmnen können in aller Regel entweder praxisergänzend oder praxisersetzend in ihrer
Funktion sein. Praxisergänzend sind sie für die kaufmännische Erstausbildung vorwiegend in
Großunternehmen. Durch eine Übungsfmna sollen Arbeitsabläufe und Arbeitszusarnmen
hänge, die durch die zunehmende Technisierung ansonsten nicht mehr überschaubar und
verständlich sind, verdeutlicht werden. Praxisersetzend werden Übungsfmnen z. B. in der
Erstausbildung von Behinderten in Berufsbildungswerken und in der Umschulung von Er
wachsenen in Berufsförderungswerken eingerichtet
Lernbüros sind an kaufmännischen Schulen (insbesondere Berufsfachschulen) eingerichtete
Räume der Bürosimulation eines Unternehmens. Die meisten Lernbüros werden meist nach
einem real existierenden Firmenvorbild konstruiert, allerdings stellen sie reduzierte Abbilder
Konzepte schulischen Lemens 117
dieser Originalmodelle dar. Dadurch können betriebliche Abläufe und Geschäftsvorfälle
transparenter und überschaubarer nachgebildet werden.
Lembüros wollen die Arbeiten aus dem kaufmännisch-verwaltenden Bereich handlungs- und
praxisorientiert gestalten (vgl. Achtenhagen & Schneider 1993, S. 170). Die notwendige
Realitätsnähe wird u. a. dadurch erreicht, daß diese Büros eine der Realität entsprechende
Ausstattung sowie authentische Arbeitsaufträge haben. Die Außenbeziehungen des Lembü
ros, z. B. zu den Kunden, werden meist von den Lehrpersonen simuliert
Die Arbeit im Lembüro kann arbeitsgleich und arbeitsteilig erfolgen. Die Einführung in die
Lembüroarbeit wird in der Regel im Rahmen einer arbeitsgleichen Phase durchgeführt: alle
Schüler bearbeiten die Geschäftsvorfälle und Belege zur selben Zeit. In der arbeitsteiligen
Phase bearbeiten die Schüler in Gruppen ihren jeweils speziftschen Anteil an einem oder
mehreren Geschäftsvorflillen.
Es wird den Chinesen zugeschrieben, Erfinder des Planspiels zu sein; sie entwickelten be
reits um 3000 v. Chr. ein Brettspiel, welches militärische Kräfte simulierte. Planspiele stellen
dynamische Modelle der Realität dar, in denen die Spieler simulierte Problemsituationen
zielgerichtet und selbsttätig lösen müssen. Bis heute wurde das Planspiel aus dem militäri
schen Bereich auch auf den ökonomischen und administrativen Bereich übertragen, um si
mulierte problemhaltige Ausgangssituationen auf ihre Lösungswege hin zu untersuchen, sich
für einen Lösungsweg zu entscheiden und diesen umzusetzen. Das Planspiel bietet die Mög
lichkeit, die Konsequenzen dieser Entscheidungen und Umsetzungsmaßnahmen zu erleben.
Ein idealtypischer Ablauf eines Planspieleinsatzes stellt sich folgendermaßen dar: In der
Konstruktions- und Designphase fällt zunächst die Entscheidung für den Zugriff auf ein be
reits existierendes Planspiel oder für die Eigenentwicklung eines Planspiels. Daran schließt
sich die Vorbereitung des Spielleiters auf das Spiel an und die Einführung der Spieler auf
Inhalt und Verfahren durch den Spielleiter. Nach der eigentlichen Spiel- oder Durchfüh
rungsphase folgt abschließend die Auswertung der Ergebnisse sowie die notwendige Refle
xion über die Ergebnisse, die Spielerverhaltensweisen etc.
Das Rollenspiel wurde in den 1920er Jahren entwickelt. Es ist ein Spielverfahren, in dem die
Spieler vor eine Konflikt- bzw. Problemsituation gestellt werden und diese in einer ihnen
zugewiesenen Rolle handelnd innerhalb vorgegebener Regeln bewältigen müssen. Es handelt
sich also um eine Methode, die eher personenorientiert als sachorientiert ist. Das bedeutet,
es sollen in erster Linie Verhaltensweisen trainiert werden, die Vermittlung von Sach- und
Fachwissen tritt in den Hindergrund. Vor dem eigentlichen Rollenspiel müssen in einer soge
nannten Motivationsphase die Spieler vorbereitet werden (vgl. Kaiser & Kaminski 1994, S.
118 Lemort Schule
151). Diese Phase umfaßt neben einer Spieleinflihrung und der Rollenübertragung auch
mögliche Beobachteraufträge für die Zuschauer sowie die Vorbereitung der Rollenargumen
tation. Nach der Rollenspielphase schließlich, die nicht länger als etwa zehn Minuten dauern
sollte, folgt - ähnlich wie beim Planspiel- die Reflexionsphase.
Mit der Gründung der Harvard Business School in Cambridge, USA, 1908 fand die Fall
studienmethode Eingang in die Managementausbildung. Reale Fälle aus dem Wirtschaftsle
ben mußten von Studenten bearbeitet und gelöst werden. Anleihen wurden bei der typisch
fallbasierten Ausbildung der Juristen gemacht. In Deutschland wurden zuerst Führungskräfte
der Wirtschaft mit Hilfe des Einsatzes realer Fälle aus dem Wirtschaftsalltag aus- und wei
tergebildet, bevor diese Unterweisungsform seit einigen Jahren zunehmend in Schulen ver
wendet wird. Nach Kaiser und Kaminski (1994 S. 127) liegt die Grundstruktur einer Fall
studie darin,
"daß die Schüler mit einem aus der Praxis bzw. Lebensumwelt gewonnenen Fall konfrontiert werden, den Fall diskutieren, für die Fallsituation nach alternativen Lösungsmöglichkeiten suchen, sich für eine Alternative entscheiden, diese begründen und mit der in der Realität getroffenen Entscheidung vergleichen".
Bei der Auswahl und der Konstruktion von Fällen ist darauf zu achten, daß diese für die
Lerner subjektiv bedeutsam, problemhaltig und faßbar sowie realitätsnah und widerspruchs
frei sind (vgl. Reetz 1988, S. 148 ff.).
Die Idee des Lernens am Projekt entstand Anfang des 18. Jahrhunderts in den Kunstaka
demien in Italien und Frankreich und wurde ein Jahrhundert später in den technischen Hoch
schulen aufgegriffen. Das Projekt stellt hier jeweils die von den Studierenden selbständig zu
erstellende Abschlußarbeit dar. Demnach stellt ein Projekt ein Vorhaben dar, bei dem die
Lerner in Gruppen ein Problem bzw. eine authentische und komplexe Aufgabenstellung
weitgehend selbständig und selbsttätig planen, realisieren und auswerten. Nach Gudjons
(1986 S. 57 ff.) lassen sich zehn Merkmale von Projektunterricht ausmachen. Hierzu zählen
u. a. der Situationsbezug, die Selbstorganisation und Selbstverantwortung, die zielgerichtete
Projektplanung, die Produktorientierung, das soziale Lernen, das Einbeziehen vieler Sinne
und die Interdisziplinarität
Der Verlauf eines Projektes läßt sich in Form von Phasen beschreiben (vgl. Frey & Frey
Eiling 1993). Nach der Projektinitiative, die nicht nur vom Lehrenden, sonden auch von den
Schülern ausgehen sollte, wird eine Projektskizze angefertigt. Auf die Auseinandersetzung
mit dem Ergebnis der Projektskizze folgen schließlich die Schritte der Projektplanung, Pro
jektdurchführung und Projektbewertung.
Konzepte schulischen Lemens 119
Lern- und Arbeitsaufgaben werden vorzugsweise dann eingesetzt, wenn es gilt, einen
technischen Sachverhalt zu erschließen. Sie erfordern das instrumentelle Handeln und in
Verbindung mit einer teamorientierten Gestaltung des Lernprozesses auch das kommunika
tive Handeln. Wird beruflicher Unterricht durch Lern- und Arbeitsaufgaben gestützt, können
Schüler über den zu bearbeitenden technischen Sachverhalt Kenntnisse erwerben, deren Ein
bettung in berufsförmig organisiertes Arbeiten erfahren und Fertigkeiten in der sach- und
fachgerechten Handhabung und Bedienung von Werkzeugen und Maschinen entwickeln.
Didaktisch tragfähig werden Lern- und Arbeitsaufgaben dann, wenn sie einen Problemgehalt
aufweisen und auch zu persönlich sinnstiftendern Handeln auffordern. Dies ist in der Regel
der Fall, wenn sie nicht nur technisch zweckrationales Handeln anfordern, sondern auch Fra
gen zur Bedeutung dieses Handelns für die Gestaltung der beruflichen Lern- und Arbeitsum
gebung aufwerfen. Im Idealfall fmden Lern- und Arbeitsaufgaben ihre Entsprechung im tat
sächlichen Ablauf technischer Prozesse im Betrieb (vgl. Pah11997, S. 64 ff.).
Lern- und Arbeitsaufgaben waren in der DDR sehr verbreitet. Derzeit werden sie im Zu
sammenhang mit der Entwicklung dezentraler Konzepte des beruflichen Lernens verwendet,
in denen Arbeiten und Lernen wieder verknüpft werden (~ LB, Arbeiten und Lernen).
Lern- und Arbeitsaufgaben stellen dort die Bindeglieder dar, mit denen Lernen am Arbeits
platz mit dem Anspruch eines systematischen Lernens vermittelt werden soll, indem Erfah
rungswissen, das am Arbeitsplatz erworben wurde, theoriegeleitet zum strukturierten Fach
wissen verallgemeinert wird. Mit den Lern- und Arbeitsaufgaben als Kernstück können
Lehr-Lernarrangements zu didaktischen Konzepten weiterentwickelt werden, in denen
selbstorganisiertes Lernen und Arbeiten in Teamarbeit befördert werden (vgl. Höpfner 1996,
S. 179 f.).
Das technische Experiment wird vorzugsweise in gewerblich-technischen Berufsausbildun
gen angewendet (vgl. Pahl1997, S. 84 f.). Es ist die geplante und kontrollierte Einwirkung
auf einen technischen Gegenstand. Angeleitet durch Hypothesen, Theorien und systemisch
entwickelte Handlungsstrategien gewinnt das technische Experiment die Qualität eines wis
senschaftsorientierten Lernens. Beim technischen Experiment gilt es also, das technische
Verhalten eines Gegenstandes theoriegeleitet zu beobachten, zu beschreiben und zu erklären.
Es unterscheidet sich vom naturwissenschaftlichen Experiment, das Kausalzusammenhänge
erforscht, indem es auf Finalität angelegt ist: Beim technischen Experiment gilt es, Wissen
über die Voraussetzungen und Bedingungen des Verhaltens von technischen Gegenständen
zu e!Werben, um dieses Wissen dann auf die praktische Bearbeitung von Realaufgaben zu
übertragen. In einem weiten Sinne ist das technische Experiment deshalb dem entwickelnden
und forschenden Lernen im Unterricht zuzurechnen.
120 Lernort Schule
Die Leittextmethode wird seit den 1970er Jahren vor allem im gewerblich-technischen
Ausbildungsbereich eingesetzt. Ursprünglich war sie integrativer Bestandteil der aufkom
menden Projektausbildung in Großunternehmen (vgl. Kaiser & Kaminski 1994, S. 245) (~
LB, Konzepte betrieblichen Lernens (vgl. Schaubild 4». Mittlerweile werden Leittexte auch
im kaufmännisch-verwaltenden Ausbildungsbereich angewendet
Der Leittextmethode liegt der Gedanke der vollständigen Handlung mit den Elementen des
Informierens, Planens, Entscheidens, Ausführens, Kontrollierens und Aus- bzw. Bewertens
zugrunde. Um Auszubildende zu entsprechenden Handlungen zu befähigen, werden Leittex
te eingesetzt. Leittexte sind meist schriftliche Materialien, die den Lernprozeß der einzelnen
Lernenden insoweit strukturieren, daß der einzelne weitgehend selbständig im eigenen
Lerntempo die ihm gestellte Arbeitsaufgabe lösen kann. Anstelle von schriftlichen Unterla
gen oder als Kombination mit diesen können z. B. auch Bilder, Kassetten, Ftlme und Com
puter(lern)programme als Leittexte herangezogen werden. Leittexte haben neben der gestell
ten Arbeitsaufgabe noch folgende Bestandteile, die gemeinsam einen vollständigen Hand
lungsablauf befördern sollen: Leitfragen, Arbeitspläne, Kontrollbögen und Leitsätze. Leitfra
gen als zentrale Elemente sollen die Lerner anleiten, sich ziel- und zweckgerichtet Informa
tionen zu beschaffen (vgl. Koch & Selka 1991, S. 20). Auf der Basis der beschafften Infor
mationen und der vorliegenden Unterlagen müssen die Lerner dann einen Arbeitsplan ent
wickeln, den der Ausbilder begutachtet. Kontrollbögen dienen der Beurteilung der Arbeits
ergebnisse. Hierfür enthalten die Kontrollbögen zu beachtende Qualitätsmerkmale (vgl.
Koch & Selka 1991, S. 20). Leitsätze schließlich enthalten alle Sachinformationen, die zur
Aufgabenbewältigung notwendig sind. Während der gesamten Leittextausbildung können die
Auszubildenden darüber hinaus durch fest integrierte Fachgespräche mit dem Ausbilder un
terstützt und gefördert werden.
Im Zusammenhang mit den sich rasch entwickelnden Computertechnologien ist die Entste
hung der Idee des computerunterstützten Lernens zu sehen. Insbesondere mit der Ent
wicklung der Mikrocomputer Ende der 1970er Jahre setzte die Diskussion um Möglichkei
ten und Grenzen des computerunterstützten Lernens verstärkt ein. Mit dem Begriff des
computerunterstützten Lernens verbindet sich die Vorstellung, daß der Computer ein Werk
zeug des Lernens ist, das den Lernprozeß unterstützt (vgl. Euler 1992, S. 11). Ein einheitli
ches computerunterstütztes Lernen existiert nicht Es gibt vielmehr verschiedene Varianten
des Lernens mit Hilfe des Computers (vgl. Greinert 1997, S. 156 f.). Es lassen sich tutorielle
Ansätze fmden, die dem Lernen und Üben nach defmierten Programmen zuzuordnen sind,
und in der Tradition zur Programmierten Unterweisung stehen. Darüber hinaus existieren
Konzepte schulischen Lemens 121
Varianten, deren Kernstück die Interaktion des Lernenden mit dem Computer ist. Ferner
lassen sich Formen differenzieren, die auf der Grundlage selbständiger Lemsteuerung und
Lernkontrolle des Lerners basieren. Aktuell wird das Lernen im Internet verstärkt diskutiert
(vgl. Gross, Langer & Seising 1997).
122 Lernort Schule
5 Schule und Wirtschaft
Die Berufsausbildung in Deutschland fmdet überwiegend in Form des dualen Systems statt.
Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen eines Geburtenjahrganges durchlaufen die mit der be
ruflichen Erstausbildung beauftragten Institutionen Betrieb und Berufsschule. Die berufliche
Erstausbildung wird in ihrem betrieblichen Anteil auf Bundesebene vom Berufsbildungsge
setz geregelt und in ihrem schulischen Anteil sind die Länder mit ihren jeweiligen Schulge
setzen zuständig (~ R, Rechtlich-institutionelle Grundlagen). Das Zusammenwirken von
Betrieb und Berufsschule wird bundesweit durch das sogenannte Gemeinsame Ergebnispro
tokoll vom 30.05.1972 rechtlich-institutionell verankert und wird bei der Abstimmung von
Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen zwischen der Bundesregierung und den Kul
tusministern bzw. -senatoren praktiziert (~ B, Abstimmung und Koordination). Eine dar
über hinausgehende kontinuierliche Kooperation und Koordination zwischen Betrieb und
Berufsschule ist rechtlich-institutionell nicht verankert und fmdet auch nicht statt. Sie voll
zieht sich jedoch auf örtlich punktueller, informeller Ebene. Hierzu zählen z. B. Zusammen
treffen von Ausbildern und Berufsschullehrern in Prüfungsausschüssen der Zuständigen
Stellen (~ B, Institutionen und Organisationen), Kontakte im Rahmen von Ausbildungsver
suchen von Einzelbetrieben und einzelnen Schulen, Fachtagungen unter anderem von Ge
werkschaften, Hochschulen, Berufsverbänden und Zuständigen Stellen sowie freiwillige Ar
beitskreise. Hierin läßt sich ein gemeinsames Interesse an Fragen der beruflichen Erstausbil
dung erkennen. Der Zugang zu solchen Fragen ist dabei seitens der Schulen und seitens der
Betriebe zum Teil recht unterschiedlich.
Folgende Auswahl an Beispielen soll dies verdeutlichen. Hinsichtlich der Ausbildungsorgani
sation stehen die Betriebe tendenziell für eine flexiblere Gestaltung, während die Berufsschu
len eine kontinuierliche Ausgestaltung wünschen. Hinsichtlich der Ziele und Inhalte steht
eine relativ enge fachlich-qualiftkationsbezogene Ausrichtung der Ausbildungsbetriebe den
schulischen Interessen der Vermittlung beruflicher Allgemeinbildung gegenüber. Hinsichtlich
der Lernorganisation haben Betriebe ein starkes Interesse an einer flexibleren Gestaltung der
Reihenfolgenplanung der Ausbildungsabschnitte, während Schulen an einer einheitlichen, an
ihren Lehrplänen orientierten Sequenzierung interessiert sind.
Diese unterschiedlichen Interessenslagen müssen zwischen den Beteiligten ausgehandelt
werden. Die Praxis lehrt, daß hierbei nicht nur konsensuales Handeln erfolgt, sondern auch
Konfliktlinien entstehen, die zu Verweigerungen, aber auch zu Koalitionen führen.
Der Fall "Hamburger Bündnis für Ausbildung" zeigt eine solche Konfliktlinie auf: Im laufen
den Jahr wurden von der bundesdeutschen Wirtschaft 7,4 % weniger Ausbildungsplätze zur
Schule und Wirtschaft 123
Verfügung gestellt, obgleich etwa 7 % mehr Jugendliche einen Ausbildungsplatz suchten.
Vor diesem Hintergrund haben sich in verschiedenen Bundesländern sogenannte Bündnisse
für Ausbildung zusammengefunden. Gewerkschaften, Schulbehörden, Vertreter aus Politik,
Zuständige Stellen (Kammern) und Arbeitgeberverbände verfolgen das gemeinsame Ziel,
mehr Ausbildungsplätze zu schaffen, wenn es zugleich gelingt, die Berufsausbildung den
aktuellen wirtschaftlichen Anforderungen entsprechend anzupassen (~ B, Bildungspoliti
sehe Streitfälle). Das Hamburger Bündnis für Ausbildung einigte sich am 14.02.1997 auf
folgende Eckpunkte (vgl. o.V. 1997, S. 2 f.):
• Flexibilisierung des Berufsschulunterrichts,
• Integration von Inhalten der überbetrieblichen Ausbildung in den Berufsschulunterricht,
• Differenzierung des Berufsschulunterrichts nach Beruf und Vorbildung der Auszubilden-
den,
• Einleitung einer Curriculumreform,
• Sportförderung für Auszubildende im Rahmen des Vereinssports,
• Verlängerung der Ausbildungszeit für lembeeinträchtigte Jugendliche,
• Verkürzung der Unterrichtszeit durch Anrechnung schulischer Vorleistungen.
Die Flexibilisierung des Berufsschulunterrichtes kann nach den Vorstellungen des Bündnis
ses verschiedene Formen annehmen. So sollen Betriebe künftig je nach Betriebsbedarf zwi
schen Teilzeit- und Blockunterricht für ihre Auszubildenden wählen können. Auch Kombi
nationen aus beiden Organisationsformen sind möglich. Darüber hinaus soll der Berufsschul
tag in der Teilzeitform nunmehr acht Stunden umfassen. Damit entfallen die sogenannten
freien Nachmittage. Der Blockunterricht soll zwischen 36 und 40 Wochenstunden umfassen.
Schließlich soll.auch die Ausbildung in der Berufsschule konzentriert stattfmden können,
wenn es z. B. saisonale Erfordernisse notwendig machen. Über die tatsächlich durchzufüh
rende Organisation des Berufsschulunterrichts soll ein zu schaffender Lenkungsausschuß
befmden, dem Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern sowie der Schulbehörde angehö
ren. Über eine mögliche Integration von Inhalten der überbetrieblichen Ausbildung in den
Berufsschulunterricht sollen auch die oben genannten Lenkungsausschüsse befmden.
Die Differenzierung des Berufsschulunterrichts nach Beruf und Vorbildung der Auszubil
denden soll ermöglichen, daß einerseits Inhalte des berufsschulischen Unterrichts reduziert
werden können (z. B. Anteile des allgemeinbildenden Unterrichts für Abiturienten) und daß
andererseits auch zusätzliche Inhalte hinzugenommen werden können (z. B. Fremdsprachen
unterricht und Förderangebote).
Mit einer Differenzierung des Berufsschulunterrichtes muß auch die Einleitung einer Curricu
lumreform einhergehen. Hierbei ist insbesondere der stärkere Berufsbezug einzuarbeiten
124 Lemort Schule
sowie die Berücksichtigung der unterschiedlichen Vorbildungen der Schüler. Die Sportför
derung für Auszubildende im Rahmen des Vereinssports soll den zu streichenden Berufs
schulsportunterricht ersetzen.
Die Verlängerung der Ausbildungszeit für lembeeinträchtigte Jugendliche (~ D, Lem
schwache und Begabte) soll ein Jahr betragen. Hierbei wird der Berufsschulunterricht in
seinem bisherigen zeitlichen Umfang belassen, so daß dieses Jahr der Ausbildungszeit des
Ausbildungsbetriebes zugeschlagen wird. Verkürzungen der Unterrichts zeit durch Anrech
nung schulischer Vorleistungen sind insbesondere für die berufsvorbereitenden Bildungsgän
ge vorgesehen und können entweder sechs oder zwölf Monate ausmachen.
Neben den genannten Eckpunkten verständigten sich die Mitglieder des Bündnisses für
Ausbildung noch auf zwei weitere Maßnahmen, von denen sie sich eine positive Belebung
der Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt versprechen. Diese Maßnahmen beinhalten
den Modellversuch "Kooperative Berufsfachschulen" und die Erprobung neuer Wege für
Jugendliche ohne Hauptschulabschluß.
Wenngleich das Ziel verfolgt wurde, das Angebot an Ausbildungsplätzen zu erhöhen, traten
Konflikte hervor, die dazu führten, daß die Gewerkschaften am 18.03.1997 aus dem Bündnis
für Ausbildung ausschieden. Sie befürchteten, daß die Qualitätsstandards der Berufsschulen
drastisch reduziert würden und hinter den einzelnen Flexibilisierungsbestrebungen die gleiche
und einzige Intention, nämlich die betrieblichen Ausbildungszeiten auf Kosten der berufs
schulischen Anteile zu erhöhen, steckten (vgl. Ammonn 1997, S. 3).
In der Diskussion: Doppelqualijikation /25
6 In der Diskussion: Doppelqualifikation
Bereits vor 20 Jahren entbrannte die Debatte um Doppelqualifikation und Integration von
beruflicher und allgemeiner Bildung. Ziel war die Aufwertung beruflicher Bildung, um die
historisch bedingte und belastende Trennung von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung
wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest abzuschwächen. Die neuerliche Wiederbelebung
dieser Diskussion ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Zahl der Studierenden die Zahl
der Auszubildenden zu überflügeln scheint Darin kommt zum Ausdruck, daß berufliche
Qualifikationen eine geringere individuelle Wertschätzung erfahren als insbesondere die all
gemeinbildenden Qualifikationen des Gymnasiums, die zum Hochschulstudium berechtigen.
Lutz (1991 S. 31 f.) spricht in diesem Zusammenhang von der meritokratischen Logik: Hö
here allgemeinbildende Bildungsabschlüsse versprechen mehr gesellschaftliche Privilegien,
höheren sozialen Status und höhere berufliche Positionen. Dies erklärt die quantitative Zu
nahme der Klientel in Gymnasien und Hochschulen. Zugleich werden traditionelle Berufs
ausbildungsgänge zunehmend entwertet und marginalisiert
Insgesamt lassen sich verschiedene Konzepte ausmachen, die dem gemeinsamen Ziel der
Herstellung von Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung dienen (vgl. Bremer
1996, S. 153). Hierunter fallen die Modellkonstruktion der Ergänzung der Allgemeinbildung
durch berufliche Grundbildung und der Versuchsansatz der Annäherung und Verzahnung
beruflicher und allgemeiner Bildung. Ferner wird das Modell der Integration beruflicher und
allgemeiner Bildung diskutiert
Im Modell der Ergänzung der Allgemeinbildung durch berufliche Grundbildung werden die
allgemeinbildenden Oberstufen durch eine berufliche Orientierung erweitert. In der Praxis
wird dies allerdings dadurch realisiert, daß die allgemeinbildenden Fächer lediglich durch ein
weiteres Fach ergänzt werden, das Berufsbezug aufweist Die Folge ist zumeist ein Absen
ken des Berufsbildungsniveaus (vgl. Bremer 1996, S. 154 f.). Zugleich wird durch diesen
Modellansatz die Frage, ob sich "Bildung im Medium des Beruflichen" verwirklichen läßt,
gar nicht erst gestellt. Das gilt im übrigen auch für das nachfolgende Modell. Im Modell der
Annäherung werden zunächst allgemeinbildende und berufliche Fächer auf mögliche Ent
sprechungen in ihren Inhalten überprüft. Aus der dabei sich ergebenden Schnittmenge wer
den dann sogenannte polyvalente Kurse entwickelt und Gleichwertigkeit beruflicher und
allgemeiner Bildung lediglich über die Gleichartigkeit von Inhalten begründet (vgl. Bremer
1996, S. 156).
126 Lernort Schule
Besondere Bedeutung kommt dem Konzept der Integration beruflicher und allgemeiner Bil
dung zu. Den wohl bekanntesten Versuch der Integration beruflicher und allgemeiner Bil
dung stellen die Kollegschulen seit den 1970er Jahren in Nordrhein-Westfalen dar. Die Kol
legschule ist eine neue organisatorische Einheit und besteht aus der gymnasialen Oberstufe
und Bildungsgängen der beruflichen Schulen. Ziel dieser Schulform ist es, ihren Schülern
mehrere Bildungsgänge und Abschlußmöglichkeiten anzubieten. Die Unterrichtsorganisation
der Kollegschule basiert deshalb auf einem Kurssystem, in dem der Besuch von Basis- und
Spezialkursen für mehrere Bildungsgänge und Abschlüsse anrechnungsfähig ist.
Ein weiteres Beispiel ist der Modellversuch "Schwarze Pumpe", der 1993 initiiert wurde.
Ziel dieses Modellvorhabens ist die Ausbildung in den staatlich anerkannten Ausbildungsbe
rufen Industriemechanikerin und Energieelektronikerin bei gleichzeitigem Erwerb der Fach
hochschulreife innerhalb der regulären Ausbildungszeit von 3,5 Jahren (Höpfner 1996, S.
292). Dabei soll die Vorbereitung auf das Studium (Wissenschaftspropädeutik) sowohl in
der beruflichen Schule als auch innerhalb der betrieblichen Ausbildung durch eine Integration
der Inhalte und der didaktisch-methodischen Ausgestaltung von schulischem und betriebli
chem Lernen erfolgen (vgl. Höpfner 1996, S. 293). Ähnlich konzipierte Modellversuche
laufen für den Baubereich in Rostock und an drei Standorten in Sachsen (vgl. Buggenhagen
et al. 1996; Höpfner, Telgkaemper & Walter 1996). Auch im europäischen Ausland sind
verschiedene Varianten der Doppelqualiftkation feststellbar. Gemeinsam ist diesen Ausprä
gungen, daß berufliche Qualiftkationen zugleich mit der (fachgebundenen) Hochschulreife
vermittelt werden. Unterschiede können in der Art der Vermittlung von beruflicher und all
gemeiner Bildung aufgezeigt werden (vgl. Manning 1996, S. 134 f.).
Die konsequente Umsetzung der Idee der Doppelqualiftkation stellt an den Lernort Schule
verschiedene Anforderungen (vgl. Bremer, Heidegger, Schenk, Tenfelde & Uhe 1993, S.
155 ff.). Zunächst ist die Verknüpfung verschiedener Schulformen integrativ und nicht addi
tiv zu leisten. Sodann brauchen Schulen didaktisch-curriculare Konzepte beruflichen Ler
nens, die sicherstellen, daß die Ausbildungsziele auch tatsächlich in kürzerer Zeit erreicht
werden können. Neben der Erhöhung der Effektivität beruflichen und allgemeinen Lernens
müssen diese Konzepte auch eine Binnendifferenzierung erlauben. Das Prinzip der Hand
lungsorientierung sollte dabei durchgängig als das Prinzip des Lernens und Lehrens in der
Berufsausbildung herangezogen werden.
Nicht nur Schülerinnen und Schüler müssen Kompetenzen erwerben, auch die Lehrerinnen
und Lehrer. So sind beispielsweise insbesondere deren didaktisch-methodischen Kompeten
zen hinsichtlich der Umsetzung des Prinzips der Handlungsorientierung weiterzuentwickeln.
In der Diskussion: Doppelqualifikation 127
Lehrende müssen lernen, Lernumgebungen fach-, berufs- und berufsfeldübergreifend zu ge
stalten. Dies setzt u. a. den Aufbau und Ausbau von Kommunikationsstrukturen mit betrieb
lichem Ausbildungspersonal voraus (~ B, Abstimmung und Koordination; ~ LA, Betriebli
ches Ausbildungspersonal).
128 Lernort Schule
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Strukturbegriff:
Lernort Betrieb
1 Betriebliche Lernorte
Rahmenbedingungen
Ausbildung ~===-J-~~p~~~-p"L-t=:~Zielsetzungen der Lehrer und der Ausbilder
Lernort Betrieb
Wenn vom Lernort Betrieb die Rede ist, dann ist damit umgangssprachlich gemeint: Der
Betrieb ist eine wirtschaftliche und organisatorische Einheit, in der Güter produziert und
Dienstleistungen erbracht werden. Solche Betriebe sind Handwerksbetriebe, Industriebetrie
be, Bankbetriebe, Handelsbetriebe, Versicherungsbetriebe u. a. Wenn diese Betriebe auch
ausbilden oder weiterbilden, dann handelt es sich offenbar um einen Lernort Betrieb. Mit
dieser Vorstellung vom Lernort Betrieb kommen wir allerdings in Schwierigkeiten, wenn sie
an der Praxis überprüft wird.
Nahezu jede Arbeit im Betrieb bietet zugleich auch Lernchancen. Gelernt wird auch am Ar
beitsplatz und nicht nur in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Ein Betrieb mit Ar
beitsplätzen ist deshalb immer auch ein Ort des Lernens, auch dann, wenn das Lernen dort
nicht institutionalisiert ist zum Beispiel in der Form von Ausbildungsplätzen oder in der
Lehrwerkstatt. Ein Ort des Lernens ist ein Betrieb auch dann, wenn dieses Lernen nicht ge
regelt ist beispielsweise durch Ausbildungsordnungen oder Weiterbildungsprogramme.
Es gibt nun aber auch Einrichtungen der beruflichen Bildung, z. B. Berufsbildungswerke
oder Berufsförderungswerke, die berufliche Ausbildung, Weiterbildung und Umschulung
leisten, ohne Betriebe im oben genannten Sinne zu sein. Und wie sind Rechtsanwalts-, No
tar-, Arzt- bzw. Zahnarztpraxen, Apotheken und Steuerberatungsbüros zu verstehen? Dort
wird ausgebildet. Zählen sie deshalb auch zum Lernort Betrieb? Wie verhält es sich mit der
132 Lernort Betrieb
Produktionsschule? Ist diese Einrichtung eine Schule, wie der Name sagt? Oder ist sie ein
Betrieb, weil dort Güter und Dienstleistungen produziert bzw. erstellt und vermarktet wer
den?
Außerdem gibt es das Berufsbildungsgesetz, dessen § 27 besagt:
"Die Ausbildungsordnung kann festlegen, daß die Berufsausbildung in geeigneten Einrichtungen außerhalb der Ausbildungsstätte durchgeführt wird, wenn und soweit es die Berufsausbildung erfordert."
Dies ist z. B. der Fall in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Ungefähr 80 % der Aus
zubildenden im Handwerk besuchen zeitweise solche überbetrieblichen Ausbildungsstätten.
Sind diese überbetrieblichen Ausbildungsstätten deshalb auch als Lernort Betrieb anzusehen,
obwohl sie doch nichts produzieren und keine Dienstleistungen auf einem Markt anbieten,
sondern nur ausbilden?
In dieser mißlichen Situation, den Lernort Betrieb auf Anhieb nicht genau bestimmen zu
können, vermag das Berufsbildungsgesetz weiterzuhelfen. Es nimmt in § 1 (5) zumindest
einige Festlegungen vor:
"Berufsbildung wird durchgeführt in Betrieben der Wirtschaft, in vergleichbaren Einrichtungen außerhalb der Wirtschaft, insbesondere des öffentlichen Dienstes, der Angehörigen freier Berufe und in Haushalten (betriebliche Berufsausbildung) sowie in berufsbildenden Schulen und sonstigen Berufsbildungseinrichtungen außerhalb der schulischen und betrieblichen Berufsausbildung."
Schaubild 1 zeigt die Lernorte der Berufsbildung im Überblick.
I ~rnort Betrieb 1 ___ 1 Schule 1___ sonstige Berufsbildungs-_ _ _ _ einrichtungen ~ ~--~~
r-----'-----, Betriebe der Wirtschaft
des öffentI. Dienstes
vergleichbare Einrichtungen außerhalb der
Wirtschaft
IHauShalte
Schaubild 1: Lernorte der Berufsbildung gemäß § I Berufsbildungsgesetz
Betriebliche Lemorte 133
Als Lemort Betrieb im Sinne des Berufsbildungsgesetzes gelten Wirtschaftsbetriebe
(einschließlich überbetrieblicher Ausbildungsstätten, soweit diese mit einem Betrieb verbun
den sind), der öffentliche Dienst, die freien Berufe und die Haushalte. Zum Lemort Betrieb
zählen hingegen nicht die sonstigen Berufsbildungseinrichtungen, wie z. B. Berufsbildungs
werke und Berufsförderungswerke. Auch die Produktionsschule zählt nicht zum Lemort
Betrieb im Sinne des Gesetzes.
134 Lemort Betrieb
2 Lernort "Betriebe der Wirtschaft"
Mit der Einschränkung auf den Lemort "Betriebe der Wirtschaft" wird zugleich auch festge
legt, daß sich dessen Bedeutung aus dem wirtschaftlichen Handeln der Betriebe ergibt. An
ders und pointiert formuliert: Berufliche Bildung ist, soweit sie über den Lemort Betrieb
vermittelt wird, dann effektiv, wenn sie nachweislich eine rentable Investition in
"Betriebskapital" ist, mit der der Betrieb seine wirtschaftlichen Ziele, nämlich Sachgüter zu
produzieren und Dienstleistungen zu erbringen, mit dem geringstmöglichen Einsatz von Res
sourcen erreicht.
Betriebliche Qualifizierung orientiert sich deshalb nicht etwa primär an einem Naturrecht des
Menschen auf Bildung im Sinne eines Individualrechtes oder an einem gesellschaftlichen
Auftrag zur Integration junger und auch alter Menschen in unsere Sozialsysteme (~ BWP,
Beruf; ~ BWP, Pädogogik). Sie bedeutet primär ökonomisch sinnvolle Verwertung von
Arbeitskraft. Beispiele aus der Entwicklung der industriellen Produktion und der kaufmänni
schen Verwaltung können diese Ansicht bekräftigen. Ein erstes Beispiel ist der
(teil)automatisierten Produktion entnommen, wie sie zumindest noch in den 1970er Jahren
als typischer Fall industrieller Produktion angesehen wurde.
Die Industrialisierung in der Nachkriegszeit wurde geprägt durch eine rigorose Taylorisie
rung. Mit "Taylorisierung" ist die konsequente Umsetzung der "Grundsätze einer wissen
schaftlichen Betriebsführung" gemeint, die der amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor
im Jahre 1913 vorlegte. Die einfache Logik dieser Prinzipien liegt in der Erkenntnis begrün
det, daß durch die Automatisierung von gleichartigen Tätigkeiten die Wirtschaftlichkeit be
trieblicher Prozesse der Produktion und Dienstleistung verbessert wird. Besonders ein
drucksvoll wurden diese Prinzipien in der Fließfertigung der Automobilindustrie vorgeführt,
die für andere Funktionsbereiche und Branchen Modellcharakter hatte, auch wenn dort das
Ideal einer Fließfertigung nicht ganz erreicht wurde. Beispiele für die Übertragung tayloristi
scher Prinzipien einer Automatisierung von gleichartigen Tätigkeiten auf andere betriebliche
Funktionsbereiche sind die Einrichtung von Arbeitsplätzen für Steno- bzw. Phonotypistinnen
und deren räumliche Zusammenfassung in einem Schreibsaal sowie die strikte Trennung von
kaufmännischer Sachbearbeitung und elektronischer Datenverarbeitung.
Soweit die Prinzipien einer "wissenschaftlichen Betriebsführung" auf Produktion und kauf
männische Verwaltung angewandt wurden, verschärfte sich das Problem einer Kluft zwi
schen Ausbildung und betrieblicher Realsituation, in der Lempotentiale und Lemchancen
Lemort "Betriebe der Wirtschaft" 135
eines ganzheitlichen und erfahrungsbezogenen Lemens schwerlich auszumachen waren (vgl.
Schaubild 2).
Produktions-, Arbeits- und Organisationskonzept in der (tcil)automaUsierten Produktion:
Trennung von Kopf- und Handarbeit rigorose Arbeitsteilung (Arbeitsz.erlegung mit ldea1fall Fließfertigung) Spe7.ialisicrung Koonlination über Pläne, Programme, Siellenbeschreihunge Konfiguration der Weisungs- und Leitungsheziehungen: ßürokratiemodell mit liefgestaffelten Hierarchien
C'·~'--"~
Vorau~set7,ungcn der ßenlrsausbildung 3m Lemort Betrieb: abnehmende Lemchancen und l.empolenliale im unmittelharen Arbcit.<;pr01.cß zunehmend abslraklere ArbciL'Itlttigkeilen abnehmende sinnliche (gam:heitlidle) Erfaßbarkeit und Erfahrbarkeit Wis~nsba')ierung der Qualifikationen
Kluft zwischen Berufsausbildung und betrieblicher Realsituation
onsequenzen rur die Berufsaushildung am Lernort Retrieb: Zentralisierung der Berufsausbildung in der Au. .. hildungsabteilung und Abkoppelnng von der Produklion 7'coLralislische Ausbildung.'li;lufieilung Systematisierung der Berufsausbildung in Lehrg1:\ngen Orientierung der Ausbildungsinhalle an fachlicher und fochwis~n5Chafl!icher Did.,ktik Slufenmetboden des bemmchen I.emens
Schaubild 2: Lemort Betrieb in der (teil)automatisierten Produktion
Die betriebswirtschaftlich begründeten Anforderungen einer auf Arbeitsteilung, Spezialisie
rung und Massenproduktion begründeten Arbeitsorganisation an die Berufsausbildung haben
sich seit den 1980er Jahren nachhaltig geändert. Auslöser waren wohl die mit den neuen
Technologien möglichen, aber auch notwendigen Umstellungen auf neue Produktions-, Ar
beits- und Organisationskonzepte. Auch hier waren es wieder produktionswirtschaftliche
Ziele, auf die der Lemort Betrieb zu reagieren hatte (vgl. Schaubild 3).
136 Lemort Betrieb
.,.---bewirken , \ haben
'-.
Schaubild 3: Aktuelle betriebswirtschaftliche Anforderungen am Lemort Betrieb
Um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben, muß heute permanent Produktinnova
tion betrieben werden. Betriebe müssen bei aller Spezialisierung dennoch flexibel genug sein,
ihre Produktion kurzfristig umstellen zu können. Kunden sind heute nicht mehr mit Produk
ten aus der Massenfertigung zufriedenzustellen. Gefragt ist die variantenreiche Produktion
mit kurzfristiger Lieferbereitschaft
Die Umsetzung dieser neuen Produktionskonzepte geht einher mit beweglichen Arbeitsab
läufen und Arbeitsstrukturen. Je nach wechselnden Auftragslagen müssen Arbeitsabläufe und
Arbeitseinsätze auch mit wechselnden Qualiftkationsanforderungen umorganisiert werden.
Das heißt aber auch, daß Mitarbeiter flexibel genug sein müssen, diese neuen Arbeitseinsätze
und Arbeitsplätze an- und einzunehmen, und daß Qualiftkationspotentiale nicht erst in lang
wierigen Qualiftzierungsprozessen aufgebaut werden müssen. Sie müssen bereits im Arbeits
prozeß selbst und kontinuierlich erworben werden: Lernen muß mit Arbeiten verknüpft wer
den. Des weiteren treten mit der schrittweisen Auflösung der starren Produktion nach dem
Prinzip der Fließfertigung Gruppen und Teams an die Stelle des einzelnen Arbeiters in der
Fließfertigung.
Um die neuen Produktionskonzepte der flexiblen Spezialisierung und variantenreichen Pro
duktion organisatorisch abzusichern, kommen komplexe Logistiksysteme zum Einsatz bei
Lemort "Betriebe der Wirtschaft" 137
gleichzeitiger Auflösung der starren hierarchischen Konfiguration von Weisungs- und Lei
tungsbeziehungen. Wie die Produktion muß auch die Organisation "schlanker" werden. Per
sonalentwicldung kann dann aber nicht mehr allein als Entwicldung von Personal begriffen
werden. Personalentwicldung muß auch einen Beitrag zur Organisationsentwicldung ablie
fern.
Das Schlagwort von der "lernenden Organisation", einer Organisation, die solches Lernen
ermöglicht, das die Organisation entwickelt und zugleich auch neue Lemmöglichkeiten für
weitere Organisationsentwicldungen schafft, macht derzeit die Runde (~ LA, Kooperative
Selbstqualiftkation).
Schlagwortartig lassen sich auch die über den Lemort Betrieb zu vermittelnden Qua1ifikatio
nen skizzieren: Zukünftige Mitarbeiter müssen "über den Tellerrand" ihres jeweiligen Ar
beitsplatzes hinausblicken können. Sie müssen Einsicht in betriebliche Arbeitsstrukturen ha
ben, in Systemen denken können, die Gestaltbarkeit von Arbeitsstrukturen erkennen und die
vorhandenen Gestaltungsfreiräume im beruflichen Handeln eigenverantwortlich nutzen. Sie
müssen als Gruppe Verantwortung tragen rlir die produzierte Qualität aber auch für die
Fehler, die sie machen. Sie müssen an der kontinuierlichen Verbesserung von Produkt und
Prozeßabläufen mitwirken und das selbständige Entscheiden und Steuern lernen (~ LA,
Betriebliches Ausbildungspersonal; ~ P, Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit; ~ P,
Systemische Sichtweise).
138 Lernort Betrieb
3 Merkmale betrieblichen Lemens
Halten wir fest: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Gestaltung betrieblicher
Bildungsarbeit haben sich in vielen Wirtschaftsbereichen und Betrieben erheblich geändert
(vgl. Oberbeck 1997). Dadurch begünstigt, tritt neben systematisches und zentral organisier
tes betriebliches Lernen das situativ gestaltete Lernen in Lernarrangements. Darüber hinaus
sind Mischformen beider Konzepte betrieblicher Bildungsarbeit anzutreffen. Wohin die wei
tere Entwicklung gehen wird, kann zur Zeit niemand vorhersagen. Damit eröffnen sich aber
für berufs- und wirtschaftspädagogische Überlegungen zur alternativen Gestaltung betriebli
chen Lernens beträchtliche Spielräume. Zugespitzt stellt sich die Frage: "Situatives oder sy
stematisches Lernen?" (vgl. Uhe 1994a).
Beim systematischen Lernen sind die Lernorte im Betrieb zentrale Einrichtungen wie Ausbil
dungswerkstatt und Schulungsraum für betrieblichen Unterricht. Hinzu kommen eine Reihe
von Arbeitsplätzen, die für das Lernen vor Ort herangezogen werden (vgl. Fulda, Meyer,
Schilling & Uhe 1994). Besonders die Ausbildungswerkstatt ist fester Bestandteil einer sy
stematischen Ausbildung. Sie ist in der Regel von der Produktion getrennt. Betriebliches
Lernen in der Ausbildungswerkstatt orientiert sich nicht unmittelbar an den Produktionsbe
dingungen im Betrieb, sondern primär an den Anforderungen von Zwischen- und Abschluß
prüfungen (vgl. Uhe 1994a, S. 190 f.). Charakteristisch für die systematische Ausbildung ist
die Lehrgangsform, gelegentlich kombiniert mit leittextgestütztem Selbstlernen (~ LS,
Konzepte schulischen Lernens).
Situatives Lernen ist Lernen in der Realsituation. Es ist Lernen am Arbeitsplatz, Lernen bei
der Arbeit und durch die Arbeit. Situatives Lernen wird dort befördert, wo Qualiflkationen
benötigt werden, die nur durch die Arbeit selbst und nicht allein in einer systematisch ange
legten Ausbildung von Einzelfertigkeiten erworben werden können. Im Idealfall sind die für
situatives Lernen geltenden Strukturen bereits in den Strukturen des Arbeitshandelns ange
legt. Im situativen Lernen werden Leistungsmotivation und Arbeitsfreude befördert nicht
zuletzt auch deshalb, weil die Auszubildenden für ihr eigenes Arbeits- und Lemhandeln mit
verantwortlich sind. Die Beförderung von Selbständigkeit und Zielorientierung sind bedeu
tende Ziele situativen Lernens am Lernort Betrieb (vgl. Uhe 1994a, S. 191).
Konzepte betrieblichen Lemens 139
4 Konzepte betrieblichen Lernens
Systematisches und situatives Lernen markieren die Eckpunkte für mögliche Konzeptent
wicklungen betrieblichen Lernens. Beispiele für Konzepte betrieblichen Lernens sind das
betriebliche Lernen nach dem Imitationsprinzip, die Drei-Stufen-Methode, die Vier-Stufen
Methode und die Leittextmethode.
Beim Imitationslernen, wie es seit dem Mittelalter praktiziert wird, führt der Meister oder
Ausbilder einen Arbeitsvorgang vor, und der Lehrling bzw. Auszubildende macht die Aufga
be nach. Das Imitationslernen ist auch heute noch fester Bestandteil betrieblicher Bildungs
arbeit, auch wenn es nicht mehr mit diesem Begriff belegt wird.
Die Drei-Stufen-Methode des "Vormachen-Nachmachen-Üben" versteht sich von selbst
Die qualitativ nächste Entwicklungsstufe ist die Vier-Stufen-Methode, die in der amerikani
schen Kriegswirtschaft entwickelt wurde, um mit Hilfe dieser Methode qualifizierte männli
che Arbeitskräfte, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden, möglichst schnell durch Unge
lernte bzw. Angelernte und Frauen zu ersetzen. Die Vier-Stufen-Methode besteht aus den
Schritten: Vorbereiten, Vormachen, Nachmachen und Üben. Diese Methode war bis in die
1950er Jahre hinein die dominierende Ausbildungsmethode im Betrieb und wird auch heute
noch praktiziert.
Als eine modeme Methode betrieblicher Bildungsarbeit gilt die Leittextmethode (vgl.
Schaubild 4) (~LS, Konzepte schulischen Lernens).
1. Was soU getan werden?
Leitfragen Leitsätze
6. Was muß beim nächsten Mal 2.
besser gemacht werden? Wie geht man vor?
Fachgespräch mit dem I. ArbeiL'plan
Ausbilder Informieren Kontrollbogen
Lempaß Liste der Arbeitsmiuel
I 6. 2. I Bewerten Planen
5. ~ T 3.
Ist der Auftrag fachgerecht I 5. 3. I Fertigungsweg und
gefertigt? Kontrollieren Entscheiden Betriebsmittel fcst.1cgcn Fachgespräch mit dem
Kontrollbogen 4. Ausbilder Ausflibren
4. Fertigen des Werkstilckes
Auftragsbearbeitung
Schaubild 4: Grundschema des Lelttextsystems (vgl. Pätzold 1996, S. 178)
140 Lernort Betrieb
Die Leittextmethode umfaßt in idealtypischer Form die sechs Schritte: Informieren, Planen,
Entscheiden, Ausführen, Kontrollieren und Bewerten. Unter dem Gesichtspunkt des von den
Neuordnungen geforderten selbständigen Planens, Durchfuhrens und Kontrollierens gewinnt
diese Methode besonderen Wert (~ B, Abstimmung und Koordination). Von den sechs
Schritten ist der dritte besonders wichtig, weil der Auszubildende bei diesem Schritt ange
regt wird, Entscheidungen in Absprache mit dem Ausbilder über den Fortgang des Arbeits
vorgangs zu treffen. Wichtig ist außerdem der qualitative Unterschied zwischen dem fünften
und dem sechsten Schritt: "Kontrollieren" meint den Soll-Ist-Vergleich des Auszubildenden
selbst, während der sechste Schritt eine Gesamtbewertung des Lernvorgangs von außen in
einem Gespräch mit dem Ausbilder einschließt
Diesen methodischen Konzepten des betrieblichen Lernens können verschiedene Lernarran
gements zugeordnet werden: innerbetrieblicher Unterricht, Ausbildungswerkstatt, Lehrecke,
Leminsel, Qualitätszirkel und Iuniorftrma (vgl. Uhe 1994a, S.191 ff.).
Der innerbetriebliche Unterricht kann in systematischer Weise die praktische Unterwei
sung ergänzen. Besonders dann, wenn Auszubildende Erfahrungen in der betrieblichen Pra
xis nur noch eingeschränkt machen können und betriebliche Ausbildung großenteils nur noch
wissensbasiert erfolgen kann, kommt dem innerbetrieblichen Unterricht eine große Bedeu
tung zu. Darüber hinaus bereitet innerbetrieblicher Unterricht auf Prüfungen vor, ergänzt den
Unterricht in der Berufsschule und befördert lernschwächere Schüler (~ LS, Berufsschule;
~ D, Lernschwache und Begabte).
Am Beispiel der Ausbildungswerkstatt wurden bereits Merkmale des systematischen Ler
nens erläutert.
Mit der Ausbildungswerkstatt vergleichbar ist die Lehrecke. Sie wird zumeist in der Nähe
von Arbeitsplätzen eingerichtet. Dies geschieht hauptsächlich dann, wenn eine direkte
Vermittlung arbeitsplatzrelevanter Qualifikationen entweder nicht möglich oder unwirt
schaftlich ist
Ein Beispiel, das systematisches und situatives Lernen verknüpft, ist das arbeitsplatzgebun
dene betriebliche Lernen in Lerninseln (vgl. Schaubild 5).
Konzepte betrieblichen Lernens 141
Schaubild 5: Lernen in der Lerninsel
Lerninseln werden mitten im Produktionsprozeß eingerichtet. Sie sind in eine Arbeitsumge
bung mit der besonderen Zielrichtung eingebettet, das selbständige Planen, Organisieren,
Durchführen und Kontrollieren in Gruppen- und Teamarbeit zu befördern. Die Lernenden
erproben in den Lerninseln unterschiedliche Produktionsweisen und versuchen, Produktin
novationen zu bewirken, indem sie Alternativen zum Produktions-, Arbeits- und Organisati
onskonzept der Produktionshauptlinie entdecken. In Lerninseln werden von den Mitarbeiter
gruppen Kommunikation und Kooperation, aber auch Konfliktbearbeitung verlangt. Die
Gruppen übernehmen auch Mitverantwortung für die Qualität ihrer Arbeit und damit auch
für Fehler, die sie machen. Hierfür werden ihnen, anders als den Mitarbeitern in der Hauptli
nie, begrenzte Entscheidungs-, Gestaltungs- und Handlungsfreiräume zugestanden. Auszu
bildende und Mitarbeiter in den Lerninseln müssen darüber hinaus ihr eigenes Qualifizie
rungskonzept z. B. als Rotationsmodell entwerfen und entwickeln.
Lerninseln eignen sich deshalb nicht nur für die berufliche Erstausbildung, sondern auch für
die betriebliche Weiterbildung von Mitarbeitern in den Bereichen von neuen Produktions-,
Arbeits- und Organisationskonzepten (~ Z, Berufliche Handlungsflihigkeit).
142 Lemort Betrieb
Ein erstes Beispiel für die Ausprägung von Konzepten betrieblichen Lemens nach Merkma
len des situativen Lemens ist der Qualitätszirkel. In Qualitätszirkeln werden einzelne Pro
bleme, die am Lemort Betrieb, d. h. in der Aus- und Weiterbildung, erfahrbar und für den
Prozeß der betrieblichen Leistungserstellung von grundsätzlicher Bedeutung sind, gleichsam
ausgelagert und in einer eigenen Arbeitsgruppe einer Problembearbeitung zugeführt. Solche
Probleme können beispielsweise sein: hohe Produktion von Ausschuß, Probleme der Ar
beitssicherheit, der Bewertung von Gruppenleistungen, Schwierigkeiten in der innerbetriebli
chen Kommunikation usw.
Wie in der Lerninsel geht es auch im Qualitätszirkel um die Umsetzung produktionswirt
schaftlicher Ziele in neue Produktions-, Arbeits- und Organisationskonzepte.
Qualitätszirkel gehen jedoch darüber hinaus, indem sie auch Mitarbeiter aus dem Produkti
ons- und Dienstleistungsbereich in den Qualitätszirkel integrieren. Damit soll erreicht wer
den, daß die gefundenen Problemlösungen nicht nur zu Veränderungen in der Aus- und
Weiterbildung, sondern auch in Produktion und Dienstleistung eingehen (vgl. Schaubild 6).
Veränderungen müssen dann nicht mehr "verordnet" werden, sie sind gemeinsam erfahrbare
oder bereits erfahrene Verbesserungen, die dadurch leichter akzeptiert werden können, daß
sie in eigenen Erfahrungen gründen, selbst erarbeitet und erprobt wurden. Qualitätszirkel
gehen deshalb über die Gruppenmodelle der Umsetzung neuer Produktions-, Arbeits- und
Organisationskonzepte hinaus. Sie sind fast schon mit Beteiligungsmodellen einer Mitgestal
tung von Produktion, Arbeit und Organisation zu vergleichen.
Produktion, Dienstleistung
Aus- und Weiterbildung
Schaubild 6: Lernen im Qualitätszirkel zwischen Aus- und Weiterbildung
Konzepte betrieblichen Lemens 143
Ein weiteres Beispiel für die Ausprägung von Konzepten betrieblichen Lernens nach Merk
malen des situativen Lernens ist die Juniorfinna, die vor allem für betriebliches Lernen im
kaufmännisch-verwaltenden Bereich bedeutsam ist (vgl. Schaubild 7).
I Juniorfmna
rechtlich abhängig von
I Unternehmung I
Schaubild 7: Lernen in der Juniorfnma
Bei der Juniorftrma handelt es sich um eine "kleine" Firma in einer "großen" Firma Junior
fnmen entstehen zumeist dann, wenn die große Firma Produktionsteile auslagert, weil sie
beispielsweise diese Teile nicht mehr selbst fertigen will oder aber deren Fertigung gezielt für
Ausbildungszwecke zur Verfügung stellt. Eine Juniorfnma umfaßt nahezu alle Geschäftsbe
reiche einer großen Firma von der Produktionsplanung über die kaufmännische Verwaltung
bis zur Gestaltung von Ausbildung. Allein die rechtliche Vertretung nach außen (Verträge
mit Lieferanten und Kunden, gerichtliche Vertretung u. a.) wird von der großen Firma aus
geübt, weil eine Juniorfnma in der Regel zwar ein kleiner Betrieb, aber keine eigenständige
Unternehmung mit einer eigenen Rechtsform ist. Im Gegensatz zu den Übungsfnmen wird in
der Juniorfnma echte Ware gegen echtes Geld mit allen Konsequenzen wie Einkauf, Ver
kauf, Personalwirtschaft, Produktion und Rechnungswesen verkauft (~ LS, Konzepte schu
lischen Lernens).
144 Lernort Betrieb
5 Betrieb und Gesellschaft
Betriebliches Lernen fmdet nicht in einem Raum statt, der von wirtschaftlichen und gesell
schaftlichen Entwicklungen abgeschinnt ist (~ BWP, Systemzusammenhänge). Wohin diese
Entwicklungen führen werden, ist nicht prognostizierbar. Angesichts solcher Unsicherheiten
scheint es deshalb begründet zu sein, betriebliche Bildung im Spannungsfeld von Betrieb und
Gesellschaft in Szenarien zu skizzieren.
Ein Szenarium könnte die Wiederentdeckung und kontinuierliche Weiterentwicklung des
Arbeitsplatzes als Lernort beschreiben. Ein zweites Szenarium könnte an der aktuellen Frage
nach der Einstiegsqualiftkation für berufliche Weiterbildung ansetzen (0. V. 1996).
Erstes Szenarium: Wiederentdeckung des Arbeitsplatzes als Lernort (vgl. Uhe 1994b): Ler
nen am Arbeitsplatz, bei der Arbeit und durch die Arbeit wird in einer auffallenden Häufung
von einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum eigentlichen Wesensmerkmal
beruflichen Lernens erklärt. Vergleichbares geschieht in der Praxis: Ausgehend von Bran
chen, in denen die Einführung der neuen Produktions- und Arbeitsorganisationen schnell
voranschreitet, wird das Prinzip der systematischen Ausbildung allmählich vom situativen
Lernen abgelöst, bei dem der Arbeitsplatz zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt be
trieblichen Lernens wird. In der Realsituation verschmelzen zunehmend Arbeiten und Ler
nen. Das produktionsunabhängige Lernen wird auf seine wesentlichen Funktionen be
schränkt. Dafür wird aber die motivierende Funktion einer Verbindung von Arbeiten und
Lernen am Lernort Betrieb neu entdeckt. Auszubildende lernen wieder, für ihre Arbeitsvoll
züge auch die Verantwortung zu übernehmen und ihre Bedeutung im Betriebsganzen zu
erkennen. Sie lernen auch, Selbständigkeit handelnd zu gewinnen. Isolierter Erwerb von
Fertigkeiten und rein theoretisches Lernen treten in den Hintergrund. Jeder Arbeitsplatz wird
daraufhin geprüft, ob er sich auch als Lernplatz eignet. Indem Arbeiten und Lernen mitein
ander verschränkt werden, orientiert sich Arbeiten verstärkt am Individuum und seinen
Qualiftkationen.
Zweites Szenarium: Berufsausbildung als Einstiegsqualiftkation für berufliche Weiterbildung
(vgl. o. V. 1996): Dieses zweite Szenarium ist gekennzeichnet durch eine beträchtliche Ab
weichung von der Entwicklung im ersten Szenarium. Wenn die Berufsausbildung als eine
Einstiegsqualiftkation für berufliche Weiterbildung gesehen wird, dann reicht eine circa
zweijährige Ausbildung in Basisqualiftkationen, wie sie beispielweise für alle Mechanikerbe
rufe notwendig ist. Diese strategische, d. h. langfristig tragende Komponente der Berufs
ausbildung wird kontinuierlich ausgebaut. Nach dieser verkürzten Ausbildung durchlaufen
Auszubildende je nach Leistungsfähigkeit spezielle Einweisungs- und Traineeprogramme, die
Betrieb und Gesellschaft 145
inhaltlich und betriebsbezogen auf die geplanten betrieblichen Tätigkeitsbereiche abgestimmt
sind. Auch diese marktorientierte Komponente beruflicher Bildung setzt sich zunehmend
durch. Der Leistungsfähigkeit entsprechend werden auch die Ausbildungsvergütungen diffe
renziert: Während der zweijährigen Basisqualifizierung wird eine geringe Ausbildungsvergü
tung, während der Weiterqualifizierung je nach Ertragswert der geleisteten Arbeit eine ge
staffelte höhere Weiterqualifizierungsvergütung gewährt. Während der Basisqualiftkation
wird eine enge Kooperation mit der Berufsschule angestrebt. In der Weiterqualifizierungs
phase dagegen ist die Berufsschule außen vor.
Diese Szenarien beschreiben Zukunftsvisionen: Die eine Vision zeichnet ein Bild von der
zunehmenden Pädagogisierung des Lernortes Betrieb. In der zweiten Vision werden zukünf
tig mehr oder weniger qualifizierte Arbeitskräfte gebraucht, die gezielt auf betriebliche An
forderungen vorzubereiten sind und die einen Deckungsbeitrag zum unternehmerischen Ge
samterfolg abzuliefern haben. Allein die Tatsache, daß zwei so unterschiedliche Szenarien
durchaus annehmbare Beschreibungen von möglichen Entwicklungen enthalten, könnte auch
die Erkenntnis befördern, daß das Verhältnis von Betrieb und Gesellschaft noch gestaltbar
ist
146 Lernort Betrieb
6 Arbeiten und Lernen
Dort wo der Einsatz neuer Technologien zu nachhaltigen Veränderungen in der Nutzung
neuer Produktions-, Organisations- und Arbeitskonzepte geführt hat, bieten sich auch neue
Möglichkeiten des Lernens am Arbeitsplatz. Diese Möglichkeiten schließen die Verknüpfung
von einzelnen Arbeitsverrichtungen zu komplexen Arbeitshandlungen ein. Sie stellen Ar
beitshandeln in einen strategischen Zusammenhang der Wertschöpfung, d. h., daß die eigene
Arbeitsleistung als Beitrag zur betrieblichen Produktion und Dienstleistung erkannt und an
erkannt wird. Verknüpft damit sind erweiterte MögliChkeiten der Mitbestimmung und Mit
gestaltung am Arbeitsplatz. Wenn Arbeitsprozesse in der Verknüpfung von Arbeiten und
Lernen ihren repetitiven Charakter verlieren, darf erwartet werden, daß betrieblich organi
sierte Arbeit auch zur Beförderung von Lemmotivation, Sinnverstehen der eigenen Arbeits
leistung, Bereitschaft zur Kooperation mit anderen und letztlich auch zur Identiftkation mit
den Unternehmenszielen im Sinne einer corporate identity beiträgt.
Ausprägungsformen dieser Verknüpfung von Arbeiten und Lernen sind beispielsweise Pro
duktionsinsel, Qualitätszirkel, Juniorftrma und Lemecke. Ein weiteres Beispiel ist die Pro
duktionsschule. Obwohl sie nicht dem Lemort Betrieb zugerechnet wird, soll sie an dieser
Stelle vorgestellt werden, weil sie viele Merkmale betrieblichen Lernens aufweist und als
Alternative zum betrieblichen Lernen im dualen System diskutiert wird. Produktionsschulen
lassen sich zudem eindeutiger auf eine Verpflichtung zur Persönlichkeitsentwicklung im
Medium beruflichen Lernens ein.
Produktionsschulen sind Schulen, in denen Vorstellungen einer ganzheitlichen Persönlich
keitsentwicklung im Konzept der Verknüpfung von Arbeiten und Lernen, so wie es bei
spielsweise auch in den Juniorftrmen anzutreffen ist, verfolgt werden. Produktionsschulen
vertreten den Gedanken der Persönlichkeitsentwicklung jedoch weitaus konsequenter inso
fern, als sie Arbeiten und Lernen in einen pädagogischen Schonraum einstellen, der einer
Funktionalisierung von Arbeitskraft für produktionswirtschaftliche Zwecke weitestgehend
entzogen ist, ohne dabei jedoch den Gedanken der fmanziellen Absicherung der beruflichen
Ausbildung und Weiterbildung durch den Verkauf produzierter Güter und Dienstleistungen
aufgeben zu müssen (vgl. Mayer 1997).
Daß sich gerade heute Produktionsschulen wieder in der berufspädagogischen Diskussion
befmden, ist als ein tiefsitzendes und angesichts sich verringernder Chancen auf einen Aus
bildungsplatz vielleicht auch berechtigtes Mißtrauen gegenüber den Versprechungen einer
Arbeiten und Lernen 147
Versöhnung von Wirtschaftlichkeit und Pädagogik zu verstehen. Befürworter von Produkti
onsschulen stehen der Vision von der Pädagogisierung des Lernorts Betrieb skeptisch ge
genüber. Das neuerliche Interesse an Produktionsschulen mag auch als konsequentes Behar
ren auf dem pädagogischen Prinzip der Beförderung von Selbstfmdung, Selbstbestimmung
und Selbstentwicklung im Gegensatz zur Fremdbestimmung durch die Institution Wirt
schaftsbetrieb zu sehen sein (vgl. Arnold 1994, S. 22 f.).
An den Produktionsschulen zeigt sich aber auch das Dilemma einer möglichst radikalen päd
agogischen Sichtweise auf eine berufliche Bildung im Konzept der Verknüpfung von Arbei
ten und Lernen und des Beharrens auf einer Pädagogisierung von Arbeitsverhältnissen: Die
tatsächlichen Marktverhältnisse gestatten Produktionsschulen im allgemeinen nur ein Dasein
in Nischen unseres Wirtschaftssystems. Produktionsschulen wenden sich mit ihrem Angebot
an diejenigen, die "Opfer der Qualifizierungsoffensive" geworden sind. Es sind diejenigen,
die für den Lernort Betrieb nicht erreichbar sind oder bei denen sich eine berufliche Qualifi
zierung für den Lernort Betrieb nicht rechnet (~ BWP, Wirtschaft).
Produktionsschulen als genuin pädagogische Antwort auf einen Lernort Betrieb, der berufli
che Bildung auch nach ökonomischen Gesichtspunkten gestaltet, fmden wir deshalb vor al
lem in der Entwicklungshilfe, dort also, wo es Wirtschaftsbetriebe mit einem Lernort Betrieb
nicht gibt. Sie sind aber auch in Dänemark weit verbreitet, wo durch ein eigenes Produkti
onsschulgesetz der pädagogische Schonraum abgesichert wird, um Arbeitslose, Lernschwa
che oder sozial benachteiligte Jugendliche, an denen der Lernort Betrieb ohnehin kaum In
teresse hätte, ausbilden zu können. Sie sind ferner auch dort anzutreffen, wo sich diese Kon
zepte außerhalb von Konkurrenz, Wettbewerb und Markt etablieren lassen. So z. B. in Bre
men, wo für die Produktion öffentliche Aufträge bearbeitet werden, häufig aus solchen Be
reichen des Umweltschutzes, für die derzeit noch keine Angebote von Wirtschaftsbetrieben
zu erwarten sind.
In der Typologie von Produktionsschulen ist als "höchste" Form die Lernfabrik ausgewie
sen. In der Lernfabrik entsteht ein hohes Maß an Komplexität allein schon dadurch, daß alle
betrieblichen Funktionsabläufe zum Lerngegenstand gemacht werden (vgl. Hass 1997). In
dem betriebswirtschaftlich-kaufmännische mit fertigungstechnischen Tätigkeiten im Lern
und Arbeitshandeln verknüpft werden, entstehen komplexe Handlungsstrukturen, die das
reale berufliche Arbeitshandeln abbilden. Schaubild 8 zeigt die Grundstruktur einer Lernfa
brik.
148
Lemfabrik P AULA
EntwicklunglFertigung
Gewerbliche
Berufsschule
Berufsschule
VertriebN erwaltung
Fertigung
Ausbildungs
betrieb
Schaubild 8: Grundstruktur einer Lemfabrik (Hass 1997, S. 183)
Lemort Betrieb
Komplexe Strukturen des Lern- und Arbeitshandelns fordern komplexe betriebsdidaktische
Konzepte an. Andernfalls würden sie auf das niedrigere Maß an Komplexität zurückgeführt,
das weniger anspruchsvolle Modelle zuläßt. Der höheren Komplexität einer Verbindung von
Arbeiten und Lernen könnte deshalb das Konzept des integrierten Lernens für die Beförde
rung von Handlungskompetenz angemessen sein (vgl. Tenfelde & Uhe 1996, S. 104 ff.) (~
Z, Berufliche Handlungsfähigkeit; ~ P, Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit). Die
höhere Komplexität des Lernens ergibt sich durch die kreisstrukturelle Modellierung dieses
Konzeptes (vgl. Schaubild 9). Dadurch unterscheidet es sich deutlich beispielsweise von den
komplexitätsreduzierenden Konzepten der Stufenmethoden.
Arbeiten und Lernen
I. Komponente:
1. Relation: Erzeugen effektiven Wissens im Erklären und Überprüfen => (wiss.) Methodenkompetenz
Zusammenfassung früherer und jetziger Erfahrungen zu Wissen; Koordination im Rahmen operativer Schemata
2. Komponente: Tatsächliches Herstellen von Vorstellungen durch Operieren im Milieu => Gestaltungskompetenz
=> Sachkompetenz
2. Relation: Entwickeln von Rationalitätsdefinitionen (Begriffssysteme, Grammatik, Logik, Mathematik) => Fähigkeit zum sinnvollen Abstrahieren
3. Relation: Entwickeln und Überprüfen von Normen und ethischen Imperativen => moralische Kompetenz
3. Komponente: Selbst( !)verwirklichung in einem Netzwerk dauerhafter sozialer Beziehungen => Sozialkompetenz (kommunikative und sprachliche Kompetenz)
149
Schaubild 9: Modell des integrierten Lemens zur Beförderung von Handlungskompetenz
Im Konzept des integrierten Lemens wird effektives Wissen in der Verknüpfung von Erfah
rungen erzeugt. Nur solches Wissen wird zu effektivem Wissen, das im Rahmen von Hand
lungen, genauer im Rahmen von operativen Schemata, erzeugt wird. Deshalb sind die Be-
150 Lemort Betrieb
dingungen für den Erwerb effektiven Wissens durch Verknüpfen von Arbeitserfahrungen
günstiger einzuschätzen als Wissenserwerb durch Umfüllen von einem Kopf in den anderen.
Erfahrungswissen kann im Gestalten von konkreten Arbeitsabläufen und Arbeitsergebnissen
überprüft werden. Es kann als "richtig" bestätigt (veriftziert) oder als "falsch" (falsiftziert)
widerlegt werden. Im letzteren Fall muß das Erfahrungswissen so verändert werden, daß
erklärt werden kann, warum sich das Wissen als "falsch" erwiesen hat bzw. erweisen mußte.
In diesem Prozeß von Überprüfung und Erklärung im Rahmen von konkreten Arbeitsprozes
sen entsteht Methodenkompetenz. So stellt auch hier die Verknüpfung von Arbeiten und
Lernen günstige Bedingungen für die Beförderung von Gestaltungskompetenz und Metho
denkompetenz bereit
Wird das Gestalten von Arbeitsprozessen und Arbeitsergebnissen systematisch in Gruppen
arbeit und Gruppenlernen eingebettet, werden nicht nur sprachliche und kommunikative
Kompetenz, sondern auch die gegenseitige Verständigung auf moralische und ethische Vor
stellungen vom Wert und Nutzen der eigenen Arbeit und ihrer Ergebnisse befördert. Eine
Beförderung von moralischer Kompetenz im gemeinsamen (sozialen) Handeln fmdet in der
Verknüpfung von Arbeiten und Lernen deshalb günstige Voraussetzungen, weil betriebliches
Arbeiten nicht notwendigerweise mit Wertvorstellungen von Auszubildenden übereinstim
men muß, sondern letztlich in ökonomischen Zielsetzungen des Betriebes begründet ist. Ler
nen und Arbeiten im Betrieb ist primär fremdbestimmtes, jedenfalls kein selbstbestimmter
Lernvorgang. Deshalb eignet sich die Verbindung von (fremdbestimmtem) Arbeiten und
(selbstbestimmtem) Lernen besonders auch zur Beförderung von moralischer Kompetenz im
Betrieb (~ BWP, Systemische Innovationsleistung).
Schließlich eignet sich die Verbindung von Arbeiten und Lernen auch für die Beförderung
von Abstraktionsfähigkeit, gilt es doch hierbei, den tatsächlichen Gebrauchswert beispiels
weise von Fachbegriffen und Fachsprache, Logik und Mathematik sowohl zur gegenseitigen
sprachlichen und kommunikativen Verständigung in der Gruppenarbeit und zur Erzeugung
von Erfahrungswissen zu nutzen und zu bewerten. Ein Lernen von Abstraktionen wie grafi
schen Darstellungen, Schaubildern, Begriffssystemen und mathematischen Formeln um ihrer
selbst willen wird im integrierten Lernen dagegen sehr schnell als sinnloses Lernen erkannt.
Literatur 151
Literatur
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StrukturbegrifT:
Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens
1 Didaktik - Fachdidaktik
IWunenbedingungen
Ausbildung ~==-~~.LrF~~~-p.,L-}=:~ZielsetzUngen de<Leh=und der Ausbilder
Lernort Betrieb
lichen Lernens und Lehrens
In einer sehr allgemeinen Form kann Didaktik beschrieben werden mit der Frage, wer, was,
wann, mit wem, wo, wie, womit, warum lernen soll. Mit dieser allgemeinen Umschreibung
von Didaktik allein ist es aber nicht getan, denn neben der Allgemeinen Didaktik haben sich
verschiedene spezielle Didaktiken etabliert: schulformspezifische, schulstufenspezifische und
schulfachspezifische Didaktiken, Technikdidaktik, berufsbildende Didaktiken etc. Aus diesen
speziellen Didaktiken haben sich auch die Fachdidaktiken zu besonderen wissenschaftlichen
Disziplinen entwickelt
Obwohl Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik gleichermaßen die Unterrichtswirklichkeit
erforschen, stehen sie in einem Spannungsverhältnis. Die Allgemeine Didaktik beschränkt
sich bisher darauf, allgemeine Strukturmodelle für unterrichtliches Handeln zu entwickeln,
während die Fachdidaktik den Fachunterricht konkret gestalten und dafür Handlungsempfeh
lungen bereitstellen will. Das Spannungsverhältnis entsteht also dadurch, daß Allgemeine
Didaktik häufig im Allgemeinen verharrt, während die Fachdidaktik als kaum verallgemeine
rungsfähig angesehen wird (~ LA, Theorie-Praxis-Problem).
Fachdidaktiken stellen wissenschaftliche Disziplinen dar, die sich zumeist relativ unabhängig
voneinander entwickelt haben und die sich mit dem institutionalisierten und fachlich geordne
ten Unterrichten beschäftigen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Pädagogik bzw. Er-
154 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens
ziehungswissenschaft und Fachwissenschaften als Bezugsdisziplinen. Dieser Zusammenhang
ist vielfältig denkbar und auch tatsächlich vorfmdbar (vgl. Schaubild 1).
. : Fach-lFachwlssen-~ di- Erziehungs-schaften ~ dak- It-' wissenschaft
!tik
Sonderpädagogik
Schaubild 1: Zusammenhänge zwischen Fachdidaktik, Fachwissenschaft und Erziehungswissenschaft (Kuhlmeier & Uhe 1992, S. 129 f.)
Zusammenhänge zeigen sich u. a. an der wissenschaftssystematischen Einbindung der Fach
didaktiken an den Hochschulen. So bestehen an manchen Universitäten eigenständige Insti
tute für Fachdidaktik. An anderen wiederum sind die Fachdidaktiken bei der Erziehungswis
senschaft angesiedelt Die meisten Fachdidaktiken sind jedoch den Fachwissenschaften an
gegliedert. Die Vielfalt, mit der Fachdidaktiken in den Hochschulen eingerichtet wurden,
zeigt an, daß es sich hierbei auch um wissenschafts- und bildungspolitische Entscheidungen
handelte.
Fachdidaktiken beziehen sich immer auf Lehrerausbildung, wenngleich auch betriebliches
Lehren und Lernen in der Weiterbildung unter fachdidaktischen Gesichtspunkten betrachtet
Didaktik - Fachdidaktik 155
werden kann. Oftmals zeichnen sie sich deshalb durch ein ausgeprägtes schulformspezifi
sches Denken und eine Betonung des exemplarischen Lernens aus. Fachdidaktiken, die enge
Bezüge zur Lehrerausbildung suchen, bearbeiten das Legitimationsproblem, das heißt die
Auswahl von Zielen und Inhalten des Lernens, aus einer wissenschaftssystematischen Sicht
weise auf fachlich geordnetes Lehren und Lernen. Dabei orientieren sie sich an den jeweili
gen Fachwissenschaften.
Wenn die Fachwissenschaft die Fachdidaktik dominiert, ist das Schulfach eine Bezugswis
senschaft im kleinen: Ziele und Inhalte der Fachdidalctik werden aus der Fachwissenschaft
"abgeleitet". In polemisierender Absicht wurden diese Fachdidalctiken deshalb auch
"Abbilddidaktiken" genannt. Gegen diese Auffassung von Fachdidaktik kann kritisch einge
wendet werden, daß sie keine originäre Fragestellung hat, sich nur noch mit dem Vermitt
lungsproblem beschäftigt und dadurch zur Fachmethodik wird. Eine Fachdidaktik, die sich
nur an Fachwissenschaften orientiert, vermag den Jugendlichen nicht als Lernenden zu be
trachten und kann deswegen auch keine Relevanz- und Selektionskriterien für Entscheidun
gen über Inhalte und Ziele eines Unterrichtsfaches anbieten.
In der kritischen Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlich orientierten Didaktiken ent
standen Alternativen, die sich dem Vorwurf, Abbilddidaktiken zu sein, entzogen. Dazu zäh
len Fachdidaktiken, die sich an beruflichen Anforderungen orientieren. Zu nennen sind auch
Ansätze, die komplexe Lebens- und Handlungssituationen von Jugendlichen zum Ausgangs
punkt fachdidaktischer Reflexion machen (~LA, Fachmann und Pädagoge).
Die Fachdidaktik steht also im sehr komplexen Problemfeld einer Bestimmung ihres wissen
schaftlichen Standortes zwischen Erziehungswissenschaft, Fachwissenschaft und Allgemei
ner Didaktik. Darüber hinaus steht die Fachdidalctik unter dem besonderen Anspruch, nicht
nur didaktische Analyse, sondern auch die didaktische Konstruktion zu leisten.
Es war sicherlich das Verdienst des Deutschen Bildungsrates, bereits 1970 eine Aufgabenbe
schreibung für Fachdidaktiken vorgelegt zu haben. An dieser Systematik läßt sich noch heute
das Aufgabengebiet von Fachdidaktik weiterentwickeln. Zu den Aufgaben der Fachdidaktik
zählt gemäß Deutschem Bildungsrat (1970, S. 225):
"1. festzustellen, welche Erkenntnisse, Denkweisen und Methoden der Fachwissenschaft Lernziele des Unterrichts werden sollen; 2. Modelle zum Inhalt, zur Methodik und Organisation des Unterrichts zu ermitteln, mit deren Hilfe möglichst viele Lernziele erreicht werden; 3. den Inhalt der Lehrpläne immer wieder daraufhin kritisch zu überprüfen, ob er den neuesten Erkenntnissen fachwissenschaftlicher Forschung entspricht, und
156 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
gegebenfalls überholte Inhalte, Methoden und Techniken des Unterrichts zu eliminieren und durch neue zu ersetzen; 4. erkenntnistheoretische Vertiefung anzuregen und fächerübergreifende Gehalte des Faches beziehungsweise interdisziplinäre Gesichtspunkte zu kennzeichnen."
Didaktik beruflicher Bildung 157
2 Didaktik beruflicher Bildung
Didaktik beruflicher Bildung ist ein Sammelbegriff für verschiedene Didaktikansätze im Be
reich der beruflichen Bildung. Dieser Sammelbegriff bezeichnet Didaktiken, die sich auf ein
zelne Berufsfelder oder auf mehrere Berufsfelder zugleich beziehen. Dazu zählen aber auch
Didaktiken, die sich auf spezifische Schulfächer beziehen lassen, wie dies beispielsweise für
die verschiedenen Didaktiken der Betriebswirtschaftslehre in der Handelslehrerausbildung
zutrifft. Im gewerblich-technischen Bereich orientiert sich die Didaktik in der Regel an Be
rufsfeldern.
Während des 19. Jahrhunderts gab es für berufstätige Jugendliche noch keine spezifischen
Didaktikkonzepte. Diese wurden aber mit der Handelslehrerausbildung an den deutschen
Handelshochschulen zu Beginn des Jahrhunderts notwendig. Fachdidaktische Veranstaltun
gen und methodische Übungen an den Handelshochschulen können deshalb als Vorläufer
einer Didaktik beruflicher Bildung gesehen werden. Später in den 1920er Jahren, als mit der
Ausbildung von Gewerbelehrern an den nichtwissenschaftlichen Berufspädagogischen Insti~
tuten begonnen wurde, erhielt dann auch die Didaktik der gewerblich-technischen Fachrich
tungen ein erstes speziflsches Profil.
Mit der Entwicklung von Fachdidaktiken beruflichen Lernens ging eine allmähliche Ablö
sung der Didaktik von den Erziehungswissenschaften einher. Für die Handelslehrerausbil
dung läßt sich diese Ablösung an ihrer Ausrichtung an der Betriebswirtschaftslehre aufzei
gen. Eine vergleichbare fachwissenschaftliche Anlehnung in der Gewerbelehrerausbildung
setzte mit deren Akademisierung zu Beginn der 1960er Jahre ein. Die Konsequenzen dieser
zumindest zeitweisen Orientierung an Fachwissenschaften war eine weitgehende Überein
stimmung zwischen den an der Universität gelehrten fachlichen Inhalten und den Inhalten des
Unterrichtsfaches, wie sich beispielsweise an den Inhalten des Wirtschaftslehreunterrichts an
Handelsschulen ablesen läßt (vgl. Zabeck 1995, S. 224). Häufig bestand die
"wissenschaftliche" Leistung dieser Fachdidaktik in der Reduktion der von der Fachwissen
schaft vorgegebenen Inhalte. Die Lerninteressen der jeweiligen Adressaten, die Anforderun
gen der im Wandel befmdlichen Berufspraxis und die Erkenntnisfortschritte in den Erzie
hungswissenschaften spielten keine oder nur eine geringe Rolle. Wie rückständig Fachdidak
tik noch in den 1960er Jahren war, zeigen fachdidaktische Arbeiten, die auf der Grundlage
der sogenannten essentialistischen Wirtschaftspädagogik entstanden. Hier galten die vorin
dustriellen Leitbilder des selbständigen Kaufmanns und des tüchtigen Handwerkers auch
158 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
dann noch, als Industrialisierung und Arbeitsorganisation nach tayloristischen Prinzipien die
Berufs- und Arbeitswelt längst grundlegend verändert hatten.
Die "realistische Wende" setzte in den 1960er Jahren mit einer Neuorientierung didaktischen
Denkens im Kontext der Rezeption des Curriculumbegriffs ein. Mit dem Vorschlag, Curricu
lumentwicklung und Curriculumrevision auch an den Anforderungen künftiger Lebens- und
Arbeitssituationen zu orientieren, wurden Lehr-Lerninhalte zunächst kritisch überprüft. Als
Kriterien für die Inhaltsauswahl wurden vorgeschlagen: die Bedeutung eines Gegenstandes
im Gefüge der Wissenschaft, die Leistung eines Gegenstandes für das Weltverstehen und die
Funktion eines Gegenstandes in spezifischen Verwendungssituationen (vgl. Robinsohn 1969,
S. 47). Darauf bezogene didaktische Entscheidungen sollten dann durch Expertenbefragung,
empirische Berufsanalysen oder Analysen von speziftschen beruflichen oder gesellschaftli
chen Verwendungssituationen begründet werden.
Der Gedanke, Didaktik beruflicher Bildung zusätzlich an Lebens- und Arbeitssituationen zu
orientieren, wurde von Zabeck in seinem Modell einer antizipativen Didaktik systematisch
entfaltet (siehe Zabeck 1973). Reetz führte über die didaktische Kategorie der Bedeutsam
keit für den zu erziehenden Menschen einen weiteren Bezugspunkt für die Stoffauswahl ein
"und zwar konkret bezogen auf seine gegenwärtige und künftige Situation in psychischer
und soziokultureller Hinsicht" (Reetz 1973, S. 153).
Als Aufgabe einer Didaktik beruflicher Bildung kann deshalb heute gelten: Sie soll für un
terrichtliches Handeln Entscheidungshilfen bereitstellen und diese begründen. Dabei sollen
die Handlungen und deren Erfolgsaussichten angegeben werden, die Umstände, unter denen
diese Handlungen auszuführen sind, sowie die handelnden Personen bezeichnet werden (vgl.
Achtenhagen 1984, S. 19). Sie soll weiterhin die didaktische Auswahl von Lerninhalten und
Zielen im Spannungsverhältnis von Fachwissenschaften, gesellschaftlichen wie beruflichen
Anforderungen und individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen anleiten und begründen
helfen (vgl. Tramm & Preiß 1996, S. 2). Fachdidaktik kann darüber hinaus Empfehlungen
aussprechen, wie Ziele zu Zielsequenzen zu verarbeiten sind. Sie kann fachwissenschaftliche
Inhalte ideologiekritisch überprüfen, Handlungsanforderungen analysieren, Auswahlkriterien
entwickeln und Arbeits- und Ausbildungswirklichkeit beschreiben (vgl. Pleiß 1996, S. 273;
Reetz 1973, S. 164) (~LA, Professionalisierung).
Voraussetzung jeder fachdidaktischen Analyse und Konstruktion ist jedoch, daß die Le
benssituation von Jugendlichen mit bedacht wird, indem Erkenntnisse der Entwicklungspsy
chologie, der Pädagogischen Psychologie, der Pädagogischen Soziologie und der Jugend-
Didaktik beruflicher Bildung 159
und Berufsforschung herangezogen werden. Fachdidaktische Forschung und Entwicklung
bezieht deshalb auch die Voraussetzungen und Bedingungen beruflichen Lehrens und Ler
nens ein. Zu diesen Voraussetzungen und Bedingungen zählen die personalen Eigenschaften
von Schülern und Lehrern, deren Lern- und Lehrvoraussetzungen, ihre kognitiven, emotio
nalen und motivationalen Befmdlichkeiten sowie geschlechtsspezifische Einflüsse ihrer bis
herigen Lebensgeschichte. Fachdidaktische Forschung und Entwicklung bezieht sich weiter
hin auf Strukturmomente des Unterrichtens, beispielsweise auf vorfmdliche Lerninhalte und
Lernziele, Medien beruflichen Lernens sowie schul- und unterrichts organisatorische Bedin
gungen. Ein weiteres Feld für fachdidaktische Forschung und Entwicklung sind Beschrei
bung und Analyse von Lehr-Lern-Prozessen in Schule und Betrieb. Zu einem eigenen Be
reich fachdidaktischer Forschung und Entwicklung zählt die Bewertung von Prozessen und
Ergebnissen beruflicher Bildung. Bei der Evaluation sind besonders die Faktoren in ihrer
Wechselwirkung zu untersuchen (Prozeßbewertung) und der Gebrauchswert von Lernpro
zessen und Lemergebnissen für Schüler, Schule und Betrieb zu überprüfen (Ergebnis
evaluation).
Die Didaktik beruflicher Bildung läßt sich aber auch als Problemfeld beschreiben. Sie mußte
sich den Vorwurf gefallen lassen, eine Abbilddidaktik zu sein. Dieser Vorwurf ist dann be
rechtigt, wenn Fachdidaktik die Lerninhalte allein aus fachwissenschaftlichen Lehrinhalte
abzuleiten versucht, wie es mit dem Verfahren der didaktischen Reduktion von Inhalten ver
sucht wurde. Die Didaktik beruflicher Bildung mußte sich außerdem mit dem Vorwurf aus
einandersetzen, eine Feiertagsdidaktik zu sein. Der Vorwurf lautet, daß fachdidaktische
Konstruktionen nur dann für die Gestaltung von Unterricht herangezogen werden, wenn es
gilt, Schaustunden im Ralunen von Unterrichtsbesuchen vorzuführen. Feiertagsdidaktik zu
sein, meint jedoch auch, die Praxis beruflicher Bildung zu verfehlen. Auf diesen Vorwurf hat
die Didaktik beruflicher Bildung mit der Entwicklung von Konzepten der schul- und praxis
nahen Curriculumentwicklung, z. B. auf der Basis von Unterrichtsmodellen, eine Antwort zu
geben versucht. Dabei konnten Lehrer und Schüler, Wissenschaftler und Studierende an der
theoriegeleiteten Entwicklung von Unterrichtsmodellen und deren Umsetzung in unterricht
liche Praxis mit anschließender Evaluation mitarbeiten. Die Didaktik beruflicher Bildung hat
sich lange Zeit auch durch fehlenden Rückgriff auf empirisch verläßliche Daten ausgezeich
net, wie Frank Achtenhagen wiederholt monierte. So wurden zum Beispiel fachwissen
schaftliche Lehrinhalte zu Lerninhalten, ohne daß diese durch empirische Analysen von
Facharbeiter- und Angestelltentätigkeiten in den Unternehmen überprüft wurden. Viele
Schulbücher und Lehrpläne zeigen noch heute diesen Mangel an.
Mußten sich Abbild- und Feiertagsdidaktik einerseits ihre Theorielastigkeit vorwerfen lassen,
kann sich Fachdidaktik andererseits auch den Vorwurf einhandeln, lediglich Rezeptwissen zu
160 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
vennitteln. Dann bestehen didaktische Empfehlungen für die Hand des Lehrers und der Leh
rerin lediglich in Beispielen. Wie Achtenhagen in einer Studie nachweisen konnte, sind sol
che didaktischen Handreichungen immer vage, unverbindlich und wenig begründet. In die
sem Rezeptwissen tauchen dann nicht einmal mehr Angaben zur Lerngruppe mit ihren sozia
len und persönlichen Lernvoraussetzungen und -bedingungen auf (vgl. Achtenhagen 1984,
S. 3 f.).
Ein weiteres Problem einer Didaktik beruflicher Bildung ist die ungelöste Transferfrage. Oft
genug läßt sich feststellen, daß Wissen, das zur erfolgreichen Bearbeitung bestimmter Auf
gaben erworben wurde, nicht in andere Anforderungssituationen übertragen wird. Das Wis
sen ist zwar vorhanden, es wird aber nicht genutzt. Oder die Fonn des Wissens unterbindet
die Anwendung (vgl. Renkl1994, S. 6). Es konnte aufgezeigt werden, daß solches Wissen
zumeist als wenig bedeutsam angesehen und als nicht interessant eingestuft wird oder unter
Prüfungsangst aktualisiert werden soll, dann aber nicht zur Verfügung steht.
Schon die Alltagserfahrung lehrt, daß denkend erworbenes Wissen nicht notwendigerweise
handlungsbedeutsam sein muß. Dieses Phänomen wird als Dualismus von Denken und Han
deln bezeichnet und ist für eine Didaktik beruflicher Bildung von besonderer Bedeutung (~
LA, Theorie-Praxis-Problem). Nur solches Wissen kann als effektives Wissen bezeichnet
werden, das handelnd erworben und handelnd überprüft wurde. Löst sich dieser Zusammen
hang auf, beispielsweise weil Wissen um seiner selbst willen gelernt wird (Klausuren!), liegen
Prozesse des entkoppelten Lernens vor. Diese Prozesse werden dann als sinnloses Lernen
erfahren. Die Fonn des Wissenserwerbs um seiner selbst willen (pauken von Wissen!) ver
hindert, daß Wissen erfolgreich in Handlungen umgesetzt wird. Didaktische Konstruktionen,
die dieses Problem des entkoppelten Lernens nicht bedenken und erfolgreich bearbeiten, sind
praktisch bedeutungslos für die Beförderung beruflichen Lernens (vgl. Tenfelde & Uhe
1996, S. 115 ff.).
Große didaktische Positionen 161
3 Didaktik beruOichen Lernem und Lehrens auf der Grundlage großer didaktischer
Positionen
In ihrer Entwicklungsgeschichte haben sich die Didaktiken beruflichen Lernens und Lehrens
an verschiedenen Bezugsdisziplinen orientiert. Waren es zunächst die Fachwissenschaften,
an denen sie sich zu Beginn der Handelslehrer- und Gewerbelehrerausbildung anlehnten,
gewannen mit der Verlagerung der Gewerbelehrerausbildung an die Universitäten im Verlauf
der 1960er Jahre und der Einbindung der Handelslehrerausbildung in die wirtschafts- und
sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten auch andere Bezugsdisziplinen an Be
deutung. Zu diesen Bezugsdiszplinen zählen die Erziehungswissenschaft und die Didaktik.
Vor allem Modelle und Konzepte der Allgemeinen Didaktik wurden in den 1970er Jahren
für Zwecke der beruflichen Bildung rezipiert. Für mehr als ein Jahrzehnt waren sie die Foli
en, auf denen "Generationen" von zukünftigen Gewerbe- und Handelslehrern ihre didakti
schen Analysen und Konstruktionen vorbereiteten. Noch heute sind sie vor allem in der
zweiten Phase der Lehrerausbildung sehr beliebt Es lassen sich fünf große didaktische Posi
tionen ausmachen, an denen sich didaktisches Handeln in der beruflichen Bildung orientiert:
bildungstheoretische Didaktik, lehrtheoretische Didaktik, lernzielorientierte Didaktik, kri
tisch-kommunikative Didaktik sowie kybernetisch-informationstheoretische Didaktik.
Die älteste der großen didaktischen Positionen ist die bildungstheoretische Didaktik. Sie
ist ein Konzept der Unterrichtsvorbereitung auf der Grundlage einer "Theorie der Bildung"
(~ BWP, Pädagogik). Indem sie auf eine Theorie der Bildung gründet, macht sie zugleich
deutlich, daß sie an einen humanistischen Bildungsbegriff anknüpft. Der Bildungsbegriff
verweist auf ein Menschenbild, das schon Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pesta
lozzi, Friedrich D. E. Schleiermacher, Johann Friedrich Herbart und vor allem Wilhelm von
Humboldt verwendeten. Bildung bedeutet danach: Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie,
Mündigkeit, praktizierte Solidarität mit den Schwächeren in der Gesellschaft und Gestaltung
eines demokratischen Zusammenlebens. Im Bildungsbegriff spiegeln sich kulturelle Werte
des Abendlandes wider, die durch Bildung und Erziehung an die nachfolgenden Generatio
nen weitergegeben werden. Der Bildungsbegriff ist also eine regulative Idee für die Gestal
tung von Prozessen des Lehrens und Lernens. Er soll ein Maßstab sein, mit dem entschieden
wird, was gelehrt werden soll und was zurückzuweisen ist. Er trennt pädagogisch nicht ver
antwortbares von verantwortlichem Handeln.
Ein bedeutender Vertreter einer bildungstheoretischen Didaktik ist Wolf gang Klafki, ein
Schü1er von Erlch Weniger, der zu den Begründern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik
in der Bundesrepublik Deutschland gerechnet wird. In seinem Konzept der Unterrichtsvor-
162 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
bereitung ist der erste Schritt der didaktischen Analyse die Unterscheidung zwischen Bil
dungsinhalt und Bildungsgehalt. Indem aus dem besonderen Bildungsinhalt der allgemeine
Bildungsgehalt gehoben wird, entstehen die Lehrgegenstände. Für diesen Schritt hat Klafki
fünf Leitfragen formuliert (vgl. Klafki 1964, S. 15 ff.):
• Exemplarität: Was ist die exemplarische Bedeutung des Bildungsinhalts?
• Gegenwartsbedeutung: Welche Gegenwartsbedeutung hat er für die Schülerinnen?
• Zukunftsbedeutung: Worin liegt die Zukunftsbedeutung des Bildungsinhalts?
• Struktur: Welche Struktur weist der Bildungsinhalt auf?
• Zugänglichkeit: Wie wird der Bildungsinhalt den Schülerinnen zugänglich gemacht?
In einem weiteren Schritt erläutert Klafki sein Konzept der Unterrichtsvorbereitung, in dem
er ein Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung vorstellt (vgl. Schaubild 2).
Bedingungsanalyse: Analyse der konkreten, sozio·kulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer Lemgruppe (Klasse), des! der Lehrenden sowie der unterrichtsrelevanten (kurzfristig änderbaren oder nicht änderbaren) institutionellen Bedingungen, einschließlich mö licher oder wahrscheinlicher Schwieri keiten bzw. "Störun en"
(Begrundungszusammenhang)
1I Gegenwartsbedeutung 1
(themal. Struktur) (Bestimmung von Zugangs- und Darstellungs
möglichkeiten)
1L.::2,-,Z:c::u""k::::un",f::::tSbe=d::::eu""tu""n",g __ -,I~ 4 thematische Struk- 6 Zugänglichkeit bzw. Dar-tur (einseh!. Teillem- _ stellbarkeit (u. a. durch bzw. zielen und sozialer in Medien)
rc-----,--,---,--=--,--~I Lernziele) 3 exemplarische Bedeutung,
/ ausgedrückt in den allge-meinen Zielsetzungen der Unterrichtseinheit, des Projektes oder der Lehrgangssequenz
5 Erweisbarkeit und Überprüfbarkeit
Schaubild 2: Schema zur Unterrichtsplanung (vgl. Klafki 1980, S. 14)
(method. Strukturierung)
7 Lehr-LernProzeßstruktur verstanden als variables Konzept notwendiger oder möglicher Organisationsund Vollzugsformen des Lernens (einschI. sukzessiver Abfolgen) und entspr. Lehrhilfen, zugleich als
Interaktionsstruktur und Medium sozialer Lernvrozesse
Große didaktische Positionen 163
In diesem Konzept sind die Leitfragen enthalten und ergänzt durch weitere Fragen zur Un
terrichtsplanung. Darüber hinaus soll dieses Schema anregen, schrittweise bei der Unter
richtsplanung zu verfahren.
Ein Unbehagen an der eher akademischen Diskussion der bildungstheoretischen Didaktik,
starke Zweifel an der Gültigkeit des Bildungsbegriffes und wenig präzise Anleitungen zur
Gewinnung von Lehr-Lernzielen im Konzept der bildungstheoretischen Didaktik haben zwei
neue Theorien und Modelle befördert: die lehrtheoretische Didaktik und den lernzielorien
tierten Unterricht. Die lehrtheoretische Didaktik verstand sich als Theorie des Unterrichts.
Sie setzte im Unterschied zur bildungstheoretischen Didaktik nicht bei der regulativen Idee
des Bildungsbegriffs an. Statt dessen entwickelten Paul Heimann, Gunter Dtto und Wolf
gang Schulz eine einfache Grundstruktur der Prozesse, die Unterricht kennzeichnen (vgl.
Schaubild 3).
soziokulturelles Bedingungsfeld
Schaubild 3: Strukturanalyse von Unterricht (vgl. Heimann, Dtto & Schulz 1977)
164 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
Die lehrtheoretische Didaktik beschreibt Unterricht als das Zusammenwirken von Unter
richtsfaktoren. Aufgabe des Lehrers ist es, dieses Zusammenwirken zu beschreiben, zu ana
lysieren und zu konstruieren. Die lehrtheoretische Didaktik bindet sich dabei nicht an eine
Leitidee, die dem Bildungsbegriff vergleichbar wäre. Das Modell der lehrtheoretischen Di
daktik ist statt dessen ein offenes, fachdidaktisch indifferentes System, das ohne Festlegun
gen auszukommen meint Das System soll dem Lehrer eine wertfreie Betrachtung von Un
terricht ermöglichen. Darin ist wohl auch begründet, weshalb dieses Konzept der Unter
richtsanalyse und -planung bis zur heutigen Zeit gern verwendet wird. Kritik erfuhr dieses
Konzept nicht etwa durch die Unterrichtspraxis, sondern durch die Erziehungswissenschaft
Nachdem sich Wolfgang Schulz gründlich mit dieser Kritik auseinandergesetzt hatte, legte er
mit seinem sogenannten Hamburger Modell eine revidierte Fassung des Modells der lehr
theoretischen Didaktik vor (vgl. Schulz 1981). Das Hamburger Modell fand Zustimmung in
Wissenschaftskreisen, die Akzeptanz in der Praxis war jedoch eher gering. Es handelte sich
den Vorwurf ein, eine Feiertagsdidaktik zu sein, die für alltäglichen Unterricht zu komplex
ist und von unrealistischen Voraussetzungen für Unterrichtsplanung ausgeht
Das Konzept des lernzielorientierten Unterrichts will eine Lücke im Modell der lehrtheo
retischen Didaktik schließen. Es handelt sich bei dieser Lücke um den Faktor "Lernziele".
Die Leerstelle ergab sich dadurch, daß in der lehrtheoretischen Didaktik nicht angegeben
wurde, wie ein Lehrender zu seinen Lehr- und Unterrichtszielen gelangt, wie er diese be
schreibt und so formuliert, daß der Unterrichtserfolg daran gemessen werden kann. Es war
im deutschsprachigen Raum vor allem Christine Möller, die dieser Frage nachging und ein
didaktisches Konzept entwickelte, das unter dem Namen "lernzielorientierter Unterricht"
bekannt wurde (vgl. Möller 1973). Zwar ist es kein Didaktikkonzept, das die Analyse und
Konstruktion von Unterricht insgesamt anleiten konnte, es trug jedoch zur Systematisierung
der Lernzielgewinnung und -formulierung bei. In der didaktischen Praxis ist dieses Konzept
deshalb sehr schnell mit lehrtheoretischen Konzepten verknüpft worden. Schaubild 4 zeigt
aus einer solchen Verknüpfung des Modells der lehrtheoretischen Didaktik mit dem Konzept
des lernzielorientierten Unterrichts denjenigen Ausschnitt, in den Empfehlungen für die Ope
rationalisierung von Lernzielen eingearbeitet wurden.
Große didaktische Positionen
1. Klare Formulierung von Zielvorstellungen
Inhaltskomponente Verhaltenskomponente (Stimuluskomponente ) (Reaktionskomponente )
\~ ____ ~ ______________ -JI
+ Präzisierung • Was soll die Lernende tun? • Woran und unter welchen
Bedingungen soll er es tun? • Woran wird das richtige
Verhalten erkannt?
Feinziel (operat Lernziel)
2. Ordnung der Zielvorstellungen
Verhalten Inhalte
a) kognitiv I geordnete Lernziele b) affektiv
3. Entscheidung für Lernziele und Entscheidungsbegründung
Schaubild 4: Lernzielorientierter Strukturraster
165
Die große Beliebtheit von Planungskonzepten der lehrtheoretischen Didaktik führte sehr
schnell zu ihrer Schematisierung. Eine Schematisierung liegt dann vor, wenn die Bedingun
gen und Voraussetzungen eines didaktischen Modells nicht mehr geprüft werden. Darauf hat
insbesondere Rainer Winkel hingewiesen. Er zeichnet ein anderes Bild von Unterricht:
Schüler, die schwatzen, die unaufmerksam sind, sich aggressiv verhalten, miteinander strei
ten, sich gegen den Lehrer verbünden. Lehrer, die nur noch in ihrem Unterricht überleben
können, wenn sie sich mit Psychotricks, Drohungen oder Repressalien gegen ihre Schüler
durchsetzen, letztlich aber damit ihre eigene pädagogische Hilflosigkeit demonstrieren (vgl.
166 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
Winkel 1976). Auch in Berichten von Lehrern an beruflichen Schulen fmden sich solche Be
schreibungen wieder. Winkel leitet daraus die zentrale These ab, Unterricht sei gestörter
Unterricht und diese Störungen seien letztlich als Kommunikationsstörungen zu interpretie
ren. Dem Modell einer lehrtheoretischen Didaktik stellt er deshalb seinen Entwurf einer kri
tisch-konstruktiven Didaktik gegenüber. Als Bezugspunkte für diesen Entwurf dienen die
empirische Analyse von realem Unterricht, die Orientierung am obersten Lernziel der
Emanzipation sowie das kommunikative Herausarbeiten von Widersprüchen und von Lö
sungsmöglichkeiten für die handelnde Aufhebung dieser Widersprüche (vgl. Winkel 1980).
Wie diese Vorstellungen von einer kritisch-kommunikativen Didaktik auch in einen Unter
richt in einer Berufsfachschulklasse umgesetzt werden können, zeigt folgendes Beispiel (vgl.
Schaubild 5).
Thema: Das Bild der Frau in der Werbung Ziel: Schüler sollen Widersprüchlichkeiten im Grundgesetz und Werbung, zwischen
grundgesetzIich garantierten Werten und realer Werbepraxis erkennen und AlternativenlBeispiele humaner Werbung erarbeiten
Arrangement der Lem- und Kommunikationssituation (methodisch, medial, organisatorisch)
Vermittlungs- und Kommunikationshilfen
Lösungsschritte und Unterrichtsstationen
1. Anzeigensammlung I1.Leitfragen für die Analyse 1 1. S. erkennen Widerspruch 2. Auszüge aus GG, Art. 1-3,: auf Schülerarbeitsblatt : zwischen den Grundwerten _J_~nE$ß~~~~~~~~ ___ ~~9~~~~~ ____________ ~_Eg~~~~~~~~ ______ _ 3. Gegenüberstellung von 13. Vorbereitete Kärtchen mit 12. S. erarbeiten Katalog von
inhumaner Werbung und : Postulaten an humane : Anforderungen an humane Postulaten an humane : Werbung : Werbung Werbung (geteilte, groB- 1 1 ~ . P . b 1 1 lormauge apler ogen, 1 1
Schere, Klebstoff, Notiz- : : kärtchen) 1 1
4.EfstellenvonWerbetexten-~4.Baüsieilieftif---------b~s:-entwerfenäiierniltlve---und -bildern u. a. in : Anzeigenwerbung : humane Werbung mit
__ ~~~Q~~~~ ________ ~ __ ~~~~~E~ _______ ~_E~E~~E~~ ________ _ 5. Bewerten der Ergebnisse im 1 5. Thesenpapier zu den 14. S. diskutieren
Unterrichtsgespräch : Ausführungen des : Werbewirksamkeit mit 1 ''Werbefachmannes'' 1 "Werbefachmann"
Schaubild 5: BeIspiel emer Untemchtsplanung nach dem Modell der kritisch-kommunikativen Didaktik am Thema "Das Bild der Frau in der Werbung"
Große didaktische Positionen 167
Der Lehrplan für Berufsfachschulen sieht das Thema "Aufgaben und Arten der Werbung"
vor. Dieses Thema wird zunächst in ein anderes transferiert, das die Anforderungen des
Lehrplanes aufnehmen kann und zugleich ein kommunikatives Herausarbeiten von Wider
sprüchen und ein kommunikatives Autbeben dieser Widersprüche erlaubt: "Das Bild der
Frau in der Werbung". Das Planungsschema besteht aus Kurzbeschreibungen der Kommuni
kations- und Lernsituation, aus den gegebenenfalls einzusetzenden Vermittlungs- und Kom
munikationshilfen sowie einer Beschreibung wichtiger Lösungsschritte und zu erreichender
Unterrichtssituation.
Zunächst wurde den Schülern eine Anzeigenzusammenstellung mit sexistischer Werbung
und Auszügen aus dem Grundgesetz (Artikel 1-3, 5) mit der Hoffnung vorgelegt, daß sie
darüber in eine anregende Diskussion eintreten. Diese Erwartung erfüllte sich im Unter
richtsversuch jedoch nicht Eine erste Vermittlungshilfe in Form eines äußerst provozieren
den Gedichtes über Werbung mit Frauenbildern - überschrieben mit "Mann-oh-Mann" - so
wie Leitfragen für die Gedichtanalyse auf Schülerarbeitsblättern löste die erhoffte lebhafte
Diskussion aus. In deren Verlauf erkannten die Schüler einen Widerspruch zwischen den
Grundwerten des Grundgesetzes und der Praxis der Werbung mit Frauenbildern. Diese Er
kenntnis wurde systematisch an einer Gegenüberstellung von inhumaner Werbung und For
derungen an humane Werbung aufgearbeitet und mit Hilfe der Metaplantechnik zu einem
Anforderungskatalog an humane Werbung mit Frauenbildern verdichtet. Danach erstellten
die Schüler selbständig Werbetexte und -bilder in Gruppenarbeit mit Hilfe der Collagetech
nik. Sie bewerteten ihre Ergebnisse im Unterrichtsgespräch und präsentierten ihre Ergebnisse
in einer Ausstellung. Eingeladen war ein Werbekaufmann, der die Ergebnisse aus seiner
Sicht bewerten sollte. Seine Kritik fiel geradezu vernichtend aus und warf die Schüler
scheinbar auf ihre Ausgangssituation zu Beginn dieser Unterrichtseinheit zurück. Diese ver
teidigten jedoch ihre Erkenntnisse und Ergebnisse und diskutierten sehr kontrovers die un
terschiedlichen Sichtweisen auf Werbung mit Frauenbildern. Die für Unterrichtskommunika
tion notwendige dialektische Spannung, die zunächst mit der Präsentation von Arbeitser
gebnissen der Gruppe aufgehoben schien, wurde erneut aufgebaut: der Unterricht konnte in
ein neues Stadium treten.
Ein weiteres Modell, das sich aus der lehrtheoretischen Didaktik heraus entwickelt hat, ist
die kybernetisch-informationstheoretische Didaktik. Wie der Name schon sagt, hat dieses
Konzept zwei Bezugswissenschaften, die außerhalb der Erziehungswissenschaft liegen: die
Kybernetik als Wissenschaft von den sich selbst regelnden Systemen und die Informations
theorie als Theorie der Nachrichtenübermittlung zwischen technischen Systemen. Dieses
didaktische Modell erhielt seine speziflschen Sichtweisen auf Didaktik durch diese Bezugs-
168 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens
disziplinen. Lehren und Lernen werden im direkten Vergleich mit der Informationsübertra
gung zwischen technischen Systemen beschrieben. Kybernetisch heißt dieses Modell, weil es
wie bei einem Heizungssystem einen Regler mit eingestellten Meßwerten gibt, der die Pro
zesse der Nachrichtenübermittlung steuert und entsprechend den vorher eingestellten Steu
erwerten gegebenenfalls Korrekturen vornimmt (vgl. Schaubild 6).
El7.iehungsstrategie (LchlStra~teg:..ie':) _____ --j
Steuerung
Regler: Eu.ieher, Ausbilder als Planer
StörgrOßen (innere und äußere EinflUsse)
Ist·Wert
Reaktionen des Adressaten
Schaubild 6: Erziehung und Ausbildung als Regelkreis (von Cube 1980, S. 49)
Auch in der beruflichen Bildung hat dieses didaktische Konzept große Bedeutung erlangt im
Zusammenhang mit der Entwicklung der programmierten Unterweisung, sei es in Buchform
oder in Form des computerunterstützten Lernens. Nachdem dieses didaktische Modell etwa
Mitte der 1980er Jahre stark an Bedeutung verlor, weil es sich nur für Konzepte einer soge
nannten Instruktionsdidaktik und für "gesicherte" Lerninhalte zu eignen schien, ist es jetzt in
modernisierter Form wieder aktuell geworden (-+ LA, Konzepte schulischen Lernens).
Neue didaktische Leitideen. Ansiitze und Entwütfe
4 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens auf der Grundlage von neuen
didaktischen Leitideen, Ansätzen und Entwürfen
169
In den letzten Jahren entstanden in zunehmendem Maße Leitideen, Ansätze und Entwürfe,
die Handlungsorientierung als gemeinsamen Bezugspunkt haben. Das Kernstück der Hand
lungsorientierung ist der Handlungsbegriff. Der Handlungsbegriff ist so zentral, weil er aus
verschiedenen Perspektiven diskutiert und legitimiert werden kann (vgl. Schaubild 7).
IKOgnitive Psychologie
IReformpädagogik
~ /1 M .. ,';']i,""", L.---J Tätlgkeltstheone
IsystcmtheOrie
Theorie der
~ _''''''''''''''00 ~ ~(k","''''
Kritische Psychologie "'J Epistemologie
Biologisch-neurophysiologische Kognitionswissenschaften
Schaubild 7: Zugänge zu Handlung und Handlungsorientierung
So kann beispielsweise handlungsorientiertes Lernen und Lehren mit Hilfe der kognitiven
Psychologie gestaltet werden. Die Kognitionspsychologie beschäftigt sich mit der menschli
chen Informationsverarbeitung. Deshalb steht im handlungsorientierten Lernen und Lehren
die Gestaltung kognitiver Prozesse, d. h. die Gestaltung der Art von Informationen und der
170 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
Prozesse bei der Informationsaufnahme, Informationsspeicherung und Informationsverwer
tung, im Vordergrund (vgl. Dörner 1987; Mandl & Spada 1988). Ferner können Erkenntnis
se der genetischen Epistemologie herangezogen werden, um über die Entstehung, Verände
rung und Beförderung von Handlungsschemata aufzuklären (vgl. Piaget & Inhelder 1955).
Für die Gestaltung von beruflichem Lernen ist auch die materialistische Tätigkeitstheorie
bedeutsam. Sie zeigt inbesondere zu beachtende materiale Bedingungen und Voraussetzun
gen für Tätigkeit und Handeln auf (vgl. Leontjew 1975). Eng damit verknüpft ist die Theorie
der Handlungsregulation, die das Modell einer vollständigen Handlung als Möglichkeit für
Persönlichkeitsentwicklung vorgestellt hat (vgl. Hacker 1978; Volpert 1974). Auch die kriti
sche Psychologie bietet mit neuen Konzepten des Lernens einen Zugang zu Handlung und
Handlungsorientierung an (vgl. Holzkamp 1993). Neuere Entwicklungen in den Kogniti
onswissenschaften, die von den biologisch und neurophysiologischen Forschungen beeinflußt
wurden, stellen besonders die Bedeutung von Sprache und Kommunikation für die Beförde
rung von Handlungsfähigkeit und Handeln heraus (vgl. Maturana 1982). Auch soziologisch
systemtheoretische Ansätze befördern die Diskussion über Handlungsorientierung mit ihren
sozialtheoretisch akzentuierten Forschungen über gesellschaftliche Handlungsstrukturen und
gesellschaftliche Handlungssysteme (vgl. Lange 1970; Luhmann & Schorr 1979). Des weite
ren sind Anregungen für Handlungsorientierung im Sinne von Schüleraktivierung, Selbsttä
tigkeit und Projektarbeit in der Tradition reform pädagogischen Denkens entwickelt worden
(vgl. Gudjons 1992).
Der Begriff "Handlungsorientierung" führt also eine Vielzahl von unterschiedlichen wissen
schaftlichen Disziplinen und Ansätzen zusammen. Obwohl die Zugänge zum Konstrukt der
Handlungsorientierung und zum Handlungsbegriff sehr unterschiedlich sind, lassen sich die
se, über das Konstrukt von Handlungsorientierung vermittelt und aufgeschlüsselt nach Kate
gorien, auf didaktische Fragestellungen beziehen und zu Leitideen für handlungsorientierte
Innovationen verdichten (vgl. Schaubild 8).
Kategorien für handlungsorientierte Innovationen: • Dualismus von Denken und Handeln • Ringstruktur von Subjekt und Objekt • Schüleraktivierung • Handeln und Persönlichkeitsentwicklung • Verallgemeinerung von beruflicher Bildung • Historisches und ökologisches Bewußtsein
Leitideen für handlungsorientierte Innovationen: • Ausrichten didaktischen Handeins an Schlüs
selproblemen • Programmatik der Vermittlung von Schlüssel-
qualifikationen • Gestalten von Arbeiten und Technik • Dezentrales Lernen am Arbeitsplatz • Lernhandeln
Schaubild 8: Kategorien und Leitideen für handlungsorientierte Innovationen
Neue didaktische Leitideen, Ansätze und Entwürfe 171
Den Begründungen für handlungsorientiertes Lernen und Lehren ist gemeinsam, daß sie die
Annahme eines Dualismus von Denken und Handeln zurückweisen. Sie betonen, daß sich
das Denken, das Wissen und das Können aus dem praktischen Handeln und dem Wahrneh
men entwickelt, und daß sich Denken und Wissen wiederum im praktischen Handeln und in
der deutenden Wahrnehmung von Welt zu bewähren habe (Tram m 1991, S. 252).
Das Konstrukt der Handlungsorientierung hat auch die Diskussion zum Verhältnis von Sub
jekt und Objekt wieder neu angeregt. Handlungsorientierung verweist darauf, daß Objektivi
tät die Voraussetzung und Bedingung für subjektives Handeln ist und sich dieses subjektive
Handeln wiederum auf die Gestaltung von Objekten in der Umwelt bezieht. Diese über
Handlungsorientierung vermittelte Sichtweise erkennt Subjekt und Objekt in einer
Ringstruktur. Sie hebt sich damit deutlich ab vom klassischen naturwissenschaftlichen Den
ken in Ursache-Wirkungszusammenhängen.
Durch das Konstrukt der Handlungsorientierung rücken Schüler und Auszubildende mit ih
ren konkreten Handlungen in den Vordergrund didaktischer Überlegungen beruflichen Ler
nens und Lehrens. Schüleraktivierung wird als Aufforderung verstanden, die noch vorherr
schende Lehrerdominanz abzubauen und die Selbstorganisation und Selbsttätigkeit von
Schülern zu befördern. Über das Konstrukt Handlungsorientierung wird auch die Einsicht in
einen reflexiven Zusammenhang von Handeln und Persönlichkeitsentwicklung vermittelt. In
dieser Sichtweise bedingt die Handlungsstruktur die Persönlichkeitsentwicklung, und Per
sönlichkeitsentwicklung stellt ihrerseits die Bedingungen für die Veränderung von Hand
lungsstrukturen dar. Für Zwecke der beruflichen Bildung ist es demnach wichtig zu erken
nen, daß die Gestaltungsmöglichkeiten für berufliche Bildung immer auch in den Möglichkei
ten der Gestaltung einer vollständigen Handlung zu suchen sind.
Über das Konstrukt der Handlungsorientierung wird auch die Diskussion um eine Verallge
meinerung beruflicher Bildung angeregt. Die Forderung einer Verknüpfung von Kopf- und
Handarbeit, von geistigen und körperlichen Tätigkeiten, der Beförderung des abstrakten und
vernetzten Denkens fmden Eingang in Zielvorstellungen von einer Verallgemeinerung beruf
licher Bildung (~ Z, Berufliche Handlungsfähigkeit). Schließlich wird über Handlungsorien
tierung auch die Vorstellung vermittelt, daß historisches und ökologisches Bewußtsein in
Prozessen des beruflichen Lernens verknüpft werden müssen. In dieser Sichtweise wird be
rufliche Bildung nachhaltig daran erinnert, daß aktuelle Entwicklungen und Probleme in
Handlungen der Vergangenheit erzeugt wurden und daß in aktuellen Handlungen die Mög
lichkeiten für zukünftiges Zusammenleben bereits angelegt sind. Diese Erkenntnis gilt es
beispielsweise in die Bearbeitung ökologischer Problemstellungen einzubringen oder mit
Fragen zum Geschlechterverhältnis zu verknüpfen.
172 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
Die genannten Kategorien können sodann in Ansätze und Leitideen didaktischer Innovatio
nen im Feld der beruflichen Bildung, wie zuvor verdeutlicht, eingehen (vgl. Schaubild 8).
Auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik setzt mittlerweile die Diskussion über Klafkis
Vorschlag ein, jedes didaktische Handeln an Schlüsselproblemen auszurichten (vgl. K1atki
1985, S. 21 f.). Ein weiteres Beispiel ist in Versuchen einer Neubegründung der kritisch
kommunikativen Didaktik durch Erkenntnisse der empirischen Kommunikations- und
Sprachwissenschaften zu erkennen.
Die Programmatik der Vermittlung von SchlüsselqualifIkationen nach Reetz (1994, S. 4)
erfaßt das "Potential an Selbst-, Sozial- und Sach-/Methodenkompetenz, das hinter den je
weils aktuell abgeforderten Qualifikationen steht": In diesem Konzept wird die Persönlich
keit in den Mittelpunkt des didaktischen Interesses gestellt. Zuvor überbewertete Arbeitsan
forderungen werden im Konzept der Handlungsorientierung neu bewertet. In der Program
matik der Vermittlung von SchlüsselqualifIkationen treten solche Aspekte der Beförderung
von Handlungsfähigkeit hervor, die insbesondere das sacheinsichtige, sozialeinsichtige und
werteinsichtige Handeln befördern.
Die Leitidee der sozialen Gestaltung von Arbeit und Technik beruht auf der Einsicht in die
Möglichkeit und Notwendigkeit einer Gestaltung von Arbeit und Technik und der darin be
gründeten Entwicklung von Gestaltungskompetenz. Diese Leitidee verweist sehr nachdrück
lich auf die Nutzung vorfindlicher Handlungs- und Gestaltungsspielräume für eine Didaktik
des beruflichen Lernens. Dabei spielt besonders die schöpferische Qualität des selbstverant
wortenden Tuns eine Rolle (vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1993, S. 125
ff.; Rauner 1995, S. 52).
Die Konzeption des dezentralen Lernens am Arbeitsplatz fokussiert vor allem das betriebli
che Lernen (vgl. Dehnbostel1992; 1995). Es geht dabei um die Entwicklung und Erprobung
dezentraler Berufsbildungskonzepte, d. h. vor allem um das Lernen am Arbeitsplatz in der
Verknüpfung von Arbeiten und Lernen (~ LB, Arbeiten und Lernen; ~ LA, Betriebliches
Ausbildungspersonal). Wenngleich sich diese Anstrengungen gegenwärtig noch auf die
EntwiCklung geeigneter Methoden richten, soll zukünftig auch das Problem angegangen
werden, für dezentrales Lernen am Arbeitsplatz geeignete Inhalte zu fmden, diese zu struk
turieren und in betriebliches Lernen umzusetzen.
Aus den verschiedenen Handlungsformen wird das Lernhandeln als eine besonders relevante
Form für die Didaktik beruflichen Lernens herausgearbeitet. Dies gelingt durch eine deutli-
Neue didaktische Leitideen, Anslitze und Entwürfe 173
ehe Abgrenzung gegenüber Handlungsfonnen, die sich allein auf die Bewältigung von An
forderungssituationen beziehen. Beim Lernhandeln geht es dagegen um die Ausbildung der subjektiven Orientierungs- und Handlungsfähigkeit und den Auf- und Ausbau kognitiver Strukturen (vgl. Tramm 1992, S. 192). In diesem Zusammenhang könnte Handlungsorientie
rung auch dazu anregen, die Lehrerrolle neu zu entwerfen (~ LA, Professionalisierung).
174 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
5 Berufsschuldidaktik für Lernschwache und Begabte
Die Vorbildung von Schülern, die in eine Berufsausbildung eintreten wollen, hat sich be
trächtlich verändert: Der Anteil der Schüler ohne Hauptschulabschluß, die 1993 einen Aus
bildungsvertrag abgeschlossen haben,liegt nunmehr bei 3 %. Zugleich ist der Anteil der Be
rufsschüler mit allgemeiner oder Fachhochschulreife auf 13,8 % gestiegen (vgl. Bundesmi
nisterium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996). Dazwischen liegt
ein breites Feld sehr unterschiedlich qualifizierter Berufsschüler. Die Heterogenität zeigt sich
darüber hinaus auch an der Altersstruktur der Schüler und Schülerinnen, der Nationalität,
der sozialen Herkunft und der Lebensgeschichte von Schülern, die in eine Berufsausbildung
eintreten. Diskutiert wird dieses Problem der Heterogenität derzeit unter dem Aspekt von
Begabung und Benachteiligung. Auf der einen Seite stehen die Begabten, die durch die der
zeitigen Leistungsanforderungen in der beruflichen Bildung unterfordert sind und die mehr
aus ihren Leistungspotentialen machen können und wollen. Auf der anderen Seite stehen die
Benachteiligten, die durch sie behindernde Bedingungen nicht an die "Normalleistung" her
anreichen.
Das System der Berufsbildung muß auf diese Problemlage eine Antwort fmden, wenn es
weiterhin einen Beitrag zur Integration von Jugendlichen in die Sozialsysteme unserer Ge
sellschaft leisten soll (~BWP, Beruf). Gleichwohl sind die Bedingungen für eine erfolgrei
che Bewältigung besonders schwierig. Die Schwierigkeit ergibt sich zum einen aus der
Vielfalt der möglichen Ausprägungsformen von Lernschwächen und zum anderen aus den
vielzähligen Möglichkeiten, als begabt oder besonders leistungsfähig eingestuft zu werden.
Zu den Ausprägungsformen von Benachteiligungen zählen zum Beispiel Entwicklungsrück
stände im geistigen Bereich, im sprachlichen Bereich, im Gefühlsbereich sowie im Sozialver
halten. Im geistigen Bereich können beispielsweise Probleme bei der Wahrnehmung, der
Erinnerung, der Konzentration und der Aufmerksamkeit auftreten. Im sprachlichen Bereich
behindern ein verringerter Wortschatz, erschwerte Wortfmdung, Rechtschreibschwierigkei
ten sowie Störungen im Leseverständnis u. a., im Gefühlsbereich Mißerfolgsängste und ex
treme Beeinflußbarkeit von außen. Im Bereich des Sozialverhaltens zeigen sich Entwick
lungsrückstände vielfältiger Art.
Jugendliche mit unterschiedlichen Voraussetzungen sollen aber dennoch im dualen System
gemeinsam lernen. Das duale System bietet hierfür günstige Voraussetzungen. Es kennt we
der besondere Eingangsprüfungen oder ZertifIkate noch unterschiedliche Ausbildungsanfor
derungen während der Berufsausbildung (~ R, QualiflZierungsvoraussetzung und Qualifi-
Berujsschuldidaktikfiir Lemschwache und Begabte 175
kationsverwertung). Darüber hinaus zeichnet sich das duale System durch einheitliche Ab
schlüsse am Ende der Berufsausbildung aus (vgl. Manstetten 1996a, S. 2). Dennoch muß
sich das duale System der Forderung nach einem differenzierten Ausbildungsangebot stellen.
Für die Lernbehinderten hat das Berufsbildungsgesetz mit § 48 eine besondere Möglichkeit
geschaffen. Es handelt sich hierbei um spezifische Maßnahmen der beruflichen Bildung, bei
denen der Berufsausbildungsvertrag des Behinderten ins Verzeichnis der Berufsausbildungen
eingetragen wird und der Behinderte gegebenenfalls zur Abschlußprüfung zugelassen wird.
Für Lernschwache z. B. mit spezifischen Ausprägungen von Entwicklungsrückständen und
für Jugendliche ohne Hauptschulabschluß existieren verschiedene Fördermaßnahmen. Diese
können der Vorbereitung auf eine Berufsausbildung oder dem erfolgreichen Berufsabschluß
dienen. Zudem gibt es Maßnahmen, die zum nachträglichen Erwerb eines Abschlusses in
einem anerkannten Ausbildungsberuf fUhren. Berufsvorbereitende Maßnahmen werden von
der Arbeitsverwaltung finanziert und insbesondere von freien Trägern und Betrieben angebo
ten. Hierunter fallen Förderungslehrgänge, die ein gelenktes Betriebspraktikum enthalten
und eine sozialpädagogische Betreuung vorsehen, Grundausbildungslehrgänge sowie Infor
mations- und Motivationslehrgänge (vgl. Rademacker 1993, S. 62).
So können beispielsweise Jugendliche in Nordrhein-Westfalen an einem sogenannten
"Kombi-Projekt" mit Berufsschule und betrieblicher Praxis teilnehmen. Diese "Schulen der
zweiten Chance" wollen vor allem lernschwache und benachteiligte Jugendliche ansprechen:
An drei Tagen pro Woche arbeiten die Jugendlichen als Praktikanten in Handwerks- und
Industriebetrieben, an zwei Tagen besuchen sie die Berufsschule. Die einjährige Ausbildung
wird aus Mitteln der Europäischen Union und des Landes fmanziert. Entscheidend für das
Gelingen des Projektes ist vor allem die Bereitschaft von Betrieben, Praktikumsplätze zur
Verfügung zu stellen und die Jugendlichen nach einem Jahr in die Regelausbildung zu über
nehmen.
Neben den berufsvorbereitenden Maßnahmen des Arbeitsamtes gibt es auch schulische
Maßnahmen, die zur Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereiten und befähigen sollen, wie
beispielsweise das Berufsvorbereitungsjahr und das Berufsgrundschuljahr (~ LS, Berufli
ches Schulwesen). Während der Berufsausbildung erhalten lernschwache Jugendliche oder
Jugendliche ohne Hauptschulabschluß beispielsweise eine besondere Förderung im Rahmen
von ausbildungsbegleitenden Hilfen, die durch die staatlichen Benachteiligungsprogramme
fmanziert werden und im Arbeitsförderungsgesetz rechtlich verankert sind, sozialpädagogi
sche Betreuung und Stützunterricht, z. B. bei Lese- und Rechtschreibschwächen. Wer bei
spielsweise keinen Ausbildungsplatz bekommen hat, wechselt in die Vorklasse der Berufs-
176 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
schule. Hier können benachteiligte Jugendliche, wie zum Beispiel ausländische Jugendliche
und junge Aussiedler, zusätzlich zum normalen Unterricht eine intensive Sprachschulung
erhalten. Wer dann die Vorklasse bewältigt, wechselt im nächsten Jahr in das Berufsgrund
schuljahr und kann schließlich noch den Hauptschulabschluß erreichen.
Bei den Maßnahmen zum Nachholen von Berufsabschlüssen handelt es sich in aller Regel
um Modellversuche. Ein Beispiel hierfür ist der Modellversuch "Arbeit und Qualiflzierung -
eine integrierte Maßnahme für junge Erwachsene, die bisher ohne Berufsausbildung geblie
ben sind". Mit Hilfe eines modularisierten Ausbildungsmodells (---? P, Modularisierung) und
einem individuellen Förderplan je Teilnehmer und Teilnehmerin, der auch sozialpädagogi
sche Betreuung beinhaltet, werden ungelernte junge Erwachsene zu folgenden Berufsab
schlüssen geführt: Maler, Lackierer, Kaufmann im Einzelhandel sowie Fachverkäufer im
Nahrungsmittelhandwerk. Diese Maßnahme wird nach dem Arbeitsplatzförderungsgesetz
gefördert und erfolgt in drei Phasen. Einer bis zu einem halben Jahr dauernden Orientie
rungsphase schließt sich die eigentliche Qualiflzierungsphase für drei Jahre an. Beiden Pha
sen parallel geschaltet ist jeweils eine Teilzeittätigkeit in einem Betrieb. Nach Abschluß der
Qualiflzierungsmaßnahme werden die Teilnehmer noch weitere drei Monate betreut
Darüber hinaus können Lernschwache und Jugendliche ohne Hauptschulabschluß auch durch
ein spezifIsch differenziertes Lernangebot gefördert werden, beispielsweise durch eine zeitli
che Differenzierung der Berufsausbildung. Des weiteren kann das Lernangebot curricular auf
die besonderen Lernvoraussetzungen zugeschnitten und auf die besonderen Lernbedürfnisse
von Lernschwachen didaktisch-methodisch ausgelegt werden.
Eine zeitliche Differenzierung des Lernangebots bedeutet in der Regel, Berufsausbildung zu
verlängern (analog zur Ausbildungsverkürzung bei Abiturienten). Zur curricularen Differen
zierung führen verschiedene Wege. Ein erster Weg führt über die Einrichtung von Ausbil
dungsgängen mit unterschiedlichen Anforderungen, zum Beispiel über Ausbildungen mit
einem theoriegeminderten Ausbildungsanteil oder über eine Stufenausbildung. Dieser Weg
ist jedoch als sehr problematisch einzuschätzen, weil er auf eine pädagogisch reflektierte
Bearbeitung des Problems von Lernschwachen verzichtet Er schreibt deren Probleme fest
und weist Lernschwache statt dessen über spezifIsche Ausbildungen auf Arbeitsplätze ein,
die weniger Qualifikation anfordern. Dieser Weg stellt eher ein Steuerungsinstrument dar,
mit dem minderqualiflZierte Jugendliche anforderungsreduzierten Arbeitsplätzen im Be
schäftigungssystem zugeführt werden sollen. Ob diese Arbeitsplätze aber tatsächlich zur
Verfügung stehen, ist zweifelhaft Auch das Stufenmodell ist bildungspolitisch als problema-
Berufsschuldidaktikfür Lernschwache und Begabte 177
tisch einzuschätzen. Es wird jetzt erneut in die Diskussion eingebracht, obwohl es doch ge
rade durch das Ausbildungsverhalten der Auszubildenden praktisch abgewählt worden war.
Ein zweiter Weg führt über eine curriculare Binnendifferenzierung des Lernangebots. Damit
ist eine Profllierung von Bildungsgängen gemeint, die den unterschiedlichen Lernanforde
rungen entsprechen. Zum Beispiel werden in der Ausbildung für Friseure Ausbildungsgänge
für leistungsschwächere Auszubildende und für leistungsstärkere angeboten. Innerhalb dieser
Ausbildungsgänge bestehen darüber hinaus Möglichkeiten der individuellen Gestaltung der
Ausbildung in Wahlpflichtbereichen (vgl. Enggruber 1994). In solchen Wahlpflichtbereichen
können die Jugendlichen ihre individuellen Neigungen und Leistungsstärken einbringen. Der
dritte Weg für Lernschwache führt über die Berufsvorbereitung des Arbeitsamtes und ge
stützte Berufsausbildungen. Dieser Weg beginnt mit einjährigen Förderlehrgängen des Ar
beitsamtes, dem sich eine Berufsausbildung mit ausbildungsbegleitenden Hilfen anschließt
(s.o.).
Für eine didaktische Differenzierung für Lernschwache stehen mehrere Konzepte bereit. Ein
didaktisches Konzept setzt an der Idee des Lernens als Strukturmodiflkation an. Hier wird
zumeist mit Hilfe der didaktischen Reduktion der Lehrstoff vereinfacht und auf die begrenz
ten Lemmöglichkeiten zugeschnitten. Ein zweites didaktisches Konzept verwendet das
Prinzip des anwendungsorientierten Lernens. Im häuflgen Wechsel von Theorie und Übung
werden die theoretischen Anforderungen zurückgefahren. Diesem Konzept liegt die Erfah
rung zugrunde, daß es den Lernschwachen zumeist an der Fähigkeit zum analytischen Den
ken und an Abstraktionsfähigkeit mangelt, womit eine Überforderung in theoretischer Hin
sicht einher geht. Ein weiteres didaktisches Konzept setzt ganz auf die Lernfördermöglich
keiten des problemlösenden Lernens, in denen die Lerner mit (komplexen) Problemen zum
Beispiel in Form von Fällen konfrontiert werden. Ein viertes Konzept orientiert sich an den
produktiven Möglichkeiten von Lernschwachen im handlungsorientierten Lernen. Dieser
didaktische Ansatz geht nicht so sehr von den Lernschwächen und Lernstörungen von Aus
zubildenden aus, sondern setzt an den besonderen Lernanforderungen im Dualismus von
Denken und Handeln an. Wenn nämlich im handlungsorientierten Lernen entkoppelte Lern
prozesse möglichst vermieden werden, werden Überforderungen durch einseitiges theoreti
sches Lernen abgeschwächt und zugleich die Möglichkeiten für integriertes Lernen gestei
gert, aus dem auch Lernschwache einen Nutzen ziehen können.
Im Gegensatz zu Lernschwachen wurden besonders begabte und leistungsfähige Jugendliche
in der beruflichen Bildung bislang weitgehend vernachlässigt, möglicherweise auch dadurch,
178 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens
daß weder Berufsbildungsgesetz noch Handwerksordnung auf diese Gruppe von Jugendli
chen explizit eingehen. Zwar gab es bereits in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts
deutschsprachige Arbeiten zur Förderung von Begabten im technischen Bereich und im
Handwerk, doch
" ... ganz in der Tradition des neuhumanistischen Bildungsdenkens werden bislang Begabungen primär im Kontext klassischer Bildungsinhalte gefördert. Offensichtlich wird das Klientel der Berufsbildung als Bildungsrestmenge eingeschätzt, so daß besondere Leistungsfahigkeit und Begabung hier erst gar nicht vermutet werden" (Manstetten 1996a, S. 17).
Erst mit dem Begabtenförderungsprogramm der Bundesregierung von 1991 rückte dieses
Thema in den Blickpunkt des Interesses. Adressaten waren begabte junge Fachkräfte, die
durch Stipendien im Bereich der Weiterbildung gefördert werden sollten. Über die Vergabe
dieser Stipendien entschieden die Zuständigen Stellen (~ B, Institutionen und Organsiatio
nen). Maßgebend war in der Regel die Note aus der Berufsabschlußprüfung (vgl. Fauser &
Schreiber 1996, S. 243). Gefördert wurden zu gleichen Teilen junge Frauen und Männer.
Häufiger gefördert wurden junge Fachkräfte mit (Fach-)Hochschulreife und seltener hinge
gen junge Erwachsene mit Hauptschulabschluß (vgl. Fauser & Schreiber 1996, S. 244). Zu
beachten ist, daß sich dieses Forschungsprojekt ausschließlich auf die Förderung junger be
rufstätiger Erwachsener im Rahmen der Weiterbildung bezieht.
Eine schriftliche Befragung bei allen 16 Kultusministerien ergab im Jahr 1993, daß nur 44
Maßnahmen einer leistungs- und begabungsfördernden Differenzierung bereits während der
Berufsausbildung zuzurechnen waren (vgl. Manstetten 1996b, S. 25). Als curriculare Diffe
renzierungen für Leistungsstärkere lassen sich Spezialklassen, Leistungskurse, Zusatzunter
richt sowie doppelqualifizierende Lehrangebote nennen. Allerdings ist darunter nur eine
Maßnahme zu fmden, die explizit auf die Leistungsfahigkeit von Berufsschülern und Berufs
schülerinnen abhebt (vgl. Manstetten 1996b, S. 78). Darüber hinaus dominieren die soge
nannten Abiturientenmodelle, in denen vor allem die Theorieteile der Ausbildung beträchtlich
gesteigert werden. Ein Beispiel hierfür sind die Ausbildungen zum Industriekaufmann mit
zusätzlichem Hochschulstudium an der Fernuniversität Hagen, die Ausbildung nach dem
sogenannten Hamburger Modell, die sich an den Anforderungen eines Fachhochschulstudi
ums orientiert, oder die Ausbildung an den Berufsakademien. Ernüchternd läßt sich diesbe
züglich aber feststellen, daß diese Angebote
"eher im Hinblick auf den allgemeinen Bildungsabschluß Abitur hin konzipiert sind und weniger im Hinblick auf besondere berufliche Leistungsfahigkeit von Jugendlichen" (Manstetten 1996b, S. 79).
literatur 179
Literatur
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Rahmenbedingungen
Strukturbegriff: Ausbildung der Lehrer ~:::=""-I---~f.-jI~~~l'\I--t==~
Ausbildung der Lehrer und der '" Zielsetzungen
und der Ausbilder Ausbilder
1 Lehrer: Fachmann und Pädagoge
Lernort
Betrieb
Ein Lehrer muß Fachmann und Pädagoge zugleich sein; seine Tätigkeit erfordert den Fach
mann, wenn es gilt, sich einen Überblick über das Lehrgebiet und die darin vertretenen
Lehrmeinungen zu verschaffen, Lehrinhalte auszuwählen, zu systematisieren und unter
fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Als Pädagoge ist er vielfältig gefordert.
Zu seinen pädagogischen Aufgaben zählt auch die Beratung. Der Deutsche Bildungsrat
(1970, S. 217 ff.) nennt die fachunterrichtliche Beratung, die Erziehungsberatung, die
Schullaufbahn- und Berufsberatung sowie die Beratung von Eltern, Schülern, Berufsberatern
und betrieblichen Ausbildern. Zu seinen Aufgaben wird auch das Erziehen und Beurteilen
gezählt, die sich angesichts der inhomogenen Schülerklientel als zunehmend problematisch
erweisen. Lehrer müssen außerdem Verwaltungsaufgaben übernehmen und an curricularen,
didaktisch-methodischen und schulorganisatorischen Reformen mitarbeiten.
Der Lehrer ist weiterhin Lehrender. Er vermittelt Kenntnisse und Fertigkeiten, macht Zu
sammenhänge im Lernprozeß transparent und befördert Verständnis und Problembewußtsein
bei den Schülern. Er regt den Transfer des Gelernten in Anwendungsbereichen an, fördert
Motivation, problemlösendes und kreatives Handeln sowie die Kooperation in der Lern
gruppe. Die fachdidaktischen Aufgaben des Lehrers werden vom Deutschen Bildungsrat
(1970, S. 225) genauer spezifiziert: Gewinnen von Lernzielen aus der Fachwissenschaft,
Entwickeln von Modellen des Unterrichtens, Überprüfen der Lehrpläne und facherübergrei-
184 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
fendes und interdisziplinäres Verknüpfen von Gehalten des Faches (~D, Didaktik - Fachdi
daktik).
Der Lehrer ist deshalb als Fachmann, Erziehungswissenschaftler und Fachdidaktiker zugleich
gefordert (vgl. Arnold 1990, S. 13 ff.). Diesen Qualiftkationsanforderungen entsprechend ist
das Studium für das Lehramt an berufsbildenden Schulen organisiert. Es gliedert sich in eine
berufliche Fachrichtung bzw. einen fachwissenschaftlichen, einen erziehungs- und gesell
schaftswissenschaftlichen sowie einen fachdidaktischen Anteil. Kontroverse Vorstellungen
bestehen allerdings darüber, wie diese Studienanteile im Lehrerstudium zu gewiChten sind
und wie eine Verknüpfung dieser Anteile zu erreichen ist. Durch Vereinbarungen der Kul
tusministerkonferenz von 1973 und 1995 (~B, Institutionen, Organisationen und Konflikt
linien) nimmt die berufliche Fachrichtung bzw. die Fachwissenschaft etwa die Hälfte der zu
studierenden Semesterwochenstunden in Anspruch. Die andere Hälfte wird auf die erzie
hungs- und gesellschaftswissenschaftlichen und die fachdidaktischen Studienanteile im Ver
hältnis 5:3 verteilt. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz müssen in den Ländern um
gesetzt werden. Daß es dabei zu beträchtlichen Abweichungen kommen kann, zeigt folgende
Untersuchung. Bader und Kreutzer (1994) analysierten die Studien- und Prüfungsordnungen
von 39 Hochschulen mit insgesamt 145 Studiengängen auf deren Aussagen zur Fachdidak
tik. Es zeigte sich dabei der nach wie vor geringe Stellenwert der Fachdidaktik im Rahmen
der Berufsschullehrerausbildung. Dieser äußert sich im zeitlichen Umfang der fachdidakti
schen Anteile im Studium. So fmden sich in den Ordnungen, die überhaupt fachdidaktische
Pflichtveranstaltungen aufführen, im Durchschnitt 6,3 Semesterwochenstunden fachdidakti
sche Veranstaltungen an den verschiedenen Hochschulen und Studiengängen. Das Minimum
liegt bei 3 Semesterwochenstunden und das Maximum bei 10 Semesterwochenstunden. Al
lerdings gibt es auch acht Studiengänge, die ohne jegliche fachdidaktische Pflichtveranstal
tung auskommen (vgl. Bader & Kreuzer 1994, S. 54)!
Über Möglichkeiten einer Verknüpfung der Studienanteile bestehen unterschiedliche Vorstel
lungen. Über die Stellung und Bedeutung der beruflichen Fachrichtungen bzw. Fachwissen
schaften gibt es verschiedene Ansichten. Diese Ansichten lassen sich in unterschiedlichen
Ansätzen einer Verknüpfung der Fachwissenschaften mit den anderen Studienanteilen nach
weisen (vgl. Bader 1995, S. 325). Ein erster Verknüpfungsansatz ist die Entwicklung einer
eigenständigen Wissenschaftskonzeption ("Berufliche Fachwissenschaft"). Ein zweiter An
satz ist das auf Berufsausbildung ausgerichtete fachwissenschaftliche Lehrangebot. In einem
dritten Ansatz werden fachwissenschaftliche Lehrangebote durch die Beteiligung von Fach
vertretern der Berufspädagogik und der Fachdidaktiken ausgewählt. In einem vierten Ansatz
entscheiden schließlich die Vertreter der Fachwissenschaften allein über das fachwissen-
Lehrer: Fachmann und Pädagoge 185
schaftliche Lehrangebot. Die Situation kann sich allerdings dadurch noch komplizierter ge
stalten, daß innerllalb des Lehramtsstudienganges verschiedene Ansätze zusammentreffen.
So sind beispielsweise in Hamburg der zweite Ansatz eines auf Berufsausbildung ausgerich
teten fachwissenschaftlichen Lehrangebots für die Gewerbelehrerausbildung und der vierte
Ansatz für die Handelslehrerausbildung, bei dem allein die Vertreter der Fachwissenschaft
über das fach wissenschaftliche Lehrangebot entscheiden, in einem gemeinsamen Studiengang
"Lehramt Oberstufe - Berufliche Schulen" anzutreffen.
Für die Verknüpfung der Fachdidaktik mit den anderen Studienanteilen wird zwar das Mo
dell der Integration favorisiert, d. h. einer hochschuldidaktischen Abstimmung zwischen der
beruflichen Fachrichtung bzw. den fachwissenschaftlichen, erziehungs- und gesellschaftswis
senschaftlichen und fachdidaktischen Anteilen. Gleichwohl beschränken sich Bemühungen
um eine Integration auf die Frage einer Eingliederung der Fachdidaktik entweder in die Er
ziehungswissenschaft oder die Fachwissenschaften. An den meisten Universitäten wird die
Fachdidaktik den jeweiligen Fachwissenschaften und deren Fakultäten zugeordnet. In der
Untersuchung von Bader und Kreutzer (1994, S. 56) ist dies bei insgesamt 95 Studiengän
gen der Fall. In wenigen Fällen, dies gilt für insgesamt 20 Studiengänge, fmden sich die
Fachdidaktiken in den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten wieder. In 10 Studiengängen
bilden die Fachdidaktiken eigenständige Institute. Regelhaft wird die Fachdidaktik mittler
weile bei der beruflichen Fachrichtung bzw. den Fachwissenschaften angesiedelt, ohne daß
sich die Fachwissenschaft dabei auf die Fachdidaktik einzulassen hat. Eines der wenigen
Konzepte, das von dieser Regel abweicht, konnte an der Technischen Universität Berlin um
gesetzt werden. Dort werden in den beruflichen Fachrichtungen Elektrotechnik, Meta11tech
nik sowie Bauingenieurtechnik circa 20 Semesterwochenstunden für den lehrerspezifischen
Bereich ausgewiesen. Innerhalb dieser 20 Semesterwochenstunden werden den Studierenden
in hohem Maße Wahlmöglichkeiten eingeräumt. In der Fachrichtung Elektrotechnik können
beispielsweise im Hauptstudium aus zehn angebotenen Bereichen zwei für Prüfungen ge
wählt werden. Diese Bereiche sind: Elektrische Maschinen, Starkstromanlagen, Leistungse
lektronik, Meßtechnik, Regelungstechnik, Telekommunikationstechnik, Hochfrequenztech
nik, Informationstechnik, Elektronik und Halbleitertechnik. Teilweise werden Veranstaltun
gen aus diesen Bereichen gemeinsam von Fachwissenschaftlern, Fachdidaktikem und Berufs
pädagogen durchgeführt.
186 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
2 Professionalisierung der Lehrerausbildung
Ende des letzten Jahrhunderts forderte der Deutsche Verband für das kaufmännische Unter
richtswesen ein Gutachten über die Notwendigkeit an, Handelshochschulen einzurichten
(vgl. Schötz 1984, S. 117). Das Ergebnis dieses Gutachtens führte dann in den Jahren 1898
bis 1908 zur Gründung von Handelshochschulen in Leipzig, Köln, Frankfurt am Main, Ber
lin, Mannheim, München, Königsberg und Aachen. 1900 legten an der Handelshochschule
Leipzig die ersten vier Kandidaten eine Lehramtsprüfung ab. Bis dahin wurden für die Tätig
keit an berufsbildenden Schulen in der Regel Volksschullehrkräfte in mehrwöchigen Fortbil
dungskursen vorbereitet.
An den Handelshochschulen erfolgte dann die gemeinsame Ausbildung von Kaufleuten und
Handelslehrern. Die Zulassungsvoraussetzungen, die Studiendauer und auch die Prüfungs
bestimmungen waren allerdings sehr heterogen. Anfang der 1920er Jahre wurden die Han
delshochschulen zu wissenschaftlichen Hochschulen. Seit Mitte der 1920er Jahre schließen
diese vollakademischen Studiengänge mit dem Grad des Diplom-Handelslehrers ab (vgl.
Pleiß 1987, S. 403). Schließlich wurde 1937 eine Ordnung für die Diplomprüfung für das
Handelslehramt aufgestellt, die eine mindestens sechssemestrige Studiendauer vorsah (vgl.
Schötz 1987, S. 4).
Die Entwicklung der Gewerbelehrerausbildung verlief hierzu unterschiedlich. Der Beginn der
geordneten Ausbildung von Berufsschullehrern kann in der Gründung von Polytechnischen
Schulen gesehen werden (vgl. Stratmann 1994, S. 3). Allerdings setzten sich diese nicht
durch. Von 1910 an wurden für Lehrer gewerblicher Fortbildungsschulen Kurse angeboten,
die durch spezielle Gewerbelehrerseminare abgelöst wurden. Mitte bzw. Ende der 1920er
Jahre wurde dann die Ausbildung der Gewerbelehrer in der Regel an Berufspädagogische
Institute verlagert, die allerdings kein Promotionsrecht besaßen. Lediglich an der Universität
Dresden war es möglich, eine akademische achtsemestrige Ausbildung zum Gewerbelehrer
aufzunehmen (vgl. Bloy 1991, S. 158; DrechseI 1991, S. 576). Mit der Verlagerung der
Ausbildung an die Universitäten bzw. Technischen Hochschulen Mitte der 1960er Jahre war
schließlich die Akademisierung der Gewerbelehrerausbildung vollzogen. Analog zur Han
delslehrerausbildung orientierte sich die Gewerbelehrerausbildung fortan an den bereits be
stehenden Studiengängen und deren Berufsbildern, hier insbesondere den Ingenieurwissen
schaften (vgl. Lipsmeier 1992, S. 285; Stratmann 1994, S. 13).
Gut dreißig Jahre später stellte sich das Problem einer Reform der Ausbildung von Lehrern
für berufsbildende Schulen erneut. Mit der Akademisierung der Gewerbelehrerausbildung
Professionalisierung der Lehrerausbildung 187
war zwar eine formale Gleichstellung mit den Gymnasiallehrern erreicht, die damit erhoffte
Professionalisierung erwies sich jedoch als deftzitär. Mit der ausgeprägten fachlichen Orien
tierung im Studium der Lehrer an berufsbildenden Schulen waren zwar günstigere Voraus
setzungen für den Erwerb fachlicher Qualifikationen gegeben, auf die sich rasch verändern
den bzw. steigenden pädagogischen Anforderungen wurden die Lehrenden jedoch nicht hin
reichend vorbereitet. Als besonders deftzitär erwies sich eine unzureichende Verklammerung
von Fach- und Erziehungswissenschaft und die darin begründeten Schwierigkeiten, fachwis
senschaftliche Inhalte unter pädagogischen Fragestellungen aufarbeiten zu können. Beson
ders aus pädagogischer Perspektive betrachtet, war zu kritisieren, daß das Ziel der berufli
chen Tüchtigkeit das nur pädagogisch zu erschließende Ziel der beruflichen Mündigkeit
überlagerte. Pädagogische Ziele können aber nur in enger Anbindung der Lehrerausbildung
an pädagogische Praxis verfolgt werden. Damit in Einklang stehen gegenwärtige Forderun
gen, die Lehrerausbildung aus einer vermeintlich überzogenen Wissenschaftsorientierung
herauszuführen und sie dafür an die praxisorientierten Fachhochschulen zu verlagern.
Diesen Vorstellungen von einer Reform der Lehrerausbildung für berufsbildende Schulen
wird aber besonders von der Kommission Berufs- und Wirtschaftspädagogik innerhalb der
Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft entgegengehalten (vgl. Deutsche Gesell
schaft für Erziehungswissenschaft 1990, S. 672 f.): Lehrerausbildung ist grundständig zu
organisieren. Die für berufliche Schulen nötige Differenzierung ist durch Diplomstudiengän
ge anstelle der Lehramtsstudiengänge mit dem Ziel der Staatsprüfung zu sichern. Die Be
rufs- und Wirtschaftspädagogik sollte in diesem Diplomstudium einen eigenen Schwerpunkt
bilden. Diese Forderung wurde mit der Idee, integrierte Praktika anzubieten, verknüpft.
Darüber hinaus wurde diskutiert, wie ein breit gefächertes Angebot an Studiengängen gestal
tet werden könnte, beispielsweise auch dadurch, daß Spezialisierungsmöglichkeiten auch für
außerschulische Tätigkeitsfelder eingerichtet werden (vgl. Kutscha 1992, S. 120 ff.).
Alle Bemühungen um eine kontinuierliche und systematisch angelegte Professionalisierung
der Lehrerbildung werden aber in regelmäßigen Abständen unterlaufen durch Sparmaßnah
men der öffentlichen Haushalte und undifferenzierte Mahnungen der Kultusministerkonfe
renz (~ B, Institutionen und Organisationen) vor einem drohenden Lehrerüberangebot. Die
ständig sie begleitende Angst von Referendaren und Studierenden, später nicht in den
Staatsdienst eingestellt zu werden, führt derzeit zu starken Rückgängen bei den Studienan
fängerzahlen und häuftgeren Studienabbrüchen und Studienwechseln. Aber auch verschlech
terte Laufbahnbedingungen, zunehmend längere Ausbildungszeiten für Lehrer sowie das
bestehende System der Lehrerausbildung an sich erschweren die Umsetzung systematisch
angelegter Konzepte der Lehrerausbildung (vgl. Weber 1993, S. 154 f.). Die Konsequenzen
188 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
einer zurückgehenden Lehrerausbildung zeigten sich aber schon wiederholt und in früheren
Jahren: die quantitativ unzureichende Lehrerversorgung über Lehrerausbildung mußte durch
sogenannte Notlösungen wieder abgefangen werden. Hierzu gehören beispielsweise die Zu
lassung von Absolventen aus Hochschul- und Fachhochschulstudiengängen verwandter Dis
ziplinen wie Jura, Ingenieurwissenschaften, Medizin und Wirtschaftswissenschaften, und
Zulagen zur üblichen Referendariatsbesoldung.
Ob durch die Europäisierungsbestrebungen im Bildungswesen auch Impulse für eine weitere
Professionalisierung ausgehen, ist derzeit nicht zu entscheiden. Bis dato gibt es nämlich noch
keine einheitliche europäische Lehrerbildung (~ R, Internationalisierung). Die deutsche
Konzeption der Lehrerbildung mit den Merkmalen eines grundständigen Hochschulstudiums,
von erziehungswissenschaftlichen Anteilen im Studium, der Zweifachausbildung sowie der
Zweiphasigkeit der Ausbildung steht den folgenden Modellen in Europa gegenüber: dem
Modell eines fachwissenschaftlich orientierten Studiums mit anschließender seminaristischer
Ausbildung und dem Modell eines einphasigen Studiums mit einem großen Anteil an Schul
praktika (vgl. Bader 1991, S. 353). Diese zwei Modelle werden europaweit unterschiedlich
anerkannt. Wenngleich der EWG-Vertrag vom 25.3.57 u. a. Freizügigkeit innerhalb Europas
gewährleistet, stehen dem in der Bundesrepublik Deutschland einerseits der Artikel 33
Grundgesetz (Nationalitätsvorbehalt) sowie der Kultusministerkonferenz-Beschluß vom
14.12.1990 entgegen (vgl. Drechsel1993, S. 9 f.). Dieser Beschluß setzt die folgenden Eck
punkte für die Ausbildung von Lehrern an berufsbildenden Schulen verbindlich fest: erzie
hungswissenschaftliches Begleitstudium, zwei Unterrichtsfächer sowie Eingangsprüfung
bzw. Anpassungslehrgang als Ersatz für fehlenden Vorbereitungsdienst. Ähnliche Verfas
sungsbestimmungen bzw. Gesetze haben beispielsweise auch Belgien, Dänemark, Italien,
Griechenland, Luxemburg und Frankreich (vgl. Berggreen 1989, S. 753). Auch der Vertrag
von Maastricht schaffte hierfür keine Klärung. So werden zwar mit dem Artikel 128 Mög
lichkeiten für eine gemeinschaftliche Bildungspolitik geschaffen, aber diese darf die nationa
len Bildungspolitiken allenfalls unterstützen.
Theorie-Praxis-Problem 189
3 Theorie-Praxis-Problem
Ausbildung und Tätigkeit von Lehrern erfolgen im Spannungsfeld von Theorie und Praxis.
Durch die inhaltlich-organisatorische Gestaltung der Ausbildung in einer ersten Phase an der
Universität und einer zweiten Phase im Studienseminar wird dieses Spannungsfeld aufge
baut. In ihrer späteren beruflichen Tätigkeit als Lehrer erfahren sie sich als Theorielehrer, die
mit den sogenannten Lehrern für Fachpraxis kooperieren (müssen). Sie unterrichten Schiller
an berufsbildenden Schulen, die ihre berufspraktischen Erfahrungen jedoch im Betrieb ma
chen (~ LB, Konzepte betrieblichen Lernens; ~ LS, Konzepte schulischen Lernens). Fol
gendes Schaubild zeigt das Spannungsfeld im Überblick (vgl. Schaubild 1).
Wissenschaftliche Ausbildung (1. Phase: Universitätsstudium)
Lemort Betrieb
Lehrer für Fachpraxis
Lehrertätigkeit
Theorielehrer
Lemort Schule
Praxisbezogene Ausbildung (2. Phase: Referendariat im Studienseminar)
Schaubild 1: Spannungsfeld von Theorie und Praxis in der Lehrerausbildung und -tätigkeit
Das Theorie-Praxis-Problem, das sich insbesondere in der Lehrerausbildung stellt, ist das
Problem der institutionalisierten Trennung einer theorie- und wissenschaftsorientierten
Ausbildung an der Universität in der ersten Phase und einer praxis- und handlungsorientier
ten Ausbildung im Studienseminar in der zweiten Phase.
190 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
Wenngleich beide Institutionen gemeinsame Interessen verfolgen, nämlich die Entwicklung
pädagogischen Könnens sowie die fachdidaktische Ausbildung, entsteht durch die institutio
nelle Trennung ein Abstimmungsproblem. Der Universität wird häufig der Vorwurf gemacht,
sie vermittle Wissen, welches für die berufliche Praxis wenig brauchbar erscheint. Thr wird
vorgehalten, den angehenden Lehrern keine realistischen Einblicke in ihren späteren Beruf
salltag zu gewähren. Die Studienseminare hingegen sehen sich Vorwürfen ausgesetzt, in der
theoretischen Diskussion rückständig zu sein.
An dieser Kritik setzten auch Reformen der Lehrerausbildung ein, die zu Beginn der 1970er
Jahre in Osnabrück und Oldenburg für die Handelslehrerausbildung initiiert wurden. Sie
wurden an den Universitäten als einphasige Lehrerausbildungen angelegt. Diese Reformver
suche wurden jedoch 1976 bzw. 1981 wieder eingestellt. Auch die einphasige Lehrerausbil
dung in der DDR wurde mit der Wiedervereinigung durch eine zweiphasige abgelöst.
Die Ausbildung der Lehrer an berufsbildenden Schulen ist seitdem regulär zwei- bzw. drei
phasig angelegt. Die erste Phase ist das Hochschulstudium mit den Bestandteilen Berufs
ausbildung bzw. Berufspraktika und Schulpraktikum und die zweite Phase das Referendari
at. Als dritte Phase kann schließlich der Bereich der Lehrerfortbildung gesehen werden.
Bei der ersten Phase handelt es sich um ein grundständiges Lehrerstudium, das mit dem er
sten Staatsexamen bzw. dem Diplom abschließt Bestandteil des Studiums sind in vielen
Universitäten Schulpraktika, die semesterbegleitend oder in Blockform durchgeführt wer
den. Sie sollen angehende Lehrer mit Berufsrealität konfrontieren und sie zur kritischen Re
flexion des Lehrerberufes anregen (vgl. Peters 1986, S. 102 f.). Dabei können aber die All
tagsbelastung von Lehrern, deren Verantwortung sowie die aufkommende Routine im Be
rufsleben nicht erlebt werden (vgl. Rothgängel 1988, S. 101). Schulpraktika sollen aber für
das weitere Studium motivieren.
Bei der zweiten Phase der Lehrerbildung handelt es sich um den staatlichen Vorbereitungs
dienst für Referendare. Ein Blick in die Geschichte des Vorbereitungsdienstes zeigt auf, wie
sich dessen Bedeutung für die Lehrerausbildung entwickelte. Am 30.6.1933 errichtete Preu
ßen richtungsweisend das sogenannte Kandidatenjahr für angehende Handels- und Gewerbe
lehrer (vgl. Grüner 1975, S. 764). Zwei Jahre später wurden Arbeistgemeinschaften für die
Kandidaten an den Ausbildungsschulen gebildet. Vierzehntägig trafen sich etwa drei bis
sechs Kandidaten und hielten Lehrproben ab. Als direkte Konsequenz aus der Akademisie
rung der Gewerbelehrerausbildung in den 1960er Jahren wurde dann das Kandidatenjahr in
ein Referendariat umgewandelt. Die angehenden Lehrer hatten nämlich an den Universitäten
Theorie-Praxis-Problem 191
vor allem fachtheoretische Veranstaltungen zu belegen, die praktisch-pädagogische Ausbil
dung kam zu kurz (vgl. Baritsch 1960, S. 758 f.). Aus den Arbeitsgemeinschaften entstanden
dann die Studienseminare, in denen die fachdidaktische Ausbildung dominierte (vgl. Grüner
1975, S. 764). Am 1.7.1960 wurde so zum Beispiel in Hamburg das zweijährige staatliche
Studienseminar gegründet. Für Handelslehrer bestand allerdings bereits ein Jahrzehnt früher
eine einjährige entsprechende Ausbildung (vgl. Meier 1962, S. 586).
Das Hauptziel der Ausbildung von Referendaren in der zweiten Phase liegt in der Förderung
beruflicher Handlungskompetenz und Professionalisierung für die Arbeit an beruflichen
Schulen. Die Inhalte im Studienseminar beziehen sich auf das Handlungsfeld Schule und
Unterricht. Sie reichen von der Unterrichtsplanung über die didaktisch-methodische Umset
zung bis hin zur Evaluation, Selbstreflexion und Leistungsbewertung.
Probleme, die in der zweiten Phase der Lehrerausbildung auftreten können, sind vielfältiger
Natur. Beklagt wird häufig die zu starke Abhängigkeit der Referendare vom Fachleiter im
Studienseminar und die Distanz zu den in der ersten Phase aufgearbeiteten Theorien. Zum
Problem wird auch, daß das pädagogisch-didaktische Handeln bei den Vorbereitungen auf
das Unterrichten zunächst hinter die Aufbereitung von Lehrinhalten zurücktritt. Es wird nur
allzu bereitwillig theorieloses Rezeptwissen aufgenommen (vgl. Adolph 1990, S. 160).
Analog zum Theorieschock in der ersten Ausbildungsphase tritt hier ein Praxisschock auf.
Dieser Praxisschock kann nicht dadurch verhindert werden, daß den Studienreferendaren
häufig sogenannte Problemklassen vorenthalten werden. Er wird nur zeitlich verzögert und
tritt dann aber verstärkt auf.
Die Lehrerfortbildung kann als eine dritte Phase der Lehrerausbildung betrachtet werden. Sie
umfaßt alle Maßnahmen, die zur Sicherung, Aktualisierung, Erweiterung und Vertiefung
vorhandener Qualifikationen oder zum Erwerb zusätzlicher Qualifikationen im Bereich der
Fachwissenschaft, der Fachdidaktik, der Fachpraxis sowie der Erziehungswissenschaft die
nen (vgl. Schirra 1985, S. 359; Winke 1978, S. 306). Notwendig sind aber auch Angebote
im sozial-persönlichen Bereich. Dies erscheint angesichts frühzeitiger Pensionierungen unter
Lehrenden, auftretenden Burnout-Syndromen und Schulmüdigkeit umso bedeutsamer (vgl.
Neumann 1990, S. 184, S. 189). Eine Studie zum Fortbildungsverhalten von Lehrern und
Lehrerinnen zeigte aber gerade, daß solche Veranstaltungen kaum angeboten und außerdem
wenig nachgefragt wurden (vgl. Pätzold 1988, S. 189). Es dominieren statt dessen Veran
staltungen zur Aktualisierung fachwissenschaftlicher Kenntnisse.
192 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
Noch stellt die Lehrerfortbildung einen Bereich mit Entwicklungsbedarf und -perspektiven
dar. Der Bedarf läßt sich aus einer Teilnehmerbewertung von Veranstaltungen erkennen. 42
% bzw. 37 % der befragten Lehrer gaben an, daß ihnen umfassende bzw. rechtzeitige infor
mationen zu entsprechenden Veranstaltungen fehlten, 33 % sprachen von zu hoher Bela
stung trotz Freistellung vom Unterricht, 45 % bzw. 23 % berichteten von schulorganisatori
schen bzw. administrativen Schwierigkeiten und immerhin noch 10 % stuften die Veranstal
tungen als ineffizient ein (vgl. Pätzold 1988, S. 189).
Betriebliches Ausbildungspersonal 193
4 Betriebliches AusbUdungspersonal
Betriebliche Bildung umfaßt ein breites Spektrum von Konzepten und Methoden, die vom
Imitationslernen am Arbeitsplatz (Vormachen und Nachmachen) bis zum betrieblichen Un
terricht reichen (~ LB, Konzepte betrieblichen Lemens). Betriebliches Ausbildungspersonal
sollte das Methodenspektrum kennen und möglichst beherrschen, auch wenn eine Arbeitstei
lung zwischen verschiedenen Personen erfolgt
Die unterschiedlichen Aufgaben und Vorgehensweisen bei der Unterweisung im Betrieb er
fordern betriebliches Ausbildungspersonal, das an den jeweiligen Einsatzorten eine qualifIZie
rende Ausbildung gewährleisten kann. Die Anzahl der am betrieblichen Ausbildungsprozeß
Beteiligten richtet sich nach der Betriebsgröße und nach der Branche. Während in Kleinbe
trieben zuweilen nur eine Person mit Ausbildungsaufgaben betraut ist (und das manchmal
nur mit einem Teil der Arbeitszeit) haben mittlere und größere Betriebe Ausbildungsabtei
lungen mit Personal auf verschiedenen Hierarchiestufen.
Wieviele Personen ganz und teilweise mit Ausbildungsaufgaben betraut werden, hängt von
den betrieblichen Entscheidungen ab. Das Berufsbildungsgesetz (~ R, Rechtlich
institutionelle Grundlagen) schreibt im § 22 (1) lediglich vor, daß die Zahl der Auszubilden
den in einem angemessenen Verhältnis zur Zahl der Ausbildungsplätze oder zur Zahl der
beschäftigten Fachkräfte stehen muß.
Qualifizierung und Auswahl des Ausbildungspersonals unterscheiden sich deutlich von Bran
che zu Branche und von Betrieb zu Betrieb. Sie hängen ab von der Ausbildungskonzeption
des Betriebes, von der Bereitschaft, in Ausbildung zu investieren, und auch von den Perso
nalressourcen, die dem jeweiligen Betrieb zur Verfügung stehen.
In großen Betrieben ist zumeist folgende Hierarchie auszumachen: Im Funktionsbereich Per
sonalwirtschaft ist die Ausbildung meist eine selbständige Organisationseinheit, die von ei
nem Ausbildungsleiter geführt wird. Diese Führungspositionen werden in der Regel mit aka
demisch qualifizierten Fachkräften wie Diplom-Kaufleuten, Diplom-Handelslehrern oder
Diplom-Ingenieuren besetzt. Selten fmden sich auch Nichtakademiker in Führungspositionen
wieder, die sich, aus dem Betrieb kommend, zu dieser Ebene emporgearbeitet haben.
Der Ausbildungsleiter widmet sich ausschließlich allgemeineren Ausbildungsfragen ein
schließlich der Vertretung von Ausbildungsinteressen des Betriebes nach außen. Er ist der
Ansprechpartner für die Zuständige Stelle. Innerbetrieblich obliegt ihm die Organisation der
Ausbildung, wozu auch die Einsatzplanung für die einzelnen Ausbilder gehört. Der Auszu-
194 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
bildende hat im Regelfall mit dem Ausbildungsleiter keinen direkten Kontakt, es sei denn bei
der Einstellung oder in Konfliktfällen.
Auf der nächsten Ebene in der Ausbildungshierarchie in großen Betrieben befmden sich die
Ausbilder. Dieser Begriff ist durch das Berufsbildungsgesetz im § 20 festgelegt worden.
Ausbilder sind demnach solche Personen, die fachliche und persönliche Voraussetzungen für
die Ausbildung besitzen. Die fachliche Eignung ist der Ausbildungsaufgabe entsprechend
doppelter Natur: Der Ausbilder muß ein ausgewiesener Fachmann sein, der für die Ausbil
dungsberufe, für die er ausbildet, über die entsprechenden beruflichen Qualifikationen ver
fügt. Daneben muß er auch berufspädagogische Kenntnisse nachweisen. In § 2 der Ausbil
dereigungsverordnung, die auf Grund des Berufsbildungsgesetzes erlassen wurde, sind diese
wie folgt festgelegt:
• Grundfragen der Berufsausbildung,
• Planung und Durchführung der Ausbildung,
• Der Jugendliche in der Ausbildung,
• Rechtsgrundlagen.
In großen Betrieben gibt es zunächst Ausbilder, die ihre Aufgabe hauptberuflich wahrneh
men und jeweils für Berufe und Berufsfelder zuständig sind. Bundesweit dürfte es ca.
500000 Ausbilder geben, die diese Funktion auch tatsächlich ausüben.
Unterhalb der Ebene dieser durch Ausbildereignungsverordnung formal ausgewiesenen
Ausbilder gibt es in den Betrieben eine große Personenzahl, die Ausbildung betreibt und die
unter der Bezeichnung "ausbildende Fachkräfte" tätig sind. Bis vor einigen Jahren war die
Benennung dieser Personengruppe sehr uneinheitlich. Es wurde von Arbeitsplatzausbildern,
von Anleitern, (noch früher) von Lehrgesellen gesprochen. Das Bundesinstitut für Berufsbil
dung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) hat hier durch die konsequente Verwendung
des Begriffs "ausbildende Fachkraft" normierend gewirkt
Ausbildende Fachkräfte brauchen keinen formalen Nachweis ihrer Ausbildungseignung.
Trotzdem wird immer wieder die pädagogische Qualillzierung auch dieser Personengruppe
gefordert, weil sie die eigentliche Qualift.zierungsleistung erbringt. Die Zahl der ausbildenden
Fachkräfte wird auf ein Vielfaches der Zahl der Ausbilder geschätzt. Daher ist es verständ
lich, daß die Unternehmen sich der Forderung nach einer wie auch immer gearteten Ausbil
dung dieser Personengruppe widersetzen. Allerdings gibt es auch viele Personen, die in der
Funktion von ausbildenden Fachkräften tätig sind und die Ausbildereignungsprüfung abge
legt haben.
Betriebliches Ausbildungspersonal 195
In Klein- und Mittelbetrieben schrumpfen die weiter oben aufgeführten drei Hierarchieebe
nen (Ausbildungsleiter, hauptamtliche Ausbilder und ausbildende Fachkräfte) häufig zusam
men. So kann es vorkommen, daß ein Ausbilder für die Organisation der Ausbildung ver
antwortlich ist und gleichzeitig die Ausbilderfunktionen wahrnimmt "Ausbilderfunktion"
bedeutet hier beispielsweise, in der Lehrwerkstatt zu unterweisen, die Auszubildenden auf
die zuvor für die Ausbildung ausgesuchten betrieblichen Arbeitsplätze vorzubereiten usw. Er
bedient sich dann der ausbildenden Fachkräfte, die Teile der Ausbildungsaufgaben - vorwie
gend am Arbeitsplatz - übernehmen.
In kleinen Betrieben steht häufig kein hauptamtlicher Ausbilder zur Verfügung. Der Meister
oder eine andere Person, die über die Ausbildereignung nach Ausbildereignungsverordnung
verfügt, werden während ihrer Arbeitszeit auch mit Ausbildungsaufgaben betraut. Diese Per
sonengruppe wird daher als "nebenamtliche Ausbilder" bezeichnet Welchen Anteil seiner
Arbeitszeit ein solcher nebenamtlicher Ausbilder für Ausbildungsaufgaben zur Verfügung zu
stellen hat, hängt von der Zahl der zu betreuenden Auszubildenden und auch davon ab, für
wie wichtig der Betrieb die Ausbildungsaufgaben einschätzt. Bei der Ermittlung der Ausbil
dungskosten (~ R, Kosten und Nutzen) wird hier häufig ungenau und wenig korrekt verfah
ren, was zu falschen Aussagen über die tatsächlichen Ausbildungskosten führen kann, die mit
der Ausbildung tatsächlich einhergehen.
Kleinstbetriebe haben häufig nur eine Ebene, wenn der Betriebsinhaber beispielsweise als
Meister gleichzeitig die Koordination der Ausbildung übernimmt, gegebenenfalls praktische
und theoretische Unterweisungen erteilt und die Ausbildung am Lernort Arbeitplatz selbst
oder zusammen mit anderen durchführt. Damit übt er alle drei Funktionen in seiner Person
aus, was dann mit der handwerklichen Ausbildung im Mittelalter vergleichbar ist.
Nicht zu verwechseln mit dem Ausbilder ist der Ausbildende. Dies ist nach § 3 (1) Berufsbil
dungsgesetz die zuständige Person, die das Ausbildungsverhältnis vertraglich begründet, d.
h. der Betriebsinhaber bzw. der dazu Berechtigte.
Außerhalb von Betrieben sind Ausbilder in vereinzelten Fällen auch in beruflichen Schulen
beispielsweise bei der praktischen Unterweisung tätig. Insbesondere versehen sie aber auch
Aufgaben in überbetrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbildungsstätten.
Erstmalig wurden durch das Berufsbildungsgesetz von 1969 die Qualifikationen für Ausbil
der festgelegt und in der Ausbildereignungsverordnung von 1972 spezifiziert Die Ausbil
dung der Ausbilder wurde auf einen Umfang von 120 bis 200 Stunden begrenzt. Inhaltlich
196 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
konkretisiert stehen sie in einem Rahmenplan, der im Jahre 1992 vom Hauptausschuß des
Bundesinstituts für Berufsbildung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) neu gefaßt wur
de. Er enthält Empfehlungen für eine aktualisierte, den veränderten und gestiegenen Anfor
derungen an Ausbildern entsprechende Ausbildung (vgl. Merk 1993, S. 25 ff.).
Leitidee ist auch die Beförderung der beruflichen Handlungsfähigkeit (~ Z, Berufliche
Handlungsfähigkeit; ~ P, Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit), in der ein tragfähiges
Konzept auch für eine modeme fachliche, berufs- und arbeitspädagogische Qualifizierung
von Ausbildern erkannt wird. Neben der beruflichen Handlungsfähigkeit wird zudem auf das
neue Rollenverhalten eines Moderators und Gestalters von Lernprozessen verwiesen, über
das Methoden- und Sozialkompetenz von Ausbildern befördert werden sollen (~ P, Mode
ratorenausbildung). Erwähnt wird auch die Beförderung von Planungskompetenz, die sich
dann erweist, wenn Ausbilder den Rahmenstoffplan als offenes Konzept für die Gestaltung
beruflicher Bildung annehmen und nach Prinzipien des handlungsorientierten Lernens (~ D,
Neue Leitideen, Ansätze und Entwürfe) umsetzen können.
Daß diese Empfehlungen des Bundesinstituts aber auch tatsächlich schon die Qualität von
Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Ausbildung der Ausbilder haben, ist zumindest
zweifelhaft. Der Rahmenstoffplan zeigt nämlich die nicht unbekannten Merkmale eines bil
dungspolitischen Kompromisses vor allem zwischen den im Hauptausschuß vertretenen Ar
beitgeber- und Arbeitnehmervertretern: Die richtungsweisenden Prinzipien, die aktuelle An
strengungen zur Modernisierung auch der Ausbildung der Ausbilder aus berufspädagogi
scher Sicht anleiten sollten, fmden sich nämlich nur im Vorwort wieder. Unangetastet blei
ben die stoffliche Gliederung und vor allem die Prüfungspraxis, in der fachlich geordnetes
Wissen üblicherweise in einer Unterweisungsprobe nach der Vier-Stufen-Methode (~ LB,
Konzepte betrieblichen Lernens) abgeladen wird. Es bedarf kaum hellseherischer Fähigkei
ten, um erkennen zu können, daß es letztlich doch wieder die Ausbildungsbetriebe und das
betriebliche Ausbildungspersonal selbst sind, die diese Empfehlungen des neuen Rahmen
stoffplans aufnehmen und in eine verbesserte Praxis der Ausbildung von Ausbildern umset
zen müssen.
Kooperative Selbstqualijizierung 197
5 Kooperative Selbstqualifizierung
Facharbeiter und Fachangestellte werden auch weiterhin Aufgaben zu bewältigen haben, die
als "gut-strukturiert" gelten dürfen. Jedoch sind auch diese Aufgaben immer eingebunden in
einen Aufgabenzusammenhang. Es genügte bei hierarchischen Weisungsbeziehungen im Be
trieb, um diesen Zusammenhang zu wissen, ohne ihn jedoch auch im Detail kennen zu müs
sen. Die Situation änderte sich mit dem Übergang zur dezentralisierten Koordination und
Konfiguration der Weisungsbeziehungen. Mitentscheidend für eine erfolgreiche Aufgaben
bearbeitung ist dann aber auch das Wissen über die eigene Leistung im betrieblichen Aufga
ben- und Arbeitszusammenhang.
Für die Bewältigung anspruchsvollerer Aufgaben bedeutet dies, " ... mit komplexen, offenen
Situationen selbständig und kreativ umzugehen, wobei Kriterien des erfolgreichen Handelns
vom handelnden Subjekt selbst mitdefmiert werden können bzw. müssen" (Pätzold 1996, S.
188). Mit dem Übergang zur ganzheitlichen Bearbeitung der Aufgaben werden diese nicht
nur komplexer sondern auch kontingent: Prozesse und Ergebnisse erfolgreichen beruflichen
Handelns sind immer auch anders denkbar und tatsächlich erfahrbar als zunächst vorgestellt
Wie ist dann aber betriebliche Qualifizierung für die Bewältigung komplexer und kontingen
ter Anforderungssituationen möglich? Wie können vor allem Ausbilder und Weiterbildner
auf die Gestaltung und Bewertung dieser Qualifizierungsprozesse im Betrieb vorbereitet
werden? Hierfür ist u. a. der Vorschlag der "kooperativen Selbstqualiftkation" gemacht wor
den: "Kooperative Selbstqualiflkation besagt, daß fachlich gebildete Personen mit unter
schiedlicher Erfahrung und Spezialisierung miteinander und voneinander an einem Problem
oder in einem Projekt - also direkt "vor Ort" -lernen" (Heidack & Schulz 1993, S. 105).
Das Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation ist ein sehr weitreichender Vorschlag zur
Gestaltung von Weiterbildung und Qualifizierung von Aus- und Weiterbildnern, wenn seine
Voraussetzungen und Bedingungen mitbedacht werden. Folgendes Schaubild 2 vermag die
sen Zusammenhang anzuzeigen.
Kooperative SelbstqualifIkation wird zumeist dem situativen Lernen "vor Ort", d. h. am Ar
beitsplatz zugerechnet (~ LB, Arbeiten und Lernen). Sie kann jedoch auf systematisches
Lernen, d. h. auf Lernen im innerbetrieblichen Unterricht, in Lehrgängen, Kursen, Seminaren
u. a. nicht verzichten (~ LB, Merkmale betrieblichen Lernens). Systematisches Lernen ist
auch bei kooperativer Selbstqualifizierung dann vorteilhaft, wenn es gilt, Vorstellungen zu
gewinnen, die durch Erfahrungen und Wahrnehmung im Betrieb bzw. den notwendigerweise
begrenzten Arbeitszusammenhängen im Betrieb nicht angeregt werden können. Dies ist dann
198 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
der Fall, wenn Wissen über den eigenen Arbeitsbereich im Zusammenhang betrieblicher
Wertschöpfungsketten nötig ist, Vorstellungen von alternativen Produktions-, Arbeits- und
Organisationsformen zu erzeugen sind, bisher nicht erfahrene Kooperations- und Kommuni
kationsformen tatsächlich erlebt und auf Transfermöglichkeiten in die eigene berufliche Pra
xis geprüft werden sollen usw.
~ / ~ /
"" 7
'" /
"" 7
Situativ~ Lernen Kontinuierliches Aushandeln des
Arbeiten und Lernen Konzeptes KSQ in einander
S . T widersprechenden Verhaltenserwar-
ystemattsches Lernen longen ("lernende
I Organisation")
1/ Qualifizierungsstategie: SOL \ I
1/ !
\ Gestaltung von Lernumgebungen fürKSQ
I
/ '" \ Betriebliches Gratiftkationssystem für KSQ
I
1/ +
\ Unterstützung von KSQ durch Vorgesetzte und Unternehmensleitung
I
1/ Entwicklung von Unternehme~kultur und Wertorientierung \ fürKSQ
SOL: Selbstorgamsiertcs Lernen KSQ: Kooperative SelbstqualifIZierung
Schaubild 2: Voraussetzungen und Bedingungen kooperativer Selbstqualiftkation
Kooperative Selbstqualijizi,erung 199
Allerdings bekommt systematisches Lernen im Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation
eine andere Funktion und einen anderen Stellenwert als in tradierten Konzepten eingeräumt
Systematisches Lernen wird dabei nicht an die Lernenden verabreicht. Es ist statt dessen ein
Bildungsangebot, das dann in Anspruch genommen wird, wenn es erkennbar gebraucht wird,
und mit dem situativen Lernen sinnvoll und möglichst ertragreich verbunden werden kann.
Anders als im tradierten systematischen Lernen sind hier die Lernenden in der betrieblichen
Aus- und Weiterbildung gefordert, ihren Bildungsbedarf "vor Ort" selbst zu erkennen, zu
begründen und in Kooperation mit den Mitarbeitern der Bildungsabteilungen eine Auswahl
aus dem Bildungsangebot zu treffen. Im Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation wird
das Aufgabenprofil von Aus- und Weiterbildnern als Unterweisende deshalb erweitert um die
Aufgabe des Lernberaters (~P, Moderatorenausbildung).
Kooperative Selbstqualiftkation am Arbeitsplatz und im Verbund von situativem und syste
matischem Lernen verweist auf eine neue Qualifizierungsstrategie: selbstorganisiertes Ler
nen. Es ist nicht nur eine neue Methode betrieblichen Lernens, die effektiver ist als andere
Methoden. Selbstorganisiertes Lernen gründet in neuen subjektwissenschaftlichen Theorien
von Wahrnehmung, Erkennen und Handeln (vgl. Dürr 1995; Lumpe 1995). Es fordert neue
didaktische Konzepte an, die Lernen ermöglichen und befördern können und mit den eher
vertrauten Konzepten einer Instruktionsdidaktik nicht mehr vergleichbar sind (vgl. Deitering
1995; Greif & Kurtz 1996). Aus- und Weiterbildner, die sich auf das Konzept der kooperati
ven Selbstqualiftkation einlassen, müssen sich dieser Grundlagen vergewissern, wenn sie
Aus- und Weiterbildung theoriegeleitet gestalten und ihr eigenes Handeln unter demselben
Anspruch auch reflektieren und bewerten wollen.
Auf das Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation abzustimmen sind auch die Lernum
gebungen mit Lernquellenpool, (multi)medialer Ausstattung für Präsentation und Moderati
on, Gruppenarbeitsräumen, Handbibliotheken u. a. Mitentscheidend für die erfolgreiche Um
setzung des Konzeptes der kooperativen SelbstqualifIkation ist auch das betriebliche System
von GratifIkationen. Wurde bisher betriebliche Weiterbildung nicht selten als "Belohnung"
für erfolgreiches berufliches Handeln zugeteilt, verkehrt sich das Verhältnis von beruflichem
Erfolg und Weiterbildung im Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation: Nicht Beloh
nung durch Weiterbildung, sondern Belohnung der Weiterbildung sollte dem Lernenden si
gnalisieren, daß seine Weiterbildungsaktivitäten im Betrieb geschätzt werden. Auf diese ver
änderte Bedeutung von Weiterbildung im System betrieblicher QualifIkationen wäre auch
das sogenannte Bildungscontrolling abzustellen, das mit der Beförderung von kooperativer
200 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
Selbstqualiftkation vor völlig neue und bisher kaum bearbeitete Aufgaben der Bewertung
von betrieblicher Aus- und Weiterbildung gestellt wird.
Kooperative Selbstqualiftkation im Betrieb muß durch Vorgesetzte und die Unternehmens
leitung gestützt werden. Diese Unterstützung ist sicherlich leichter einzufordern, als in be
triebliche Praxis umzusetzen. Zu sehr ist das Bild von Arbeitern und Angestellten noch durch
die Sichtweise der "Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung" von Frederick W. Tay
lor mit dem darin eingeschriebenen Mißtrauen gegen die Leistungs- und Bildungsbereitschaft
bei Arbeitern geprägt, als daß sich Vorgesetzte und Unternehmensleitungen leichten Herzens
davon verabschieden könnten. Dennoch gilt es, dem Konzept der kooperativen Selbstquali
f!kation zu trauen und den Mitarbeitern, die dieses Konzept umsetzen, auch zu vertrauen.
Betriebsorganisatorisch absichern läßt sich das Konzept der kooperativen Selbstqualiftkation
in vielfältigen Formen des symbolischen Organisierens, durch kooperative Formen der Per
sonalausbildungs- und Personalentwicklungsplanung bis hin zu projektorientierter Selbst
qualiftkation im Verbund von Personal- und Organisationsentwicklung. Allesamt sind es
weitreichende Veränderungen von Betriebs- und Unternehmensorganisationen, die bewußt
und nachhaltig auch durch Führungsentscheidungen im Unternehmen vorbereitet, gesteuert
und gestützt werden können.
Und schließlich muß kooperative Selbstqualiftkation eingebettet sein in den allmählichen
Wandel der Unternehmenskultur und des betrieblichen Systems von Wertorientierungen.
Gegenseitiges Vertrauen gehört ebenso zu dieser neuen Unternehmenskultur wie auch die
Vorstellung von Personalentwicklung mit dem Anspruch auf Bildung und einer Arbeits- und
Wirtschaftsethik, die auch im Betrieb konkret erfahren werden kann.
In diesem erweiterten Kontext von kooperativer Selbstqualiftkation und ihren Bedingungen
und Voraussetzungen erscheint das Konzept als ein Idealtypus betrieblicher Aus- und Wei
terbildung. Es muß deshalb auch geprüft werden, welche Bedeutung dieser Idealtypus für
die Qualifizierung von Aus- und Weiterbildnern überhaupt hat bzw. haben könnte.
Eine erste Bedeutung ergibt sich direkt aus dem Wissen um die Voraussetzungen und Be
dingungen des Konzeptes selbst. Nur wer die Prämissen dieses anspruchsvollen Konzeptes
kennt, vermag auch die Chancen, Schwierigkeiten und Risiken einer Umsetzung in betriebli
che Praxis abzuschätzen. Dies war in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Beson
ders in den 197Üer Jahren wurden enttäuschende Erfahrungen mit verschiedenen Konzepten
Kooperative Selbstqualifitierung 201
der "Humanisierung der Arbeit" gemacht, weil diesen häufig nur unzureichende Analysen
von Eingriffen in systemische Verflechtungen vorausgegangen waren.
Eine zweite Bedeutung idealtypischer Entwürfe entsteht in der Verwendung als Leitidee für
Reformen in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Als Leitidee sind sie solange akzep
tabel, wie sich Reformanstrengungen daran ausrichten können. So sind beispielsweise mit
dem neuen Rahmenstoffplan des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung
(~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) für die Ausbildung der Ausbilder von 1992 in den
ersten Teil "Grundfragen der Berufsausbildung" auch Empfehlungen eingegangen, das Per
sonal in der Berufsausbildung, seine Stellung und Bedeutung in der Unternehmung zu the
matisieren und für Veränderungen aufzuschließen. Hier könnte direkt mit einer systemischen
Sichtweise auf das Konzept der kooperativen Selbstqualiftkation angeschlossen werden.
Des weiteren können idealtypische Konzepte der kooperativen Selbstqualiftkation zur Ori
entierung in den Fällen herangezogen werden, in denen neue Vorstellungen von Aus- und
Weiterbildung mit tradierten konfligieren. Hier gilt es dann, auf der Basis der neuen Vorstel
lungen das Konzept der kooperativen Selbstqualiftkation im Spannungsfeld einander wider
sprechender Verhaltenserwartungen "auszuhandeln". Gerade die Erfahrung mit erfolgreich
verlaufenden Reformen im Feld der beruflichen Bildung zeigte immer wieder auf, wie wich
tig solche Leitideen wie "Schlüsselqualiftkationen", "Handlungsorientierung", "Selbst
organisiertes Lernen" u. a. als Verständigungsformeln für das "Aushandeln" von Innovatio
nen in der beruflichen Bildung auch für die daran beteiligten Ausbilder und Weiterbildner
waren (~BWP, Systemische Innovationsleistung).
202 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder
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Strukturbegriff: Perspektiven Ausbildung ~:::"'l--\?-li~~~=-I\,L--+:::::::~ ZieIsetzuDseo
der Lebrcr UIld der Ausbilder
LernortBetrieb
1 Perspektiven eines Strukturmodells der Berufs- und Wirtschaftspädagogik
Das Strukturmodell wurde konstruiert aus neun Strukturbegriffen. Auffiillig ist, daß diese
Strukturbegriffe in ein Netzwerk eingewoben sind. Zwei Gründe seien hierfür angeführt:
• Wenn wir die Berufspädagogik und die Wirtschaftspädagogik als wissenschaftliche Dis
ziplinen einander annähern wollen, benötigen wir eine Perspektive, die für beide Diszipli
nen annehmbar ist und über die beide Disziplinen sowohl unterschieden als auch aufein
ander bezogen werden können. In der systemischen Sichtweise fmden wir diese Perspek
tive.
• Systemisches Denken wird notwendig, um eine komplexer werdende Umwelt überhaupt
erkennen, beschreiben und gestalten zu können. Wer aber systemisches Denken und Han
deln als Lehrerin, Ausbilderin oder Weiterbildnerin bei Schülerinnen, Auszubildenden und
anderen jungen Erwachsenen befördern will, muß es möglichst selbst gelernt haben. Des
halb wurde fUr dieses Buch eine systemische Sichtweise und in Ansätzen auch eine syste
mische Sprache gewählt
Diese beiden Thesen werden nun erläutert, zunächst als Perspektiven eines Strukturmodells
Berufs- und Wirtschaftspädagogik für die Forschung und sodann für die Lehre.
Perspektiven des Strukturmodells rür die Forschung. Die Berufspädagogik und die
Wirtschaftspädagogik sind - geschichtlich betrachtet - ziemlich unterschiedliche Disziplinen.
Sie wurden zunächst institutionalisiert in verschiedenen Einrichtungen: den wissenschaft-
206 Perspektiven
lichen Handelshochschulen und den nichtwissenschaftlichen berufspädagogischen Instituten.
Sie haben verschiedene Bezugsdisziplinen, einerseits die Wirtschaftswissenschaften, ander
erseits die Ingenieurwissenschaften. Sie bilden aus in unterschiedlichen beruflichen Fach
richtungen, nur locker verklammert über Pädagogik und Didaktik. Berufspädagogik bezieht
sich auf Erziehung und Bildung im Medium des Berufes, Wirtschaftspädagogik dagegen
bedeutet Erziehung und Bildung im Medium wirtschaftlichen Handeins.
Einige einführende Veröffentlichungen erwecken zumeist den Eindruck, als können bereits
einheitliche oder zumindest vergleichbare wissenschaftliche Disziplinen vorgestellt werden.
Siehe hierzu:
• Amold (1994). Berufsbildung.
• Amold (1990). Betriebspädagogik.
• Amold & Lipsmeier (1995). Handbuch der Berufsbildung.
• Bunk (1982). Einführung in die Berufs, Arbeits- und Wirtschaftspädagogik.
• Schelten(1994). Einführung in die Berufspädagogik.
• Schmiel & Sommer (1985). Lehrbuch Berufs-und Wirtschaftspädagogik.
• Voigt (1975). Berufs- und Wirtschaftspädagogik.
Ein Blick in Einführungen, die die Begriffe "Beruf' und "Wirtschaft" im Titel führen, zeigt
aber, daß es zumeist Einführungen in die Berufspädagogik sind. Der Anspruch, zugleich
auch in die Wirtschaftspädagogik einzuführen, wird jedoch nicht eingelöst.
Die derzeitigen Konzeptionen einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik lassen sich knapp
charakterisieren als "Wege zum gegenseitigen Vereinnahmen", obwohl dies sicherlich nicht
in der Intention der Autoren liegt.
Wir versuchen dagegen, einen anderen Weg zu gehen: Wir akzeptieren Berufs- und Wirt
schaftspädagogik als unterscheidbare Aussagensysteme. Diese Systeme stehen zunächst
nebeneinander. Damit jedoch Berufs- und Wirtschaftspädagogen aufeinander bezogen dis
kutieren und handeln können, haben wir ein "offenes" Strukturmodell entworfen. Mit Hilfe
der Strukturbegriffe ("Begriffe sind Gießformen für Sätze!") können nun aus berufs- und aus
wirtschaftspädagogischer Sicht Fragen diskutiert, Probleme erörtert, Konzepte entwickelt
werden, bei gegenseitiger Orientierung auf gemeinsames Handeln. Dabei muß es sich erst
erweisen, was der Berufspädagogik und der Wirtschaftspädagogik gemeinsam ist oder was
sie trennt, ob sie sich ergänzen, wo Schwerpunkte gelegt werden und was randständig ist.
Perspektiven eines Strukturmodells der Berufs- und Wirtschaftsptidagogik 207
Wenn wir neue Wege beschreiten wollen, können wir uns nicht auf ein gegenseitiges
Vereinnahmen einlassen. So bleibt nur der Versuch einer Integration - besser: Annäherung -
aus einer disziplinübergreifenden Sicht. Dies ist unsere systemische Sichtweise.
Wir haben deshalb ein offenes Strukturmodell entworfen. Darin werden zwar
Strukturbegriffe festgelegt, die weitere Bearbeitung dieser Strukturbegriffe und deren Ver
knüpfung ist jedoch der Forschung überlassen, an der sich Berufspädagogen und Wirt
schaftspädagogen gleichermaßen beteiligen sollten. Erste Ergebnisse stellen wir hiermit vor.
Perspektiven des Strukturmodells für die Lehre. Unser Ziel ist es, über Strukturbegriffe
ausgewählte Sachverhalte der Berufs- und Wirtschaftspädagogik anzusprechen. Die Texte
geben einen Überblick, die darin enthaltenen Literaturhinweise erlauben eine Vertiefung.
Über Querverweise sind freie Verknüpfungen mit anderen Strukturbegriffen möglich. Das
könnte dann ausschnitthaft folgendermaßen aussehen (vgl. Schaubild 1):
./ .. /
. ," .. ZielselZUllgen,-.a......,_".,....,._4.,. , ....
..... -....
...... .... ......... ,.-
... -...... -_ ...... _-.------.. , ......... -_ ....... . . ......... -.
lerno.lt Belrieb
. ... -
! ./
,/ ,/'
......
.............. -.-Didaktik beruitltlll!."..._-~\·· ···, ... Lerneos und Lehrens
.... :t ·_· . ~ .... __ .. -.... . .......... . .................... ,. \ ..
Schaubild 1: Verknüpfungsmöglichkeiten der Strukturbegriffe
..... .......
............ .....
208 Perspektiven
2 Modularisierung
Als eine Möglichkeit der Veränderung der Rahmenbedingungen beruflicher Bildung ist das
Konzept der Modularisierung zu betrachten. Modularisierung stellt ein Organisationsprinzip
der Berufsbildung dar, das eine bestimmte Anordnung und Abfolge von Ausbildungs
bausteinen (Modulen) zum Ziel hat. Module sind standardisierte, in sich abgeschlossene und
zertifizierbare Lemangebote, die auf den Erwerb spezifischer QualifIkationen bzw. Kom
petenzen abheben.
Das Konzept der Modularisierung wird gegenwärtig in Deutschland kontrovers diskutiert.
Mit dem Entstehen der Europäischen Union wurde die Debatte um die Einführung modu
larisierter Ausbildungsgänge in Deutschland neu entfacht. In den Artikeln 126 und 127 des
Maastrichter Vertrages werden die Mitgliedstaaten zu stärkerer Kooperation hinsichtlich
einer gemeinsamen europäischen Berufsbildungspolitik aufgefordert. Hierdurch steht das
deutsche Berufsbildungssystem vor der Situation, mit seinem nach dem Berufskonzept
geordneten Ausbildungssystem in Konkurrenz zu modularisierten Systemen zu treten.
Solche modularisierten Systeme verwenden beispielsweise Frankreich, die Niederlande, Spa
nien sowie das Vereinigte Königreich.
Es lassen sich unterschiedliche Ausprägungen von Modularisierung unterscheiden:
Module können erstens als curriculare Gestaltungselemente mit Ergänzungscharakter im
Hinblick auf Erstausbildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen verstanden werden. Diese
Form wird in Deutschland bereits im Rahmen der beruflichen Weiterbildung und bei der
Qualifizierung von lemschwachen Jugendlichen verwendet. So können zum Beispiel lem
schwache Jugendliche bzw. jugendliche Arbeitslose per Modularisierung in zweieinhalb bis
dreieinhalb Jahren zum Abschluß Bürokaufmann geführt werden. Die betrieblichen und
außerbetrieblichen Lerninhalte werden in acht Modulen vermittelt. Teilnehmer, die die Maß
nahme abbrechen, erhalten alle bis dahin absolvierten Qualifizierungen in einem Paß beschei
nigt. Teilnehmer, die alle Module absolviert haben, werden zur Prüfung vor den Zuständigen
Stellen, hier: der Industrie- und Handelskammer, zugelassen.
Module können zweitens der Neustrukturierung existierender Ausbildungsgänge dienen,
ohne deren Ziel- und Abschlußcharakter in Frage zu stellen. Diese Form fmdet sich bei
spielsweise in den Niederlanden und in Frankreich.
Drittens können Module Ersatz für existierende Ausbildungformen sein. Sie können indivi
duell zertifiziert werden. Beispiele fmden sich hierfür im Vereinigten Königreich und in
Spanien.
Modularisierung 209
Radikale Kritiker sehen in der Modularisierung keine Perspektive für die deutsche
Berufsausbildung und führen hierbei u. a. folgende Argumente an: Das Abprüfen der ein
zelnen Module würde das Prüfungswesen unnötig aufblähen. Andererseits bestehen Beden
ken, daß zwar die Teilnahme an Maßnahmen bescheinigt würde, aber nicht der tatsächliche
Erwerb von Qualiftkationen. Es gibt auch rechtliche Einwände, da die §§ 1 und 34 des Be
rufsbildungsgesetzes einer Modularisierung entgegenstehen, und es besteht die Gefahr, nur
noch nach dem einzelbetrieblichen Bedarf auszubilden und personale Kompetenzen nicht zu
befördern. Darüber hinaus wird langfristige Qualiftzierung unterhöhlt, wenn ausschließlich
der individuelle Bedarf als Bezugsgröße dient
Folgende Gründe sprechen für eine Modularisierung im bestehenden dualen System: Ange
sichts der Vielzahl von Weiterbildungsträgern und deren Freiheit, Weiterbildungsangebote
zu machen, kann eine modulare Gestaltung (Standardisierung und Zertiflzierung) zu mehr
Transparenz beitragen. Mit der einhergehenden Standardisierung und ZertiflZierung können
auch Bedarfsgerechtigkeit und Qualität der Weiterbildung erhöht werden. Diese Vorzüge
der erhöhten Transparenz und Qualität zeigen sich auch im Bereich der Erstausbildung.
Während bislang nur der Ausbildungsgang als ganzer durch Qualitätsmaßstäbe abgesichert
ist, wird derzeit die Qualität der Einzelteile nicht bewertet. Zudem können nun auch Aus
bilder an der Gestaltung von Modulen intensiv beteiligt werden, was Ausbildungsqualität nur
fördern kann.
Durch eine modulare Qualiflzierung, die auf anerkannte Berufsabschlüsse ausgerichtet ist,
können auch bislang vernachlässigte Adressatengruppen eingebunden werden, wie z. B. Per
sonen ohne Berufsabschluß, Langzeitarbeitslose und Frauen nach einer Familienpause. Mo
dule sind flexibler als ganze Bildungs- und Ausbildungsgänge den jeweiligen Anforderungen
der Arbeits- und Lebenswelt anzupassen.
Module können den individuellen Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen angepaßt werden.
Jeder Lernende könnte sich nach Lemschwierigkeiten und Lerntempo seinen eigenen Bil
dungsgang zusammenstellen und dabei an bereits bearbeitete Module individuell anknüpfen.
Langfristig können mit einem sogenannten Qualillzierungspaß alle erworbenen Teil
kompetenzen - auch bei Abbruch des Bildungsganges oder Nichtbestehen der Ab
schlußprüfung - festgehalten und gegebenenfalls bescheinigt werden. Dieser formale Qualillkationsnachweis könnte auch von anderen Betrieben anerkannt werden und damit zur Mobi
lität beitragen.
Modularisierung unterstützt den Modernisierungsvorgang in der beruflichen Bildung in
sofern, als ständig neu auftretende Qualiftkationsanforderungen konkret in Modulen
210 Perspektiven
erkennbar gemacht werden und sich einzelne Lernorte ihr jeweils eigenes Profll (Autonomie,
Organsiationsentwicklung, selbständiger Ressourceneinsatz) schaffen können.
Module können auch zwischen den Regelungen einzelner Mitgliedstaaten der Europäischen
Union vermitteln und damit einer Europäisierung der beruflichen Bildung nutzen. Unter Um
ständen können sie gemeinsam entwickelt, gegenseitig anerkannt und von den Partner
ländern übernommen werden.
Autonomiebestrebungen 211
3 Autonomiebestrebungen
Eine Perspektive der Berufsbildungspolitik zeichnet sich in Autonomiebestrebungen ab.
Diese Tendenzen gilt es, gegen Zentralisierungsansprüche zu unterstützen. Zu solchen Zen
tralisierungsbestrebungen trägt auch die Berufsbildungspolitik des Bundes bei, mit der das
Bundesrecht auf Länderrecht, und damit auch auf schulische Bereiche der Berufsbildung,
ausgedehnt werden soll.
Seit Beginn der 1990er Jahre wird die Schulautonomie zunehmend zu einem bildungs
politisch bedeutsamen Thema. Gerade in den berufsbildenden Schulen zeigt sich, daß zentra
listische Bindungen dem notwendigen Wandel der Lerninhalte und Lernmethoden entgegen
stehen. Eine Reform kann möglicherweise von oben initiiert, jedoch nicht zielsicher gesteu
ert werden. Sie muß letztendlich von den auf lokaler Ebene handelnden Personen ausgehen
und umgesetzt werden.
Mit dem Begriff der Schulautonomie verbindet sich die Vorstellung, den Betroffenen in der
Schule mehr Handlungsfreiräume und mehr Eigenverantwortlichkeit zu ermöglichen. Diese
Handlungsfreiheit bezieht sich zum einen auf die pädagogisch-unterrichtliche Gestaltung und
zum anderen auf Entscheidungen über Organisation und Finanzen. Damit kann jede Schule
je nach regionalen Erfordernissen ihr ganz spezifISches Schulproftl entwickeln. Angeregt
wurde diese Diskussion in erster Linie nicht aus den veränderten Rahmenbedingungen für
die berufliche Bildung, sondern durch die Erfahrung einer mit den Stichworten "Gewalt an
Schulen", "Schulmüdigkeit", "Burnout-Syndrom", "Knappheit an fmanziellen Mitteln" etc.
zu umschreibenden Schulwirklichkeit, auf die eine zentralistische Schuladministration keine
pädagogische Antwort fand.
Die Erfahrung führte auch an beruflichen Schulen zum Nachdenken über äußere und innere
Schulreformen. Die Reichweite dieser Reformen kann unterschiedlich sein. Gegenwärtig
wird insbesondere die Teilautonomie favorisiert. Eine Form der Teilautonomie zeichnet sich
durch weitgehende Lehrplanautonomie und verstärkte Handlungsspielräume auf didaktisch
curricularer Ebene aus. Ferner ermöglicht sie Organisationsautonomie, so daß sich schul
spezifische Organisationsstrukturen bilden können.
Bestrebungen hinsichtlich der inneren Schulreform beziehen sich auf den verstärkten
Einsatz innovativer Lehr-Lernarrangements innethalb einer zu verändernden Schul- und
Unterrichtsorganisation. Ohne das Potential an Innovationsbereitschaft der Beteiligten, das
in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurde, wäre eine innere Schulreform heute nicht
212 Perspektiven
möglich. Sicherlich kann sich diese innere Schulreform, die sich gegenwärtig auf die
Entwicklung neuer Organisationsformen konzentriert, auf eine neue didaktische Pro
fessionalität, auf ein verändertes Selbstbild von Lehrerinnen und neue Formen der Inter
aktion von Schülerinnen und Lehrerinnen stützen. Ob diese Voraussetzungen jedoch bereits
hinreichend sind für eine Teilautonomisierung von Schule, ist zumindest fraglich.
Die Bestrebungen hinsichtlich der äußeren Schulreform beziehen sich hingegen auf
Schulbehörden und Schulgesetze. Tatsächlich wird auch bereits in Schulgesetzen bzw.
entsprechenden Entwürfen der Gedanke der erweiterten Eigenständigkeit der Schule und der
erweiterten Mitwirkungsrechte der an Schule Beteiligten festgeschrieben. So heißt es im §
3(4) des Hamburger Schulgesetzes von 1997:
"Die Schule ... eröffnet Schülerinnen und Schülern alters- und entwicklungsgemäß ein größtmögliches Maß an Mitgestaltung von Unterricht und Erziehung, um sie zunehmend in die Lage zu versetzen, ihren Bildungsprozeß in eigener Verantwortung zu gestalten."
Zu beantworten wäre für jede Schule ganz spezifisch, welcher Art und wie weit die
Veränderungen von Kompetenzen der Lehrpersonen, der Schulverwaltung, der SchuIleitung
etc. gehen. Jede Schule hätte Vorstellungen davon zu entwickeln, wie Schulverwaltung,
Schulleitung usw. zu verändern und welche weiteren Entwicklungsschritte zu gehen wären.
Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik könnte diese Schritte auf dem Weg zu einer inneren
und äußeren Schulreform prozeßbegleitend und beratend erforschen.
Zielsetzung: Berufliche Handlungsjahigkeit 213
4 Zielsetzung: Berufliche Handlungsfahigkeit
Wir stellen die Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von Beruf,
Wirtschaft und Pädagogik dar. Dabei beziehen wir uns auf drei verschiedene soziale Syste
me, die sich im Handeln und Kommunizieren an ganz unterschiedlichen Bedeutungs
systemen orientieren. Am Beispiel von "Zielsetzungen" haben wir dieses herausgearbeitet
(vgl. Schaubild 2).
Zielsetzungen in der Berufs- und Wirtschaftspädago 'k
Aus- und Weiterbildung entsprechend den betriebswirtschaftlichen Qualifikationsanforderungen und unter Beachtung von Kosten-Leistungs-Gesichtspunkten "Funktionalität")
Individuelle Entwicklung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ("Persönlichkeitsentwicklung")
Integration junger Menschen in die Sozialsysteme der Gesellschaft durch den Beruf ("Berufliche Sozialisation")
Schaubild 2: Zielsetzungen
Betrachten wir diese unterschiedlichen Zielsetzungen "Funktionalität", "Berufliche Soziali
sation" und "Persönlichkeitsentwicklung", können wir uns fragen, wie wir sie in einem Über
schneidungsbereich zusammenführen können. Die Frage verweist auf Möglichkeiten der
Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Wissenschaft Als Berufs- und Wirtschaftspädagogen
können wir diese Zielsetzungen nicht einfach gegen unsere eigenen Zielsetzungen aus
tauschen. Wir können aber versuchen, solche Zielformeln zu entwickeln, über die wir diese
214 Perspektiven
unterschiedlichen Zielsetzungen einander näherbringen können, so daß von den drei
verschiedenen Standpunkten aus aufeinanderbezogen kommuniziert und gehandelt werden
kann. Vertreter einer ökonomischen Sichtweise der beruflichen Bildung kooperieren also mit
Vertretern, denen vor allem an einer gelingenden Sozialisation durch Berufsbildung liegt,
und auch mit solchen, die vor allem eine Pädagogisierung von beruflicher Bildung im Blick
haben. Für diesen Überschneidungsbereich schlagen wir die Zielformel "Berufliche Hand
lungsfahigkeit" vor (~LB, Arbeiten und Lernen (vgl. Schaubild 9».
Wenn wir uns die Kompetenzen anschauen, die berufliche Handlungsfähigkeit ausmachen,
dann erkennen wir, daß darin solche enthalten sind, die sich deutlich auf einzelne Zielsysteme
beziehen lassen. SachkompetenzlFachkompetenz, Gestaltungskompetenz und Sozialkom
petenz werden als Bündel von Qualiftkationen betrachtet, die erforderlich sind, um die neuen
Produktions-, Arbeits- und Organisations strukturen umzusetzen. Damit werden insbeson
dere ökonomische Zielsetzungen angesprochen. Die (wissenschaftliche) Methodenkompe
tenz und die Fähigkeit zum sinnvollen Abstrahieren ergänzen diese. Moralische Kompetenz
bezieht sich auf das Handeln, das sich an ethischen und moralischen Grundsätzen orientiert,
z. B. Solidarität mit den Schwächeren und Kritik an denen, die andere sozial ausgrenzen.
Moralische Kompetenz ist wichtig für die gesellschaftliche Eingliederung des einzelnen und
für die Sicherung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Moralische Kompe
tenz verweist deshalb insbesondere auf Ziele beruflicher Bildung, die sich aus "Beruflichkeit"
gewinnen lassen. Pädagogische Zielsetzungen sind angesprochen mit Sozialkompetenz, die
Selbstbewußtsein und Identität entwickeln hilft. Sie fmden sich außerdem in einem scheinbar
nebensächlichen Konstruktionsmerkmal dieses Modells von Handlungsfähigkeit wieder: der
Zusammenfügung der Kompetenzen zu einer Kreisstruktur. Damit wollen wir sagen, daß wir
Handlungsfähigkeit nur verstehen wollen als aufeinander bezogene Kompetenzen, die immer
im Zusammenhang bleiben müssen. Wir müssen also Lehr- und Lernarrangements
entwickeln, in denen idealerweise alle Kompetenzen im Zusammenhang befördert werden.
Wenn wir also Handlungskompetenz als kreisstrukturell geschlossene Verknüpfung von
Kompetenzen verstehen, dann sichern wir zugleich auch das pädagogische Prinzip der
Selbstbestimmung: Kreisstrukturell geschlossene Prozesse kennen keine Ursache und keine
Wirkung, keinen Output und keinen Input. Darin gibt es keine unabhängigen und keine
abhängigen Variablen, die wir manipulieren könnten. Kreisstrukturell organisierte Prozesse
haben keinen Anfang und kein Ende. Mit anderen Worten: Wir haben als Außenstehende, als
Lehrerinnen oder Ausbilderinnen, keine Möglichkeit, in diesen Prozeß, in dem Handlungs
fähigkeit erzeugt wird (drei der sechs Kompetenzen entstehen erst in der Verknüpfung, d. h.
Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit 215
im Prozeß selbst!), einzugreifen, es sei denn, wir zerschneiden diesen Prozeß und zerlegen
ihn in seine Bestandteile. Wenn wir aber diesen Zusammenhang zerschneiden, d. h. analy
tisch vorgehen, können wir zwar einzelne Kompetenzen befördern, aber nicht die Hand
lungskompetenz !
Kreisstrukturell organisierte Prozesse, in denen Handlungskompetenz entsteht, können also
von außen nur angeregt werden. Wie und wohin sich dieser Prozeß aber entwickelt, hängt
streng genommen vom Schüler oder Auszubildenden ab. Kreisstrukturell organisierte Pro
zesse sichern deshalb die Entwicklung von Handlungskompetenz. Handlungskompetenz
kann darüber aber nicht vermittelt werden. Es können aber günstige Bedingungen für ihre
Beförderung geschaffen werden. Wenn alle Kompetenzen im Zusammenhang gefördert wer
den und Komplexität des Lernens gewährleistet ist, dann wird auch selbstbestimmtes Lernen
gesichert. Und das genau fordert die pädagogische Sichtweise der beruflichen Bildung.
216 Perspektiven
5 Systemische Sichtweise
Wer als Lehrer oder Ausbilder systemisches Denken und Handeln vermitteln will, muß
zuerst selber lernen, systemisch zu denken und zu handeln. - Dieser Satz benennt nur eine
Binsenweisheit Mit der Entwicklung eines Strukturmodells und dem Entwurf einer Berufs
und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von drei sozialen Systemen versuchen
wir, diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Uns ist dabei klar, daß wir damit hohe
Anforderungen stellen. Denn wir alle sind es nicht gewöhnt, systemisch zu denken und zu
handeln. Gewöhnt sind wir statt dessen an das linear sequentiell fortschreitende Denken und
Handeln. Dieses wurde uns in Schule und Ausbildung vorgeführt, und dieses Denken und
Handeln haben wir eingeübt. Unsere Schwierigkeit mit dem system ischen Denken wird
vielleicht deutlich im nachstehenden Schaubild 3.
Das vielfach verzweigte Netzwerk
Verzweigungen mit Rücksprung
.... ~ .... -{]/ Lineare Abfolge
Schaubild 3: Reduktion von Komplexität
4
/ Linearer Hauptstrang mit netzartigen / ~erzweigungen
2
/ verzweigungen" ohne Rücksprung in Baumstruktur
Systemische Sichtweise 217
Mit der Anforderung, systemisch zu denken und zu handeln, befmden wir uns ganz oben im
Schaubild 3. Die Netzform kennzeichnet dabei ein vernetztes Denken, das von höchster
Komplexität und Kontingenz ist. Komplexität bezeichnet die Anzahl der verknüptbaren Ele
mente, und Kontingenz bezeichnet die Anzahl der möglichen und sinnvollen Verknüpfungen
zwischen den Elementen.
Komplexität und Kontingenz sind in einer Netzstruktur größtmöglich und nehmen auf den
Schritten zur linearen Struktur kontinuierlich ab. Auf diesem Weg reduzieren wir also Kom
plexität und Kontingenz. Nichts anderes geschieht im Prinzip bei der didaktischen Reduk
tion.
Wenn wir uns nun aber einmal selbstkritisch betrachten, so werden wir feststellen, daß wir
uns zur Zeit eher im unteren Bereich des Schemas befmden oder zu befmden wünschen. Was
können wir nun tun, um diesen Wünschen entgegenzukommen? Das Schaubild 3 zeigt den
Weg auf. Wir können Komplexität reduzieren in vier Schritten:
1. Schritt: Wir können einen roten Faden durch unser Strukturmodell legen und "Ausflüge"
(z. B. als Exkurse) in Nachbargebiete unternehmen. Dies würden wir sicherlich als ein nicht
sehr zielstrebiges Vorgehen empfinden.
2. Schritt: Wir können unser Konzept gliedern wie ein Buch mit Abschnitten und
Unterabschnitten in einer hierarchischen Struktur und auch Rücksprünge einbauen. Dann
würden wir uns allerdings fragen, welchen Sinn es überhaupt macht, zum Ausgangspunkt
zurückzukehren.
3. Schritt: Wir können auf Rücksprünge verzichten und streng der hierarchischen Gliederung
folgen. Mehrere nebeneinanderstehende Ziele würden gleichsam als Alternativen gesehen.
Damit würden wir aber die Kreisstruktur ganz aufgeben.
4. Schritt: Wir können schließlich nur noch einem roten Faden folgen, der uns sicher von
einem Ausgangspunkt über einen Weg zu einem Ziel führt. Damit hätten wir allerdings
jeglichen Anspruch auf die Beförderung systemischen Denkens und Handelns aufgegeben!
Anders ausgedrückt: Wir hätten die für system ische Sichtweise hohe Komplexität (Anzahl
der verknüpfbaren Elemente) und Kontingenz (Anzahl der sinnvollen Verknüpfungen)
schrittweise zurückgefahren. Und wären wieder da, wo wir schon sind, nämlich bei der
Vorstellung, daß jede Wirkung eine Ursache hat und sich Wirkungen und Ursachen gleich
sam zu einer Kette von Wirkungszusammenhängen zusammenfügen lassen.
Genau dieses Denken hat sich jedoch als problematisch erwiesen, weil wir mit diesem
analytischen Denken komplexe systemische Zusammenhänge - z. B. ökologischer Art - nicht
mehr beschreiben, erklären, verstehen und gestalten können. Die Konsequenz für berufliche
218 Perspektiven
Bildung lautet deshalb: Komplexität erhalten, wo wir sie antreffen. Komplexität schrittweise
erhöhen, wo sie reduziert wurde.
Entwicklung kognitiver Ansätze in der Didaktik 219
6 Entwicklung kognitiver Ansätze in der Didaktik
Eine Entwicldungsperspektive für die Didaktik beruflichen Lehrens und Lernens ist in
neueren kognitiven Ansätzen konstruktivistischer Didaktik zu erkennen.
Konstruktivistische Ansätze lehnen die Vorstellung ab, das zu vennittelnde Wissen könne
direkt vom Lehrenden in die Köpfe der Lernenden umgefüllt werden. Sie sehen statt dessen
Lernprozesse als Vorgänge aktiver Konstruktion, die die Lernenden weitgehend selbst
vollziehen müssen. Mit dieser Sichtweise rückt der Lernende in den Mittelpunkt: ein Lernen
der, der sich seine Welt und sein Wissen über die Welt selbständig auf der Grundlage seiner
bisherigen Erfahrungen konstruiert hat und neue Erfahrungen macht, die sich mit den
bisherigen zu neuem Wissen verbinden lassen. Dabei muß bedacht werden, daß dieser Kon
struktionsprozeß stets in einen sozialen Kontext eingebunden ist.
Gestaltung von Unterricht und Unterweisung bedeutet dann:
• die Lernenden zu Eigenaktivität und Eigenkonstruktion anzuregen und ihre Problem
lösefähigkeit, wie auch andere Schlüsselqualiflkationen, zu fördern. An die Stelle der Fak
tenvennittlung tritt die Vennittlung transferfähigen Wissens, eines Wissens also, das fle
xibel auf neue Problemsituationen übertragen werden kann.
• daß Alltagsprobleme bzw. -konflikte und solche Situationen, die für die Lernenden in
ihrem Arbeits- bzw. Lebenszusammenhang bedeutsam sind, als Lerngegenstände gewählt
werden.
• daß Lernen als Enkulturationsprozeß aufgefaßt wird, indem die Lernenden vor Aufgaben
gestellt werden, die sie nach dem Vorbild eines Expertenmodells zu lösen versuchen. Der
Lehrende tut dabei das, was als scajfolding and fading bezeichnet wird: Er gibt Hilfe
stellung und nimmt seine Unterstützung schrittweise zurück. Dabei sollten möglichst viele
Interaktionsmöglichkeiten gegeben sein, sowohl der Lernenden untereinander als auch
zwischen Lernenden und Lehrenden.
• die Notwendigkeit des Einsatzes moderner Technologien, nicht nur wegen der späteren
Bedeutung in der Arbeitswelt, sondern auch wegen der durch sie zu aktivierenden Lern
potentiale. So kann z. B. von den Lernenden über Videodisc, Film oder Hypertext die
Konstruktion von Wissen anschaulich nachvollzogen werden, wobei insbesondere auch
lernmotivierende Elemente eingebaut werden können.
• die Lernenden als aktiv problemlösende und eigenverantwortliche Menschen anzu
erkennen, deren individuelle Überzeugungen, Gewohnheiten und Einstellungen in der
Lernsituation berücksichtigt werden.
220 Perspektiven
• Lernumgebungen zu schaffen, die eine Berücksichtigung der individuellen Umwelten der
Lernenden wie auch der Lehrenden ermöglichen. Solche Lernumgebungen sollten folg
lich:
• authentische Situationen beinhalten, die den Rahmen und den Anwendungs
kontext für das zu erwerbende Wissen anbieten.
• Wissen in verschiedenen Zusammenhängen präsentieren, um eine flexible Über
tragung auf neue Problemsituationen zu ermöglichen.
• eine Problemstellung mehrperspektivisch ausleuchten und von mehreren Stand
punkten her betrachten. Das Ziel ist dabei die Erleichterung der flexiblen Anwen
dung des erworbenen Wissens auf andere Anforderungssituationen.
• Interaktionen und kooperatives Lernen und Arbeiten mit Gleichaltrigen und mit
Experten erlauben.
• den Lernenden weitgehende Gestaltungs- und Handlungsfreiheit gewähren. Fehler
sind dabei nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht.
Unterrichts- und Ausbildungsgestaltung enden damit nicht in der Auswahl von Inhalten und
Methoden sowie der abschließenden Ermittlung des Lernergebnisses. Lehrende sind
vielmehr auch zur Gestaltung von Lernumgebungen und zur Beförderung der Selbst
evaluation der Lernenden aufgefordert.
Schule als Lem- und Lebensraum 221
7 Schule als Lern- und Lebensraum
In einem vom Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens in Auftrag gegebenen Gutachten
"Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" (1995) legt die Bildungskommission ein
Zukunftsszenario von Schule vor. Auch wenn sie durchweg ein idealistisches Bild vom
"Haus der Schule" aufzeichnet, sind doch einige Perspektiven enthalten, die auch Berufs
und Wirtschaftspädagogen diskutieren sollten.
Schule ist in erster Linie ein Lern- und Lebensraum, in dem sich eine Schul- und eine
Lemkultur entwickeln muß. Dabei ist jede Einzelschule aufgerufen, die schulischen
Teilaufgaben - je nach regionalen Bedürfnissen - neu zu formulieren (vgl. Bildungs
kommission NRW 1995, S. 30):
• Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung müssen neu gewichtet und wieder zuein
ander in Beziehung gesetzt werden.
• Fachliches und überfachliches Lernen müssen ins Gleichgewicht gebracht werden.
• Soziales Lernen muß als Zusammenleben und Zusammenarbeiten ermöglicht und bewußt
gemacht werden.
• Anwendungsorientiertes Lernen mit Bezügen zu biographischen, historischen und um
weltbezogenen Erfahrungen ist zu fördern.
• Identitätsfindung und zugleich Achtung der Integrität anderer müssen in der Schule ge
lebt werden.
Neben einer Veränderung der Aufgaben von Schule ist auch der Lernbegriff zu erweitern:
Lernen in der Schule ist die Grundlage, aber nicht der Ersatz für lebenslanges Lernen. Die
Expertenkommission schlägt daher eine Ordnung des Lernens vor (vgl. Schaubild 4).
Nicht nur veränderte Aufgaben und eine Erweiterung des Lernverständnisses machen Schule
als "Haus des Lernens" aus. Folgende Leitvorstellungen sollen helfen, das "Haus des Ler
nens" zu skizzieren:
• Im Mittelpunkt schulischen Lemens soll der Erwerb von Lernkompetenz stehen. Hierfür
sind insbesondere die Ergebnisse der neueren Lernforschung zu nutzen.
• Lernfreude gilt es durch die Erfahrung von Selbstverantwortung und Selbstwirksarnkeit
zu wecken.
• Im Sinne eines Lehr- und Lemmanagements sollen durch den optimalen Einsatz vor
handener Mittel alle Lernmöglichkeiten ausgeschöpft werden (produktives Lernen).
222 Perspektiven
• Lernarrangements sind zu entwickeln, die insbesondere ein hohes Maß an selbst
bestimmtem, interaktivem Lernen gewährleisten.
• Flexibel einsetzbares Wissen, das der Reflexion zugänglich ist, soll besonders gefördert
werden (intelligentes Wissen).
• Erfahrung von Erfolg und Mißerfolg sind gleichermaßen bedeutsam für die Befähigung
zur Selbstevaluation. Dafür müssen neue Formen der Leistungsbeurteilung entwickelt
werden.
• Lernumgebung, Lemräume, Lernmittel, Lernhelfer sind konsequent als Mittel zum Ler
nen zu nutzen.
----- .... /"",,,,- .......... "
,/ Dimensionen '\ / des Lernens \ I \ , : ......... ---- ............
,----- ....... ,\ )"' ....... ",," ""-, ,/: "'''',
/ \ ... I ... ,\ \
" \
/ Fachliche Fachliches und SChlüssel- \ : Wissensbe- überfachliches probleme : , , \ slände und Lernen, Zc. B. / \ Methoden Fachunterricht, " \, Lehrgänge, KüIse, //
'" ' Projekte, offene ::::...-_/ ---r-- Lernformen ", , ' , \ I \ , \ , \
, I
\ Kulturtechniken \; ompetenzen. : \ 't Schlüsselqualifi- /
\\, ,/ \, kationen // " ,'/ '''', ;i"
....... _----_.......... ' ... _---_ .... '
Schaubild 4: Ordnung des Lernens (Bildungskommission NRW 1995, S. 114)
Viele dieser Leitvorstellungen, die die Kommission in erster Linie für die allgemeinbildenden
Schulen formuliert hat, sind beim beruflichen Lernen in Betrieb und Schule möglicherweise
eher zu realisieren und teilweise schon realisiert. Gleichwohl bietet die Kommission in einer
Schule als Lern- und Lebensraum 223
Gesamtschau von allgemeiner und beruflicher Bildung, von Gesellschaft und Schule, von
Planung und Verantwortung sowie von Strukturen und Prozessen des Lemens eine Per
spektive zukünftiger Bildung, die auf die besonderen Bedingungen beruflichen Lemens hin
überprüft werden muß.
224 Perspektiven
8 Ausbildung erhalten und ausbauen
Es ist ein drängendes Problem, daß Betriebe und besonders diejenigen, die gute Ausbildung
betreiben können, ihre Ausbildungskapazitäten zurückfahren oder sogar ganz einstellen bzw.
auslagern. Begründet wird diese Entwicklung u. a. auch damit, daß Ausbildung zu teuer ge
worden ist und sich Investitionen in berufliche Erstausbildung derzeit nicht mehr rechnen.
Wenn aber der notwendige Abbau von Ausbildungsabteilungen mit Kosten-Leistungs-Rech
nungen belegt und begründet wird, heißt es, diese Rechnungen auch einmal aus berufs- und
wirtschaftspädagogischer Sicht auf den Prüfstand zu stellen. Dann nämlich lassen sich etliche
Ungereimtheiten aufdecken (vgl. Schaubild 5).
Vollkosten der Ausbildung
Bruttovollkosten der Ausbildung
Bruttoerträge
Bruttoteilkosten der Ausbildung
~lkosten ~------------------~
Bruttoerträge
Ausbildung
Investition in Ausbildung
I Berufstätigkei; nach Übernahme
r--------------------------L-------Erträge ~---------------------------- ------
Schaubild 5: Kosten-Leistungs-Rechnungen
Ausbildung erhalten und ausbauen 225
Mit dem Übergang von einer Kosten- zu einer Investitionsrechnung zeichnet sich eine neue
Qualität in der Diskussion über Kosten und Nutzen der beruflichen Bildung ab. Zu dieser
Diskussion können Berufs- und Wirtschaftspädagogen wichtige Beiträge beisteuern, vor
allem zum Erkennen, Beschreiben und Operationalisieren von Erträgen der Berufsaus
bildung. Damit würden sie auch helfen, Argumente zusammenzutragen, die offensiv für den
Erhalt und den Ausbau beruflicher Bildung vorgetragen werden können.
Nicht selten werden bei Entscheidungen für oder gegen Berufsbildung nur die Vollkosten
der Ausbildung betrachtet. Vernachlässigt werden dagegen die Erträge, die Auszubildende
erwirtschaften. Es gibt jedoch auch Konzepte, die den Bruttovollkosten der Ausbildung die
Erträge gegenüberstellen. Daraus lassen sich dann die Nettovollkosten der Ausbildung
errechnen. Wie von Bardeleben und Beicht aufzeigen konnten, differieren die Nettokosten
beträchtlich zwischen den Wirtschaftsbereichen (vgl. von Bardeleben & Beicht 1996). Für
eine sachgerechte Diskussion über Kosten und Nutzen in der Berufsausbildung sollten aber
nur die Teilkosten zugrunde gelegt werden. So werden beispielsweise die Kosten für neben
berufliche Ausbilder und die Ausbildungsverwaltung bei der Teilkostenrechnung nicht er
faßt, da die Kosten auch dann anfallen, wenn nicht ausgebildet wird.
Die bisher aufgeführten Ansätze zur Erfassung von Kosten und Erträgen der Berufs
ausbildung berücksichtigen nicht, daß Ausbildungsbetrieben nach Ausbildungsende weitere
Erträge erwachsen:
• Die im eigenen Betrieb ausgebildeten jungen Mitarbeiter brauchen nicht in die betriebs
speziftschen Besonderheiten eingeführt zu werden. Sie sind vom ersten Tag an voll ein
setzbar. Es entfallen die Kosten der Einarbeitung.
• Wenn Betriebe die bei ihnen Ausgebildeten übernehmen, sparen sie die Kosten der Per
sonalbeschaffung.
• Das Risiko, eine Fehlbesetzung vorzunehmen, ist deutlich geringer.
• Arbeitnehmer, die im eigenen Betrieb ausgebildet wurden, haben eine stärkere Bindung
an "ihre" Firma In ihnen konnte die corporate identity bereits über einen längeren - und
für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutsamen - Zeitraum (16.-19. Lebensjahr!) reifen.
Erste betriebs- und arbeitswissenschaftliche Modellrechnungen über die Vorteile der Aus
bildung im eigenen Betrieb liegen bereits vor (vgl. Grossmann & Meyer 1996). Sie könnten
allerdings auf der "Nutzen-Seite" noch beträchtlich verbessert werden.
226 Perspektiven
9 Moderatorenausbildung
Die Aufgaben von Lehrenden bestehen darin, zu lehren, zu erziehen, zu beurteilen, zu
beraten, zu innovieren und zu verwalten. Diese Aufgaben haben auch heute noch ihre
Gültigkeit, allerdings mit veränderten Schwerpunkten. Traditionell sehen sich die Lehrenden
in erster Linie in der Rolle des Fachmanns und weniger in der Rolle des Pädagogen (~ LA,
Fachmann und Pädagoge). Dies gilt in besonderem Maße für die Ausbilder in den Betrieben.
Unterstützt wurde und wird dies durch die Art der Lehrerausbildung in den Universitäten
und den Studienseminaren sowie durch die Ausbildung der Ausbilder. Mit den gewandelten
Anforderungen in der Schule und mit den veränderten Anforderungen, die auf die Aus
zubildenden in ihrem Berufsleben zukommen, wird es aber nötig, sich von dieser einseitigen
Sichtweise zu lösen. Hierbei tritt insbesondere die Beraterfunktion für Lehrer und Ausbilder
in den Mittelpunkt.
Der Lehrende als Berater soll die Vorstellungen der Schüler von ihren Lernprozessen und
den gewünschten Lemergebnissen ernst nehmen. Er soll direkt auf Schülerideen eingehen,
ein offenes, konstruktives und angstfreies Lemklima schaffen, Lemwege antizipieren, Lern
fortschritte registrieren und solche Lemaufgaben stellen, die den Lehr-Lernprozeß reflexiv
unterstü tzen.
Bereits dieser kurze Aufriß der Beraterfunktion zeigt deutlich, daß sich auch die bisherige
Lehrerausbildung verändern muß. Weitere Gründe, die bisherige Lehrerausbildung zu über
denken, lassen sich benennen: Durch die zunehmend enger werdende Verzahnung von beruf
licher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung und durch verringerte Beschäf
tigungsmöglichkeiten für Absolventen eines Lehrerstudiums in rein schulischen Tätigkeits
feldern muß sich die Lehrerausbildung zu einer polyvalenten Ausbildung entwickeln, d. h. sie
muß auch für Berufe in außerschulischen Tätigkeitsfeldern qualifizieren. Hierzu ist die Ver
mittlung von Zusatzqualiftkationen eine geeignete Möglichkeit. Solche Zusatzqualiftkationen
sollten in Kooperation mit Instituten für Erwachsenenbildung und den beruflichen Fach
richtungen an den Universitäten angeboten und zertifiziert werden.
Ein entsprechender Zusatzstudiengang hat seinen Schwerpunkt in der beruflichen Weiter
bildung, einem stetig größer werdenden Tätigkeitsfeld für angehende Lehrer beruflicher
Schulen. Zugleich würde in einer Zusatzqualiftkation auch die veränderte Lehrerrolle be
rücksichtigt, wenn nämlich Moderations- und Präsentationstechniken besonders gefördert
würden. Diese Techniken wären einzuarbeiten in Themen, wie beispielsweise Rhetorik,
Visualisierung, Teamteaching, Führungs- und Unterrichtsstile und Entwicklung von
Moderatorenausbildung 227
Moderationskompetenz. Ansatzweise wird in der wissenschaftlichen Lehrerbildung auf diese
neue Aufgabe mit einem entsprechenden Lehrangebot reagiert, jedoch ist das Qua
lifizierungsangebot der wissenschaftlichen Hochschulen in dieser Hinsicht eher als beschei
den zu bezeichnen. Die Beiträge von Hochschulen zur beruflichen Weiterbildung sind so un
bedeutend, daß sie statistisch nicht erfaßt werden.
Das mag vielleicht nicht sonderlich verwundern, wenn die Ansicht vertreten wird,
Universitäten seien Stätten für die Ausbildung des akademischen Nachwuchses und sollten
nicht etwa Berufsausbildung und schon gar nicht berufliche Weiterbildung betreiben.
Das Hamburgische Hochschulgesetz bezieht jedoch eine andere Position, die sich auch in
vergleichbaren Weiterbildungsangeboten an anderen Hochschulen wiederfmden läßt. So
heißt es im § 3 (3) des Hamburgischen Hochschulgesetzes:
"Die Hochschulen dienen dem weiterbildenden Studium (Kontaktstudium) und beteiligen sich an anderen Veranstaltungen der Erwachsenenbildung. Sie fördern die Weiterbildung ihres Personals."
Wenn sich die Hochschulen auch um die Professionalisierung von Ausbildern, der haupt
beruflichen wie auch nebenamtlichen, sowie von Weiterbildnern kümmern würden, wäre das
bestimmt keine Grenzüberschreitung, sondern sogar ein Beitrag zur Erfüllung ihres gesetz
lichen Auftrags. Welche Beiträge könnte die Universität beispielsweise für die Professio
nalisierung von Ausbildern anbieten?
Sie könnte verstärkt wissenschaftliche Begleitungen von betrieblichen Modellversuchen zur
Berufsausbildung und Weiterbildung übernehmen, praxisnahe Angebote im Rahmen des
Kontaktstudiums an Berufstätige unterbreiten, Betrieben und anderen Institutionen Weiter
bildungsangebote durch die Arbeitsstelle für den wissenschaftlichen Technologietransfer
anbieten sowie Kooperation zwischen Universitätsinstituten und Betrieben zum Beispiel im
Rahmen von Doktor- und Diplomarbeiten befördern helfen. Schließlich könnte sie auch
Studiengänge anbieten, über die sich Studierende für Tätigkeitsfelder in der beruflichen
Weiterbildung besonders proftlieren und qualifizieren können.
228 Perspektiven
Literatur
Bardeleben, R. von & Beicht, U. (1996). "Investitionen in die Zukunft" - eine bildungsökonomische Betrachtung der Berufsausbildung aus betrieblicher Sicht. Beiheft 12 der Zeitschriftfür Berufs- und Wirtschaftspädagogik (S. 22-41). Stuttgart: Steiner.
Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung (Hrsg.) (1997). Hamburgisches Schulgesetz vom 16. April 1997. Hamburg: Schüthe.
Bildungskommission NRW (1995). Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Neuwied: Luchterhand.
Grossmann, S. & Meyer, H. C. (1996). Kosten und Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung: Eine theoretische und empirische Analyse. Unveröffentlichte Diplomarbeit Universität Hannover.
Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.) (1997). Hamburgisches Hochschulgesetz in der Fassung vom 2. Juli 1991, zuletzt geändert am 11. Juni 1997. Hamburg: Lütcke+Wulff.
Herbert Jacob/Kai-Ingo Voigt
Investitionsrechnung Mit Aufgaben und Lösungen
5., überarbeitete Auflage 1996, 196 Seiten, broschiert, DM 64,-
ISBN 3-409-37225-3
Das nunmehr bereits in der funften Auflage erschienene Lehrbuch vermittelt auf anschauliche Weise die Grundlagen der Investitionsplanung und -entscheidung. Dabei wird das bewährte Grundkonzept beibehalten: N ach einer Beschreibung der betrieblichen Investitionsbereiche stellen J acobNoigt zunächst die klassischen Methoden der Investitionsrechnung dar. Im Anschluß daran werden die auf der linearen Planungsrechnung beruhenden Investitionsmodelle behandelt. Sowohl im Rahmen der klassischen Methoden als auch der komplexen Modell-
ansätze wird dem Problem der Datenunsicherheit besondere Beachtung geschenkt. Ein Kapitel über die Wirkung von Steuern auf Investitionsentscheidungen rundet die Darstellung ab.
Alle Kapitel wurden fur die funfte Auflage grundlegend überarbeitet und aktualisiert.
"Investitionsrechnung" bietet zusätzlich Aufgaben und Lösungen, anhand derer der Leser seine erworbenen Kenntnisse überprüfen und vertiefen kann. Dieses Lehrbuch ist somit auch hervorragend zum Selbststudium geeignet.
Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Abraham-Uncoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden
Rund um Studium und Karriere
Erwin Dichtl/Michael Lingenfelder
Effizient studieren Wirtschaftswissenschaften
3., aktualisierte und erweiterte Auflage 1996, X, 403 Seiten, broschiert, DM 32,80
ISBN 3-409-33635-4
Fast jeder zweite Wirtschaftsstudent gibt vorzeitig auf. Andere brauchen nicht selten zwölf oder mehr Semester, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Beides muß nicht sein, wenn die Studenten eine klare Vorstellung davon haben, vor welche Entscheidungen sie gestellt werden, welcher Informationsquellen sie sich be die-
nen können, wer ihnen finanzielle Mittel zur Verfugung stellen kann etc. Auf diese und viele andere Fragen gibt "Effizient studieren" in 22 Einzelbeiträgen eine klare und verläßliche Antwort, "Effizient studieren" wurde rür die 3. Auflage aktualisiert und um Studienmöglichkeiten an Fachhochschulen erweitert.
Michael Baldus (Hrsg.)
Studium - Beruf - Karriere Personal-Manager sagen Ihnen, was Sie tun müssen
3., überarbeitete und erweiterte Auflage 1997, XII, 320 Seiten, broschiert, DM 32,80
ISBN 3-409-33847-0
27 Personalexperten stellen ihr Insider-Know-how zur Verfugung: Sie behandeln die wichtigen Branchen und Tätigkeitsfelder für Akademiker, kommentieren Trends und sagen, was Bewerber tun müssen. Ein
Muß fur Studenten an Universitäten, Fachhochschulen und vergleichbaren Ausbildungsstätten sowie fur Bewerber am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn und in der Karrierephase.
Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden