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Karin Rebmann / Walter Tenfelde / Ernst Uhe Berufs- und Wirtschaftspädagogik Eine Einführung in Strukturbegriffe GABLER

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Karin Rebmann / Walter Tenfelde / Ernst Uhe

Berufs- und Wirtschaftspädagogik Eine Einführung in Strukturbegriffe

GABLER

Dr. Karin Rebmann ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Berufs- und Wirtschaftspäda­gogik der Universität Hamburg.

Professor Dr. WaIter Tenfelde ist Professor am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg.

Professor Dr. Ernst Uhe ist Professor am Institut für berufliche Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildungsforschung der Technischen Universität Berlin.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Rebmann, Karin: Berufs- und Wirtschaftspädagogik : eine Einführung in Strukturbegriffe / Karin Rebann ; Walter Tenfelde ; Ernst Uhe. - Wiesbaden: Gabler, 1998

ISBN 978-3-409-12302-0 ISBN 978-3-322-91241-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-91241-1

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© Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Wiesbaden, 1998 Lektorat: Ralf Wettlaufer

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ISBN 978-3-409-12302-0

Vorwort

Für Erstsemester ist es erfahrungsgemäß eine große Hilfe, wenn ihnen Teilgebiete ihres

Studiums in knapper, leicht verständlicher und systematischer Form dargeboten werden.

Gleichzeitig müssen sie aber auch sicher sein können, daß alle relevanten Studieninhalte auch

tatsächlich in die ihnen angebotene Systematik eingearbeitet wurden. Unter diesen beiden

Aspekten sollte die Qualität von Studienbüchern für Studienanfänger beurteilt werden.

Die Vorarbeiten zum vorliegenden Studienbuch reichen bis in die 1980er Jahre zurück.

Nachdem die Gewerbe- und Handelslehrerausbildung an der Universität Hamburg im Jahre

1982 über eine Prüfungsordnung im Studiengang "Lehramt Oberstufe-Berufliche Schu1en"

zusammengeführt worden war, mußten auf diesen Studiengang abgestimmte Lehrveranstal­

tungen entwickelt werden. Eine Schlüsselstellung im Lehrangebot sollte eine gemeinsame

Einführungsvorlesung einnehmen, in der auch zwei bisher getrennte wissenschaftliche Dis­

ziplinen mit unterschiedlichen Selbstverständnissen, Erkenntnisinteressen, Zielsetzungen und

pragmatischen Ansprüchen zusammenzuführen waren. Insofern konnte nur auf Vorleistun­

gen der Berufspädagogik zurückgegriffen werden, als sich diese mit den Fragen auseinander­

setzte:

1. Welche spezifISchen Probleme, aber auch Chancen ergeben sich durch den Einfluß des

Berufs auf die Erziehung?

2. Wie ist auf den Beruf hin mit dem Ziel der beruflichen Tüchtigkeit zu erziehen bzw. aus-

zubilden?

Allerdings sind unter berufspädagogischen Systematikern nicht diejenigen einzureihen, mit

denen die Reflexion über Berufserziehung begann. Die von Georg Kerschensteiner begonne­

ne und von Eduard Spranger, Aloys Fischer, Theodor Litt u. a. fortgeführte sogenannte

klassische Berufsbildungstheorie konnte nicht unter einem systematischen Anspruch entwik­

kelt werden. Sie ging statt dessen von der Teilfrage aus, wie der Beruf bildend auf den Men­

schen wirkt oder wirken kann.

Es war wohl das Verdienst von Friedrich Schlieper, eine Systematisierung des Gegenstand­

bereichs mit seiner Veröffentlichung "Allgemeine Berufspädagogik" (1963) vorgelegt zu

haben. Dies blieb längere Zeit der einzige Versuch. Denn erst in den 1970er Jahren erschie­

nen in kurzen Abständen Einführungsschriften mit teilweise sehr unterschiedlich akzentuier­

ten Sichtweisen auf Berufs- oder Wirtschaftspädagogik. Sie konnten die jeweiligen Diszipli­

nen zwar voranbringen, haben sie aber auch voneinander abgegrenzt

v

Die Entwicklung einführender Vorlesungen für Berufs- und Wirtschafts pädagogen an der

Universität Harnburg war deshalb auf den Versuch einer Neustrukturierung der Berufs- und

Wirtschaftpädagogik angewiesen. Diesen Versuch unternahmen zunächst die beiden Senior­

autoren Walter Tenfelde und Ernst Uhe mit Vorlesungen zur Einführung in die Berufs- und

Wirtschaftspädagogik, die bezeichnenderweise unter dem Titel"Strukturbegriffe der Berufs­

und Wirtschaftspädagogik" angeboten wurden. Daraus wurde dann das Strukturmodell der

Berufs- und Wirtschaftspädagogik, das auch der vorliegenden Buchveröffentlichung zugrun­

de liegt. Entscheidend für die Veröffentlichung der Einführungsschrift auf der Basis von

Strukturbegriffen war jedoch die Unterstützung des Vorhabens durch die Juniorautorin Ka­

rin Rebmann, die Strukturbegriffe bearbeitete, die Entwicklung des Strukturmodells voran­

brachte und die einzelnen Themen in ihrer Einführungsvorlesung auf den Prüfstand einer

Vermittlung an Erstsemester stellte.

Gleichwohl bedarf auch die vorliegende Einführung in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik

der weiteren Systematisierung und Bearbeitung einzelner Aussagenbereiche. Dieser Heraus­

forderung werden sich Autorin und Autoren gerne stellen, wenn vor allem Studierende des

Gewerbe- und Handelslehrarnts wie bisher die Strukturbegriffe der Berufs- und Wirtschafts­

pädagogik mit ihren kritischen Rückmeldungen nachhaltig beeinflussen.

VI

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ......................................................................................................................... 1

Rahmenbedingungen (R) ................................................................................................ 5

1 Rechtlich-institutionelle Grundlagen der Berufsbildung .................................................. 5

2 Finanzierung .................................. '" ........................................................................... 11

3 Kosten und Nutzen ...................................................................................................... 14

4 Qualifizierungsvoraussetzung und Qualiftkationsverwertung ........................................ 17

5 Berufliche Weiterbildung ............................................................................................. 21

6 Internationalisierung ............................ '" ........... '" ....................................................... 25

literatur ................................ '" ....................................................................................... 31

Berufsbildungspolitik (B) .•••••.••.••••••••••.••••••••••.••.••....••••.•.••••...•••••.••••..•••••••••••.••••••••••••••• 33

1 Institutionen, Organisationen und Konfliktlinien .......................................................... 33

2 Bundesinstitut für Berufsbildung .................................................................................. 37

3 Abstimmung und Koordination .................................................................................... 40

4 Berufsbildungsforschung ............................................................................................. 43

5 Bildungspolitische Streitfälle ....................................................................................... 45

6 Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften ...................................................... 48

literatur .......................................................................................................................... 51

Beruf, Wirtschaft, Pädagogik (BWP) ........................................................................... 53

1 Systemzusammenhänge ............................................................................................... 53

2 Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration ......................................... 60

3 Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung ................................................. 68

4 Pädagogik: Bildung und Beruf ..................................................................................... 74

5 Systemische Innovationsleistungen .............................................................................. 78

literatur .......................................................................................................................... 82

VII

Zielsetzungen (Z) ••••••••••••••••••••.•••••••••••••••••..•.••.••.•••••..•..•••••.•..•..•..••...••..••..•••...•••••.••••••••• 85

1 Problematik wissenschaftlicher Zielsetzungen .............................................................. 85

2 Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit. .................................................................... 88

3 Vergesellschaftung und soziale Integration .................................................................. 90

4 Subjektivität und Persönlichkeitsentwicklung ............................................................... 92

5 Berufliche Handlungsfähigkeit ..................................................................................... 94

Literatur .......................................................................................................................... 99

Lernort Schule (LS) ..••••.•••..•••.•..•••.••••••.••••..•••..•.••...••••••..•.••..•..........•...•...•....•••••...•...••• 101

1 Berufliches Schulwesen ............................................................................................. 101

2 Berufsschule .............................................................................................................. 107

3 Merkmale schulischen Lernens .................................................................................. 114

4 Konzepte schulischen Lernens ................................................................................... 116

5 Schule und Wirtschaft ............................................................................................... 122

6 In der Diskussion: Doppelqualiftkation ...................................................................... 125

Literatur ........................................................................................................................ 128

Lernort Betrieb (LB) ................................................................................................... 131

1 Betriebliche Lernorte ................................................................................................. 131

2 Lernort "Betriebe der Wirtschaft" .............................................................................. 134

3 Merkmale betrieblichen Lernens ................................................................................ 138

4 Konzepte betrieblichen Lernens ................................................................................. 139

5 Betrieb und Gesellschaft ............................................................................................ 144

6 Arbeiten und Lernen .................................................................................................. 146

Literatur ........................................................................................................................ 151

Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens (D) ......................................................... 153

1 Didaktik - Fachdidaktik ............................................................................................. 153

2 Didaktik beruflicher Bildung ...................................................................................... 157

3 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens auf der Grundlage

großer didaktischer Positionen. .... ............ .................. ................................................ 161

4 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens auf der Grundlage

von neuen Leitideen, Ansätzen und Entwürfen ........................................................... 169

5 Berufsschuldidaktik für Lernschwache und Begabte .................................................. 174

Literatur ........................................................................................................................ 179

VIII

Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder (LA) ........................................................ 183

1 Lehrer: Fachmann und Pädagoge ............................................................................... 183

2 Professionalisierung der Lehrerausbildung ................................................................. 186

3 Theorie-Praxis-Problem ............................................................................................. 189

4 Betriebliches Ausbildungspersonal ............................................................................. 193

5 Kooperative Selbstqualifizierung ............................. .................................................. 197

Literatur ........................................................................................................................ 202

Perspektiven (P) .......................................................................................••..............•..• 205

1 Perspektiven eines Strukturmodells der Berufs- und

Wirtschaftspädagogik ................................................................................................ 205

2 Modularisierung ........................................................................................................ 208

3 Autonomiebestrebungen ............................................................................................ 211

4 Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit ............................................................... 213

5 Systemische Sichtweise ............................................................................................. 216

6 Entwicklung kognitiver Ansätze in der Didaktik ........................................................ 219

7 Schule als Lern- und Lebensraum .............................................................................. 221

8 Ausbildung erhalten und ausbauen ............................................................................. 224

9 Moderatorenausbildung ............................................................................................. 226

Literatur ........................................................................................................................ 228

Einzelne Strukturbegriffe wurden verlaßt von

Karin Rebmann: - Rahmenbedingungen

- Lernort Schule

- Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

Walter Tenfelde: - Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

Ernst Uhe: - Berufsbildungspolitik

IX

Einleitung

Das Erscheinen neuer Bücher wird zumeist damit begründet, daß Entwicklungen in bestimm­

ten Bereichen vorangeschritten sind und es nunmehr höchste Zeit wird, diese Entwicklungen

beschreibend, analysierend und reflektierend einzuholen. Sicherlich trifft dies auch für die

Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu, bedenkt man die schnell voranschreitenden Verände­

rungen von Produktions-, Arbeits- und Organisationsstrukturen. Eine Begründung des vor­

liegenden Buches wäre deshalb auch unter diesem Aspekt sinnvoll und möglich, zumal die

derzeitigen Einführungen zumeist älteren Datums sind.

Die vorliegende Einführung in die Berufs- und Wirtschaftsplidagogik verfolgt jedoch noch

ein weiteres Ziel: die Entwicklung einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik, in der beide

Teildisziplinen stärker als bisher aufeinander bezogen werden können. Dies könnte einerseits

neue wissenschaftliche Fragestellungen befördern helfen, scheint aber andererseits auch not­

wendig, um die Praxis mitgestalten zu können. Beispielhaft seien genannt die Annäherung

und Verschränkung gewerblich-technischer mit kaufmännisch-verwaltender Ausbildung in

Handwerk und Industrie. Neue wissenschaftliche Fragestellungen ergeben sich auch mit der

Annäherung der Lemorte über gemeinsam verfolgte Ziele, Konzepte und Programmatiken,

die gegenseitiges Orientieren auf gemeinsames Handeln im Feld der beruflichen Bildung er­

leichtern.

Schließlich sollte auch die Institutionalisierung der beiden Disziplinen Berufs- und Wirt­

schaftspädagogik an Universitäten mit der Verpflichtung auf eine gemeinsame Lehrerausbil­

dung und mit den Optionen für die Erschließung auch außerschulischer Tätigkeitsfelder er­

wähnt werden.

Diese Einführung in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik richtet sich an Leser und Leserin­

nen, die sich erstmals mit der Berufs- und Wirtschaftspädagogik befassen und daflir einen

Überblick bekommen wollen. Das Buch richtet sich aber auch an diejenigen, die Erfahrungen

im Feld der beruflichen Bildung haben, sich schon mit einzelnen Gebieten, Fragen und Pro­

blemstellungen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik auseinandergesetzt haben und diese

mit anderen zu einer Systematik zusammenführen möchten. Unsere Adressaten sind also

Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Lehrende an beruflichen Schulen, Aus­

und Weiterbildende in Betrieben, Fach- und Seminarleiter und -leiterinnen in Studiensemina­

ren, aber auch Dozenten und Dozentinnen.

2 Einleitung

Das Buch ist sprachlich einfach gestaltet worden. Es soll auch denen Mut machen, sich mit

Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu beschäftigen, die mit ihren bisherigen Annäherungen

an den wissenschaftlichen Diskurs steckengeblieben sind. Auf Formalisierungen wurde des­

halb ganz, auf die Präsentation von Datenmaterial in Form von Statistiken großenteils ver­

zichtet. Statt dessen sollen Beispiele und Schaubilder den Zugang zu berufs- und wirt­

schaftspädagogischen Sichtweisen, Analysen und Erkenntnissen erleichtern.

Dem Buch liegt die Idee zugrunde, diese Annäherung durch Strukturbegriffe zu erleichtern.

Strukturbegriffe vermitteln einen Überblick über ausgewählte Teilgebiete der Berufs- und

Wirtschaftspädagogik, die jedoch den Gegenstandsbereich weitgehend abdecken. Die

Strukturbegriffe sind zwei Ebenen zuzuordnen: Auf der ersten Ebene befmden sich Begriffe,

die sich auf "Objekte" der Berufs- und Wirtschaftspädagogik beziehen, auf der zweiten Ebe­

ne befmdet sich das "wissenschaftliche Selbstverständnis", mit dem Fragen einer Theorie der

Wissenschaft sowie Methodenfragen aufgegriffen werden. Letztere haben wir jedoch aus

didaktischen Überlegungen in die "Objektbegriffe" eingearbeitet. Im Abschnitt "Per­

spektiven" werden sie wieder hervorgehoben und zur Diskussion gestellt.

Wie soll dieses Buch nun gelesen werden? Sicherlich kann es wie ein Buch von Anfang bis

zum Ende auf einer "Einbahnstraße" gelesen werden. Es läßt sich aber auch im freien Navi­

gieren über die Strukturbegriffe und deren Module lesen. Für dieses freie Navigieren über

"Kreuzungen mit Ringverkehr" wurden in die Texte zahlreiche Hinweise für Verknüpfungs­

möglichkeiten eingearbeitet. Diese machen einzelne Wiederholungen unumgänglich. Es wur­

de jedoch darauf geachtet, daß Sachverhalte nur einmal vertiefend behandelt und an anderen

Stellen im Überblick und komprimiert vorgestellt werden.

Wer sich beispielsweise einen Überblick über die Lernorte der beruflichen Bildung verschaf­

fen will, wird auf die Strukturbegriffe "Lernort Betrieb" und "Lernort Schule" verwiesen.

Ein analoger Aufbau der Gliederung dieser Strukturbegriffe erleichtert den Vergleich. Da­

nach können dann weitere Strukturbegriffe zur Vertiefung herangezogen werden, beispiels­

weise "Didaktik beruflichen Lehrens und Lernens" und/oder "Rahmenbedingungen berufli­

cher Bildung".

Eine Verknüpfung ist aber auch auf der zweiten Ebene der Module möglich. Wer mit einer

spezifischen Fragestellung beginnt, z. B. mit Konfliktfeldern in der beruflichen Bildung,

sucht die Module "Schule und Wirtschaft" und "Betrieb und Gesellschaft" auf und erhält

über das Modul "Systemzusarnmenhänge" eine theoriegeleitete Interpretation. In diesen Mo­

dulen wird der Leser wiederholt auf den Strukturbegriff "Zielsetzungen beruflicher Bildung"

verwiesen. Sofern das Interesse geweckt wird, mehr über mögliche Annäherungen von Ziel-

Einleitung 3

vorstellungen in den Konfliktfeldern zu erfahren, können weitere Module herangezogen

werden.

Autorin und Autoren des Buches können solche Verknüpfungen durch Hinweise jedoch nur

anregen. In jedem Fall stellen sie einen sehr persönlichen kreativen Akt des Lernenden dar,

in dem dieser sein Wissen in einem eigenen operativen Schema entwickelt. Dieses im ver­

netzten Denken erworbene Wissen zu befördern und selbstorganisiertes Lernen in der sinn­

gebenden Verknüpfung von Informationsangeboten zu wagen, ist der Verfasserin und den

Verfassern des Buches ein besonderes Anliegen. Ob uns dieses gelungen ist, können wir

nicht allein beurteilen. Über kritische (aber auch ermunternde) Rückmeldungen würden wir

uns deshalb freuen.

Strukturbegriff:

Rahmenbedingungen

Rahmen­bedingungen

Ausbildung ff;.::..j~-\Lr~~~;---lV---+:::::::~ZielsetzungeD der Lehrer und der Ausbilder

Lernort Betrieb

1 Rechtlich-institutionelle Grundlagen der Berufsbildung

Berufliche Bildung umfaßt nach § 1 Berufsbildungsgesetz die Berufsausbildung, die berufli­

che Fortbildung und die berufliche Umschulung. Hierbei lassen sich die berufliche Umschu­

lung und auch die berufliche Fortbildung der beruflichen Weiterbildung zurechnen (vgl.

Schaubildl).

[Berufliche Bildung)

~/ ~~------.. [Berufsausbildung) [Berufliche Weiterbildung )

/ ~ [Berufliche Fortbildung) [Berufliche Umschulung)

Schaubild 1: Berufliche Bildung gemäß § 1 Berufsbildungsgesetz

6 Rahmenbedingungen

Für den Bereich der beruflichen Erstausbildung gelten andere Rahmenbedingungen als für

die berufliche Weiterbildung. Diese Unterscheidung ist begründet im föderativen System der

Bundesrepublik Deutschland und der im Grundgesetz festgeschriebenen Kompetenzvertei­

lung.

Berufliche Erstausbildung fmdet in Deutschland überwiegend im dualen System statt und

bedeutet die Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf sowohl im Betrieb als auch

in der Berufsschule. Rund 70 % der Jugendlichen eines Altersjahrganges absolvieren derzeit

eine Ausbildung im dualen System. Diese Jugendlichen müssen zunächst einen Betrieb fin­

den, mit dem sie einen Ausbildungsvertrag nach Privatrecht abschließen, bevor sie eine

Ausbildung beginnen können. Für sie gilt zudem die Berufsschulpflicht, die 1938 mit dem

Reichsschulpflichtgesetz für ganz Deutschland eingeführt wurde (~ LS, Berufsschule). Mit

Blick auf Europa lassen sich aber auch andere Ausbildungsmodelle erkennen, zum Beispiel

das Schulmodell und das Marktmodell.

Die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen legen unterschiedliche Zuständigkeiten für

die Ausbildung im Betrieb und in der Berufsschule fest. So verteilen sich die Kompetenzen

auf Bund, Länder, Unternehmen und deren Selbstverwaltungsorgane sowie die Organisatio­

nen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (vgl. Schaubild 2).

Die Länder haben gemäß Artikel 7 Grundgesetz die Kulturhoheit, d. h. gesetzgebende und

administrative Kompetenz für alle Fragen der Kulturpolitik und -verwaltung und damit auch

für alle Fragen, die das öffentliche Schul- und Bildungswesen betreffen. Die Schulaufsicht

wird von den Kultusministerien bzw. den Schulämtern ausgeübt. Die Finanzierung der

Schulen erfolgt in aller Regel aus Steuereinnahmen der Länder und Gemeinden.

Die Schulgesetze bzw. Schulpflichtgesetze der einzelnen Länder regeln die berufliche Aus­

bildung in den Schulen. Schulgesetze legen im wesentlichen Schulformen und Bildungsgänge

eines Landes fest. Stundentafeln legen rur jede Jahrgangsstufe das Gesamtaufkommen des

wöchentlichen Unterrichtes fest, bestimmen den Fächerkanon sowie die Verteilung der Wo­

chenstunden auf die Lerninhalte (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 102). Auf die­

sen Stundentafeln bauen die Lehrpläne auf, die mit den Ausbildungsordnungen abgestimmt

werden müssen (~ B, Abstimmung und Koordination). Lehrpläne sind die didaktischen

Grundlagen für den Unterricht in der Berufsschule. Sie enthalten in ihrem Kern einen Stoff­

verteilungsplan, der das inhaltliche Grundgerüst eines Faches festlegt. Darüber hinaus finden

sich Hinweise auf die Zulassung von Schulbüchern und Empfehlungen für die methodische

Rechtlich-institutionelle Grundlagen 7

Umsetzung des Lerninhaltes zum Beispiel über den Einsatz von Planspielen (~ LS, Konzep­

te schulischen Lernens).

Länderebene: Bundesebene: Landesregierung Bundesministerium !Ur Bildung, Wissenschaft, Kultusminister I+-- Forschung und Technologie in Abstimmung

mit anderen betroffenen Bundesministerien

Bundesinstitut !Ur

Berufsbildung

Kultusminister - i i konferenz

Arbeitgeber- Gewerk-verbände schaften

Rah- Lehr- Ausbil-

men- pläne dungs- Industrie- und lehr- verord- Handelskammern pläne nungen,

Gesetze

Prüfungs--- ausschüsse I+-

betriebliche Betriebsrat

Berufsschule 1++ Berufsausbildung - Jugendvertretung

Lehre

Schaubild 2: Institutioneller Rahmen der Berufsausbildung (vgl. Arbeitsgruppe Bildungs­bericht 1994, S. 558)

Neben den Stundentafeln und den Lehrplänen erlassen die Länder noch Verwaltungsvor­

schriften. Sie betreffen Fragen der Schullaufbahn der Schüler. Hierzu zählen unter anderem

Vorschriften über Klassenarbeiten, Notengebung, Versetzung und Prüfungen. Davon abzu-

8 Rahmenbedingungen

grenzen sind solche Vorschriften der Länder, die sich hauptsächlich mit Fragen der Unter­

richtsorganisation beschäftigen, zum Beispiel mit Angaben zu Klassenfrequenzen.

Die Länder sind ferner zuständig für alle Fragen der Ausbildung und Tätigkeit des Lehrper­

sonals an beruflichen Schulen. Zum Lehrpersonal an beruflichen Schulen zählen Gewerbeleh­

rer, Handelslehrer sowie Lehrer für Fachpraxis (wie z. B. Meister, Techniker, Werkstattlei­

ter etc.) (~ LA, Professionalisierung). Letztere gibt es aber nicht in allen Bundesländern.

Daneben unterrichten noch nebenberufliche Lehrer, z. B. an Schulen des Gesundheitswesens

(~ LS, Berufliches Schulwesen). In der DDR dagegen unterschied man zwischen Berufs­

schullehrern für den berufstheoretischen Unterricht, speziellen Lehrkräften für den be­

rufspraktischen Unterricht und in Heimerzieher, denn viele Lehrlinge waren während ihrer

Lehrzeit in Lehrlingsheimen untergebracht

Folgende Institutionen der Länder sind für die berufsbildenden Schulen bedeutsam: die Kul­

tusministerkonferenz und die Landesausschüsse für Berufsbildung. Das wichtigste Gremium

ist die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder. Sie dient der Koordination der

Kulturpolitik der Länder. In jedem Land besteht ein Landesausschuß für Berufsbildung. Die­

ser Landesausschuß setzt sich zusammen aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern so­

wie aus Beauftragten der obersten Landesbehörden (~ B, Institutionen und Organisatio­

nen).

Der Bund ist gemäß Artikel 12 Grundgesetz für die betriebliche Berufsausbildung zuständig

(vgl. Schaubild 2). Wichtige rechtliche Regelungen für die betriebliche Ausbildung sind: Ar­

beitsförderungsgesetz (AFG), Ausbildereignungsverordnung (AEVO), Berufsbildungsförde­

rungsgesetz (BerBiFG), Berufsbildungsgesetz (BBiG), Berufsgrundbildungsjahr-Anrech­

nungs-Verordnungen, Betriebsverfassungsgesetz (BVG), Handwerksordnung (HwO) und

Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG).

Das Berufsbildungsgesetz ist eines der wichtigsten Gesetze für die Berufsbildung. Schon vor

knapp 80 Jahren wurde der Versuch unternommen, ein solches Gesetz vorzulegen. Doch

erst 1969 gelang es, mit dem Berufsbildungsgesetz eine bundeseinheitliche Regelung für den

betrieblichen Teil der Berufsausbildung zu schaffen. Damit wurde die Berufsausbildung in

die staatliche Verantwortung gestellt. Heute gilt das Berufsbildungsgesetz für alle Bundes­

länder in Verbindung mit dem Einigungsvertrag vom 31.8.1990 (vgl. Schaubild 3).

Grundlage für eine geordnete und einheitliche Berufsausbildung sind die Ausbildungsord­

nungen gemäß § 25 Berufsbildungsgesetz. Die Ausbildungsordnungen werden durch das

Rechtlich-institutionelle Grundlagen 9

Bundesinstitut für Berufsbildung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) vorbereitet und

dann schließlich als Rechtsverordnungen nach einem Abstimmungsprozeß zwischen Bund

und Ländern vom Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie in

Absprache mit den zuständigen Fachministerien erlassen (~ B, Abstimmung und Koordina­

tion). Die Ausbildungsordnungen bilden die Grundlage für Inhalt und Ablauf der betriebli­

~~~!lAusbildung in jedem Ausbildungsberuf. Derzeit gibt es etwa 360 staatlich anerkannte

Ausbildungsberufe. Seit dem Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes wurden Neuordnun­

gen der Ausbildungsberufe durchgeführt, so daß heute etwa 96 % aller Auszubildenden nach

neuen Ausbildungsordnungen ausgebildet werden.

I. Teil

Allgemeine Vorschriften

1. Definition

II. Teil

Berufsausbildungsverhältnis

1. Begründung (Vertrag)

2. Inhalt (Rechte und Pflichten)

3. Beginn und Beendigung

4. Sonstige

VI. Teil

Besondere Vorschriften für

einzelne Wirtschafts- und

Berujszweige

1. Handwerk

2. Bergwesen

3. Landwirtschaft

4. Öffentlicher Dienst

5. Anwaltsgehilfen

6. Gehilfe in steuerberatenden

Berufen

7. Hauswirtschaft

8. Sonstige

Berufsbildungsgesetz

III. Teil

Ordnung der Berufsausbildung

1. Berechtigung zum Einstellen und

Ausbilden

2. Anerkennung von Ausbildungs­

berufen

3. Verzeichnis der Berufsausbil-

dungsverhältnisse

4. Prüfungswesen

5. Regelung und Überwachung

6. Berufliche Fortbildung und Um­

schulung

7. Berufliche Bildung Behinderter

VII. Teil

Bußgeldvorschriften

VIII. Teil

Änderung und Außerkrafitreten

von Vorschriften

IX. Teil

Übergang und &hlußvorschriften

Schaubild 3: Aufbau des Berufsbildungsgesetzes

IV. Teil

Ausschüsse

V. Teil

Berufsbildungs­

forschung

aufgehoben

10 Rahmenbedingungen

Ausbildungsordnungen sollen ein einheitliches Ausbildungsniveau befördern und Mindest­

standards der beruflichen Ausbildung in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen sichern

helfen. Ausbildungsordnungen enthalten Angaben zu:

• Ausbildungsberuf (Berufsbezeichnung),

• Ausbildungsdauer,

• Ausbildungsberufsbild (Gesamtheit der zu erwerbenden Kenntnisse und Fertigkeiten),

• Ausbildungsrahmenplan (zeitliche und sachliche Gliederung der Kenntnisse und Fertigkei­

ten),

• Prüfungsanforderungen.

Das Berufsbildungsgesetz und die Ausbildungsordnungen sind auch die Rechtsgrundlage für

Prüfungen. So werden die Zwischen- und Abschlußprüfungen bundeseinheitlich geregelt.

Die Durchführung der bundeseinheitlichen Prüfungen obliegt den Zuständigen Stellen (~ B,

Institutionen, Organisationen und Konfliktlinien). Sie erlassen die Prüfungsordnungen, set­

zen die Prüfungsausschüsse zusammen und stellen bei erfolgreich bestandener Prüfung die

Facharbeiter-, Gesellen- und Gehilfenbriefe aus.

An den Prüfungen wirken auch die Ausbilder und Ausbilderinnen in den Betrieben mit Sie

üben ihre Aufgabe in den Betrieben als haupt- oder zumeist als nebenberufliche Kräfte aus.

Seit 1972 müssen sie in einer speziellen Prüfung berufs- und arbeitspädagogische Kenntnisse

nachweisen ( ~ LA, Betriebliches Ausbildungspersonal).

Folgende Institutionen des Bundes sind für die betriebliche Berufsausbildung bedeutsam: das

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, die jeweils be­

troffenen Fachministerien, das Bundesinstitut für Berufsbildung sowie die sogenannten Zu­

ständigen Stellen (Kammern).

Die unterschiedlichen Zuständigkeiten für die Berufsausbildung in Betrieb und Berufsschule

machen eine Abstimmung notwendig. Diese Abstimmung zwischen Betrieb und Schule er­

folgt rechtlich-institutionell abgesichert seit 1974 durch den Koordinierungsausschuß des

Bundes und der Länder. Darüber hinaus gibt es keine weitere institutionalisierte Abstim­

mung. Auf regionaler Ebene existiert beispielsweise keine Regelung hinsichtlich der Zusam­

menarbeit von Ausbildern im Betrieb und Lehrern in der Berufsschule (~ B, Abstimmung

und Koordination; ~ LS, Schule und Wirtschaft).

Finanzierung 11

2 Finanzierung

In der mittelalterlichen Lehre erfolgte die Berufsausbildung "im ganzen Haus". Das bedeute­

te für den Lehrling, daß er im Handwerksbetrieb des Meisters mitarbeitete und im Haushalt

des Lehrherrn lebte. Daraus erwuchs dem Lehrherrn kein Problem einer Finanzierung der

Berufsausbildung. Indem der Lehrling handwerklich mitarbeitete, erbrachte er produktive

Arbeitsleistungen, die den Großteil der Kosten für den Lebensunterhalt des Lehrlings ab­

deckten. Außerdem hatten die Eltern von Lehrlingen in solchen Lehrverhältnissen, in denen

produktive Leistungen erst nach einer längeren Ausbildungszeit zu erwarten waren, wie bei­

spielsweise im Kunsthandwerk und in feinmechanischen Ausbildungsberufen, Lehrgeld zu

entrichten.

Die Situation änderte sich jedoch mit Beginn der Industrialisierung und dem Niedergang des

Zunftwesens. Ausbildungsbegleitend traten in zunehmendem Maße Schulen auf. Sie konnten

über öffentliche Einnahmen ihrer Träger fmanziert werden. Des weiteren waren sie auch

privatwirtschaftlich als Ausbildungsbetriebe tätig, die Ausbildungsleistungen anboten und als

Gegenleistung Schulgeld und Arbeitsleistung der Lehrlinge einforderten. Eine bis heute gül­

tige Regelung ergab sich mit der Einführung der Schulpflicht durch das Reichsschulpflicht­

gesetz von 1938, das einen Besuch einer Berufsschule für drei Jahre regelhaft für alle Aus­

zubildenden vorsah (~ LS, Berufsschule). Fortan mußte der schulische Teil der Berufsaus­

bildung aus öffentlichen Einnahmen bestritten werden. Der betriebliche Teil der Berufsaus­

bildung hingegen wurde weiterhin durch den Ausbildungsbetrieb fmanziert Dieses Modell

erschien solange unproblematisch, als die Finanzierung durch die öffentliche Hand gewähr­

leistet war und die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe eine ausreichende Versorgung mit

Ausbildungsplätzen sichern konnte.

In der Reformphase der Berufsausbildung in den 1970er Jahren lebte die Diskussion über die

Finanzierung der Berufsausbildung mit den bildungspolitischen Anstrengungen wieder auf,

über eine Ausbildungsplatzabgabe der Betriebe (~ B, Bildungspolitische Streitfälle) ein

Steuerungsinstrument für die Sicherung des Ausbildungsplatzangebotes zu erlangen. Geplant

war eine Umlagefinanzierung, die sogenannte Berufsausbildungsabgabe, die bei einem gra­

vierenden Unterangebot an Ausbildungsplätzen von jedem Unternehmen erhoben werden

und den tatsächlich ausbildenden Betrieben wieder zufließen sollte. Diese Berufsausbil­

dungsabgabe wurde als Kernstück in das Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976 einge­

schrieben, das jedoch 1981 nach einer Klage des Freistaates Bayern vor dem Bundesverfas­

sungsgericht wieder aufgehoben wurde. Damit war aber die Diskussion über die Fmanzie­

rung der Berufsausbildung nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Mit dem stagnierenden Wirt­

schaftswachstum bei kontinuierlichem Abbau von Personalbeständen und Personalkosten

12 Rahmenbedingungen

verschärfte sich das Finanzierungsproblem der Berufsausbildung. Dauerhafte Lösungen die­

ses Problems einer Sicherung der Berufsausbildung wurden energischer eingefordert.

Derzeit stehen drei Modelle der Finanzierung beruflicher Erstausbildung, nicht zuletzt auch

verknüpft mit Überlegungen zur Annäherung europäischer Bildungssysteme, zur Debatte

(vgl. Kell 1995, S. 391). Ein erster Vorschlag benennt das Zentralfondmodell, mit dem

berufliche Erstausbildung über eine Arbeitgeberumlage fmanziert werden soll. Ein zweiter

Vorschlag greift das Konzept des Arbeitsplatzförderungsgesetzes, die Umlagefinanzierung,

bei gravierender Unterdeckung von Ausbildungsplätzen einzuführen, erneut auf. Ein dritter

Vorschlag sieht tarif vertragliche Regelungen der Finanzierung durch Branchenfonds vor,

wie sie bereits für das Baugewerbe gelten.

Die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung ist kaum geregelt. Die fmanziellen Mittel zur

Durchführung der Weiterbildung können aus vier Hauptquellen stammen (vgl. Dikau 1995,

S. 433 ff.). Eine erste Quelle ist die private Wirtschaft als Hauptträger der Weiterbildung.

Eine zweite Quelle ist die Bundesanstalt für Arbeit, die über das Arbeitsförderungsgesetz

Drittmittel vergibt. Die dritte Quelle sind die Teilnehmer. Sie fmanzieren die von ihnen be­

suchten Weiterbildungsveranstaltungen durch Zahlung von Gebühren bzw. durch die Preis­

gabe arbeitsfreier Zeit. Eine vierte Quelle stellt die öffentliche Hand (Bund, Länder und Ge­

meinden) dar mit ihren Sonderprogrammen, wie zum Beispiel Frauenförderprogramme,

Maßnahmen zur beruflichen Umweltbildung, Lehrerfortbildung und Förderung der Volks­

hochschulen.

Knapp die Hälfte des Finanzierungsvolumens für die Weiterbildung bringen die Betriebe der

Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes auf, gefolgt von den Teilnehmern, die etwa ein

Fünftel der Weiterbildungskosten selbst fmanzieren, und schließlich die Bundesanstalt für

Arbeit.

Im Zuge der Harmonisierung europäischer Bildungssysteme wird die Frage der Finanzierung

der beruflichen Bildung auf der Folie alternativer Organisationsformen beruflicher Bildung

grundsätzlicher beleuchtet. In der Diskussion stehen das Marktmodell als Konzept der

Steuerung von Ausbildungsangebot und -nachfrage über einen Ausbildungsmarkt. Ferner

wird das Schulmodell erörtert mit der starken Stellung beruflicher Schulen in öffentlicher

Verantwortung. Ein drittes Modell ist die Mischform öffentlicher und privater Finanzierung,

wie sie im Rahmen des dualen Systems bereits vorliegt (vgl. Greinert 1993).

Im Marktmodell fmanzieren die Betriebe als Abnehmer die Berufsausbildung. Ausbildung

wird nach bildungsökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Im Lichte bildungsökonomi­

scher Analysen betrachtet, ist Berufsausbildung dann eine Investition in Humankapital. Sie

Finanzierung 13

wird strengen Kosten-Nutzenanalysen unterzogen. Auf dem Bildungsmarkt stehen die Be­

rufsschulen in freier Konkurrenz mit privaten Anbietern. Sie müssen sich dort um Auszubil­

dende und Finanzierungsmittel bewerben. Die Lehrenden an staatlichen Berufsschulen sind

Angestellte und werden leistungsbezogen entlohnt, sie werden von den Schulen eingestellt

und sind auch kündbar. Der Staat, der seinen Bürgern und Bürgerinnen ein Bildungsrecht

garantiert, verteilt "Bildungsgutscheine", die von den Auszubildenden bei Ausbildungsbe­

trieben eingelöst werden können (~ BWP, Wirtschaft).

Im Schulmodell erfolgt die Finanzierung der beruflichen Bildung dagegen ausschließlich über

öffentliche Haushalte. Lehrer sind staatliche Angestellte oder Beamte. Die Ausbildungslei­

stung wird nach Maßgabe staatlicher Richtlinien und Anweisungen erbracht. Eine Bewer­

tung der erbrachten Ausbildungsleistungen erfolgt durch staatliche Schulaufsichtsbeamte.

Im Modell der Mischform, die dem deutschen dualen System der Erstausbildung vergleich­

bar ist, erfolgt die Finanzierung durch die Betriebe und durch öffentliche Hände. Daneben

gibt es die Fondfinanzierung von Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten für

kleinere und mittlere Betriebe (~ B, Bildungspolitische Streitfälle). Die Bewertung der

Ausbildungsleistungen wird in Kooperation von Betrieben und staatlicher Schulaufsicht

durchgeführt.

Eine Verschärfung der Finanzierungsproblematik der beruflichen Bildung hat sich nicht zu­

letzt auch in der starken Trennung von berufstheoretischer Unterweisung und praktischer

Ausbildung ergeben. In dem Maße, in dem Ausbildung in eigenen Ausbildungsabteilungen,

in Ausbildungswerkstätten und Lehrecken konzentriert wurde, erhöhte sich auch der

"unproduktive" Anteil der Leistungen, die Auszubildende erbringen. Mit der

(Wieder)Verknüpfung von Arbeiten und Lernen in Konzepten einer dezentralen Ausbildung

dürfte sich aber der Anteil an produktiven Leistungen wieder erhöhen. Dadurch würde auch

das Finanzierungsproblem insoweit entschärft, als in der doppelten Zielsetzung von Arbeiten

und Lernen die Nettokosten der Berufsausbildung gesenkt werden könnten (~ LB, Arbeiten

und Lernen; ~ LS, Konzepte schulischen Lernens).

14 Rahmenbedingungen

3 Kosten und Nutzen

Die Frage nach Kosten und Nutzen der beruflichen Bildung ist nicht neu. Bereits in den

1960er Jahren entwickelte sich in Deutschland eine Diskussion über die Anwendbarkeit be­

triebswirtschaftlicher Überlegungen auf Bildungsinstitutionen und Bildungsprozesse im

Schnittfeld von Wirtschaftswissenschaften und Erziehungswissenschaft. Wesentlich älter sind

sogar bildungsökonomische Fragestellungen zur Analyse und Gestaltung von Bildungsge­

samtsysternen. Sie gewinnen bereits im 17. und 18. Jahrhundert an Bedeutung (--t BWP,

Wirtschaft). Aktuell bedeutsam sind Kosten-Nutzenanalysen vor allem im Zusammenhang

mit der Bewältigung von Problemen des zurückgehenden Ausbildungsplatzangebotes, sin­

kender Ausbildungsplatznachfrage und der desolaten Finanzlage in den öffentlichen Haushal­

ten. Des weiteren können Kosten-Nutzenanalysen herangezogen werden zur Steuerung von

Reformen beruflicher Bildung im Zusammenhang mit Bildungscontrolling und outsourcing

im Betrieb und auch zur Begründung von Teilautonomisierung von Schulen.

Kosten-Nutzenanalysen sind grundsätzlich auf zwei Wegen möglich. Zum einen können

Ausbildungsaufwendungen als eine Investition in Humanvermögen betrachtet werden. Wer­

den Investitionen in Humanvermögen getätigt, wird Kapital umgewandelt. Investitionen in

das Humanvermögen erhöhen den Bestand an Leistungspotential der Arbeitskräfte wie ver­

besserte Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse. Zum anderen können Kosten der Ausbil­

dung auch ins Verhältnis zu Leistungen gesetzt werden. Kosten entstehen beispielsweise als

Personal-, Anlage- und Sachkosten. Erträge entstehen durch bewertete Leistungen, bei­

spielsweise in Form von Einnahmen des Betriebes aus bewerteten Leistungen des Auszubil­

denden oder in der Form einer monetär bewerteten, aber eingesparten Fachkraft. Betriebs­

wirtschaftliche Überlegungen zu Kosten und Nutzen der beruflichen Bildung orientieren sich

zumeist am Konzept einer Kosten- und Leistungsrechnung, während sich volkswirtschaftli­

che Betrachtungen vorzugsweise am Vermögens- bzw. Kapitalbegriff (Humanvermögen)

ausrichten (--t BWP, Wirtschaft).

Konzeptionen zur Erfassung von Kosten und Leistungen werden grundsätzlich in zwei

Schritten erstellt. In einem ersten Schritt gilt es, die Ausbildung als Kostenfaktor zu erken­

nen und die auf die Ausbildung entfallenden Kosten zu ermitteln. Wie diese Kosten ermittelt

werden, hängt vom Zweck ab, der mit der Kosten- und Leistungsrechnung verfolgt wird. So

wird eine Vollkostenrechnung dann gewählt werden, wenn alle Kosten, die durch Ausbil­

dung verursacht werden, erfaßt werden sollen. In eine Teilkostenrechnung hingegen gehen

nur solche Kosten ein, die unmittelbar durch die Ausbildung verursacht werden. Kosten der

Kosten und Nutzen 15

Ausbildung, die im Prozeß des Lernens durch Mitarbeit anfallen, werden deshalb nicht als

Ausbildungskosten ausgewiesen, sondern den Produktionskosten zugerechnet. In einem

zweiten Schritt werden schließlich die Leistungen ermittelt. Dies geschieht üblicherweise,

indem die Erträge bewertet werden. Hierzu zählen beispielsweise die verrechenbaren Lei­

stungen eines Auszubildenden, der selbständig einen Kundenauftrag ausführt, oder die einge­

sparten Ak:quisitionskosten, wenn der Auszubildende nach abgeschlossener Ausbildung im

Betrieb verbleibt Werden nun die so ermittelten Kosten (Bruttokosten) und die bewerteten

Erträge miteinander verrechnet, entstehen entweder Nettokosten oder Nettoerträge.

Hierzu ein Beispiel: Im Rahmen einer Untersuchung im Auftrag des Bundesinstituts für Be­

rufsbildung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) wurden 1991 die Voll- und Teilkosten

sowie der jeweilige einzelbetriebliche Nutzen von 1370 Betrieben aus Industrie, Handel und

Handwerk erhoben. Es wurden 18051 DM Bruttokosten auf Teilkostenbasis pro Auszubil­

denden und Jahr errechnet. Dabei machen die Personalkosten der Auszubildenden mit 80 %

den größten Anteil dieser Bruttokosten aus. Die restlichen Kostenarten sind in etwa gleich

verteilt (vgl. von Bardeleben & Beicht 1996, S. 30). Bei einer Vollkostenberechnung belau­

fen sich die Bruttokosten dagegen auf knapp 30000 DM pro Auszubildenden und Jahr (vgl.

von Bardeleben & Beicht 1996, S. 32). Werden nun die Kosten getrennt für die Bereiche

Industrie und Handel sowie Handwerk betrachtet, zeigen sich deutliche Unterschiede in der

Höhe der anfallenden Kosten. So weist das Handwerk deutlich niedrigere Voll- und Teilko­

sten auf, was auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann. Im Handwerk fallen

niedrigere Ausbildungsvergütungen als in Industrie und Handel an, und es werden auch

niedrigere tarifvertragliche und freiwillige Sozialleistungen gezahlt. Das Lernen am Arbeits­

platz ist im Handwerk die Regel. Es ist kostengünstiger als die teuren Lehrwerkstätten der

Industrie. Zu bedenken ist außerdem, daß nebenberufliche Ausbilder im Handwerk häufiger

als in Industrie und Handel eingesetzt werden (~ LA, Betriebliches Ausbildungspersonal).

Nach Abzug der Erträge verblieben pro Auszubildenden und Jahr im Bereich Industrie und

Handel durchschnittlich 9194 DM Nettoteilkosten sowie im Bereich Handwerk 399 DM

Nettoteilkosten (vgl. von Bardeleben & Beicht 1996, S. 32). Das Verhältnis von Kosten und

Erträgen verändert sich zudem in Abhängigkeit von der Betriebsgröße, vom Ausbildungs­

jahr, von der Organisationsform der Berufsausbildung sowie von den Wirtschaftsbereichen.

So steigen beispielsweise die Nettokosten mit der Betriebsgröße an und fallen im Laufe der

Ausbildungsdauer trotz steigender Ausbildungsvergütungen.

16 Rahmenbedingungen

Wenngleich die Ennittlung des Ausbildungsertrages in dieser Studie noch auf Schätzgrößen

beruht, können die Erkenntnisse über Nettokosten der Ausbildung schon in Argumente für

den Nutzen der betrieblichen Bildungsarbeit eingearbeitet werden. Nutzen kann in verschie­

denen Fonnen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen (vgl. von Bardeleben, Beicht &

Feher 1995, S. 106 ff.). Nutzen kann erstens als produktive Leistungen der Auszubildenden

während der Ausbildungszeit und damit als Ertrag anfallen. Zweitens kann man von einem

Nutzenvorteil bei Berücksichtigung des langfristigen Aspekts der Fachkräfte- und Nach­

wuchssicherung sprechen. Drittens kann Nutzen in Fonn von Kosteneinsparungen nach der

Ausbildung anfallen. So hat ein ausbildender Betrieb Kostenvorteile im Vergleich zu einem

Betrieb, der seine Fachkräfte vom externen Arbeitsmarkt beziehen muß. Er muß in der Regel

höhere Personalbeschaffungskosten aufwenden. Er hat höhere Kosten für Einarbeitung und

Anpassungsqualiftzierung. Es fallen höhere Personalkosten für extern zu beschaffende Fach­

kräfte an. Er geht ein höheres Fehlbesetzungsrisiko ein, muß höhere Fluktuationskosten in

Kauf nehmen und erleidet unter Umständen sogar einen Imageverlust

Ein Fazit dieser Studie lautet (von Bardeleben & Beicht 1996, S. 39 f.):

"Werden alle Fonnen des Ausbildungsnutzens zusammen betrachtet, also die produktiven Leistungen der Auszubildenden während der Ausbildungszeit, die Kosteneinsparungen im Vergleich zum nicht ausbildenden Betrieb sowie die langfristigen Aspekte der Fachkräfte- und Nachwuchssicherung, und diese den Ausbildungskosten gegenübergestellt, dann liegt klar auf der Hand, daß der Nut­zen der Ausbildung für die Betriebe höher ist als die Kosten. ... Bei diesen Überlegungen bleibt schließlich der individuelle und gesellschaftliche Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung noch ganz außer Betracht"

Es können Erkenntnisse aus Kosten-Nutzenanalysen vielfältig verwendet werden (vgl. Ste­

pan & Ortner 1995, S. 352). Sie können beispielsweise die kontroverse Diskussion über die

Allokation von Ressourcen in der beruflichen Bildung einer begründeten Entscheidung zu­

führen. Sie können das Aushandeln der Tarifpartner über Fragen des zahlenmäßigen Ange­

bots an Ausbildungsplätzen argumentativ stützen. Dabei können sie unter Umständen helfen,

beispielsweise das Vorurteil "Berufsausbildung ist zu teuer" abzubauen. Des weiteren kön­

nen Kosten-Nutzenanalysen Systemvergleiche zwischen schulischen, betrieblichen und dua­

len Organisationsfonnen erleichtern.

Qualifizienmgsvoraussetzung und Qualifikationsverwertung 17

4 Qualifizierungsvoraussetzung und Qualifikationsverwertung

Das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland besteht aus einem differenzierten Sy­

stem von Institutionen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind (Primar-, Sekun­

darstufen I und 11 sowie tertiärer Bereich) und die Übergänge gestatten (~ LS, Berufliches

Schulwesen). An den Übergängen zwischen Bildungseinrichtungen der verschiedenen Ebe­

nen werden Zertiftkate vergeben und verlangt. Sie sind als Berechtigungsnachweise für die

Nutzung dieser Übergänge zwar notwendig, häuftg jedoch nicht mehr hinreichend.

Gerade die Berufsausbildung im dualen System ist von diesem Problem einer eingeschränk­

ten Durchlässigkeit betroffen (vgl. Schaubild 4).

Zertifizierte Zertiftzierte Individuelle Bewertung Lernleistungen Lemleistungen von (teil-

von Lernleistungen

~

I I

Studium

und voll-) Allgemeinbildender Schulen berujsqualifizierenden

I Bewertung erworbener Qualifikationen

Bewertung von Qualiftzierungsvoraussetzungen

I Berufsausbildnng im dualen System

Berufsschule und Betrieb

I Bewertung beruflicher Qualifikationen

Bewertung von QuaJiftzierungsvoraussetzungen

I I I

Beruf! Freizeit Weiterbildung

Schulen

}-

I I

PolitikJ Wirtscbaft/ Gesellschaft

Schaubild 4: Behinderung der Durchlässigkeit im System der Berufsausbildung durch die doppelte Bewertung von Lemleistungen

18 Rahmenbedingungen

Das Problem stellt sich im dualen System selbst, stärker aber noch an den Übergängen, über

die das duale System betreten oder aber verlassen werden könnte. Eine Problemursache ist

darin zu sehen, daß Berufsschule und Betrieb erstens sowohl aufnehmende als auch abge­

bende Institutionen sind und zweitens Institutionen verschiedener sozialer Systeme sind, die

ihre "Systemleistungen" folglich auch unterschiedlich bewerten (~ BWP, Systemzusam­

menhänge). Hierdurch entstehen Vorgänge einer doppelten Bewertung von Qualiftkationen.

Diese Vorgänge sind im dualen System besonders ausgeprägt

Zu den bedeutendsten abgebenden Institutionen an die Berufsausbildung im dualen System

zählen die allgemeinbildenden Schulen: Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Ge­

schichtlich betrachtet handelt es sich dabei um Schultypen mit unterschiedlichen Funktionen

innerhalb des Bildungssystems: Das Gymnasium sollte vor allem auf Führungspositionen in

staatlicher Verwaltung und Wirtschaft vorbereiten. Die Realschule war auf die Einnahme

mittlerer Positionen in Betrieb, Wirtschaft und Verwaltung ausgerichtet, auf die Ebene der

Meister und Techniker. Die Volks- bzw. Hauptschule schließlich sollte auf die Mehrzahl

beruflicher Tätigkeiten im Beschäftigungssystem vorbereiten (vgl. KeIl 1982, S. 298). Auf

diese Funktion war das jeweilige Bildungsangebot abgestimmt: Das Gymnasium vermittelte

Allgemeinbildung. Die Realschule stellte gehobene Anforderungen an eine theoretische

Durchdringung von Realien. Die Volks- bzw. Hauptschule vermittelte Elementarbildung in

Verbindung mit Arbeits- und Berufsvorbereitung.

Kennzeichnend für die Schultypen waren also die Vorstellungen von ihrem Beitrag zur sozia­

len Schichtung und ein darauf abzustimmender Bildungskanon. Diese tradierten Vorstellun­

gen von den Funktionen eines dreigliedrigen Bildungssystems werden aber zunehmend de­

mentiert: Die quantitative und auch qualitative Bedeutung der Hauptschule als abgebende

Institution an das duale System ist kontinuierlich zurückgegangen. Dagegen drängen Abitu­

rienten verstärkt in das duale System. Die sogenannten allgemeinbildenden Schulen können

sich nicht mehr allein darauf zurückziehen, Allgemeinbildung für soziale Oberschichten im

fachlich geordneten Lernen zu vermitteln. Sie werden zunehmend auch mit Erziehungsauf­

gaben zur Förderung von Lernbereitschaft, Sozialverhalten, Wertorientierungen u. a. kon­

frontiert und müssen sich dabei ganz auf ihre Schüler einlassen, um noch erfolgreich Bil­

dungsarbeit leisten zu können. Selbst Schulgesetze, die immer besonders lange an tradierten

Vorstellungen von Schulbildung als Beitrag zur Stabilisierung von Gesellschaft festhielten,

erkennen mittlerweile veränderte Bildungsaufträge besonders auch an allgemeinbildenden

Schulen an (~ Z, Vergesellschaftung; ~ Z, Subjektivität).

Qualijizierungsvoraussetzung und Qualifikationsverwertung 19

Als Konsequenz ist abzulesen, daß schulische Lemleistungen besonders an allgemeinbilden­

den Schulen primär rückblickend und bezogen auf speziftsche Schulziele bewertet werden,

und sich diese Schulen dabei als relativ abgeschlossen auch gegenüber weiterführenden

Schulen und anderen Bildungseinrichtungen betrachten. Thr Erfolg bemißt sich daran, ob und

inwieweit sie ihre eigenen Schulziele erreichen, und nicht etwa an den Qualifikationen, die

sie für andere Sozialsysteme erzeugt haben. Zertifikate, die sie ausstellen, dokumentieren

dies: Ein Hauptschulabschluß besagt nur, daß ein Hauptschüler das Ziel der Hauptschule

erreicht hat und macht keine zuverlässige Aussage darüber, daß er sich auch in einer Berufs­

ausbildung bewähren wird. Ebenso wenig bestätigt eine bestandene Abiturprüfung, daß ein

Abiturient auch erfolgreich studieren wird, wie die hohen Abbrecherquoten an Universitäten

belegen. Solange sich jedoch Schüler im System Schule bewegen, wird an der Fiktion, daß

die zertifizierte AbschlußqualifIkation zugleich auch ein hinreichender Nachweis für eine

geforderte Eingangsqualifikation ist, festgehalten.

Die Situation ändert sich aber dann, wenn der Schüler das System Schule verläßt und in eine

Berufsausbildung eintreten möchte. Dann nämlich gehören abgebende fustitution und auf­

nehmende fustitution verschiedenen Systemen an, und die zertifizierte Abschlußqualiflkation

wird einer Neubewertung unterzogen.

Schüler, die einen Ausbildungsplatz haben möchten, müssen sich in der Regel in einem Aus­

wahlverfahren bewähren. Sie müssen psychologische Tests bestehen, sich in einem Assess­

ment Center profilieren oder sich in einem Bewerbungsgespräch bewähren. Zwar orientieren

sich auch Betriebe bei Einstellungen zunächst an Dokumenten über bisher erbrachte Lem­

leistungen, entscheidend ist jedoch letztlich die neue Bewertung, die der Bewerber durch

den Betrieb erfährt.

Die für das duale System so charakteristische Neubewertung von zertifizierten Lernleistun­

gen zeigt sich besonders auch beim Übergang von teil- und vollqualifIZierenden beruflichen

Schulen in das duale System. Bei teilqualifizierenden schulischen Berufsausbildungen ist eine

Verkürzung der Ausbildung im dualen System ebenfalls nur mit einem anrechenbaren Teil

dieser Ausbildung zu begründen. Selbst berufliche VollqualifIZierungen in beruflichen Schu­

len werden von der Umwertung nach betrieblichen Bedeutungen nicht ausgenommen. Schu­

lische Ausbildungen in Assistentenberufen, beispielsweise in der Ausbildung zur kaufmänni­

schen Assistenz, erfahren dagegen eine nur geringe Akzeptanz als berufliche Vollqualifikati­

on. Sie werden allenfalls als einstiegserleichternde Qualifikationen in eine Ausbildung im

dualen System gewertet

20 Rahmenbedingungen

Das Problem der doppelten Bewertung von Lernleistungen im dualen System läßt sich aber

auch an der zweiten Schwelle der Berufsausbildung aufzeigen. Relativ unproblematisch

scheint der Übergang von der Berufsausbildung in den Beruf und in die betriebliche Wei­

terbildung zu sein, weil sich dabei die systemspeziflSche Bewertung bisherigen erfolgreichen

beruflichen Lernens nicht oder nicht grundlegend ändert: Gesellen-, Facharbeiter- oder Ge­

hilfenbriefe zertifizieren eine erfolgreiche Berufsausbildung und werden als günstige Ein­

stiegsqualiftkation für eine berufliche Tätigkeit anerkannt. Beruflicher Erfolg seinerseits ist

wiederum eine günstige und unter Umständen sogar notwendige Voraussetzung für die In­

anspruchnahme von betrieblicher Weiterbildung. Auch für die staatlich geregelte berufliche

Weiterbildung zu Meistern, Technikern, Fachwirten gilt: Zuvor erbrachte schulische lei­

stungen sind neben Berufserfahrung wichtige Qualiftkationen, die auch als Eingangsqualift­

kationen gewertet werden, solange deren Verwertung innerhalb desselben Systems erfolgt.

Die Situation ändert sich jedoch sofort, wenn berufliche und betriebliche Qualiftkationen in

Eingangsqualiftkationen für Fachhochschul- und Universitätsstudien umgemünzt werden

sollen. Dann nämlich werden berufliche Qualiftkationen, erworben in qualifizierten Erstaus­

bildungen und Weiterbildungen, nicht oder nur mit erheblichen Abstrichen als Eingangsqua­

liftkationen gewertet. Dies ist nach einer Berufsausbildung der Fall, wenn diese etwa nur

einem mittleren Bildungsabschluß gleichgestellt wird, oder wenn beruflich Qualiftzierte ein

Studium aufnehmen wollen. Diese müssen sich dann einer Eingangsprüfung unterziehen,

werden nur zum Probestudium zugelassen und können nur fachgebunden studieren.

Allerdings zeichnet sich derzeit eine generelle Neubewertung beruflicher QualifIkationen ab,

damit diese auch im Studium verwertbar sind (~ LS, DoppelqualifIkation). In der tradierten

Sichtweise auf berufliche Qualiftkationen wird zwar immer unterstellt, daß eine Studierfä­

higkeit allein über ein fachlich geordnetes Lernen auf der gymnasialen Oberstufe und ver­

gleichbarer (zusätzlicher) Bildungsangebote beispielsweise durch die Fachoberschule erreicht

werden kann. Empirische Untersuchungen, aber auch Erfahrungen mit beruflich Qualifizier­

ten im Studium zeigen jedoch, daß diese tradierte Sichtweise unbegründet ist. Werden an

Stelle der fachlichen Lernleistungen die im fachlichen Lernen vermittelten Kompetenzen für

eine Bewertung herangezogen, läßt sich auch für beruflich Qualiftzierte unter Umständen

eine Studierfähigkeit nachweisen (vgl. Bremer, Heidegger, Schenk:, Tenfelde & Uhe 1993).

Dennoch bleibt die doppelte Bewertung von Qualiftkationen einerseits als Abschlußqualift­

kation und andererseits als EinstiegsqualifIkation eine Rahmenbedingung beruflichen Ler­

nens, die in dieser diskriminierenden Form sonst nirgends anzutreffen ist.

Berufliche Weiterbildung 21

5 Berufliche Weiterbildung

Die historischen Wurzeln der Weiterbildung können bis in die Aufklärung des 18. Jahrhun­

derts zurückverfolgt werden. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten sich erste Handwer­

ker- und Arbeiterbildungsvereine mit dem Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs

ihrer Mitglieder (~ BWP, Vergesellschaftung). Auch die Kirchen trugen zum Weiterbil­

dungsangebot bei (z. B. Kolpingvereine). Trotzdem bedeutete berufliche Bildung noch bis in

die 1970er Jahre hinein in der Regel berufliche Erstausbildung von Jugendlichen. Erst mit

dem Strukturplan des Deutschen Bildungsrates (~ B, Institutionen und Organisationen)

1970 wurde nun die gesellschaftliche Bedeutung auch der beruflichen Weiterbildung als ein

eigenständiger Bereich innerhalb der beruflichen Bildung besonders herausgestellt

In der DDR dagegen war die Weiterbildung in der Bezeichnung "Erwachsenenbildung"

schon früher von großer Bedeutung. So war bereits 1965 per Gesetzesbeschluß der Bereich

der Weiterbildung in das staatliche Bildungswesen integriert und diente insbesondere der

Ausbildung der Un- und Angelernten zu Facharbeitern sowie zur Aufstiegsqualifizierung der

Facharbeiter zu Meistem. Aber auch Hochschul- und Fachhochschulabsolventen wurden in

die Weiterbildungaktivitäten eingeschlossen. Einerseits wurde so die Gelegenheit des berufli­

chen und sozialen Aufstiegs angeboten, andererseits konnten die Betriebe bedarfsgerecht

(weiter)qualifizieren. Die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung erfolgte denn auch

durch die Betriebe. Die Trägerschaft lag dementsprechend bei den Betriebsakademien, aber

auch bei Berufsverbänden, Innungen des Handwerks und Kammern der Technik (vgl. Ar­

beitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 725).

Verschiedene Formen der Weiterbildung können unterschieden werden.

Nach dem Merkmal des Abschlusses lassen sich abschlußbezogene und nicht­

abschlußbezogene Weiterbildung differenzieren. Abschlußbezogene Weiterbildungsmaß­

nahmen haben in der Regel mittlere QualifIkationsebenen als Zielgruppe. Eine marktgängige

Verwertung dieser Maßnahmen wird möglich durch Zertifizierung (z. B. in der Meisteraus­

bildung). Bei nicht-abschlußbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen, die in Deutschland be­

sonders bedeutsam sind und zumeist betrieblich organisiert sind, sind die Betriebe sowohl

Nachfrager als auch Anbieter entsprechender Qualiflzierungsmaßnahmen (vgl. Dobischat

1996, S. 166). Je nach Aufgabe der beruflichen Weiterbildung lassen sich folgende Arten

kennzeichnen: Anpassungsfortbildung, die bereits erworbene berufliche QualifIkationen auf

den neuesten Stand bringt, Aufstiegsfortbildung, die bereits erworbene QualifIkationen wei­

terentwickelt, berufliche Umschulung, die eine aktuell angeforderte neue QualifIkation

22 Rahmenbedingungen

vermittelt und berufliche Reaktivierung, die nach längerer Unterbrechung den Wiedereintritt

ins Erwerbsleben vorbereitet. Des weiteren ist berufliche Weiterbildung auch berufliche Re­

habilitation für die Wiedereingliederung Erwachsener, deren berufliche QualifIkationen oder

Arbeitsfähigkeit durch Unfall oder Krankheit teilweise oder vollständig verloren gegangen

sind. Der Vollständigkeit halber seien noch die folgenden Formen genannt: berufliche Reso­

zialisation für Straffällige, berufliche Einarbeitung sowie der Sonderfall der beruflichen Er­

stausbildung Erwachsener (vgl. Dikau 1995, S. 429; Münch 1994, S. 63). Je nach Sektoren

gibt es innerbetriebliche, überbetriebliche und außerbetriebliche Weiterbildungsmaßnahmen

(Schlaffke 1982, S. 62). Die innerbetriebliche Weiterbildung richtet sich an Firmenangehöri­

ge und ist nur auf betriebsinterne Zwecke ausgerichtet. Die überbetriebliche Weiterbildung

hingegen wird meist in Kooperation mit anderen Betrieben z. B. in Bildungswerken und

ähnlichen Bildungseinrichtungen der Kammern, Innungen, Wirtschaftsverbände etc. durchge­

führt. Die außerbetriebliche Weiterbildung wird in einer vom Unternehmen unabhängigen

Weiterbildungseinrichtung durchgeführt (z. B. Kirchen, Volkshochschulen, Akademien von

Gewerkschaften, Stiftungen).

Bereits die aufgeführten unterscheidbaren Formen von Weiterbildungsmaßnahmen deuten

an, wie vielfältig und zum Teil auch intransparent sich das Weiterbildungssystem darstellen

läßt, beispielsweise mit den Worten:

" ... das Weiterbildungssystem (ist) ein historisch gewachsenes komplexes Gebil­de divergierender Funktions- und Aufgabenzuweisungen ... , (spiegelt) unter­schiedliche soziale Bezüge und gesellschaftliche Interessen wider ... und (ist) durch vielfältige rechtliche, organisatorische, fmanzielle und curriculare Bezugs­punkte und Zuständigkeiten gekennzeichnet" (Dobischat 1996, S. 165).

Für den Bereich der beruflichen Weiterbildung existiert keine einheitliche gesetzliche Rege­

lung. Er ist vielmehr durch große Heterogenität an Zuständigkeiten gekennzeichnet. Soweit

dennoch gesetzliche Regelungen getroffenen wurden, ist der Bund für Fragen der berufli­

chen Weiterbildung zuständig, während die Länder in Fragen der allgemeinen Erwachse­

nenbildung entscheiden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Staat insgesamt eine nur

schwach ausgeprägte Ordnungs- und Gestaltungsfunktion gerade im Bereich der Anpas­

sungsfortbildung ausübt. Hierfür sind die (in der Regel privatwirtschaftlichen) Betriebe zu­

ständig, denen auch die Organisation und Finanzierung obliegt.

Zum wichtigsten Träger der beruflichen Weiterbildung gemessen an der Zahl der Teilnehmer

und nach Zahl des Weiterbildungsvolumens zählen die Betriebe, gefolgt von den privaten

Institutionen, den Kammern und Fachschulen sowie den Berufsverbänden und Gewerkschaf-

Berufliche Weiterbildung 23

ten (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 727). Bemerkenswert ist, daß die Hoch­

schulen kein nennenswertes Angebot im Bereich der Weiterbildung anbieten, obgleich sie

bereits mit dem 1976 verabschiedeten Hochschulrahmengesetz auch die (berufliche) Wei­

terbildung in ihr Aufgabenspektrum aufgenommen haben. Die geringe Rolle der Hochschu­

len im Bereich der beruflichen Weiterbildung läßt sich im übrigen auch für die Europäische

Union bestätigen (vgl. Europäische Kommission 1996, S. 88).

Wie in der betrieblichen Erstausbildung so sind auch für die betriebliche Weiterbildung Wirt­

schaftlichkeitsüberlegungen bedeutsam. Nach einer Untersuchung von 1993 fielen in den

befragten Unternehmen pro Teilnehmer 2722 DM Kosten für sogenannte klassische Wei­

terbildung an, das sind umgerechnet auf die Beschäftigten 533 DM (vgl. Grünewald &

Moraal1995, S. 12). Die Untersuchung konnte keine signiftkanten Unterschiede in der Ko­

stenhöhe in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße nachweisen. Unterschiede bestehen

jedoch zwischen den alten und neuen Bundesländern. So fallen in den alten Bundesländern

signiftkant mehr Weiterbildungskosten an. Weitere Unterschiede bestehen zwischen den ein­

zelnen Branchen. Die größte Differenz in den anfallenden Weiterbildungskosten konnte zwi­

schen den Branchen Maschinenbau und Einzelhandel aufgewiesen werden (vgl. Grünewald

& Moraal 1995, S. 12 ff.). Kritisch muß hierzu angemerkt werden, daß es ähnlich wie bei

der betrieblichen Erstausbildung auch im Weiterbildungsbereich schwer fällt, die Kosten zu

ermitteln. Und dies angesichts der Tatsache, daß sich auch im Bereich der Weiterbildung

Betriebe zu Kürzungen veraniaßt sehen und dann auf Grundlage ungenauer Daten und Ein­

schätzungen entscheiden!

Allerdings stehen Entscheidungen über betriebliche Weiterbildung letztlich in einem depen­

denten Verhältnis von rechtlichen, ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingun­

gen.

Das Personal in der Weiterbildung besteht zumeist aus nebenberuflichen, zum Teil auch eh­

renamtlichen, seltener aus hauptberuflichen Weiterbildnern. Insgesamt scheint dabei die

fachliche, kommunikative und methodische Kompetenz des Weiterbildungspersonals ein

Problemfeld zu sein (vgl. Dikau 1995, S. 438; Münch 1994, S. 73), weshalb auch häufig der

Vorteil eigener Praxiserfahrungen im zu lehrenden Bereich nicht umgesetzt und genutzt

werden. Schwierigkeiten im Professionalisierungsgrad des Personals sind nicht zu übersehen

(~ LA, Betriebliches Ausbildungspersonal).

24 Rahmenbedingungen

Das Teilnehmer- und Teilnahmeverhalten an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen zeigt

bereits eine Studie von 1979 auf. An- und ungelernte Arbeiter sowie Facharbeiter stellen den

weitaus geringeren Anteil an Weiterbildungsteilnehmern als Angestellte und Führungskräfte.

Dieses Ergebnis konnte fünfzehn Jahre später im wesentlichen bestätigt werden. Genauer: Es

nehmen 42 % der Führungskräfte, 26 % der Fachkräfte und lediglich 7 % der un- oder ange­

lernten Kräfte an entsprechenden Lehrveranstaltungen teil (vgl. Bundesinstitut für Berufsbil­

dung 1996, S. 7). Dadurch werden bereits vorhandene Ungleichgewichte in Bildung und

Ausbildung durch die Weiterbildung noch verstärkt. Gerade die erste Gruppe erhält in der

Regel kurzfristige Einweisungen, die nach dem Schema des leaming by doing ablaufen und

nicht zu den Weiterbildungsmaßnahmen gerechnet werden. Doch nicht nur die berufliche

Position stellt ein Differenzierungskriterium der Teilnahme an beruflichen Weiterbildungs­

maßnahmen dar, sondern auch Branche, Betriebsgröße, Geschlecht und Alter. Es konnte

aber gezeigt werden, daß die Bereitschaft, an Weiterbildung teilzunehmen, insgesamt beför­

dert werden kann, wenn besonders den bisher Weiterbildungsabstinenten angemessene inner­

oder außerbetriebliche Angebote gemacht werden, sie gezielt durch Kollegen angesprochen

werden, die Unterweisung praxisnah und anschaulich erfolgt und eine befriedigende fman­

zielle Regelung getroffen wird (vgl. Kuwan 1996, S. 82 f.). Förderlich haben sich auch die

Transparenz der Angebote und Zugangsmöglichkeiten, eine angemessene zeitliche Organi­

sation und Erreichbarkeit der Bildungsstätten erwiesen.

Die klassische Form der Lernorganisation ist immer noch die der Kurse und Lehrgänge. Die

Weiterbildungsangebote jenseits der klassischen Formen zeichnen sich durch eine Verbin­

dung von Lernen und Arbeiten aus, z. B. als Qualifizierung im Rahmen von sogenannten On­

the-job-Maßnahmen (-+ LB, Arbeiten und Lernen). Zu diesen Maßnahmen gehören bei­

spielhaft Lernstatt, Qualitätszirkel, Job-Rotation und selbstgesteuertes Lernen (-+ LB, Kon­

zepte betrieblichen Lernens). Bei einer Bewertung des Erfolgs betrieblicher Bildungsmaß­

nahmen (Evaluation) steht die Bewertung der Kosten meist noch im Vordergrund. Die Be­

wertung des Erfolgs bzw. der Efftzienz der durchgeführten Bildungsmaßnahmen stellt insge­

samt nach wie vor eine Schwachstelle dar.

Internationalisierung 25

6 Internationalisierung

Im Zuge der zunehmenden Globalisierung der Märkte, des stetigen Wirtschaftswachstums

und des weltweiten technologischen Fortschritts wird der Berufsbildung und den Qualifi­

kationen der Humanressource große Bedeutung beigemessen. Diese Bedeutung zeigt sich z.

B. in der zunehmenden Beachtung des Bildungsbereiches innerhalb der Vertragswerke für

die Europäischen Gemeinschaften.

Wenngleich die Römischen Verträge vom 25. März 1957 Fragen der allgemeinen und be­

ruflichen Bildung noch nicht abdeckten, entstanden ab Mitte der 1970er Jahre erste Koope­

rationen der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich auf der Basis von Erschließungen. So las­

sen sich zum Beispiel ganz konkrete Aktionen der Europäischen Union hinsichtlich einer

gemeinsamen Bildungspolitik aufweisen. Hierunter fällt die Gründung des Beratenden

Ausschusses für die Berufsausbildung (1963), des Ausschusses für Bildungsfragen (1974),

des Europäischen Hochschulinstituts (1976) sowie des Europäischen Zentrums für die För­

derung der Berufsbildung (1975) (~ B, Berufsbildungsforschung) (vgl. Schweitzer &

Hummer 1996, S. 497). In die Einheitliche Europäische Akte (1986) ist dann endgültig

auch die europäische Frage im Bildungswesen festgeschrieben worden (vgl. Kommission

der Europäischen Gemeinschaften 1993, S. 16).

Der Vertrag über die Europäische Union von Maastricht vom 7. Februar 1992 hat neue

Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Bildungswesen durch Artikel 126 und 127 geschaf­

fen. Die Verantwortung für Inhalt und Gestaltung der allgemeinen und beruflichen Bildung

verbleibt jedoch weiterhin aufgrund des Subsidaritätsprinzips bei den einzelnen Mitglied­

staaten der Gemeinschaft. Allerdings darf die Gemeinschaft gemäß Artikel 126 IV Förder­

maßnahmen im Bereich der Bildung und gemäß Artikel 127 IV Maßnahmen im Bereich

der beruflichen Bildung vorschlagen und erlassen, allerdings in erster Linie als Unterstüt­

zung und Förderung. Eine Harmononisierung wird explizit ausgeschlossen (§ 127 (1»:

"Die Gemeinschaft führt eine Politik der beruflichen Bildung, welche Maß­nahmen der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für Inhalt und Gestaltung der beruflichen Bildung unterstützt und ergänzt".

Mit der möglichen Umsetzung von Maßnahmen werden folgende Ziele versucht zu errei­

chen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1993, S. 4):

• "Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen, insbesondere durch Erlernen und Verbreitung der Sprachen;

26 Rahmenbedingungen

• Förderung der Mobilität von Lernenden und Lehrenden, auch durch die Förderung der akademischen Anerkennung der Diplome und Studienzeiten;

• Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen; • Ausbau des Informations- und Erfahrungsaustausches über gemeinsame

Probleme im Rahmen der Bildungssysteme der Mitgliedstaaten; • Förderung des Ausbaus des Jugendaustausches und des Austausches sozial­

pädagogischer Betreuer; • Förderung der Entwicklung der Fernlehre. "

Deutlicher auf Berufsbildung abgestellt sind die im Weißbuch "Wachstum, Wettbewerbs­

fähigkeit, Beschäftigung" der Europäischen Kommission (1994, S. 143 f.) aufgeführten

Ziele:

• Ausbildung als Katalysator einer Gesellschaft im Wandel

• Erlernen des lebenslangen Lernens

• Kürzere und stärker praxisbezogene Ausbildung

• Ausbau der Berufsausbildung - auch als Alternative zur Universität

• Entwicklung, allgemeine Verbreitung und systematische Gestaltung der Weiterbildung

• Einführung flexibler und offener Ausbildungssysteme

• Entwicklung der Anpassungsfähigkeit des einzelnen

• Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und der Wirtschaft

• Verbesserung der Koordinatierung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Ausbil­

dungsangebot

Zur Erreichung dieser Ziele werden seit den 1980er Jahren ganz konkrete Aktionspro­

gramme der Europäischen Union erarbeitet. Bei diesen konkreten Aktionsprogrammen

handelt es sich im Bereich der Berufsbildung um Programme mit dem Schwerpunkt auf der

beruflichen Erstausbildung, der Sprachbildung, der beruflichen Bildung in Zusammenarbeit

mit Nicht-EU-Ländern, der Höheren Bildung sowie der ständigen Weiterbildung (vgl.

Collins 1993, S. 14). Zu den Aktionsprogrammen der "ersten Generation" gehören insbe­

sondere Comett (Hochschulbildung), Erasmus (Hochschulbildung), Petra (Berufs­

ausbildung), Iris (Netzwerk für berufliche Bildung für Frauen), Ligua (Fremd­

sprachenkenntnisse), Tempus (Hochschulsystementwicklung in den Ländern Mittel- und

Osteuropas), Eurydice (Fernlehre), Arion (Informations- und Erfahrungsaustausch), Force

(Berufliche Weiterbildung), Comenius (Schulbildung), Euroform (Förderung neuer Be­

rufsqualiflkationen, Fachkenntnisse und Beschäftigungsmöglichkeiten), YES (Aus­

tauschprogramme für junge Arbeitskräfte und Jugendliche), NOW (Chancengleichheit von

Frauen in der Beschäftigung und beruflichen Bildung) und Eurotecnet (Innovationen in der

Internationalisierung 27

beruflichen Bildung). Diese Programme liefen Ende 1994 aus und führten bis dahin zum

verstärkten Austausch von Schülern, Auszubildenden, Studenten, Wissenschaftlern und

Lehrenden, halfen bei der ModifIkation von Bildungs- und Ausbildungssystemen, unter­

stützten die sprachliche Fortbildung und förderten den Erwerb von Auslandserfahrungen.

1995 wurden diese Einzelprogramme in zwei großen EU-Bildungsprogrammen zusam­

mengefaßt, Socrates und Leonardo da Vinci, die die Zusammenarbeit im Bereich der all­

gemeinen und beruflichen Bildung innerhalb der Europäischen Union fördern und gestalten

helfen sollen. Socrates ersetzt die Programme Erasmus, Comenius, Lingua, Eurydice sowie

Arion. Damit werden insbesondere Maßnahmen auf dem Hochschulsektor und des Schul­

bereichs gefördert. Leonardo faßt die Programme Comett, Petra, Force und Eurotecnet

sowie Teile von Lingua zusammen und will die Qualität der Berufsbildungspraxis in den

Mitgliedstaaten sichern und erhöhen. Gefördert werden Projekte und Maßnahmen unter

anderem aus dem Bereich der beruflichen Ausbildung. "Gründung eines eigenen Unter­

nehmens im Ausland" stellt ein Beispiel für ein im Rahmen des Leonardo Programms ge­

förderten europäischen Projektes im Bereich der beruflichen Ausbildung dar. Hier wird von

den beteiligten Handelsschulen aus Dänemark, Luxemburg, Portugal und den Niederlanden

die Gründung transnationaler Firmen simuliert. Aber auch der Bereich der beruflichen

Weiterbildung wird gefördert. Betrachtet man nämlich die Ausgestaltungen beruflicher

Weiterbildung in den Mitgliedstaaten, zeigt sich zwar ein einheitliches, aber unzufrieden­

stellendes Bild (vgl. Schmidt 1997, S. 168 ff.). So kann sowohl die Transparenz des Wei­

terbildungsangebotes als auch die Transparenz der erwerbbaren QualifIkationen und Zerti­

fIkate als ungenügend eingestuft werden. Hinzukommt, daß bestimmte Arbeitnehmergrup­

pen von Maßnahmen der Weiterbildung ausgeschlossen werden. Mit Hilfe von Maßnah­

men, wie z. B. dem Aufbau von Weiterbildungsstatistiken, der Gewährung fmanzieller Hil­

fen für kleine und mittlere Betriebe sowie der Unterstützung von betrieblicher Weiterbil­

dungsplanung versucht die Europäische Kommission, den Bereich der Weiterbildung in

Europa zu verbessern (vgl. Schmidt 1997, S. 173).

Neben diesen Maßnahmen und Aktionsprogrammen haben folgende Verordnungen, Richt­

linien und Entscheidungen des Europäischen Rates und der Kommission der Europäischen

Gemeinschaften trotz Subsidiaritätsprinzip ganz direkte Auswirkungen auf die jeweils na­

tionalen Berufsbildungspolitiken der Mitgliedstaaten (piehl & Sellin 1995, S. 443 ff.):

• Regelungen und Richtlinien über die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Zeug­

nissen und sonstigen Befähigungsnachweisen;

28 Rahmenbedingungen

• Regelung über Hochschulabschlüsse, die den Zugang zu sogenannten reglementierten

Berufen eröffnet;

• Richtlinien über Gesundheits- und paramedikale Berufe, Architektur und einige typische

Selbständigenberufe;

• Richtlinie zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Be­

rufsausbildung abschließen;

• Regelung für reglementierte Berufe unterhalb der Hochschulebene;

• Entsprechungen der beruflichen Befähigungsnachweise auf der Basis eines fünfstufigen

Entsprechungssystems. Dieses System ordnet der ersten Stufe die Pflichtschule und kur­

ze Einführungsausbildung in den Beruf zu. Die zweite Stufe umfaßt die Pflichtschule

und eine volle Berufsausbildung. Die dritte Stufe umschließt die Pflichtschule und eine

Berufsausbildung mit zusätzlicher Fachausbildung bzw. eine sonstige Fachausbildung

auf der Ebene der Sekundarstufe. Zur vierten Stufe gehört die allgemeinbildende oder

berufsbildende Sekundarschule mit anschließender Fachausbildung und zur fünften Stu­

fe schließlich die allgemeinbildende oder berufsbildende Sekundarschule und abge­

schlossene Ausbildung an einer Hochschule oder eines anderen tertiären Bereiches (vgl.

Rat der Europäischen Gemeinschaften 1985, S. 59). Zu beachten ist, daß sich dieses Sy­

stem auf Überlegungen in vollzeitschulischen Berufsbildungsbereichen stützt. Absolven­

ten des deutschen dualen System müssen daher "schlechter" abschneiden.

Die Notwendigkeit von Entsprechungsverfahren macht deutlich, daß es verschiedene Vari­

anten der beruflichen Ausbildung gibt. So lassen sich folgende Varianten der beruflichen

Ausbildung weltweit feststellen (vgl. Blossfeld 1993, S. 24; Münch ,).997, S. 181 f.; für

weitere Klassifizierungsversuche siehe u. a. Deißinger 1995; Greinert 1988):

• die Ausbildung innerhalb eines Systems von allgemeinbildenden oder berufsbildenden

Schulen (Schulmodelle); vorfmdlich z. B. in Frankreich, den Beneluxstaaten und

Schweden.

• die Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten.

• die Ausbildung im Rahmen von dualen Systemen (Kooperationsmodelle); insbesondere

in den deutschsprachigen Ländern und in Dänemark.

• das On-the-job-Training am Arbeitsplatz im Betrieb (Betriebsmodelle); primär u. a. in

Großbritannien, Italien, aber auch den USA.

Diese Varianten kommen in allen Ländern vor, wenn auch in jeweils ganz spezifischer

quantitativer Bedeutung und Ausprägung (vgl. Blossfeld 1993, S. 24).

Internationalisierung 29

Die Anwendung des Entsprechungsverfahrens zeigt ferner, daß verschiedene nationale Be­

rufsbildungssysteme miteinander verglichen werden, um als Ergebnis eine qualitative

Rangfolge zu erhalten. Es werden Kategorisierungen entwickelt, die Vorzüge und Nachtei­

le der verschiedenen nationalen Berufsbildungssysteme aufdecken wollen. Mißachtet wer­

den dabei allerdings ihr jeweils spezifischer kultureller, historischer und sozialer Entste­

hungs- und Entwicklungshintergrund:

"Unabhängig von den jeweils benutzten Vergleichskriterien für die Systemati­sierung von Berufsbildunsgsystemen greift allein die Fokussierung auf das so­ziale Handlungssystem "berufliche Bildung" zu kurz, weil es die Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Handlungssystemen unberücksichtigt läßt. Die je­weilige Interaktion mit den vor-, neben- und nachgelagerten sozialen Teilsy­stemen und deren funktional-struktureller Zusammenhang erklären aber erst den "Sinn" des jeweiligen Berufsbildungssystems" (Georg 1997b, S. 158 f.).

Internationale Vergleiche vermögen statt dessen, gemeinsame Lösungsversuche anzuregen,

das Voneinanderlernen zu fördern, ein allgemeines Erkenntnisinteresse zu befriedigen, die

Selbstbeobachtung zu stärken usw. (vgl. Georg 1997b, S. 164; Münch 1997, S. 180).

Auch außerhalb der Europäischen Union finden sich Partner für internationale Zusammen­

arbeit in Fragen der Berufsbildung. So werden Projekte und Maßnahmen im Bereich der

beruflichen Bildung von bundesdeutscher Seite mit Staaten in Mittel- und Osteuropa, mit

Staaten der früheren Sowjetunion und allgemein mit den sogenannten Entwicklungsländern

durchgeführt. Organisationen, die entsprechende Studien z. B. in Südkorea, Taiwan, Ma­

laysia, Thailand, Usbekistan, Kasachstan oder im Nahen Osten in Auftrag geben bzw.

selbst ausführen, sind u. a. die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, die

Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung und die Carl-Duisberg-Gesellschaft. In

aller Regel handelt es sich bei diesen Studien und Projekten um (vgl. Bundesministerium

für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996, S. l36):

• allgemeine Erfahrungsaustausche,

• Hilfen beim Aufbau von modellhaften Berufsbildungsstätten und Berufsbildungsinstitu­

ten,

• Entwicklungen neuer Berufe, deren curricularer Ausgestaltung und didaktisch­

methodischer Umsetzung,

• Modernisierungsbemühungen der Aus- und Weiterbildung von ausgewählten Berufen,

• Fortbildungen für Lehrende etc.

30 Rahmenbedingungen

Hinter dem Begriff der "Berufsbildungszusammenarbeit" verbirgt sich meist ein einseitiger

Prozeß der Entwicklungshilfe an sogenannte Entwicklungsländer. "Die ökonomisch über­

legene Seite gibt, die ökonomisch unterlegene Seite nimmt" (Schoenfeldt 1997, S. 206).

Damit wird unausgesprochen unterstellt, daß die ökonomisch überlegene Seite - die westli­

chen Industrieländer - gleichermaßen auch im Bereich der Berufsbildung überlegen sei

(vgl. Nölker 1997, S. 206). Eine weitere, lange Zeit unangefochtene Unterstellung besteht

darin zu glauben, daß sich Berufsbildungssysteme ungeachtet ihrer spezifisch kulturellen,

historischen und sozialen Entstehungs- und Entwicklungskontexte beliebig auf andere Na­

tionen übertragen ließen. Mit dem steigenden Einfluß von Japan und anderen asiatischen

Staaten auf das Weltwirtschaftsgeschehen und den negativen Erfahrungen mit dem Export

von Berufsbildungssystemen in Entwicklungsländer gerieten diese Unterstellungen in die

Kritik. Es reifte die Erkenntnis,

"daß Berufsbildung immer nur im Rahmen der im jeweiligen Land vorhande­nen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen einen Entwicklungsbeitrag leisten kann" (Georg 1997a, S. 5).

Nölker spricht mittlerweile gar von einer "Trendwende in Richtung freier Grundlagendis­

kussion und Theoriesuche" auch im Bereich der entsprechenden Forschungen (Nölker

1995, S. 418). Zugleich zeigt sich die WeiterentwiCklung der Zusammenarbeit im Bereich

der Berufsbildung darin, daß verstärkt auf die Selbstverantwortung und Selbsthilfe der Ko­

operationspartner und auf die Förderung konkreter Sozialgruppen und regionaler Projekte

abgestellt wird. Darüber hinaus werden im Hinblick auf Systemberatung und Systement­

wicklung Zusammenhänge der Berufsbildungshilfe mit anderen Bereichen, langfristige

Wirkungen und Rückkoppelungsprozesse berücksichtigt (vgl. Nölker 1995, S. 421).

literatur 31

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Strukturbegriff:

Berufsbildungs­politik

RahmeabedinBUl1gen

Ausbildung ef::.==----I-~I-i~~;;;:.:;:liV---+-::::::::~ Zielsetzungen dcc Lehrcc und der Ausbilder

Lernort Betrieb

1 Institutionen, Organisationen und KonDiktlinien

Politik sei grob definiert als Umgang mit Macht. Wenn verschiedene Akteure versuchen,

durch Macht und Machtausübung auf Entscheidungen und Handlungen anderer Akteure

Einfluß zu gewinnen, werden sie politisch tätig. Solche politische Betätigung fmdet zumeist

in Institutionen und durch Institutionen statt und zielt auf eine Mitgestaltung bestimmter

Bereiche gesellschaftlichen Handeins ab.

Wenn allgemein von Bildungspolitik die Rede ist, ist in erster Linie eine Politik gemeint, die

Bildungsprozesse, die in den Institutionen Schule und Hochschule stattfinden, direkt oder

indirekt zu beeinflussen versucht. Berufsbildungspolitik ist aber komplizierter. Zwar ist

einigermaßen klar zu umreißen, daß sich diese Politik auf eine Mitgestaltung der beruflichen

Bildung ausrichtet. Jedoch sind die berufsbildungspolitischen Akteure und Institutionen nicht

so leicht auszumachen, weil sich Berufsbildungspolitik in vielfältigen gesellschaftlichen Ver­

flechtungen und mit vorwiegend wirtschaftlichen Interessen an einer Mitgestaltung entwik­

kelt (~ BWP, SystemzusammenhäDge).

Warum ist Berufsbildungspolitik so kompliziert? MÜDCh benennt hierfür folgende Gründe

(1995, S. 398):

"- Der rechtliche Dualismus im Bereich der Lehrlingsausbildung (Bundes­kompetenz für die Ausbildung in den Betrieben - Länderkompetenz für die Berufsschule)

34 Berufsbildungspolitik

- die relative Nähe der Berufsbildungspolitik zur Wirtschaftspolitik und Ar­beitsmarktpolitik

- das unmittelbare und starke Interesse der Arbeitgeberorganisationen an der Berufsausbildung

- das unmittelbare und starke Interesse der Gewerkschaften an der Berufsbil­dung

- die Vielfalt der Gremien und Institutionen, die sich mit Fragen der Berufsbil­dung befassen."

Berufsbildungspolitik wird betrieben, seit berufliche Bildung institutionalisiert und regle­

mentiert ist (~ BWP, Beruf). Der Begriff "Berufsbildungspolitik" ist aber noch relativ jung.

Er wird erst seit ungefähr dreißig Jahren benutzt. Vorher sprach man von Berufsbildungsre­

form, Berufsschulreform usw. Erst in den 1960er Jahren ging der Begriff insbesondere im

Zusammenhang mit dem Berufsbildungsgesetz in die wissenschaftliche Diskussion ein (~ R,

Rechtlich-institutionelle Grundlagen).

Trotz der Schwierigkeiten, die vielen berufsbildungspolitischen Akteure und Institutionen zu

beschreiben, läßt sich über Berufsbildungspolitik nur dann gehaltvoll reden, wenn zumindest

einige bedeutende Institutionen und Organisationen vorgestellt und die zwischen ihnen ver­

laufenden politischen Konfliktlinien analysiert werden können.

Auf der Bundesebene wird Berufsbildungspolitik im Parlament durch Gesetzgebung und

von der Bundesregierung durch Gesetzanwendung praktiziert. Mehrere Ministerien, u. a. das

Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie und das Ministerium für

Wirtschaft, sind daran beteiligt Von großer Bedeutung sind auch nachgeordnete Behörden,

wie beispielsweise das Bundesinstitut für Berufsbildung. Auf Bundesebene wirken aber auch

die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber, wie der Deutsche Industrie- und Handelstag und

der Deutsche Handwerkskammertag, und die Organisationen der Arbeitnehmer, wie der

Deutsche Gewerkschaftsbund, mit. Eine besondere Rolle nimmt das Institut der Deutschen

Wirtschaft ein, weil in ihm arbeitgeberorientierte Positionsbeschreibungen, Stellungnahmen

und Analysen zur Berufsbildungspolitik erarbeitet und publiziert werden.

Schließlich ist noch die Konferenz der Kultusminister zu erwähnen, die durch ihre Stellung­

nahmen und Empfehlungen zur Gestaltung von beruflichen Schulen und Berufsschulunter­

richt eine berufsbildungspolitisch bedeutende Institution darstellt. Gelegentlich vorgetragene

Meinungen, diese Institution sei überholt und sollte besser abgeschafft werden, reflektieren

kaum die praktische Bedeutung, die dieser Institution bisher auch für die Berufsbildungspo­

litik zukam.

Institutionen. Organisationen und Konjliktlinien 35

Auf der Länderebene wird Berufsbildungspolitik durch die Kultusministerien dominiert.

Kultusministerien erarbeiten die Lehrpläne für berufliche Schulen. Sie berücksichtigen dabei

die Rahmenvereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Sie stellen und bezahlen auch die

Lehrerschaft und sind in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftsressorts und den Universitä­

ten für die Lehrerausbildung zuständig (-+ LA, Professionalisierung).

Zwischen diesen Einrichtungen auf Bundes- und Länderebene (gegebenenfalls auch regiona­

ler Ebene) sind nun politische Beziehungen auszumachen, die als Konfliktlinien bezeichnet

werden können (vgl. Dauenhauer 1997). Schaubild 1 zeigt eine Reihe von geradezu vorpro­

grammierten Konflikten im Bereich der beruflichen Bildung auf.

Schaubild 1: Konfliktmöglichkeiten im Bereich der beruflichen Bildung (vgl. Dauenhauer 1997, S. 105)

Eine wichtige Konfliktlinie zwischen dem Bund und den Ländern entsteht dadurch, daß der

Bund versucht, mehr Rechte und damit auch mehr politische Macht im Feld der beruflichen

Bildung zu bekommen. Die Länder andererseits wachen sehr genau darüber, keine der bis­

herigen Kompetenzen abgeben zu müssen (-+ R, Rechtlich-institutionelle Grundlagen).

Eine andere Konfliktlinie besteht zwischen dem Bund, repräsentiert durch die Institutionen

Bundesregierung und Bundestag, und den Institutionen "der Wirtschaft", die die Ausbil­

dungsbetriebe vertreten. Die auftretenden Konflikte lassen sich etwa folgendermaßen umrei­

ßen: Von seiten des Gesetzgebers, des Bundes, wird versucht, die "naturwüchsige Land-

36 Berujsbildungspolitik

schaft" der beruflichen Bildung dadurch zu kultivieren, daß Standards gesetzt und möglichst

vergleichbare Ausbildungen geschaffen werden. Ausbildungsbetriebe dagegen sind daran

interessiert, berufliche Bildung möglichst individuell nach einzelwirtschaftlichen Anforderun­

gen zu gestalten und möglichst für diesen Betrieb und nur für diesen Betrieb zu qualifizieren,

auch wenn dies nicht dem gesamtwirtschaftlichen Vorteil beruflicher Mobilität entspricht

Eine weitere Konfliktlinie markiert das Verhältnis zwischen den Kultusministerien der Län­

der und den Verbänden, die die Interessen der Betriebe vertreten, etwa dem Deutschen In­

dustrie- und Handelstag oder dem Deutschen Handwerkskammertag. In der Sache geht es

dann beispielsweise um Stundenanteile in der beruflichen Bildung und um Organisationsfor­

men des Berufsschulunterrichts. So wird etwa darüber gestritten, wieviele Stunden Unter­

richt pro Woche in der Berufsschule erteilt werden und wie lange Auszubildende im Betrieb

verweilen sollen.

In diesen Konflikt einbezogen sind auch Auseinandersetzungen über Inhalte der beruflichen

Bildung, zum Beispiel über die Frage, ob und gegebenenfalls welche Fremdsprachen in der

beruflichen Erstausbildung vermittelt werden sollen. Konflikte entstehen auch über Fragen

einer Verkürzung der Ausbildung, wenn zuvor schon ein anderer Beruf erlernt wurde. Dann

nämlich kann eine verkürzte zweite Ausbildung ausgehandelt werden. Eine Verkürzung ist

auch dann auszuhandeln, wenn eine Berufsausbildung nach dem Erwerb der Allgemeinen

Hochschulreife begonnen wird. Diese Verkürzung kann bereits im Ausbildungsvertrag fest­

gelegt werden. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit der vorzeitigen Meldung zur Prüfung.

Werden beide Möglichkeiten genutzt, kann eine normalerweise dreijährige Ausbildung auf

zwei Jahre verkürzt werden, sofern der Betrieb keine Einwände hat und die Berufsschule der

Verkürzung mit einem entsprechenden Gutachten zustimmt

Eine weitere Konfliktlinie kann man zwischen den Institutionen auf Kammerebene, den für

die Berufsausbildung Zuständigen Stellen nach dem Berufsbildungsgesetz, und den Betrie­

ben ausmachen. Die Kammern müssen entscheiden, welche Betriebe ausbilden dürfen und

welchen Betrieben gegebenenfalls die Ausbildungsberechtigung aberkannt werden muß.

Weiterhin sind die Kammern für die Durchführung von Prüfungen zuständig.

Am Schaubild 1 fallt auf, daß keine Parteien vorkommen. Dabei wurde doch in das Grund­

gesetz eingeschrieben, daß Parteien an der Willensbildung mitwirken. Zwar entscheiden

Parlament und Regierung, jedoch werden diese von Parteien beschickt, die so ihren Einfluß

auf Gesetzgebung und Exekutive geltend machen. Darin ist ein weiteres Konfliktpotential zu

erkennen.

Bundesinstitut für Beruj"sbildung 37

2 Bundesinstitut ("ür Berufsbildung

Das Bundesinstitut für Berufsbildung betreibt Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet

der betrieblichen Berufsbildung und nimmt Dienstleistungs- und Beratungsfunktionen ge­

genüber der Berufsbildungspraxis und der Bundesregierung wahr. Es entwickelt Grundlagen

für die Aus- und Weiterbildung, modernisiert und verbessert Ausbildungskonzepte und

Ausbildungsmaßnahmen. Dabei hat es die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftli­

chen Entwicklungen bei der Modernisierung zu berücksichtigen (vgl. Dehnbostel in Druck).

Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist eine Institution, die in der Bundesrepublik einmalig

ist. Es verfügt über einen Hauptausschuß als eigentlich entscheidendem Beschlußgremium.

Dieser Hauptausschuß ist zusammengesetzt nach folgender Parität: 16 Beauftrage der Ar­

beitnehmer, der Arbeitgeber und der Länder sowie fünf Beauftragte des Bundes. Die Beauf­

tragten des Bundes führen 16 Stimmen, die sie nur einheitlich abgeben können. Die vier

Parteiungen: Bundesländer, Bundesregierung, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sitzen gleich­

berechtigt nebeneinander. Die Kosten werden allerdings nur vom Bund getragen. Angesichts

leerer Kassen auch auf Bundesebene sind deshalb schon Überlegungen angestellt worden,

zumindest auch die Länder zur Finanzierung des Bundesinstituts für Berufsbildung heranzu­

ziehen.

Für die Berufsbildungsforschung als junger Forschungsdisziplin nimmt das Bundesinstitut für

Berufsbildung mit der Verklammerung von Theorie und Praxis eine wichtige Funktion wahr.

Eigene Forschungsbeiträge des Bundesinstituts für Berufsbildung zielen sowohl auf Analyse

und Erkenntnisse im Feld der beruflichen Bildung als auch auf Praxisgestaltung und Hand­

lungsanleitung. Es kooperiert dabei mit anderen Trägem der Berufsbildungsforschung wie

Hochschulen, gemeinwirtschaftlichen und privatwirtschaftlichen Instituten. Gegenüber hi­

storischen Vorläufern des Instituts zeichnet sich das Bundesinstitut für Berufsbildung beson­

ders durch integrierte Aufgabenwahmehmung und durch Interdisziplinarität aus. Damit sind

günstige Voraussetzungen gegeben, gegenwärtige und zukünftige Qua1iftkations- und Be­

rufsbildungsanforderungen theorie- und praxisbezogen zu erfassen, zu erkennen und mitzu­

gestalten.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist eine Behörde, die dem Bundesministerium für Bil­

dung, Wissenschaft, Forschung und Technologie nachgeordnet ist. Zu ihrem Aufgabenbe­

reich gehört neben der Planung auch die Statistik im Bereich der beruflichen Bildung, mit

der das Bundesinstitut für Berufsbildung an der Vorbereitung des Berufsbildungsberichts

38 Berufsbildungspolitik

mitwirkt. Der Berufsbildungsbericht ist eine Veröffentlichung, die die Bundesregierung jähr­

lich zu erstellen hat. In diesen Bericht wird das statistische Material eingearbeitet. Darin

werden aber auch Beschreibungen und Analysen zu einzelnen und aktuell bedeutsamen Fra­

gen und Problemen der beruflichen Bildung vorgelegt. Dieser Bericht wird zwar von der

Bundesregierung vorgelegt, die Zuarbeit hat jedoch das Bundesinstitut für Berufsbildung zu

leisten.

Das Bundesinstitut ftir Berufsbildung hat weiterhin die Planung, Errichtung und Weiterent­

wicklung überbetrieblicher Ausbildungsstätten zu unterstüzten. Überbetriebliche Ausbil­

dungsstätten gibt es in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Besonders bekannt sind Beispie­

le aus der Bauindustrie und aus dem Bauhandwerk. Dort gibt es überwiegend kleine Betrie­

be, die ausbilden, jedoch in ihren Betrieben nicht die ganze Breite der geforderten Ausbil­

dungsinhalte abdecken können. Um dennoch ausbilden zu können, müssen sie mit anderen

Betrieben in der Berufsausbildung kooperieren oder ihre eigene Ausbildung durch überbe­

triebliche Unterweisungen ergänzen. Dabei wird eine zentrale Institution wie das Bundesin­

stitut benötigt, die Hilfen anbieten kann. Besonders nach der Wende wurden überbetriebliche

Ausbildungsstätten in den neuen Bundesländern benötigt, als dort die Betriebe, die bisher die

Ausbildung durchführten, in schneller Folge und in großer Zahl zusammenbrachen. Für diese

Betriebe wurden ersatzweise überbetriebliche Ausbildungsstänen geschaffen, die teilweise

sogar Vollausbildungen anbieten konnten.

Zu den Aufgaben des Bundesinstituts für Berufsbildung zählt auch, die Bundesregierung in

Fragen der beruflichen Bildung zu beraten. Das ist immer dann der Fall, wenn die Bundes­

regierung ein neues Gesetz zur beruflichen Bildung plant und hierfür Daten benötigt. Bera­

tend wird das Bundesinstitut für Berufsbildung unter anderem auch dann tätig, wenn bei­

spielsweise Ausführungsverordnungen zu bestehenden Gesetzen bearbeitet oder überarbeitet

werden.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung soll sich auch neben Hochschulen und speziellen For­

schungseinrichtungen an der Berufsbildungsforschung beteiligen. Im Unterschied zu anderen

Forschungseinrichtungen geht es dem Bundesinstitut für Berufsbildung jedoch besonders

darum, Berufsbildungsforschung durchzuführen, die sich u. a. auf Ausbildungsordnungen

bezieht. Diese Forschung soll beispielsweise solche Entscheidungen unterstützen, in denen

festgelegt wird, welche Ausbildungsinhalte in welchem Berufsbild enthalten sein müssen,

was davon ergänzt werden kann und muß, welche Organisationsformen der beruflichen Bil­

dung besonders vorteilhaft sind und welche Handreichungen für die Umsetzung benötigt

Bundesinstitut /Ur Berufsbildung 39

werden. Besonders bei der Neuordnung von Berufen werden Forschungsleistungen des

Bundesinstituts für Berufsbildung angefordert. Sie werden von den Tarifpartnern als Er­

kenntnisse herangezogen, die dann in die Konstruktion und rationale Begründung der Ord­

nungsmittel eingehen. Des weiteren betreibt das Bundesinstitut für Berufsbildung intensiv

Lehr-Lernprozeßforschung und Curriculumforschung. Darüber hinaus beschäftigt sich das

Bundesinstitut für Berufsbildung mit Fragen der Weiterbildung und internationalen Aspekten

beruflicher Bildung. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß das Bundesinstitut für

Berufsbildung eine eigene Fachzeitschrift und Schriftenreihen zur beruflichen Bildung her­

ausgibt

Zu den Aufgaben des Bundesinstituts für Berufsbildung zählt weiterhin, Modellversuche zu

betreuen. Modellversuche werden eingerichtet, um Erkenntnisse an einem Beispiel zu ge­

winnen in der Hoffnung, diese Erkenntnisse verallgemeinern und über die Versuchsbetriebe

hinausgehend in das Regelsystem übernehmen zu können. Die meisten Modellversuche ha­

ben zwei Teile: einen betrieblichen und einen schulischen Teil. Die Federführung liegt jeweils

beim Bundesinstitut. Finanziert werden die meisten Modellversuche durch die Bund-Länder­

Kommission. Das Bundesinstitut für Berufsbildung ist aber von der Antragstellung bis zur

Abwicklung für die Modellversuche mitverantwortlich und auch der erste Ansprechpartner,

wenn ein Betrieb oder eine überbetriebliche Einrichtung einen Modellversuch beantragt

Eine weitere wichtige Aufgabe des Bundesinstituts für Berufsbildung ist die Führung des

Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe. Es gibt derzeit etwa 360 staatlich aner­

kannte Ausbildungsberufe. Ein anerkannter Ausbildungsberuf muß Angaben über Art, Dauer

und Ziel der Ausbildung und zu erwerbende Fertigkeiten und Kenntnisse enthalten (~ R,

Rechtlich-institutionelle Grundlagen). Das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe

enthält auch genaue Hinweise, ob der Beruf ein Industrie- oder ein Handwerksberuf ist. Es

erscheint jedes Jahr neu mit dem Titel, der es auch dadurch schon als Verzeichnis der staat­

lich anerkannten Ausbildungsberufe ausweist

Schließlich gehört zum Aufgabenbereich des Bundesinstituts für Berufsbildung die Überprü­

fung und Anerkennung von Fernlehrgängen. Dieser Bereich wird bisher allerdings nicht sehr

intensiv gepflegt. In der DDR gab es hingegen ein differenziertes Angebot an Fernlehrgän­

gen. Es ist zu erwarten, daß dieser Aufgabenbereich in Zukunft ausgebaut und dadurch an

Bedeutung gewinnt.

40 Berufsbildungspolitik

3 Abstimmung und Koordination

Da berufliches Lernen an verschiedenen Lernorten erfolgt, bedarf es der Koordination. Da­

durch sollen unnötige Wiederholungen von Lerninhalten verhindert oder Lücken im Fächer­

spektrum und im fachlich geordneten Lernen vermieden werden. Eine Koordination soll zu­

dem die Reihung der zu vermittelnden Ausbildungsinhalte nach lernpsychologischen, fach­

systematischen und unterrichtsorganisatorischen Gesichtspunkten sichern helfen.

Im besonderen Fall der beruflichen Bildung im dualen System von Berufsschule (-7 LS, Be­

rufsschule) und Betrieb kommt hinzu, daß die Abfolge der Lerninhalte an einem dieser Ler­

norte, dem Betrieb, nicht immer nach fachsystematischen, berufspädagogischen oder lern­

psychologischen Gesichtspunkten festgelegt werden kann. Am Lernort Betrieb bestimmt

häufig der Fertigungsauftrag oder die zu erbringende Dienstleistung die Reihung der Ausbil­

dungsschritte. Auf die Besonderheiten bei Projekten, die an mehreren Lernorten durchge­

führt werden, wird an anderer Stelle eingegangen (-7 BWP, Systemische Innovationslei­

stung).

Unter diesen Bedingungen ist es nun Aufgabe der Berufsbildungspolitik, ein geeignetes In­

strumentarium zu entwickeln und anzuwenden, das Reibungsverluste mangels ausreichender

Koordination möglichst vermeidet. Dieses Instrumentarium greift auf verschiedenen Ebenen:

der Bundesebene, der Ebene einzelner Bundesländer, der regionalen Ebene der Zuständigen

Stellen (Kammern) sowie der lokalen Ebene. Auf die Bundesebene und die Länderebene soll

besonders eingegangen werden, da diese Ebenen für Fragen der Abstimmung und Koordinie­

rung von Ausbildungsordnungen mit Lehrplänen von besonderer Bedeutung sind.

Schon bald nach der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes im Jahre 1969 (-7 R,

Rechtlich-institutionelle Grundlagen) wurde für die Bundesebene im Jahre 1972 eine Rege­

lung eingeführt: das "Gemeinsame Ergebnisprotokoll". Dieses Protokoll und die folgenden

Absprachen regeln seit dieser Zeit das Verfahren zur Abstimmung der Ordnungsmittel, das

heißt der Ausbildungsordnungen und der Rahmenlehrpläne der Kultusminister bzw. der

Kultusministerkonferenz (vgl. Schaubild 2).

Das Verfahren hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt, wenngleich von verschie­

denen Seiten immer wieder kritisiert wird, daß die Überarbeitung von Ausbildungsordnun­

gen und die Neuordnung von Berufen zu lange dauern würde. Der Bundesminister für Bil­

dung, Wissenschaft, Forschung und Technologie hat diese Kritik aufgegriffen und angekün­

digt, daß künftig mit erheblich geringeren Bearbeitungszeiten gerechnet werden könne.

Abstimmung und Koordination 41

Verfahren zur Erarbeitung und AbstImnnmg von AusbUdungsordnungen und Rahmenlehrplänen

Aottagsgespräch: Fest1egung biIdungspolilisdler EckweIte

Vor-VorbereilllDg eines Projel<!anlnges ver·

,---.. faII-SreUungnahme des

~ Läoderausscbusses

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Projektbeschlu8 im Koordinierungssusscbu8

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Ausbildungs- Rahmenlellrplan-zen- onInungsemwurfes enIWUrfes organ!- Erar-

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'-----' ~ Beschlu8im

Länderausschu8

Beschlu8 im H.uptausschu8

Beschlu8im Koordinierungsausschuß Erlaß

Erlaß und Veröl'Centllcbung

Schaubild 2: Verfahren zur Erarbeitung und Abstimmung von Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen (Benner 1982, S_ 67)

Besonders wichtig und schwierig zugleich ist die Regelung auf der untersten Ebene zwischen

den Einzelbetrieben und den jeweiligen Berufsschulen_ Absprachen auf der unteren Ebene

erfolgen meist zufällig und sind häufig überhaupt nicht koordiniert. Zuweilen treffen sich die

beteiligten Ausbilder und Berufsschullehrer bei anderen Gelegenheiten, zum Beispiel in Prü­

fungsausschüssen. Deshalb ist gefordert worden, diese Absprachen zu organisieren. Bisher

gibt es jedoch noch keine zufriedenstellenden Regelungen, die institutionalisiert und auf

Dauer angelegt werden könnten. Es darf deshalb gefragt werden, welche Interessen auf sei­

ten der Berufsschule und des Betriebes überhaupt an einer Kooperation bestehen. Erst dann

42 Berujsbildungspolitik

könnte geklärt werden, welche organisatorischen Maßnahmen getroffen werden sollten, um

zu einer besseren Kooperation zu gelangen.

Es liegt sicherlich im Interesse der Lehrenden an Berufsschulen, wenn die dort vermittelten

Inhalte auf die im Betrieb zu vermittelnden in möglichst naheliegenden Zeitpunkten abge­

stimmt würden. Die Ausbildungsbetriebe andererseits müßten sehr daran interessiert sein,

daß die von ihnen vermittelten Erfahrungen, Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten mög­

lichst umgehend im berufsschulischen Lernen in größere Zusammenhänge eingeordnet und

theoriegeleitet verallgemeinert würden. Eine solchermaßen funktionierende Abstimmung und

Koordination wäre sicherlich im Sinne einer effektiven Ausbildung wünschenswert, wie

kompliziert diese Prozesse auch immer sein mögen. Darüber hinaus sind beide Lernorte für

die vollständige Bearbeitung der in der Ausbildungsordnung vorgesehenen Inhalte verant­

wortlich zu machen.

Die vielfältigen Ideen zur Lösung dieses Problems könnten aber leichter umgesetzt werden,

wenn neben den Berufsbildungs- und den Prüfungsausschüssen auf Kammerebene auch

Abstimmungsausschüsse auf örtlicher Ebene gebildet würden, die sich in regelmäßigen Ab­

ständen abwechselnd in der Berufsschule und in den Betrieben träfen (vgl. Uhe 1995, S. 2).

Alle beteiligten Lehrer, auch die der sogenannten allgemeinbildenden Fächer, und Ausbilder

aus allen Betrieben müßten teilnehmen. Das ganze Spektrum der Lernziele und Lerninhalte

von Schule und Betrieb, aber auch Methoden- und Medienfragen könnten in die Abstim­

mung und Koordination einbezogen werden. Da sich aber prinzipiell in jeder Berufsschul­

klasse aufgrund der dort vorfmdlichen unterschiedlichen Zusammensetzung von Auszubil­

denden das Koordinationsproblem anders stellt, kann es nur von den beteiligten Personen

und nicht zentral von einer anderen Institution gelöst werden. Lehrer und Ausbilder müssen

also "vor Ort" zusammengeführt werden (~ BWP, Systemische Innovationsleistung).

Berufsbildungsjorschung 43

4 Berufsbildungsforschung

In verschiedenen Institutionen und Organisationen wird in der Bundesrepublik Berufsbil­

dungsforschung betrieben. Dabei ist zur Zeit zwischen den einzelnen Organisationen und

Institutionen noch keine zufriedenstellende Aufgabenteilung und Zusammenarbeit erkennbar.

Das 1970 gegründete Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, 1976 umbenannt in

"Bundesinstitut für Berufsbildung" , hat einen Teil dieser Aufgaben in einem relativ engen

Spektrum wahrgenommen und ausgebaut

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit in NÜffi­

berg betreibt ebenfalls Berufsbildungsforschung. Ihm geht es vor allem darum, Daten aus

den Bereichen "Arbeitsmarkt", "Berufe" und "berufliche Bildungsmöglichkeiten" für die

konkreten Entscheidungen der Bundesregierung bereitzustellen. Es unterstützt das Ministe­

rium für Arbeit und Sozialordnung.

In den einzelnen Bundesländern gibt es Landesinstitute, die vorwiegend konzipiert wurden,

um unterstützend für die Schulen zu wirken. Sie beschäftigen sich mit der Entwicklung von

Lehrplänen, mit der Erarbeitung von Handreichungen und betreiben Lehrerfortbildung. So­

weit sich die Arbeit auf berufliche Schulen bezieht, kann in eingeschränkter Weise auch von

Berufsbildungsforschung gesprochen werden.

Berufsbildungsforschung wird in Universitäten und dort insbesondere von den Arbeitsberei­

chen für Berufs- und Wirtschaftspädagogik betrieben (vgl. DFG-Senatskommission 1990).

In einem erweiterten Forschungsspektrum überschneidet sich Berufsbildungsforschung mit

benachbarten Disziplinen wie beispielsweise der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften

oder der Politikwissenschaft. Berufsbildungsforschung ist deshalb ein Forschungsbereich,

der sich für disziplinübergreifende Kooperation geradezu anbietet und in dem Interdiszipli­

narität auch tatsächlich gefördert und praktiziert wird.

Auch wenn sich Berufsbildungsforschung an Universitäten durchaus schon in eigenen Ar­

beitsbereichen etablieren konnte, ist sie derzeit noch sehr an Einzelpersonen gebunden. Da

die Institute für Berufs- und Wirtschaftspädagogik häufig sehr klein und die in diesen Institu­

ten zu vertretenden Disziplinen in der Regel noch getrennt sind, werden Forschungsaufgaben

durchweg von einer einzigen oder ganz wenigen Personen bearbeitet. Dieses Faktum ist im­

mer wieder beklagt worden, eine Koordinierung konnte jedoch bisher nicht gelingen. Das

hängt auch damit zusammen, daß die Berufsbildungsforschung einzelner Hochschullehrerin­

nen und Hochschullehrer häufig ohne nennenswerten Einsatz von Forschungsmitteln und

44 Berufsbildungspolitik

deshalb nur im Zusammenhang mit der Lehre durchgeführt werden kann und ihren Nieder­

schlag günstigenfalls in Buchveröffentlichungen oder Berichten in Fachzeitschriften fmdet

Mit Einschränkungen fmdet auch bei den Tarifpartnern Berufsbildungsforschung statt. So

forscht das Institut der Deutschen Wirtschaft für die Arbeitgeber, und auch Forschungsarbei­

ten, die auf gewerkschaftliche Initiative durchgeführt werden, tragen diesen Namen zu

Recht. Als eine bedeutende Einrichtung auf internationaler Ebene ist das CEDEFOP (centre

europeen pour le developpement de la formation professionnelle!Europäisches Zentrum für

die Förderung der Berufsbildung) zu erwähnen, daß 1975 eingerichtet wurde und seinen Sitz

1995 von Berlin nach Thessaloniki verlegte. Im Forschungsprogramm dieser Institution geht

es um Fragen der Berufsbildung und der ständigen Weiterbildung und dabei insbesondere um

Fragen der Anerkennung von Berufsbildung einschließlich der Abschlüsse auf europäischer

Ebene (~ R, Internationalisierung).

Die ungünstige Forschungslandschaft und insbesondere die mangelhafte Zusammenarbeit in

der Berufsbildungsforschung hat dazu geführt, daß 1993 das "Forschungsnetz Berufsbil­

dungsforschung" gegründet wurde. Angeregt wurde diese Kooperation schon knapp zwei

Jahrzehnte früher durch Erich Dauenhauer (1975, S. 3). Träger dieser Initiative sind neben

dem Bundesinstitut für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeit auch die Universi­

tätsinstitute. Das Forschungsnetz hat sich zur Aufgabe gemacht, die Forschung im Bereich

der beruflichen Bildung zu fördern und durch gegenseitigen Informations- und Gedanken­

austausch zu koordinieren. Dazu führt es unter anderem Fachtagungen in regelmäßigem

Abstand durch.

Bildungspolitische Streitfälle 45

5 Bildungspolitische Streitfalle

Ein intensiver bildungspolitischer Streit entzündet sich am Zeitanteil, der der Berufsschule

(~ LS, Berufsschule) im Rahmen der dualen Ausbildung zur Verfügung gestellt werden

soll. Eigentlich sollte diese Auseinandersetzung seit den Ausführungen des Deutschen Aus­

schusses im Jahre 1964 abgeschlossen sein. Der Ausschuß für das Erziehungs- und Bil­

dungswesen empfahl (1964, S. 131):

"Die Schulpflicht gliedert sich in eine zunächst neunjährige, später zehnjährige Vollschulpflicht und in eine Berufsschulpflicht - in der Regel Teilzeitpflicht - bis zum Abschluß der Berufsausbildung, mindestens bis zum 18. Lebensjahr .. , Ausmaß und Dauer des Berufsschulunterrichts bleiben oder werden den Ausbil­dungsanforderungen der einzelnen Ausgangsberufe elastisch angepaßt. Zwölf Wochenstunden Unterricht gelten als Richtmaß für die obligatorischen Aufgaben der Berufsschule."

Die Empfehlungen des Ausschusses wurden von der Kultusministerkonferenz so interpre­

tiert, daß 12 Wochenstunden an zwei Tagen mit je sechs Unterrichtsstunden die Regel sein

sollten. Dieser Anteil entspricht bei Blockunterricht einer Dauer von 13 Wochen pro Jahr.

Jedoch wurde diese Empfehlung längst nicht in allen Bundesländern umgesetzt. Im Gegen­

teil: Gerade in jüngerer Zeit ist wieder die Forderung erhoben worden, den betrieblichen

Anteil der Ausbildungszeit zu erhöhen und den Berufsschulunterricht zu kürzen. Insbesonde­

re wird dabei an eine Reduzierung des Berufsschulunterrichts im zweiten und dritten Jahr

gedacht, da die Auszubildenden dann noch effektiver im Sinne der betrieblichen Leistungs­

erstellung eingesetzt werden können als während der Grundausbildung.

Andere Forderungen laufen darauf hinaus, die 12 Stunden pro Woche beizubehalten, aber

anders zu organisieren (~ LS, Schule und Wirtschaft). So gibt es Überlegungen, die Unter­

richtszeiten zu konzentrieren und pro Unterrichtstag bis zu neun Stunden anzubieten. Solche

Organisationsformen sind aus pädagogischer und lernpsychologischer Sicht höchst fragwür­

dig, da die nachlassende Konzentration der jungen Menschen den Unterricht nach der sech­

sten Stunde nicht mehr effektiv erscheinen läßt. Auch die Verlegung von Teilen des Unter­

richts auf den Samstag ginge zu Lasten der Auszubildenden. Diese hätten dann kaum noch

Möglichkeiten einer sinnvollen Freizeitgestaltung und der beruflichen Weiterbildung. Aller­

dings ist prinzipiell die Forderung, die Organisation des Berufsschulunterrichts flexibler zu

gestalten, das heißt auf regionale oder saisonale Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, nicht

generell abzulehnen.

46 Berufsbildungspolitik

Bis zum Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes im Jahr 1969 gab es neben den dreijähri­

gen auch zahlreiche zweijährige Berufsausbildungen. In jüngster Zeit spielen solchennaßen

verkürzte Berufsausbildungen in der bildungspolitischen Diskussion wieder eine bedeu­

tende Rolle. Insbesondere von Arbeitgeberseite (-t LB, Betrieb und Gesellschaft) wird ver­

langt, kürzere und damit den betrieblichen Anforderungen besser angepaßte Ausbildungs­

gänge einzurichten. Diese Forderung wird u. a. damit begründet, daß heutzutage die berufli­

che Erstausbildung nur noch eine Einstiegsqualiftkation sein kann, die durch berufsbegleiten­

de Weiterbildung erhalten und weiterentwickelt werden muß (-t LB, Konzepte betrieblichen

Lernens).

Häuftg werden auch zweijährige Ausbildungen für lernschwache Auszubildende gefordert,

die der Ausbildung in der tradierten Fonn nicht gewachsen sind (-t D, Lernschwache und

Begabte). Es wäre aber falsch, das Problem lediglich als Aufgabe einer quantitativen Erhö­

hung oder Venninderung insbesondere der theoretischen Anteile beruflichen Lernens zu in­

terpretieren: Erfahrungen mit Konzepten integrierten Lernens zeigen nämlich, daß bei ent­

sprechender Lernorganisation auch Lernschwache den üblichen Anforderungen genügen

können und aus dem integrierten Lernen sogar einen besonderen Nutzen ziehen können (-t

LB, Arbeiten und Lernen).

Jungen Menschen, die sich mit tradierten Fonnen des beruflichen Lernens schwertun, müß­

ten im Prinzip längere Qualillzierungszeiten eingeräumt werden. Die Gewerkschaften lehnen

deshalb im Interesse der lernschwachen Jugendlichen und aus Sorge um mögliche Lohndiffe­

renzierungen unterschiedlich lange Ausbildungszeiten ab. Sie erhalten für ihre ablehnende

Haltung gegenüber Kurzzeitausbildungen auch die Unterstützung durch das Wahlverhalten

der Jugendlichen: Im Baugewerbe gibt es seit 1974 zwei- und dreijährige Ausbildungen. Die

kürzeren Ausbildungen werden aber von den jungen Menschen nicht angenommen. Weniger

als fünf Prozent wählen die zweijährigen Ausbildungsgänge.

In der öffentlichen Diskussion ist derzeit der Mangel an Ausbildungsplätzen ein beherr­

schendes Thema. Im Ausbildungsjahr 1996/97 wurden von der Wirtschaft 7,4 % weniger

Lehrstellen zur Verfügung gestellt, obwohl 6,9 % mehr Jugendliche mit Lehrstellen zu ver­

sorgen waren. Es fehlten insgesamt rund 200000 Ausbildungsplätze.

Mit spektakulären Briefschreibe-Aktionen von Politikern und Klinkenputzen in Ausbil­

dungsbetrieben ist dem Problem der mangelnden Ausbildungsbereitschaft und Ausbildungs­

beteiligung der Betriebe jedoch nicht beizukommen. Auch die verschiedenen "Bündnisse für

Ausbildung" zeugen von einer naiven Sichtweise auf das zu bewältigende Problem: Ökono­

mische Kalküle können eben nicht dauerhaft durch moralische Appelle ersetzt werden (-t R,

Kosten und Nutzen). Gefragt sind dagegen strukturelle Lösungen, damit sich die im Verlauf

Bildungspolitische Streitflille 47

der jüngeren Geschichte wiederholt aufgetretenen Phasen des Ausbildungsplatzmangels und

hoher Jugendarbeitslosigkeit möglichst nicht wieder einstellen.

Die Bereitschaft der Betriebe, Auszubildende einzustellen, hängt sehr stark von wirtschaftli­

chen Erwartungen ab. Zudem läßt sich eine zunehmende Neigung der Betriebe feststellen,

mit Hinweis auf die hohen Kosten auf die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zu verzich­

ten. Diese Betriebe suchen statt dessen ausgebildete Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt,

anstatt diese selbst auszubilden (~ R, Kosten und Nutzen). Einzelbetriebliche Interessen an

einer Senkung der Personalkosten können hier in einen scharfen Gegensatz zu gesamtgesell­

schaftlichen Aufgaben der Ausbildung und Beschäftigung treten. Da Entscheidungen über

die Zahl der Ausbildungsplätze jedoch Angelegenheit von Betrieben sind, greifen bildungs­

politische und vor allem gesetzliche Maßnahmen nur sehr begrenzt. Hinzu kommt die Erfah­

rung, daß sich demoskopische Entwicklungen zum Angebot an Ausbildungsplätzen wieder­

holt geradezu gegenläufig verhielten, so daß durch die Doppelung der Effekte sehr viele

junge Menschen in der Vergangenheit keinen Ausbildungsplatz bekamen.

Mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976 sollte diesen Risiken von Ungleich­

gewichten auf dem Lehrstellenmarkt gegengesteuert werden. Das Gesetz sah vor, daß das

Angebot an Ausbildungsplätzen mindestens 12,5 % über der Nachfrage liegen müsse. Würde

diese Vorgabe nicht erfüllt, könnte eine Ausbildungsplatzabgabe erhoben werden. Dieses

Gesetz wurde aber 1981 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben, da die Zustimmung des

- damals eDU-geführten - Bundesrates nicht vorlag. Die Aufhebung erfolgte jedoch nicht

wegen der Ausbildungsplatzabgabe, sondern aus (formalen) Verfahrensgründen.

Erneut angefacht wurde die Diskussion dadurch, daß die Oppositionsparteien im Bundestag

Gesetzentwürfe zur Ausbildungsplatzabgabe vorgelegt haben. Es sind verschiedene Mög­

lichkeiten denkbar, einem sinkenden Ausbildungsplatzangebot über die Sicherung der Aus­

bildungsfmanzierung zu begegnen (~ R, Finanzierung). Gegenwärtig wird eine Umlagefi­

nanzierung favorisiert. Mit einem solchen Verfahren, das verbindlich nur durch ein Gesetz

eingerichtet werden könnte, wäre möglicherweise ein relativ großer Verwaltungsaufwand

verbunden. Mit dem Gesetz ist aber auch die Hoffnung verknüpft, jugendliche Ausbildungs­

platzsuchende zukünftig kontinuierlich mit Ausbildungsplätzen versorgen zu können. Noch

nicht garantiert wäre damit ein Recht auf einen Ausbildungsplatz, etwa vergleichbar dem

grundgesetzlieh garantierten Recht auf Bildung oder einer der Schulpflicht entsprechenden

Ausbildungspflicht

48 Berufsbildungspolitik

6 Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften

In einer pluralistisch und föderalistisch gestalteten Gesellschaft, die diese Gesellschaft zu

einer hochkomplexen macht (~ BWP, Systemzusammenhänge), ist die Berufsbildungspoli­

tik einer ständigen Gratwanderung vergleichbar: Starker Einfluß von Interessengruppen

könnte dazu fuhren, daß Berufsbildungspolitik für partikulare Interessen vereinnahmt wird.

An verschiedenen Trends soll diese Gefahr aufgezeigt werden.

Wenn die Bereitschaft der Betriebe, genügend Ausbildungsplätze bereitzustellen, nicht mehr

gewährleistet ist, liegt es nahe, mehr schulische Bildungsgänge mit entsprechenden Ab­

schlüssen einzurichten, um diesen Mangel zu kompensieren. Kann aber eine vollzeitschuli­

sche Ausbildung überhaupt relativ frei von ökonomischen und betrieblichen Anforderungen

agieren, und kann sie die duale Ausbildung unter Beteiligung des Lernortes Betrieb auch

tatsächlich ersetzen? In jedem Fall hätten die Absolventen mit großen Akzeptanzproblemen

bei den Betrieben als späteren Abnehmern zu rechnen. Denn die betrieblichen Abnehmer

würden die mangelnde Auseinandersetzung mit der betrieblichen Wirklichkeit in der voll­

schulischen Ausbildung vermissen und darauf verweisen, daß ein zusätzliches Angebot an

vollzeitschulisch qualifizierten Fachkräften vom Arbeitsmarkt ohnehin nicht aufgenommen

würde. Der Lernort Betrieb läßt sich also im Nonnalfall durch eine vollschulische Berufs­

ausbildung nicht ersetzen. Von den Kosten, die bei einer solchen Entscheidung im wesentli­

chen dem Steuerzahler aufgebürdet würden, soll hier einmal abgesehen werden.

Eine Alternative zur vollschulischen Berufsausbildung wäre die Verbetrieblichung der

Ausbildung. Die Betriebe übernähmen die gesamte Ausbildung, und der Lernort Berufsschu­

le im dualen System würde in seiner jetzigen Form dadurch überflüssig. Diese Beftirchtung

ist keineswegs herbeigeredet. Durch die Neuordnung der Berufe ist die althergebrachte Auf­

gabenteilung zwischen Berufsschule und Betrieb ohnehin obsolet geworden. Hinzu kommt,

daß die Berufsschule in einer Krise steckt und ihre Zukunft neu bedacht werden muß (~ LS,

Berufsschule; ~ P, Modularisierung). Jedoch wäre bei einer Verbetrieblichung der Ausbil­

dung die Gefahr groß, daß Berufsbildung sich nicht mehr von einer QualifIzierung für weni­

ge Arbeitsverrichtungen im Sinne eines training for the job unterscheiden würde.

Die Lösung dieses Problems ist sicherlich weder in einer rein schulischen noch in einer rein

betrieblichen Ausbildung zu suchen. Die duale Ausbildung scheint trotz aller kritischen Ein­

wände eine Organisationsform der beruflichen Ausbildung zu sein, die den besonderen, hi­

storisch gewachsenen und aktuell vorfmdlichen Bedingungen in der Bundesrepublik

Deutschland angemessen erscheint. Dennoch konnte es dazu kommen, daß dieses duale Sy-

Ben4sbildungspolitiJc in komplexen Gesellschaften 49

stern zur Zeit besonders heftig kritisiert wird und sogar vom "Ende des dualen Systems" die

Rede ist.

Kritiker des dualen Systems behaupten, es besitze faktisch keine Dualität mehr, weil immer

größere Anteile der beruflichen Bildung in außerschuIische und außerbetriebliche Einrich­

tungen verlagert werden. Die verstärkte Bedeutung außerfachlicher Qualifikationen und au­

ßerbetrieblicher Qualifizierung gilt diesen Kritikern als Ausdruck einer stetigen Ablösung der

Berufsausbildung von den Anforderungen der bestehenden Berufsbilder.

Kritiker verweisen zudem darauf, daß Berufsausbildung im dualen System von immer mehr

jungen Menschen nur als eine Zwischenstation auf dem Wege zum Studium gesehen wird

und daß dabei der beruflichen Erstausbildung eher die Funktion eines "Parkens im Prakti­

kum" zukommt. Wiederholt wird auch die Frage gestellt, ob das herkömmliche Berufsprin­

zip noch der gegenwärtigen gesellschaftlichen Form der Organisation von Arbeit entspricht

und seinen Beitrag zur sozialen Integration leisten kann (~ BWP, Beruf). In diesem Zu­

sammenhang wird dann diskutiert, ob nicht andere Organisationsformen der beruflichen Bil­

dung etwa nach dem Konzept einer modularisierten Ausbildung erfolgversprechender sein

könnten (~ P, Modularisierung).

Vor dem Hintergrund, daß heute junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Bildungsvor­

aussetzungen in Berufsausbildungen eintreten und zu befürchten ist, daß zukünftig viele von

ihnen nicht mehr die anspruchsvollen Ziele einer Berufsausbildung erreichen können, scheint

die Modularisierung einen Ausweg aus einer schwierigen Problemlage anzuzeigen. Gestützt

wird diese Meinung durch Entwicklungen zu einem europäischen Binnenmarkt und der Sich

daraus ergebenden Notwendigkeit, berufliche Qualifikationen vergleichen und zertifizieren

zu können (~ R, Internationalisierung). Eine konsequente Modularisierung würde allerdings

bedeuten, daß berufliche Strukturen und das Prinzip der Beruflichkeit aufgegeben würden.

Ob eine so weitreichende Reform auf grund der langen geschichtlichen Entwicklung des

dualen Systems und der Konzessionen, die mit einem solchen Einschnitt gemacht würden,

sinnvoll und überhaupt durchsetzbar wäre, ist höchst fraglich. Modularisierung mag ein in­

teressantes Konzept für strategische Überlegungen zur Veränderung von Rahmenbedingun­

gen der beruflichen Bildung sein. Modularisierung sollte aber kein Thema für kurzzeitige

bildungspolitische Eingriffe in ein komplexes System sein.

Für die Bundesrepublik Deutschland käme aufgrund der gewachsenen Berufsstrukturen

wohl nur die Möglichkeit in Betracht. Module an der Nahtstelle zwischen Aus- und Wei­

terbildung unter genereller Beibehaltung des Berufsprinzips vorzusehen. In dieser Möglich-

50 Berufsbildungspolitik

keit wird denn auch eine gute Chance für die berufliche Bildung gesehen, flexibler als bisher

auf neue technische oder wirtschaftliche Entwicklungen und Anforderungen zu reagieren. In

diesem Konzept einer teilmodularisierten Aus- und Weiterbildung wäre dann auch ein trag­

fähiger Ansatz für eine Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften zu erkennen.

Literatur 51

Literatur

Benner, H. (1982). Ordnung der staatlich anerkannten Ausbildungsberufe. Berlin: Bun­desinstitut für Berufsbildung.

Dauenhauer, E. (1975). Funktion, Bedeutung und Stand der Berufsbildungsforschung in der Bundesrepublik: Deutschland. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 5, S. 2-4.

Dauenhauer, E. (1997). Berufsbildungspolitik (4. Aufl.). Münchweiler: Walthari. Dehnbostel, P. (in Druck). Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB). In J.-P. Pahl & E. Uhe

(Hrsg.), "Betrifft: berufsbildung". Begriffe für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung.

Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen (1964). Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen. Folge 7/8. Stuttgart: Klett.

DFG-Senatskommission (1990). Berufsbildungsforschung an den Hochschulen der Bundes­republik Deutschland: Situation, Hauptaufgaben, Förderungsbedarf. Weinheim: VCH, Acta Humanoria.

Münch, 1. (1995). Berufsbildungspolitik. In R. Arnold & A. Lipsmeier (Hrsg.), Handbuch Berufsbildung (S. 398-408). Opladen: Leske+Budrich.

Uhe, E. (1995). Abstimung "vor Ort". berufsbildung, 32, S. 2.

Strukturbegriff:

Beruf, Wirtschaft,

Pädagogik

1 Systemzusammenhänge

Ausbildung ~::""f-~I-r~::::';;;:'::---liV--+-::::::::~Ziels_CD der Lehrer und dcrAusbilder

LernOr!

Betrieb

Immer wenn von Berufs- und Wirtschaftspädagogik die Rede ist, stoßen wir auch auf den

Systembegriff: Beruf und Wirtschaft werden als Systeme bezeichnet Pädagogisches Wissen

wird System genannt, und die Vermittlung dieses Wissens kann systematisch erfolgen. Die

Berufsausbildung insgesamt wird als ein System beschrieben, in das ein besonderes duales

System eingelagert ist. Viele weitere Beispiele ließen sich finden.

Es wird jedoch selten erläutert, was mit "System" oder "systematisch" eigentlich gemeint ist

Statt dessen wird durchweg unterstellt, daß sich mit der häufigen Verwendung des Begriffes

auch schon ein vernünftiger Gebrauch einstellt Diese Unterstellung mag berechtigt sein,

wenn wir mit "System" lediglich einen Ordnungszusammenhang von Elementen und der Be­

ziehungen dieser Elemente zueinander meinen. Dann nämlich können wir immer und überall

Systeme "entdecken".

Wir werden aber mit Hilfe dieser allgemeinen Vorstellungen vom System als einem Ord­

nungszusammenhang kaum in der Lage sein, Unterscheidungen zu treffen: Wir können nicht

zwischen einem technischen und einem sozialen System unterscheiden, also keine Klassen

von Systemen beschreiben. Wir können nicht die Grenzen eines Systems angeben, also nicht

entscheiden, was zu einem System und was zu seiner Umwelt gehört. Mit der nur vagen

Vorstellung vom System als einem Ordnungszusammenhang können wir auch nicht erklären,

wie und warum Systeme überhaupt entstehen, wie sie operieren und sich zueinander verhal-

54 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

ten, unter welchen Bedingungen sie sich entwickeln oder auflösen, ob und gegebenenfalls

wie in diese Systeme gestaltend eingegriffen werden kann usw.

Solange wir also nicht differenziert über Systeme sprechen können, bringt die Verwendung

des Systembegriffs keinen Erkenntnisgewinn. Eine undifferenzierte sprachliche Verwendung

des System begriffs ist wissenschaftlich sinnlos.

Da wir aber den Gegenstandsbereich einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Zusam­

menwirken von den drei Systemen Beruf, Wirtschaft und Pädagogik vorstellen und folglich

den Systembegriff verwenden, müssen wir zuvor unser Verständnis von Systemen zumindest

skizzieren. (Genau genommen stellen wir Berufs- und Wirtschaftspädagogik als soziale Be­

reiche der Kooperation von drei Netzwerken sozialer Systeme vor (vgl. auch Kutscha 1990).

Wir wollen aber vereinfachen und nur von Berufs- und Wirtschaftspädagogik als System

reden.)

In einem ersten Schritt werden wir deshalb erläutern, was wir unter "System", genauer unter

einem "sozialen System" verstehen. In einem zweiten Schritt werden wir sodann Beruf,

Wirtschaft und Pädagogik im Überschneidungsbereich gesellschaftlicher Bedeutungssysteme

(Sinnsysteme) vorstellen.

Was verstehen wir unter einem sozialen System? Soziale Systeme bestehen aus Lebewesen.

Sie werden erzeugt, indem diese Lebewesen durch Kommunizieren und Handeln ein Netz­

werk von Interaktionen produzieren. Beruf, Wirtschaft und Pädagogik, so behaupten wir,

sind unterscheidbare soziale Systeme. Alle Handlungen eines sozialen Systems werden sinn­

haft miteinander verknüpft und zwar so, daß diese Handlungen an bisherige anschließen und

zugleich an zukünftige angeschlossen werden können. Handlungen treten deshalb als

"Sinnträger" auf und verweisen auf weitere Handlungen, denen wiederum Sinn zugeschrie­

ben werden kann (vgl. Schmid 1987, S. 27 f.). Welche Handlungen als sinnvoll angeschlos­

sen oder als nicht sinnvoll zurückgewiesen werden, wird über Kommunikation und soziale

Festlegungen entschieden. Schaubild 1 zeigt Beispiele für Themen, die sinnvollerweise nur in

bestimmten sozialen Bereichen verhandelt werden können.

Systemzusammenhänge

Beruf

• Neue Informations- und Kommunikationstechniken

• Duales System • Berufliche Weiterbildung

Pädagogik

55

Wirtschaft

Schaubild 1: Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich sozialer Berei­che systemischer Kommunikation und Handlung ("Gegenstandsbereiche")

Ein erstes Beispiel: Räuberischer Erwerb ist ein gesellschaftliches Phänomen und Problem

zugleich. Dennoch löst dieses Phänomen nur in bestimmten sozialen Systemen Kommunika­

tion und Handlung aus. Für das System "Wirtschaft" ist dieses Phänomen irrelevant. Es ist

nicht Gegenstand wirtschaftlichen Kommunizierens und Handeins, obwohl es eine beachtli­

che Wirtschaftskriminalität gibt. Gleiches gilt für das System "Beruf'. Einen Beruf "Räuber"

fmden wir nicht im System der Berufe, obwohl es durchaus Menschen gibt, die mit dem räu­

berischen Erwerb "professionell" und dauerhaft ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dagegen

ist dieses Phänomen des räuberischen Erwerbs für das System "Pädagogik" - und natürlich

auch für das Rechtssystem - sicherlich bedeutsam, weil mit erzieherischen Maßnahmen und

Maßnahmen der Rechtsprechung und des Justizvollzugs auf Kinder und Jugendliche so ein­

gewirkt wird, daß sich dieses Phänomen möglichst nicht einstellt.

Ein zweites Beispiel: Wissen über aktuelle Veränderungen der Sparquote ist für Wirtschafts­

theoretiker und -politiker gleichermaßen von großer Bedeutung. Es ist nämlich wichtig für

die Beschreibung, Erklärung und Gestaltung wirtschaftlicher Entwicklungen. Veränderungen

56 Beruf, Wirtschaft, Ptidagogik

der Sparquote sind aber kein Thema, das im Berufssystem oder im Erziehungssystem einen

besonderen Stellenwert einnimmt.

Daneben lassen sich aber auch Phänomene und Beispiele benennen, die Kommunikation und Handlung in allen drei Systemen auslösen. So ist beispielsweise die Verbreitung neuer In­

formations- und Kommunikationstechnologien ein wichtiges Thema, das im Berufs-, Wirt­schafts- und Erziehungssystem zugleich behandelt wird. Allerdings sind Kommunikation und Handlung, die dieses Thema in den drei Systemen auslöst, sehr verschieden. Für einen Un­ternehmer sind diese neuen Technologien nur im Rahmen ökonomischer Nutzungskonzepte bedeutsam. Einen Berufsforscher interessieren dagegen die von einer massenhaften ökono­mischen Nutzung zu erwartenden gesellschaftlichen Veränderungen in der Qualiftkations­

und Berufsstruktur, die Neupositionierung gesellschaftlicher Gruppen wie beispielsweise der berufstätigen Frauen usw. Und von pädagogischer Bedeutung könnte die Frage sein, inwie­

weit die Einrichtung von Heimarbeitsplätzen mit Hilfe der neuen Technologien vorzugsweise für Frauen wieder Kindererziehung zu Hause und in der Familie möglich macht.

Die Erfahrung, daß jedes System ein spezifisches Netzwerk von Interaktionen produziert, hat weitreichende Konsequenzen für die in diesen Systemen handelnden Menschen. Stellen wir uns einmal folgende Situation vor: Die Abteilungsleiter eines Unternehmens diskutieren, warum es für das Unternehmen vorteilhaft sein könnte, Teile der Massendatenverarbeitung

durch Lohnaufträge an Heimarbeiterinnen zu vergeben, und einer von ihnen begründet dieses Vorhaben mit dem Argument, daß damit Erziehungsaufgaben von Kindertagesstätten und Vorschulen wieder in die Familien zurückgebracht werden könnten. Die Reaktion der Kolle­gen auf diesen pädagogisch engagierten Mitarbeiter lassen sich schon erahnen: Kopfschüt­

teln, Unmutsäußerungen, Zurechtweisungen und eventuell auch Ausschluß aus der Diskussi­onsrunde. Systeme wie Beruf, Wirtschaft und Pädagogik entstehen und erhalten sich also, indem sie

Grenzen ziehen. Diese Grenzen trennen das System von seiner Umwelt. Alles was diesseits der Grenzen liegt, zählt zum System. Alles andere gehört zur Umwelt des Systems. Sy­stemdifferenzierung entsteht also durch Systemgrenzen. Die Beispiele zeigen aber auch an, wie diese Grenzen entstehen: Eine Systemdifferenzierung fmdet statt, wenn ein System eine Unterscheidung von System und Umwelt trifft, wenn alles, was für das System geschieht, daraufhin bewertet wird, ob und inwieweit damit für die Sy­stemmitglieder bedeutungsvolle und aufeinanderbezogene Kommunikation und Handlung erzeugt werden. Diese systemspezifische Bedeutung von Handlung und Kommunikation, die

das System erzeugt, wird in der Sprache von Soziologen "Sinn" genannt. Erst durch diesen

Systemzusammenhiinge 57

Bezug auf den Sinn und gleichzeitigem Abblenden sinnloser Kommunikation und Handlung

differenzieren sich soziale Systeme. Indem sie fortwährend Kommunikation und Handlung

bewerten, bilden sie ein Repertoire von Interaktionen aus, die unter den Systemmitgliedem

als "angemessen" oder "sinnvoll" gelten. Dies ist gleichsam die Geschäftsgrundlage für alle

Systemmitglieder (vgl. Hej11990, S. 319 ff.).

Auch Beruf, Wirtschaft und Pädagogik haben ein jeweils spezifISChes Repertoire von Inter­

aktionen ausgebildet. Wir können dieses Repertoire beschreiben, wenn wir Kommunikation

und Handlung dieser Systeme in den sozialen Bereichen, in denen sie kooperieren, verglei­

chen und dann unterscheiden. Wir können dabei besonders das Bedeutungssystem von Be­

ruf, Wirtschaft und Pädagogik in den Blick nehmen, um Systemgrenzen zu erkennen. Be­

rufs- und Wirtschaftspädagogik wäre dann zu beschreiben im Überschneidungsbereich von

drei Bedeutungssystemen (vgl. Schaubild 2). Das Schaubild 2 soll folgendes verdeutlichen:

Die Systeme Beruf, Wirtschaft und Pädagogik erzeugen Kommunikation und Handlung mit

Hilfe spezifischer Bedeutungen, mit denen sie sich zugleich voneinander abgrenzen. Gleich­

wohl bilden sie im Überschneidungsbereich Berufs- und Wirtschaftspädagogik ein eigenes

System von Bedeutungen aus: "Wirtschaftlichkeit", "Berufliche Sozialisation", "Selbstbe­

stimmung", "Berufliche Mobilität", "Persönlichkeitsentwicklung" u. a. Allein in diesem Be­

reich fmdet also sinnvolles berufs- und wirtschaftspädagogisches Handeln statt

Zugleich wird aber auch die besondere Problematik einer Beschreibung von Berufs- und

Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von Beruf, Wirtschaft und Pädagogik

deutlich: Einzelne Bedeutungen wie beispielsweise Wirtschaftlichkeit, berufliche Sozialisati­

on und Selbstbestimmung liegen nur im Überschneidungsbereich von Bedeutungssysteme

zweier sozialer Systeme, können deshalb sinnvolles Handeln nur aus berufspädagogischer

oder wirtschaftspädagogischer Sicht begründen. Insgesamt markieren solche Bedeutungen

Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Berufspädagogik und Wirtschaftspädagogik.

Zwar lassen sich auch Bedeutungen für alle drei Systeme ausweisen, beispielsweise

"Persönlichkeitsentwicklung" und "Berufliche Mobilität". Dabei muß jedoch bedacht wer­

den, daß diese, vom Standpunkt der jeweiligen Systeme betrachtet, durch ihre Verknüpfun­

gen in deren spezifISChen Bedeutungssystemen sehr unterschiedlich sind.

Es ist deshalb sozialtheoretisch geradezu naiv, schon dann von "Versöhnung" oder

"Koinzidenz" sozialer Systeme zu reden, wenn einzelne Bedeutungen sprachlich gleichlau­

tend verwendet werden. Vom System "Wirtschaft" aus betrachtet macht Persönlichkeits­

entwicklung nur Sinn im Zusammenhang mit Wirtschaftlichkeit Erst in diesem Zusammen-

58 Beruf, Wirtschaft, Piidagogik

hang erhalten beide ihre systemspeziftsche Bedeutung. Andere unterscheidbare systemspezi­

ftsche Bedeutungen erhält Persönlichkeitsentwicldung deshalb aus beruflicher Sicht, wenn es

mit beruflicher Sozialisation, und aus pädagogischer Sicht, wenn es mit Selbstbestimmung

verknüpft wird. In der Verknüpfung entstehen strenggenommen neue Qualitäten von Bedeu­

tungen, die nicht mehr über einzelne Bedeutungen und auch nicht über deren Summe be­

schrieben werden können. Auch hier gilt der fundamentale Satz der System theorie: Das

Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!

S,: Wirtschaftlichkeit S,: Berufliche Sozialisation S,: Selbstbestimmung S.: Persönlichkeitsentwicklung S,: Berufliche MobilitJit SB,W,P: Bedeutungen von B. W. p. die ftlr soziale Bereiche der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

bedeutungslos sind

Schaubild 2: Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von drei Be­deutungs- bzw. Sinnsystemen

Die Besonderheit einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von

Beruf, Wirtschaft und Pädagogik entsteht also dadurch, daß sie nicht als autonomer Bereich

für pädagogisches Handeln gedacht werden kann. Die immer wieder diskutierte Frage, ob

Berufs- und Wirtschaftspädagogik eine eigenständige Disziplin ist, erübrigt sich in dieser

Systemzusammenhänge 59

gedanklichen Konstruktion eines Überschneidungsbereichs von Beruf, Wirtschaft und Päd­

agogik.

Sinnvolles berufs- und wirtschaftspädagogisches Handeln und Kommunizieren kann sich

nicht abgelöst von den Bedeutungssystemen Beruf, Wirtschaft und Pädagogik entfalten. hn

zentralen sozialen Bereich der beruflichen Bildung beispielsweise interagieren Mitglieder

aller drei Systeme. Dabei bewerten sie ihre Handlungen mit den spezifischen Bedeutungen,

die für die sozialen Systeme gelten, denen sie sich zugehörig fühlen. So haben Lehrer andere

Vorstellungen von einer sinnvollen beruflichen Bildung als Ausbilder und Ausbildungsleiter,

die Tarifpartner andere Erwartungen an die Berufsausbildung als die Kultusminister. Ju­

gendliche machen als Auszubildende andere Erfahrungen als in der Schülerrolle usw. Daß

besonders in der beruflichen Bildung unterschiedliche Bedeutungssysteme ständig

"ausgehandelt" werden müssen, ist sicherlich ein besonderes Problem der Berufs- und Wirt­

schaftspädagogik, das diese nicht einfach durch normatives Setzen von Bildungszielen auf­

heben könnte (~ Z, Problematik einer wissenschaftlichen Zielsetzung). Darin liegt aber auch

die besondere Chance für deren Weiterentwicklung.

Festgehalten werden kann: Soziale Systeme entstehen, indem

• Menschen soziale Netzwerke von Kommunikation und Handlung (Interaktion) bilden,

• Systeme Grenzen ziehen und damit unterscheiden, was zum System und zu seiner Um­

welt gehört,

• Systeme Sinnkriterien für aufeinander bezogenes Kommunizieren und Handeln sozial

festlegen und zu einem systemspeziftschen Bedeutungssystem verknüpfen.

Schließlich lassen sich Grenzen (bzw. die Umwelt) von sozialen Systemen erkennen

• an systemspeziflSCher Sprache, Kommunikation und Handlung, mit denen sich das System

von anderen Systemen unterscheidet,

• an Sanktionen (Ignorieren, Tadeln, Ausgrenzen), mit denen Systemmitgliedern angezeigt

wird, daß sie dabei sind, das soziale System zu verlassen.

60 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

2 Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration

Berufstätig zu sein, meint nicht nur, tätig zu werden, um damit den Lebensunterhalt bestrei­

ten zu können und Pensionen und Rentenansprüche zu erwerben. "Beruf' steht auch für den

persönlichen Sinn, für Interessen, Wertvorstellungen und Ziele, für Wissen und Fähigkeiten,

die wir mit diesen Tätigkeiten verbinden. "Beruf' steht aber auch für die speziftsche gesell­

schaftliche Wertschätzung, die Menschen als "Berufsträger" erfahren, und über die soziales

Ansehen und gesellschaftliche Achtung verteilt werden. Berufe formen sich demnach zum

einen aus den individuellen Vorstellungen von der Erwerbsarbeit und zum anderen aus ge­

sellschaftlichen Festlegungen ("Bündelungen") von Arbeitstätigkeiten zu typischen Mustern

gesellschaftlicher Wertschätzung (Sozialprestige).

Im Berufsbegriff verschmelzen also zwei verschiedene Klassen von Bedeutungen zu einem

System von Bedeutungen. Wann immer wir den Berufsbegriff geschichtlich vorftnden, ftnden

wir auch diese beiden Bedeutungen von "Beruf' wieder.

Schon Martin Luther (1483-1546) benannte die zuvor genannten zwei Aspekte des Berufs­

begriffs, den "inneren" Beruf (vocatio spiritualis) und den "äußeren" Beruf (vocatio exter­

na). Mit dem "inneren" Beruf meinte Luther die geistige Berufung, sich als Christ in der Ar­

beit zu bewähren und Gott und dem Nächsten zu dienen. Der "äußere" Beruf bezeichnet bei

Luther dagegen den weltlichen Stand.

Nun war Luther aber kein Berufsforscher sondern Theologe. Er betrachtete den Beruf vom

Standpunkt der Theologie. Und in dieser Betrachtung machte er allerdings eine deutliche

Unterscheidung: Nur das, was bedeutsam ist für die Bewährung als Christ und dem Dienst

an Gott und dem Nächsten, rechnete er der Religion zu. Das war der "innere" Beruf. Den

"äußeren" Beruf trennte er ab und verwies ihn in einen Bereich jenseits der Grenzen seiner

Religion. Der "äußere" Beruf war für Luther reine Erwerbsarbeit, und die war für Luthers

theologisches System unbedeutend.

Der Schweizer Reformator Jean Calvin (1509-1564) zog wie Luther eine deutliche Grenze

durch das Bedeutungsfeld von "Beruf'. In Abgrenzung zur reinen "Erwerbsorientierung" -

dem "äußeren" Beruf bei Luther - anerkannte er den Beruf nur insoweit, als dieser einen

Beitrag auch zur religiösen Ethik leisten konnte, d. h. zur Verpflichtung zum Verzicht zu­

gunsten Bedürftiger und zur gewissenhaften Verwendung der von Gott anvertrauten Güter.

"Beruf' hatte also besonders in der theologischen Sichtweise von Calvin auch eine soziale­

thische Verpflichtung, die die reine Erwerbsarbeit ausschloß. Erst im Spätcalvinismus und

Beruf' Zwischen Individualisierung und sozialer Integration 61

durch eine stärkere Orientierung an produktionskapitalistischen Idealen verloren die soziale­

thisch begründeten beruflichen Orientierungen an Bedeutung.

Das, was vom Religionssystem ausgegrenzt wurde, der "äußere" Beruf, hatte jedoch für das

Wirtschaftssystem, speziell für die zünftisch organisierte Wirtschaftsordnung des Mittelal­

ters, eine große Bedeutung und zwar in doppelter Hinsicht: Über Beruf und Berufsausbil­

dung in den Zünften wurden die wirtschaftlichen Aktivitäten des damals noch bestimmenden

Handwerks reguliert und zugleich die ständische Gesellschaftsordnung reproduziert und

stabilisiert. Indem die Zünfte genau festlegten, wann ein Handwerksgeselle Meister werden

konnte, ob und gegebenenfalls wo dieser Meister seinen Handwerksbetrieb errichten konnte,

wieviele Gesellen er beschäftigen und wieviele Lehrlinge er ausbilden durfte, betrieben sie

eine durchgreifende Marktregulierung. Es wurden immer nur so viele Handwerksbetriebe

zugelassen und eingerichtet, wie diese auch imstande waren, den Lebensunterhalt des Mei­

sters und seiner Familie zu sichern. Wer im Mittelalter in der Zunft lebte, erfuhr damit die

dauerhafte - und das meinte damals: lebenslange - Sicherheit seiner beruflichen Tätigkeit

("Berufstreue") und auch die lebenslange Sicherung der materiellen Versorgung durch Be­

rufsarbeit

Mit dem Leben in den Zünften zugleich verbunden war jedoch auch die Einordnung in eine

soziale Hierarchie von Über- und Unterordnung im System der Ständegesellschaft: Den

niedrigsten sozialen Status hatten noch die Lehrlinge. Davon bereits deutlich abgehoben wa­

ren die Gesellen und Gehilfen. Und darüber waren die Meister und selbständigen Kaufleute

sozial geschichtet. Über berufliche Bildung und Berufserfahrung wurden so soziale Wert­

schätzungen verteilt und soziale Hierarchien erzeugt und stabilisiert.

Mit der Industrialisierung begann der Niedergang der mittelalterlichen Zünfte und damit

auch der Niedergang der Ständegesellschaft. Mit dem endgültigen Zusammenbruch des

zünftischen Wirtschaftssystems zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der zuvor schon einge­

leiteten Säkularisierung veränderte sich die Situation jedoch grundlegend. An die Stelle der

religiösen Sinngebung von Beruf trat zunächst die neue ökonomische der Industrie. Für die

Industrie war "Beruf' lediglich verkörperte Arbeitskraft. Und Arbeitskraft war bloß Ware.

Die Arbeitserziehung trat an die Stelle der Berufserziehung in der Ständegesellschaft. Das

hieß für die vielen Kinder in den Industrieschulen schlicht Vorbereitung auf repetitive Tätig­

keiten in den entstehenden Manufakturen, insbesondere in der Textilbranche. Ausbildung

zielte auf Verwertbarkeit von Arbeitskraft - und das möglichst früh und möglichst intensiv.

Sechzehn- bis achtzehnstündige Arbeitstage auch für Kinder und Frauen waren die Regel.

Für Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) war Berufsausbildung in den

62 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

Industrieschulen schlichtweg die Vorbereitung von Kindern auf spätere Ausbeutung und

Verelendung. Die Industrieschulen glichen Gewerbeunternehmen, die von Kindern betrieben

wurden.

Die Bedeutung von "Beruf' für die gesellschaftliche Eingliederung in soziale Schichten, die

mit dem Zunftwesen des Mittelalters entstand, verschwand und wurde durch eine ökono­

misch orientierte Arbeitserziehung ersetzt. Diese übernahm auch die Funktion der gesell­

schaftlichen Integration. Auch die Arbeitserziehung erfolgte nämlich nur in solchen Berufs­

feldern, die bereits durch die Schichtzugehörigkeit der Eltern vorbestimmt war. Soziale

Mobilität zwischen Berufen und Berufsfeldern bzw. zwischen sozialen Schichten fand prak­

tisch nicht statt. Besonders die soziale Schicht der Arbeiter - Marx und Engels nannten sie

das Proletariat - reproduzierte sich immer wieder selbst. Industriesoziologische Untersu­

chungen konnten diese Reproduktion sozialer Schichten über den Beruf bis in die 1970er

Jahre hinein immer wieder bestätigen. Berufsausbildung und Beruf bestimmten somit auch in

der Industriegesellschaft die soziale Schichtung und legten die Möglichkeiten der Teilnahme

am gesellschaftlichen Leben und dessen Mitgestaltung fest.

In neueren wie auch älteren DefInitionen von "Beruf' sind diese Bedeutungen - die persönli­

che wie auch die gesellschaftliche - noch zu erkennen. Zwei Beispiele hierfür:

"Wir verstehen heute unter Beruf die vom Zeitpunkt der geistigen Mündigkeit an lebenslänglich dauernde Einstellung eines Menschen auf spezialisierte Arbeit, auf eine Sonderleistung innerhalb der Wirtschaft und des Lebens seiner Nation, eine Spezialisierung seiner Tätigkeit, durch die er in der Auswirkung eigener Interes­sen und Kräfte zugleich die beglückende Vollendung seines persönlichen Wesens und der Sicherung eines inhaltsreichen, geachteten und materiell ausreichend entlohnten Daseins gewinnt" (Fischer 1930, S. 466).

"Beruf ist eine historisch-gesellschaftliche Kategorie ... Für viele ist der Beruf der wichtigste Faktor sozialer Integration und Bildung. Begrifflich ist er doppel­seitig bestimmt. Er ist nicht nur funktionsbezogen (Objektseite gesellschaftlicher Anforderungen und Strukturen), sondern auch ichbezogen (Subjektseite indivi­dueller Motive und Interessen)" (Hobbensiefken 1996, S. 69).

Auch wenn wir uns heute am Ausgang der Industrialisierung und im Übergang zu einer In­

formationsgesellschaft befmden, haben Berufsausbildung und Beruf ihre Bedeutung rur ge­

sellschaftliche Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behalten. Jedoch sind

die Zusammenhänge zwischen Berufsausbildung, Berufstätigkeit und gesellschaftlicher Inte­

gration komplexer geworden. Heute müssen wir unterscheiden zwischen Ausbildungsberuf

und Erwerbsberuf (vgl. Schaubild 3).

Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration

Ausbildungsbemf

• wird über das Berufsbild definiert

• defmiert zu vermittelnde individuelle

berufsbezogene Fähigkeiten,

Fertigkeiten und Erfahrungen

• bestimmt maßgeblich den

sozialen Status

• reguliert soziale Integration und

Teilhabe an gesellschaftlicher

Kommunikation und Handlung

Erwerbsbemf

• bezeichnet die betrieblich

festgelegten Arbeitsaufgaben

und Tätigkeiten

• definiert betriebliche

Arbeitsverrichtung

• ist Voraussetzung für

Erwerbseinkommen

• weist Positionen im Betrieb zu

Schaubild 3: Ausbildungsberuf - Erwerbsberuf

63

Trotz Arbeitslosigkeit, Lehrstellenknappheit und weitgehender Desillusionierung und Ent­

mutigung von Jugendlichen hat "Beruf' im Sinne des Ausbildungsberufs eine persönliche

Bedeutung behalten. "Beruf' steht immer noch für den Zusammenhang mit persönlichen

Neigungen und Interessen, markiert individuelle berufliche Orientierungen, die weit über

berufliche Tätigkeiten hinausreichen. "Beruf' steht immer noch für persönliche Ziel- und

Wertorientierungen ebenso wie Berufsausbildungen auch Bildungs- und Entwicklungsmög­

lichkeiten vermitteln oder versperren und das persönliche soziale Umfeld beeinflussen.

"Beruf' verweist darüber hinaus auch heute noch auf den sozialen Status, die berufliche

Stellung in einer gesellschaftlichen Hierarchie. Wenn wir jemanden bitten, sich uns oder an­

deren vorzustellen, nennt er zumeist seinen Namen, dann nennt er seinen Beruf. Menschen

beschreiben sich und ihre gesellschaftliche Stellung fast automatisch über ihren Beruf. Von

der erlangten Berufsposition hängt es wesentlich ab, mit wem der einzelne zusammenkommt,

wen er kennenlernt, mit wem er soziale Kontakte aufnehmen kann, aber auch, welche sozia­

len Rollen er in der beruflichen Öffentlichkeit übernehmen kann.

Der soziale Gesamtstatus des einzelnen wird nach wie vor durch seinen Ausbildungsberuf

und die damit zu erlangende berufliche Position bestimmt Obwohl Berufe für die Leistungs­

fähigkeit der Wirtschaft von gleicher Bedeutung sein können, sind sie dennoch in der gesell­

schaftlichen Wertschätzung deutlich voneinander verschieden. Berufe entfernen Menschen

voneinander, erzeugen soziale Distanz. Sie legen persönliches Ansehen und Sozialprestige

fest. Über Berufe werden nach wie vor Chancen zur Selbstverwirklichung und zur aktiven

Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verteilt

64 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

"Beruf' meint aber auch Berufstätigkeit. Mit "Beruf' wird dann eine Arbeitsaufgabe be­

schrieben, um die herum sich typische Verrichtungen gruppieren. "Beruf' bezeichnet dann

die charakteristische Bündelung der auf eine Aufgabe bezogenen Verrichtungen, mit der

auch Zweck und Ziel der im jeweiligen Beruf zu verrichtenden Tätigkeiten in einem Funkti­

onsbild festgelegt werden. Es konnte in einer empirischen Berufsanalyse zum Funktionsbild

des Kraftfahrzeug-Instandsetzers aufgezeigt werden, daß trotz einheitlicher Bezeichnung für

einen Ausbildungsberuf sich die spätere Berufstätigkeit in diesem Beruf stark unterscheiden

kann (vgl. Schanne 1988). Es läßt sich also nur sehr unzuverlässig von der Berufsausbil­

dung auf die tatsächlich zu leistende Berufsarbeit schließen. In der Studie konnte weiterhin

nachgewiesen werden, daß über den jeweiligen Erwerbsberuf als funktionale Seite des Be­

rufs auch die tatsächlichen Chancen auf berufliche Weiterbildung, beruflichen Aufstieg, Ar­

beitseinkommen, Arbeitsplatzsicherheit und Arbeitsqualität unterschiedlich verteilt werden.

Neben der Berufsausbildung ist damit der Erwerbsberuf als weitere wichtige Determinante

für soziale Wertschätzung, aber auch für gesellschaftliche Eingliederung getreten (~ LB,

Betrieb und Gesellschaft).

Beruf hat nach wie vor eine Bedeutung für die gesellschaftliche Integration. Allerdings sind

die Mechanismen, über die eine soziale Stellung durch Berufsausbildung und Berufstätigkeit

"zugewiesen" werden, komplexer geworden. Klar ist auch, daß dieser Mechanismus der so­

zialen Integration durch "Zuweisung" gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung

über den Beruf an Bedeutung verliert. Die Jugendforschung konnte aufzeigen, wie sich die

eigene Berufsbiographie stetig aus gesellschaftlichen Festlegungen löst und mehr in die Ent­

scheidung und Verantwortung des einzelnen gelegt wird. Sie wird zunehmend Teil einer

individuellen, ganzheitlichen, aber auch riskanten Lebensplanung.

Ob deshalb "Beruf' und "Beruflichkeit" noch Bezugspunkte für sinnvolles Kommunizieren

und Handeln von Berufs- und Wirtschaftspädagogen sein können, ist zumindest zweifelhaft

Kritiker von "Beruflichkeit" als Leitidee einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik verweisen

auf die Prozesse einer Entkoppelung von Berufssystem und Beschäftigungssystem: Einer­

seits nimmt die Zahl der staatlich anerkannten Berufsausbildungen kontinuierlich ab, ande­

rerseits wird von einer noch stärkeren Ausdifferenzierung von Erwerbsberufen ausgegangen.

Berufsausbildung wird dadurch notwendigerweise allgemeiner, konzentriert sich auf die

Vermittlung allgemeiner, theoretisch anspruchsvollerer und extrafunktionaler Kompetenzen.

Sie wird - langfristig betrachtet - zur beruflichen Grundqualiftkation, auf der ein an betriebli­

chen Anforderungen orientiertes, der staatlichen Reglementierung und Regulierung entzoge­

nes und damit vermeintlich flexibel gestaltbares System der beruflichen Weiterbildung auf-

Beruf· Zwischen Individualisierung und sozialer Integration 65

setzt. Welchen Sinn macht es dann überhaupt noch, weiter an der Idee von "Beruflichkeit"

festzuhalten ?

Weitere Zweifel an der berufs- und wirtschaftspädagogischen Bedeutung von "Beruf' und

"Beruflichkeit" werden genährt durch die sogenannte "Meritokratisierung" von Berufskarrie­

ren. Zwar treten immer noch mehr als zwei Drittel eines Altersjahrganges in eine Berufs­

ausbildung im dualen System ein (~ LS, Berufsschule). Dabei darf aber nicht übersehen

werden, daß für große Teile dieser "Berufsschüler" ihre Berufsausbildung nur eine Durch­

gangsstation zum Besuch weiterführender Schulen und Hochschulen ist, die

(allgemeinbildende!) Abschlüsse zertifizieren und dann bessere Einstiegschancen in Berufs­

karrieren bieten als Berufstätigkeit und berufliche Qualifizierung.

Wird die Bedeutung von "Beruf' und "Beruflichkeit" allein in der mehr oder weniger mißlin­

genden Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem aufgesucht, mögen diese

Zweifel berechtigt sein. In diesem einseitigen Bild von "Beruflichkeit" wird es kaum noch

möglich sein, in staatlich geordneten Berufsausbildungen einen beachtlichen Beitrag zur Be­

wältigung von Prozessen der Flexibilisierung und Deregulierung zu erkennen. Unklar er­

scheint auch, wie sich eine staatlich geordnete Berufsausbildung mit der angeforderten Indi­

vidualisierung von Lebensentwürfen, in die berufliche Karrieren maßgeschneidert einzupas­

sen sind, sinnvoll verbinden läßt

Die Perspektive ändert sich jedoch, wenn wieder die drängenden Probleme der Integration in

die sozialen Systeme unserer Gesellschaft in den Blick genommen werden und nach dem

möglichen Beitrag der beruflichen Bildung zur Bearbeitung dieser Probleme gefragt wird.

Nehmen wir beispielsweise die zehn am stärksten von Frauen besetzten Ausbildungsberufe in

den Blick, dann ist zu erkennen, daß es allesamt typische Frauenberufe sind: Arzthelferin,

Bürokauffrau, Kauffrau im Einzelhandel, Zahnarzthelferin, Friseurin und andere. Mit den

von Männem am häufigsten gewählten Ausbildungsberufen gibt es jedoch kaum Überschnei­

dungen. Die historisch gewachsene Auf teilung des Berufssystems in Männer- und Frauenbe­

rufe dauert also noch an (~ LS, Berufliches Schulwesen). Sie wird sogar noch durch zwei

Tendenzen verstärkt.

Wie den Berufsbildungsberichten des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, For­

schung und Technologie zu entnehmen ist, sinkt der Anteil von Frauen in gewerblich­

technischen Berufen weiter ab. Der Trend geht für Frauen eher zu den Dienstleistungsberu­

fen (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996, S.

56). Zugleich werden die Pflegeberufe auch weiterhin Frauenberufe bleiben, die bisher nicht

bundeseinheitlich nach Berufsbildungsgesetz geregelt sind (~ LS, Berufliches Schulwesen).

66 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

Unterstützt durch die Einstellungspraxis von Betrieben werden über die Segmentierung des

Beschäftigungssystems auch unterschiedliche soziale Chancen verteilt. Die Benachteiligung

von Frauen ist dadurch festgeschrieben, daß mit der Auf teilung des Berufssystems in Frauen­

und Männerberufe zugleich auch den Frauen ein höheres Arbeitsplatzrisiko, ein geringeres

Lebenseinkommen, bescheidenere berufliche Karrieren und Weiterbildungsmöglichkeiten

zugemutet werden. Das ist aber mit der praktisch immer noch wirksamen geschlechtsspezifi­

schen "Zuweisung" von Berufen tatsächlich der Fall.

Die Sicht auf Probleme der gesellschaftlichen Integration von Frauen verschärft sich noch,

wenn die besondere Problemlage von Migrantinnen in den Blick genommen wird. Migran­

tinnen haben nicht nur die allgemeinen Benachteiligungen von Frauen in Kauf zu nehmen,

sondern auch die besonderen von Ausländerkindem. Von den jungen Migrantinnen nimmt

etwa ein Fünftel weniger eine Berufsausbildung im dualen System auf als vergleichbare deut­

sche weibliche Jugendliche. Die Benachteiligung erfahren sie bereits an der ersten Stufe des

Auswahlverfahrens, wenn sie wegen negativer Zuschreibungen von Ausbildungsbetrieben

gar nicht erst in die engere Wahl einbezogen werden. Inländische Bewerberinnen haben

selbst dann noch einen Vorteil gegenüber jungen Migrantinnen, wenn sie vergleichsweise

geringer vorqualifiziert sind (vgl. Paul-Kohlhoff 1994).

Die Benachteiligung setzt sich an der nächsten Hürde fort. Im Einstellungstest und im Be­

werbungsgespräch erwachsen ihnen Nachteile durch Wahmehmungsstereotypen, Vorstel­

lungen von Bildung und Qualiftkation, Verfahrensweisen, Gespräch und Gesprächsführung,

die allesamt kulturgeprägt und wohl nur für den mitteleuropäischen Kulturraum repräsenta­

tiv sind.

Die aktuelle Ausbildungssituation von Frauen zeichnet sich also nach wie vor durch ein en­

ges Spektrum von Berufen und Berufswahlen für Mädchen und zudem durch ein Berufs­

wahlverhalten aus, das Mädchen mehrheitlich in solche Berufe lenkt, die am unteren Ende

der Berufshierarchie liegen. Die nach wie vor ungelöste Frage der Gleichstellung und Chan­

cengleichheit von Mädchen und Frauen ist aber nur ein Beispiel für eine Sichtweise auf be­

rufs- und wirtschaftspädagogisches Handeln und Kommunizieren, die sinnvoll nur über die

Bedeutungen von Beruf und Beruflichkeit entfaltet werden können (vgl. auch Mayer 1996).

Festgehalten werden kann: Von "Beruf' zu sprechen und berufsbezogen zu handeln macht

dann Sinn, wenn damit gemeint ist

• die materielle Sicherung der eigenen Existenz durch Einkommen,

Beruf: Zwischen Individualisierung und sozialer Integration 67

• die anforderungsgerechte Anpassung an sozial festgelegte Arbeitsaufgaben und Arbeits­

verrichtungen und deren Bündelung zu marktfähigen Qualiflkationen,

• die IBewußtseinsformung", das heißt Anpassung an gesellschaftlich angeforderte

Wertorientierungen und Haltungen (berufliche Sozialisation),

• die Chance zur Entwicklung von Lebensentwürfen und Lebensplänen,

• die soziale Integration in ein System gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung.

68 Beruf, Wirtschaft. Plidagogik

3 Wirtschaft: Ökonooüe und Politik beruflicher Bildung

Eine Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die sich am Beruf orientiert, geht von der Leitidee

"Beruflichkeit" aus. Das mag sogar hinreichend sein für eine Berufspädagogik, die ihr Be­

deutungssystem allein über den Berufsbegriff entfaltet. Für eine Berufs- und Wirtschaftspäd­

agogik reicht das nicht Dafür tritt als weiteres Bedeutungssystem das System "Wirtschaft"

hinzu.

Besonders die Wirtschaftspädagogik hat sich nämlich nie als Wirtschaftsberufspädagogik

oder gar als Wirtschaftsberufsschulpädagogik verstanden. Wirtschaftspädagogik schließt

auch die Konsumentenerziehung, die hauswirtschaftliche Erziehung und die Erziehung zum

wirtschaftspolitisch mündigen Staatsbürger im Sinne einer ökonomischen Allgemeinbildung

ein, für die sich allesamt keine direkten beruflichen Bezüge aufzeigen lassen.

Wir versuchen deshalb, dieses für eine Berufs- und Wirtschaftspädagogik ebenso wichtige

System von Bedeutungen im Überschneidungsbereich von Berufs- und Wirtschaftspädago­

gik zu entfalten und zwar über einen Bereich, der sich ausdrücklich auch mit Bildung be­

schäftigt, aber dabei die für das Bedeutungssystem "Wirtschaft" ökonomische Perspektive

nicht verläßt: die Bildungsökonomie.

Eine ökonomische Sichtweise auf Bildung besagt, daß das Gut "Bildung" ein knappes Gut

ist. Knapp heißt, daß die Herstellung dieses Gutes bzw. dessen Beschaffung Ressourcen

verbraucht und Kosten verursacht. Bei Knappheit ist aber Wettbewerb um dieses Gut un­

vermeidlich. Wird der Wettbewerb über den Preis ausgetragen, erfolgt die Allokation über

die Produktivität, d. h. das knappe Gut "Bildung" wird dort eingesetzt, wo es den größt­

möglichen Ertrag an Produktionsgütern und Dienstleistungen einbringt. Für die Steuerung

dieser Allokation müssen also Kriterien für die Diskrimination, d. h. Entscheidungshilfen für

eine produktionsfördernde Investition in Humankapital bereitgestellt werden.

Bereits die Merkantilisten führten Mitte des 17. Jahrhunderts erste Versuche durch, das

Humankapital zu berechnen. Sie gingen dabei von der Frage aus, wie durch wirtschaftliche

Entwicklung die Staatsrnacht gefestigt und erweitert werden kann. Dabei erkannten sie

schon deutlich, daß wirtschaftliche Entwicklung eng mit einem Ausbau des Bildungswesens

einhergehen muß. Sie forderten deshalb auch vom Staat, Ausbildungsstätten einzurichten

und selbst Ausbildungsaufgaben zu übernehmen. Schließlich sollte nach merkantilistischer

Vorstellung das ganze Unterrichtswesen wirtschaftlich ausgerichtet werden.

Diese noch recht allgemeinen Vorstellungen von Bildung als einem knappen Gut, das wirt­

schaftlichen Wohlstand befördern und Staatsrnacht festigen hilft, wurden dann im 18. Jahr-

Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung 69

hundert von der klassischen Nationalökonomie beschrieben. Es war vor allem Adam Smith

(1723-1790), der kapitaltheoretische Überlegungen zur wirtschaftlichen Bedeutung dieses

knappen Gutes anstellte und formulierte (zitiert nach Immell994, S. 29):

"Ein solcher Erwerb ist stets mit Kosten verbunden, da der Lebensunterhalt wäh­rend der Ausbildung, dem Studium oder der Lehrzeit gesichert sein muß. Diese Ausgaben zählen zum Anlagevermögen, das unmittelbar in den Menschen inve­stiert ist."

Smith betrachtete also die Umwandlung von Geld in Humankapital durch Ausbildung wie

die Investition in eine Maschine. Nach Smith sollte deshalb Bildung auf eine Erhöhung der

Arbeitsproduktivität gerichtet sein. Dabei unterstellte er folgenden Zusammenhang zwischen

Investition in Ausbildung und Arbeitsproduktivität: Nur solche Investitionen in Ausbildung

wurden von ihm als "produktiv" anerkannt, die materielle Werte schaffen. Da sich aber nicht

alle Fähigkeiten direkt zur Herstellung von Gütern einsetzen lassen, unterschied er die ver­

meintlich unproduktiven von den produktiven. So trennte er sehr klar in seinem Begriff von

"Arbeitsproduktivität" jegliche Form geistiger Arbeit als unproduktiv ab. Eine Unterschei­

dung, die uns heute sehr befremden mag. Unproduktive Arbeit verrichten in diesem Sinne

beispielsweise Geistliche, Rechtsanwälte und auch Lehrer. Investitionen in deren Ausbildun­

gen enthalten nach seiner Meinung überwiegend konsumtive Anteile, und Erträge aus geisti­

ger Tätigkeit entsprächen niemals dem Aufwand für diese Tätigkeit.

Ähnlich wie geistige Arbeit als unproduktiv diskriminiert wurde, erging es der Wertschät­

zung der Bildung für die Frau (Smith, zitiert nach Immel1994, S. 33):

"Alles in ihrer Erziehung ist auf einen praktischen Zweck ausgerichtet. Sei es ih­re natürliche Anmut zu vervollkommnen, sei es, sie zu Sittsamkeit, Bescheiden­heit, Keuschheit und Sparsamkeit zu erziehen, mit dem Ziel, sie gleichermaßen darauf vorzubereiten, Hausfrau und Mutter zu werden und ihre Aufgabe als sol­che gut zu erfüllen."

Obwohl - oder gerade weil - Smith sich nachdrücklich für die Beförderung von Fähigkeiten

zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität durch Investitionen in Bildung einsetzte, schloß

er Mädchen und Frauen aus seinen weiteren Überlegungen aus. Erkennbar sind hier die öko­

nomischen Wurzeln für die Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben. Die Arbeitspro­

duktivität von Frauen wird noch heute vergleichsweise gering eingeschätzt. Beispielsweise

zählen Hausfrauen auch heute nicht als Produktionsfaktor. Sie tragen -statistisch betrachtet -

nichts zur Wertschöpfung eines Volkes bei.

70 Beruf, Wirtschaft. Pädagogik

Unmittelbar an die Lehren von Adam Smith knüpfte vor allem Jean Baptiste Say (1767-

1832) an, der dessen Lehren über Knappheit und Wettbewerb auch im Bildungsbereich prä­

zisierte. Mit Say wurde die Investition in Ausbildung zu einer eigenen Kapitalform, zum

Humankapital und zum Mittel für die Produktion. Später wurde sie neben Arbeit, Boden und

Kapital zum vierten Produktionsfaktor. Diese, vor allem von ihren (pädagogischen) Kritikern

als "funktionalistisch", "instrumentalistisch" oder "utilitaristisch" charakterisierte Sichtweise

auf Bildung wurde etwa 30 Jahre nach Say von John Stuart Mil1 (1806-1873) nochmals prä­

zisiert (zitiert nach Immel1994, S. 45):

"Der Mensch als solcher (wie schon früher bemerkt) gilt nicht als Vermögen; aber seine persönlichen Fähigkeiten, die nur als Mittel bestehen und durch Arbeit hervorgerufen sind, fallen meines Erachtens nach sehr wohl unter diesen Begriff ... Thr Wert zeigt sich in der Arbeit dann, wenn sie als Mittel in der Produktion eingesetzt werden".

Mit der Umdeutung des Humanvermögens in Produktionsmittel wurde eine Sichtweise vor­

bereitet, die schon 50 Jahre früher bei dem deutschen Ökonomen Heinrich von Thünen

(1783-1850) angedeutet wurde: Als Produktionsmittel steht menschliche Arbeit aber in

Konkurrenz zu anderen Produktionsfaktoren. Sie tritt über Alternativkosten mit anderen

Produktionsfaktoren in eine Substitutionskonkurrenz ein.

Wie sehr diese ökonomische Sichtweise auf Bildung die Vorstellungen von Bildung als Ko­

stenfaktor prägte, zeigt beispielsweise John Stuart Mil1 mit seinen Überlegungen zur Beför­

derung von Arbeitsfähigkeiten an: Zur Beförderung von Arbeitsfähigkeiten schlägt Mil1 als

Aufgabe der Elementarschulen vor, die Körperkraft zu stärken, die Geschicklichkeit zu ver­

mehren und Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu befördern. Naturwissen­

schaft und Mathematik seien zu fördern, um Geschäfte betreiben zu können. Der Verstand

müsse geschärft werden zum Nachdenken darüber, was überall die Arbeit wirksamer mache.

Selbst die moralische Bildung, eine für Mil1 sehr wichtige Kategorie der zu erbringenden

Erziehungsleistungen, sah er im engen Zusammenhang zum volkswirtschaftlichen Nutzen.

Wenn moralische Bildung die Zuverlässigkeit steigern hilft, so argumentiert Mill, wird weni­

ger gesetzwidrig gehandelt. Die Administrationskosten für Polizei und Justiz würden da­

durch gesenkt. Der Gesamtertrag der Arbeit als materielle Produktion steige. Mill beschrieb

also schon sehr klar den Bildungsnutzen in niedrigeren Alternativkosten (vgl. Immel1994, S.

48).

Die klassische Vorstellung von der Bedeutung der Bildung als knappem Gut

(Humankapital), in das investiert wird, das Kosten verursacht und Erträge abwirft, das im

Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung 71

Wettbewerb mit anderen Produktionsfaktoren steht, über Faktorpreise und mit Hilfe des

Marktmechanismus reguliert wird, ist dann etwa 100 Jahre später konsequent zum Markt­

modell der Berufsbildung ausgeformt worden. Es war vor allem Milton Friedman, der diesen

Ansatz konsequent in einem doppelten Effizienzkriterium entfaltete: (1) Die Leistungsfähig­

keit von Bildungsleistungen und deren Produktion in Bildungsbetrieben sind nach ökonomi­

schen Kriterien zu bewerten. Dieser Gesichtspunkt der internen EffIzienz von Bildung wird

heute vor allem im sogenannten Bildungscontrolling verfolgt. (2) Bildungs- und Beschäfti­

gungssysteme sind über den Bildungsmarkt optimal abzustimmen. Diese Selbstregulierung

von QualifIkationsangebot und Qualiftkationsnachfrage auf einem Bildungsmarkt mache

letztlich die teure und dennoch ineffIziente Bildungsplanung überflüssig (~ B, Abstimmung

und Koordination; ~ B, Bildungspolitische Streitfälle).

Ökonomische Analysen des Bildungs- und Ausbildungssektors wurden schon immer in der

Einsicht durchgeführt, daß Bildungsausgaben auch anders verwendet werden können. Bil­

dungsökonomische Analysen können gesamtwirtschaftlich ansetzen als polit-ökonomische

Analysen des Bildungs- und Ausbildungssektors. Erstrecken sie sich auf einzelne Bildungs­

einrichtungen und Bildungsmaßnahmen, dann sind sie als einzelwirtschaftliche Kosten- und

Effektivitätsanalysen angelegt (~ R, Kosten und Nutzen). Gerade heute, da die Problem­

sicht auf einen möglichst effektiven Einsatz auch der knappen Bildungsressourcen wieder

geschärft ist, werden sie zunehmend bedeutsamer (~ LS, Schule und Wirtschaft; ~ LB,

Betrieb und Gesellschaft).

In gesamtwirtschaftlicher Sichtweise auf berufliche Bildung wird derzeit ein ordnungspoliti­

sches Modell als Alternative zum dualen System diskutiert, das unverkennbar Züge der

neoklassischen und neoliberalen Bildungsökonomie aufweist: das Marktmodell. In der Dis­

kussion wird vor allem mit ökonomisch begründeten Argumenten für eine tiefgreifende ord­

nungspolitische Strukturreform in der beruflichen Bildung geworben (~ R, Rechtlich­

institutionelle Grundlagen; ~ B, Berufsbildungspolitik in komplexen Gesellschaften):

• Ausgleich von Ausbildungsangebot und -nachfrage über den Marktmechanismus;

• Abstimmung der beruflichen Bildung auf langfristig zu erwartende Verwendungssituatio-

nen;

• Planung, Organisation und Bewertung von beruflicher Bildung durch Betriebe als Ab­

nehmer;

• Finanzierung der Berufsbildung durch Abnehmerbetriebe nach bildungsökonomischen

Gesichtspunkten;

72 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

• Konkurrenz von privaten und staatlichen Bildungsträgern (~ R, Finanzierung);

• Beschränkung des staatlichen Einflusses auf eine Beförderung von Wettbewerb und Ver­

hinderung von Wettbewerbsbeschränkungen in der beruflichen Bildung.

Eine bildungsökonomische Diskussion über Alternativen zum dualen System wird noch da­

durch befördert, daß das deutsche System der Berufsausbildung im Zuge der Europäisierung

in die Konkurrenz zu anderen Systemen eintritt und damit selbst unter Legitimationsdruck

gerät (~ R, Internationalisierung). Angeregt wird die bildungsökonomische Diskussion auch

durch die weltweite Suche nach Alternativen für die Neugestaltung und Aktualisierung von

Berufsbildungssystemen, seitdem klar ist, daß Bildungsinvestitionen über technischen Fort­

schritt, Wirtschaftswachstum und Konkurrenzfähigkeit auf internationalen Märkten mitent­

scheiden.

Das einzelwirtschaftliche Gegenstück zur ordnungspolitischen Diskussion zeigt sich derzeit

in einer Entwicklung, die mit dem Namen outsourcing belegt wurde. Darunter ist die Ausla­

gerung bzw. Ausgliederung der Aus- und Weiterbildung in ein eigenes Unternehmen oder in

einen sogenannten Profit-Center gemeint Outsourcing meint deshalb auch den Verzicht des

Unternehmens auf die "Eigenproduktion" von Bildungsleistungen. Begründet wird dieser

Verzicht zugunsten eines "Fremdbezugs" von Bildungsleistungen mit Wettbewerbsvorteilen.

Diese Wettbewerbsleistungen können u. a. sein:

• Kostenentlastung durch Kostensenkung;

• Abbau von Ressourcenüberhängen durch effektiven Mitteleinsatz auch des professionali­

sierten Aus- und Weiterbildungspersonals (~ LA, Professionalisierung; ~ LA, Betriebli­

ches Ausbildungspersonal);

• Kundenorientierung bei der Produktion von Bildungsleistungen;

• effektive Steuerung der Bildungsausgaben durch Bildungscontrolling;

• Risikostreuung durch ein marktorientiertes Leistungsangebot auch an externe Kunden.

Völlig falsch wäre es jedoch, im outsourcing lediglich einen Ansatz zur effektiven Aus- und

Weiterbildung im Sinne einer wirtschaftlicheren Verwendung von Mitteln bei ansonsten un­

veränderten Bedingungen zu sehen. Outsourcing macht letztlich nur dann Sinn, wenn beruf­

liche Bildung an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien gemessen und bewertet wird. Das

setzt aber voraus, daß Bildungsziele überprüft, Bildungsergebnisse exakt bewertet und Bil­

dungsprozesse möglichst frei gestaltet werden können.

Wirtschaft: Ökonomie und Politik beruflicher Bildung 73

Ökonomische Sichtweisen auf berufliche Bildung können auch bisher vertraute und akzep­

tierte Vorstellungen von beruflicher Bildung wieder in Frage stellen. Zu diesen Vorstellun­

gen gehört beispielsweise die berufspädagogisch begründete Forderung nach beruflicher

Mobilität. Berufliche Mobilität wird zum einen als eine wichtige Voraussetzung für Selbst­

bestimmung und Selbstgestaltung persönlichkeitsfördernder Berufsarbeit angesehen. Zum

anderen ist berufliche Mobilität aber auch ein gesellschaftspolitisch relevantes Ziel, weil sie

z. B. der Reproduktion gesellschaftlicher Schichten über Berufsausbildung und Berufstätig­

keit entgegenwirkt, soziale Aufstiege (aber auch Abstiege) befördern und Einkommen, Ar­

beitsplatz und berufliche Karrieren sichern hilft

Auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht kann berufliche Mobilität vorteilhaft sein, wenn da­

durch personale Ressourcen dorthin geleitet werden können, wo sie den größtmöglichen

Ertrag bringen. Einzelwirtschaftlich betrachtet, ist berufliche Mobilität jedoch nicht in jedem

Fall vorteilhaft für den Betrieb. Zwar unterstützt berufliche Mobilität die Flexibilität von

betrieblicher Produktion und Verwaltung. Da aber Mobilität bei zunehmender Qualiftzierung

innerhalb eines Berufes auch häufigeren Wechsel des Arbeitsplatzes zwischen den Unter­

nehmen bedeutet, zeigt sich die Kehrseite der Medaille: Humankapital ist nicht marktfähig.

Es läßt sich in der Regel nicht wieder zurück in Geldkapital verwandeln. (Nur bei Fußball­

spielern gilt diese Regel nicht!) Es bleibt an die Person gebunden, in die investiert wurde.

Die Beförderung von beruflicher Mobilität durch betriebliche (Weiter)Bildung kann deshalb

bei Betriebswechsel auch zu einer betriebswirtschaftlichen Fehlinvestition werden. Sie ist in

jedem Fall eine riskante unternehmerische Entscheidung (vgl. Pichler 1992, S. 82).

Es gilt somit zu bedenken, daß alle Entscheidungen über Bildungsaktivitäten im Unterneh­

men immer auch betriebswirtschaftlich begründete Entscheidungen sind. Klarerweise muß

berufs- und wirtschaftspädagogisches Kommunizieren und Handeln, wenn es praktisch be­

deutsam sein will, immer auch eine gründliche Analyse und Reflexion ökonomischer Bedeu­

tungen von Bildung und Berufsbildung einschließen.

Festgehalten werden kann: Von "Wirtschaft" zu sprechen und wirtschaftlich zu handeln

macht dann Sinn, wenn damit gemeint ist:

• Bildung ist knappes Gut,

• Wettbewerb um Bildung als knappe Ressource (produktionsfaktor),

• Investitition in Humankapitall-vermögen (Umwandlung von Geldkapital in Humankapi­

tal),

• Diskriminierung durch Preise, Leistung (produktivität), Kaufkraft (Geld) und Geschlecht,

• Substitutionskonkurrenz (Alternativkosten).

74 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

4 Pädagogik: Bildung und Beruf

Gegen eine rein ökonomische Sichtweise auf (berufliche) Bildung, die etwa die Frage nach

Individualität und Selbstbestimmung des Menschen als geradezu philosophischen Ballast

über Bord wirft, wendet sich ganz entschieden das neuhumanistische Bildungsideal, das ins­

besondere von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) vertreten wurde.

Anders als die klassischen und neoliberalen Nationalökonomen, die das Verhältnis von Indi­

viduum und Gesellschaft von "außen nach innen" zu bestimmen versuchten und dabei ein nur

sehr pauschales Bild vom freien Menschen zeichneten, entwarf der Neuhumanismus Hum­

boldtscher Prägung ein Bildungsideal, in dem die Entfaltung der Persönlichkeit zum Aus­

gangspunkt und zur Bezugsgröße gemacht wurde. Er entwarf ein Bild vom idealen Men­

schen, in dem es zur Bestimmung des Menschen gehört, sich zum Menschen "zu bilden".

Wird dieses Ziel der Menschenbildung konsequent verfolgt, muß alles, was Erfahrungen

auslösen kann und Forderungen an den Menschen heranträgt, daraufhin bewertet werden,

was es zur Menschwerdung beiträgt. Das ist der "antropozentrische" Ansatz des Neuhuma­

nismus Humboldtscher Prägung, in der die Welt nur Mittel zum Zweck der Menschwerdung

ist, der Mensch das Maß aller Dinge ist.

Dieses Bildungsideal war deutlich gerichtet gegen eine Halbierung des Menschen, die auch

im ökonomischen Denken und vor allem in der wirtschaftlichen Praxis der Nutzung und

Verwertung als Arbeitskraft stattfand und sich dort im Bild vom "homo oeconomicus" aus­

drückte. Dieser "zerstückelte" Mensch erschien den Neuhumanisten als ein Wesen, daß ent­

gegen seinem Entwicklungsauftrag gewaltsam vereinnahmt wurde.

Besonders Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und J ohann Friedrich Herbart (1776-1841)

haben neben Humboldt "den Menschen" mit dem idealisierenden Maßstab der Humanität

gemessen. Dennoch blendeten sie die Wirklichkeit nicht einfach aus. Sie vertraten die An­

sicht, daß die Wirklichkeit sich nur als Medium zur Verfügung stellt, um die dem Menschen

innewohnenden Kräfte freisetzen und Persönlichkeit bilden zu können. Die Wirklichkeit muß

sich das Individuum im Prozeß der Selbstbildung aneignen. Indem vor allem Humboldt den

Prozeß der Bildung gleichsam "von innen nach außen" konstruierte, warnte er zugleich auch

davor, das "Innere" mit dem "Äußeren" zu vermischen, weil sonst die Gefahr bestünde, sich

an die Welt zu verlieren.

Mit dieser kompromißlosen Trennung des "Inneren" vom "Äußeren" war dann auch die

Formel gefunden, mit der für die Pädagogik weitreichende Konsequenzen gezogen wurden

(-t LS, Merkmale schulischen Lemens). Die Redeweise vom "pädagogischen Schonraum",

der abgeschirmt werden müsse von den vereinnahmenden Kräften des "Äußeren" und einzu-

Pädagogik: Bildung und Beruf 75

richten sei für die behütende Entfaltung von Bildungsprozessen, verbreitete sich. Das Erzie­

hungsverhältnis wurde auf die Beziehung des Erziehers zu seinem "Zögling" zurückgeführt,

die "Welt" als unmittelbar bildungswirksam abgewiesen.

Die bedingungslose Überordnung des Inneren und die Abschottung der äußeren Welt, die

wir heute als Wirtschaft, Technik, Beruf und Gesellschaft erfahren können, kennzeichnet

immer deutlicher die anthropozentrische Denkweise der neuhumanistischen Bildungstheorie.

Sie hat eine bis in die heutige Zeit bedeutungsvolle Konsequenz für die berufliche Bildung,

die Trennung der Allgemeinbildung von einer Spezialbildung, und das hieß vor allem von der

Berufsbildung. Erst auf der Grundlage einer allgemeinen Menschenbildung - so lautete eine

zentrale neuhumanistische These - könne eine Berufsausbildung aufsetzen. Noch heute ver­

treten deshalb neuhumanistisch orientierte Bildungstheoretiker, die sich auf Humboldt beru­

fen, die Ansicht, daß jeder Versuch einer Umdeutung des Verhältnisses von Bildung­

Allgemeinbildung-Berufsbildung im "Apädagogischen" enden müsse, d. h. daß damit die

Grenze dessen, was Pädagogik einschließt zu anderen Bereichen sozialen Handelns über­

schritten wird.

Die neuhumanistische Bildungstheorie hat mehr als 150 Jahre lang über die Bedeutung von

"Beruf' und "Berufsausbildung" entschieden. In dieser Phase der Entwicklung der klassi­

schen Bildungstheorien mit der Idee einer allgemeinen Menschenbildung wurden die Grund­

lagen der neuzeitlichen Pädagogik geschaffen. Diese Bedeutung wurden Beruf und Berufs­

ausbildung von einer Pädagogik zugeschrieben, die nur erkennen konnte, daß Beruf und

Berufsausbildung im Zuge der Industrialisierung auf ökonomische Verwertung ausgerichtet

waren, und mit der Humanitätsidee ein Bildungsideal als Leitvorstellung für Bildung - auch

der beruflichen Bildung - entgegenhielt

Wie Herwig Blankertz jedoch zu bedenken gab, ist der neuhumanistische Standpunkt als

Reaktion auf die maßlose Übersteigerung des Nützlichkeitsdenkens bei den utilitaristisch

orientierten Pädagogen des 18. Jahrhunderts zu verstehen, gleichsam als Kampfansage aus

Sorge um den Verbleib des Menschen und dessen Individualität unter den Zumutungen ge­

sellschaftlicher Brauchbarkeit. Mit der "unbedingten Zwecksetzung" der Freigabe des Erzo­

genen zur Mündigkeit, arbeitet die Erziehungswissenschaft ihre besondere Bedeutung her­

aus. Sie beschreibt damit auch den Erziehungsprozeß als Prozeß der Emanzipation, d. h. der

Befreiung des Menschen aus unnötiger Herrschaft und zu sich selbst (vgl. Blankertz 1982, S.

306 f.). In diesem Sinne ist mit dem Bildungsbegriff der persönliche wie auch gesellschaftli-

76 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

che Anspruch auf humane Fonnen des Lebens und Zusammenlebens wieder diskutierbar

geworden.

Während die Neuhumanisten streng zwischen Bildung und Berufsbildung unterschieden,

wurde spätestens seit der klassischen Berufsbildungstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts

eine Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung betont. So fonnulierte Georg

Kerschensteiner 1904: "Die Berufsbildung steht an der Pforte zur Menschenbildung"

(Kerschensteiner 1904/1966, S. 94). Für ihn ist Menschenbildung ohne Berufsbildung nicht

denkbar. Der Beruf rückt damit in das didaktische Zentrum des Bildungswesens. Kerschen­

steiners Gedanken wurden danach von anderen Klassikern der Berufsbildungstheorie wie

Eduard Spranger, Aloys Fischer und Theodor Litt weiterentwickelt.

Bildungspolitisch bedeutsam wurde dieses Gedankengut aber erst in den 1970er Jahren, als

der Deutsche Bildungsrat in seinem Strukturplan schrieb: "Auch wird es nicht länger zu

rechtfertigen sein, einer allgemeinen eine nur berufliche Bildung gegenüberzustellen. Das

Lernen soll den ganzen Menschen fördern" (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 30). Diese Ma­

ximen wurden dann 1974 in der Bildungsempfehlung des Deutschen Bildungsrates "Zur

Neuordnung der Sekundarstufe 11. Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und be­

ruflichem Lernen" fortgeführt. Für die erzieherische Bedeutsamkeit noch wichtiger wurde

das nordrhein-westfälische Kollegschulmodell, das in über 30 Schulversuchen die Integration

von beruflichem und allgemeinem Lernen voranzutreiben versucht (vgl. Kollegstufe NW

1972).

In die Berufs- und Wirtschaftspädagogik erneut eingebracht wurde die pädagogische An­

thropologie mit Entwürfen zur Programmatik der Vennittlung von Schlüsselqualiftkationen.

Hier war es besonders eine anthropologische Fundierung in Anlehnung an Heinrich Roth,

mit der die Humanitätsidee im Bild des "reifen Menschen" weiterentwickelt wurde. In die­

sem Bild vom Menschen gilt es, Erziehung als Aufgabe zu erkennen,

" ... die Befreiung des Menschen zum Ziel hat, ein Freiwerden der menschlichen Handlungsfähigkeiten in Richtung auf Freiheit und Mündigkeit zum Wohl des Individuums und der Gesellschaft, wobei beide nur als frei und mündig gelten können, wenn mit der zunehmenden Freiheit eine Verantwortung einhergeht, die sich über zunehmende Sach-, Sozial- und Werteinsicht ... entfaltet" (Roth 1971, S.596).

Auf dem Weg zum "reifen Menschen" beschreibt Roth (1971, S. 439) die entscheidenden

Entwicklungsstufen also als

• Erlernen sacheinsichtigen Verhaltens und Handeins,

Ptidagogik: Bildung und Beruf 77

• Erlernen sozialeinsichtigen Verhaltens und HandeIns und

• Erlernen werteinsichtigen Verhaltens und HandeIns.

Wie schon die klassische Anthropologie geht auch Roth der Frage nach, wie der Mensch

durch Erziehung zu sich selbst kommen kann. Seine Antwort verdichtet er zu der Einsicht,

daß Erziehung helfen kann, die menschliche Lebensfonn der mündigen Handlungsfähigkeit

zu erreichen, zugleich aber eigenverantwortliches Handeln auch an eine soziale, moralische

und politische Verantwortung zu binden.

Festgehalten werden kann: Von "Bildung und Erziehung" zu sprechen und pädagogisch zu

handeln macht dann Sinn, wenn damit gemeint ist

• ein Eigenrecht des Menschen auf Selbstbestimmung,

• Individualität, Universalität und Totalität (Menschenbild),

• Umwelt als "Stoff' (Medium) für die Entfaltung von Individualität,

• Freisetzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten in Richtung von Freiheit und Mündig­

keit,

• Freiheit der Person in gesellschaftlicher Verantwortung.

78 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

5 Systemische Innovationsleistungen

Angesichts der vielfältigen Bedeutungen, die in berufs- und wirtschaftspädagogische Kom­

munikation einfließen und sich dort handlungsorientierend und handlungsregulierend auswir­

ken, stellt sich die Frage, ob konsensuelles Handeln überhaupt zustande kommen kann. Die­

se Frage verweist auf ein Problemfeld von Kooperationsschwierigkeiten, die vielfältige For­

men annehmen können (~ B, Institutionen und Organisationen; ~ B, Abstimmung und Ko­

ordination).

Beispielhaft ist die Lernortkooperation zu nennen. Obwohl sie fUr die Funktionsfähigkeit des

dualen Systems geradezu vorausgesetzt werden muß, wird sie doch geprägt durch die

"Unterwerfung unter die Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen Subsystems" (Schwiedrzik 1990,

S. 22 f.): Ausbilder und Lehrer wissen wenig voneinander. Sie haben erfahrungsgeprägte

Vorstellungen von beruflicher Bildung, ein Austausch fmdet allerdings kaum statt, wird un­

ter Umständen nicht einmal gewünscht. Thre unterschiedliche Sprache befördert Ressenti­

ments gegeneinander. Initiativen für Kooperation versickern. Verbesserungen an einem Ler­

nort verbleiben an diesem Ort und werden nicht auf den anderen Lernort • bertragen.

Ein weiteres Beispiel sind die immer noch langen Abstimmungsprozesse bei Neuordnungen

von Berufsausbildungen, die durch komplizierte Abstimmungsverfahren reguliert werden

müssen (~ B, Abstimmung und Koordination). Als Problem ist auch zu nennen, daß sich

konsensuelle Bereiche, wie sie beispielsweise mit den Neuordnungen fUr Berufsausbildungen

und ihren Leitideen entwickelt wurden, schnell wieder auflösen können, wenn sich die Ein­

schätzung der ökonomischen Rahmenbedingungen für berufliche Bildung ändert (~ LS,

Schille und Wirtschaft; ~ LB, Betrieb und Gesellschaft).

Werden Systeme also als relativ autonome ("autopoietische") Handlungssysteme betrachtet,

die nach spezifischen Bedeutungen Kommunikation und Handlung erzeugen, scheinen sy­

stemübergreifende Interaktionen immer problematisch zu sein, weil sie die Autopoiese der

Systeme gefährden könnten. Systemübergreifende Interaktion scheint deshalb an konservati­

ve Strategien gebunden zu sein. Welches System sich dabei schließlich durchsetzt, könnte

über die Machtfrage entschieden werden.

Gleichwohl können fUr das duale System beachtliche systemische Innovationspotentiale

beschrieben werden, wenn bedacht wird, daß sich mit der Entstehung sozialer Systeme die

darin interagierenden lebenden ("kognitiven") Systeme nicht auflösen. Es sind weiterhin de­

ren Handlungen, die zu Systemhandlungen werden und die nur aus dem Handeln der Men­

schen in diesen Systemen hervorgehen können. Für die Analyse von systemischen Innovati-

Systemische Innovationsleistungen 79

onsleistungen ist es nun besonders wichtig zu erinnern, daß diese kognitiven Systeme in der

Regel stets Mitglied mehrerer Systeme sind und mehrere Systeme über ihre Kommunikation

und Handlung mitgestalten (vgl. Hejl 1990, S. 329 ff.). So handeln Auszubildende durch

Betriebszugehörigkeit in einem wirtschaftlichen und in der Schülerrolle in einem pädagogi­

schen Bedeutungszusammenhang. Lehrer und Ausbilder arbeiten in Prüfungsausschüssen

zusammen, und Tarifpartner handeln zusammen mit Bildungspolitikern die Rahmenbedin­

gongen beruflicher Bildung aus usw.

Als Konsequenz dieser systemübergreifenden Vernetzung von Mitgliedern verschiedener

Sozialsysteme entsteht für alle Systemmitglieder die Situation, daß sie im systemübergrei­

fenden Kommunizieren und Handeln die unterschiedlichen Rollenerwartungen integrieren

müssen. Dabei übertragen sie Sichtweisen, Vorstellungen, Werthaltungen, Konzepte, Erfah­

rungen, die sie in "ihrem" System gemacht haben in das andere, so wie sie auch vergleichba­

re Ideen, Konzepte, Problemlösungen aus dem anderen System in "ihr" System importieren.

Aber auch Neuentwicklungen in der gegenseitigen Orientierung auf gemeinsames Handeln

sind möglich.

Obwohl soziale Systeme also prinzipiell konservative Systeme sind, deformieren sie nicht

notwendigerweise die in ihnen operierenden individuellen (kognitiven) Handlungssysteme zu

Systemmitgliedern, wie Kritiker systemtheoretischer Sichtweise befürchten, wenn sie be­

haupten, daß "... die Kommunikationsprozesse sozialer Systeme eine Eigenständigkeit ge­

genüber den Motiven und Interessen der beteiligten Individuen (gewinnen)" (Kutscha 1995,

S. 276). Indem Systeme auch system übergreifend mit anderen kooperieren, erzeugen sie

notwendigerweise auch das Phänomen des sozialen Wandels (vgl. Hej11990, S. 329).

Systemische Innovationsleistungen sind allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden:

Vorhanden sein muß zunächst einmal ein gemeinsames Interesse, das Menschen verschiede­

ner Systeme überhaupt zusammenführt Institutionen sollten das Zusammentreffen und die

darin erwachsende Kommunikation und Handlung befördern. Der Politik fiele dabei die Auf­

gabe zu, Interaktionen anzuregen, ohne sie anzufordern (~ B, Berufsbildungspolitik in

komplexen Gesellschaften).

Zwar sollten soziale Festlegungen von Bedeutungen, die die Systemmitglieder in Interaktio­

nen einbringen, beachtet und respektiert werden, Interaktionen sollten jedoch auch Freiheits­

grade für gegenseitiges Interpretieren, Verstehen und Verständigen belassen. Wichtig ist

dabei, daß systemspezifische Sprache den Verständigungsprozeß nicht blockiert. Das ist aber

dann der Fall, wenn Systemmitglieder darauf bestehen, daß nur ihre Fachsprache als pro­

blemangemessene Sprache anerkannt wird. Eine Fachsprache hat aber keinen Wert an sich.

80 Beruf, Wirtschaft, Ptidagogik

Sie ist immer nur wertvoll für diejenigen Fachleute, die es bereits gelernt haben, sich darin

gegenseitig zu orientieren und zu verständigen. Fachsprache ist immer nur dann eine effekti­

ve Sprache, wenn sie auch tatsächlich als erfolgreich erlebt wurde. Bei system übergreifender

Kommunikation dagegen muß diese Erfahrung des erfolgreichen Operierens in der Sprache

zumeist erst erarbeitet werden und zwar im Prozeß des Sprechens und Kommunizierens

selbst

Und schließlich werden systemische Innovationsleistungen besonders dann befördert, wenn

das zu verhandelnde Problem "mehrperspektivisch" angelegt ist. Das ist fast immer bei

Handlungen der Fall, in denen disziplin- und berufsübergreifend zusammen an einer Problem­

lösung gearbeitet wird. Hierbei gilt es nämlich, widersprechende Handlungsanforderungen

vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bedeutungssysteme auszuhandeln.

Ein Beispiel aus der Lehrerbildung: An der Technischen Universität Berlin werden im Rah­

men eines Studienrefonnprojektes zum Berufsschullehrerstudium fachwissenschaftliche mit

berufspädagogischen und fachdidaktischen Veranstaltungen aufeinander bezogen. Den Rah­

men für diese Verknüpfungen geben gemeinsam durchzuführende Projekte ab.

Ein solches Projekt trägt den Titel "Stahlbetonsanierung" (vgl. Busch 1997). In diesem Pro­

jekt geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der Betonsanierung. Danach sind das öko­

logische Risikopotential der Sanierungsmaßnahmen zu erörtern, Aspekte des Arbeitsschut­

zes im Zusammenhang mit Überlegungen über Sandstrahlarbeiten zu bedenken und ökono­

mische Berechnungen zur Wirtschaftlichkeit alternativer Sanierungsmethoden anzustellen.

Schließlich sind in dieser mehrperspektivisch angelegten Problembearbeitung verschiedene

Bezugssysteme (technische, ökologische, ökonomische und andere) aufeinander zu beziehen.

Das Projekt kann deshalb nur interdisziplinär und berufs- bzw. berufsfeldübergreifend - und

das heißt auch systemisch - angelegt werden.

Der Projektablauf wird folgendermaßen beschrieben (Dittmann & Erbe 1996, S. 49 ff.):

"Zwischen den Studierenden und Lehrenden werden der Projektablauf und die Schwerpunktsetzung in der Thematik besprochen. Eine Anpassung an die kon­kreten Bedingungen des jeweiligen Projektes ist selbstverständlich. Die zeitliche Abfolge könnte beispielsweise wie folgt vorgenommen werden. 1. Woche: Infonnation über Projekte im Studium, Zielsetzung des Projektes; Bestimmung des konkreten Projektthemas; kurze Einführung. 2. Woche: Festlegung des Zeitplans; Verteilung der Aufgaben auf die einzelnen Gruppen (max. 5 Personen); Formulierung des zu bearbeitenden Problems, Verteilung der Aufgaben, Zusammenstellung der grundlegenden Informationen. 3. - 4. Woche:

Systemische Innovationsleistungen

Anknüpfen an das Vorwissen aus dem Fach Baustoftlrunde: Autbau, Bestandtei­le des Betons, Festigkeitsklassen, w/z-Wert, Zementsteinbildung, Karbonarisie­rung, Prüfverfahren, optimaler Beton, Qualitätssicherung. 5. Woche: Besonderheiten des Stahlbetons, Schadensbilder durch Exkursion oder Dias, Ur­sachen für Schäden an Stahlbetonbauten, Identifikation von typischen Schwach­stellen bei der Konstruktion, Klassifizierung von Schäden. 6. Woche: Sanierungsmöglichkeiten bei leichten, mittleren und schweren Schäden; Aufbrin­gen von Spezialmörtel, Betone oder Spritzbeton, Oberflächenschutzmaßnahmen. ggf. Einladung von Experten (Firmenvertretern) 7. - 13. Woche: Erarbeitung von Modellen wie Poster, Wandtafeln, Betonmodelle für unter­schiedliche Schadensursachen sowie Sanierungsmaßnahmen. An geeigneter Stelle Zwischenbilanz: Vorstellen der Zwischenergebnisse, damit die Gruppen die Herangehensweise und die Inhalte der anderen Gruppen kennen­lernen. 14. Woche: Abschlußpräsentation und Reflexion des Projektes."

81

Auch auf internationaler Ebene sind system ische Innovationspotentiale auszumachen. Be­

sonders die Heterogenität von Berufsbildungssystemen hat immer wieder internationale Ko­

operationen angeregt, wenn es galt, die Wirksamkeit von Berufsbildung unter den Bedin­

gungen unterschiedlicher historischer, kultureller und sozialer Kontexte herauszufmden.

Obwohl sich die Berufsbildungssysteme in Europa schon sehr voneinander unterscheiden

und ostasiatische sich mit europäischen noch weniger vergleichen lassen, müssen sie - sy­

stemisch betrachtet - allesamt doch als mehr oder weniger effektiv bezeichnet werden (~ R,

Internationalisierung).

Erst langsam reift die Erkenntnis, daß sich ihre Effektivität erst im Systemzusammenhang

mit anderen sozialen Systemen beschreiben läßt, systemische Innovationsleistungen sich erst

im Systemzusammenhang einstellen können. Die immer wiederkehrende Frage, welches Sy­

stem der Berufsbildung das überlegenere ist und deshalb exportiert oder importiert werden

sollte, läßt sich nur mit dem Blick auf diesen Zusammenhang beruflicher Bildung mit anderen

sozialen Systemen sinnvoll erörtern. Reformen der beruflichen Bildung können deshalb auch

nur dann erfolgreich sein, wenn mit den Korrekturen am System auch die damit ausgelösten

Veränderungen in anderen Systemen mitbedacht werden. Reformen der beruflichen Bildung

lösen deshalb notwendigerweise immer auch systemische Innovationen aus, wie auch Verän­

derungen in anderen sozialen Systemen Innovationen in der beruflichen Bildung anregen

können.

82 Beruf, Wirtschaft, Pädagogik

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Strukturbegriff:

Zielsetzungen

Rahmenbedingungen

Ausbildung ~:::='-~~./--J.F~~~-r...L_j-=::~ Ziel-der Lehrer und setzungen der Ausbilder

Lernort Betrieb

1 Problematik wissenschaftlicher Zielsetzungen

Ziele und Zielsetzungen in der beruflichen Bildung sind sicherlich notwendig. Aber welchen

Sinn macht es, sich wissenschaftlich damit zu beschäftigen? Eine scheinbar klare und einfa­

che Antwort findet sich in folgender Feststellung von Bunk (1982, S. 21):

"Berufserziehung als Praxis ist ein komplexes Geschehen ... mit jeweils besonde­ren Zielen. Die Aufstellung dieser Ziele kann nicht Gegenstand der Wissenschaft sein, weil hier die intersubjektive Überprütbarkeit fehlt ... Wer pädagogische Ziele und Normen setzt, muß diese begründen und rechtfertigen ... Wirken Wis­senschaftler bei Zielfmdungen und Zielsetzungen mit, so tun sie dies in ihrer Rolle als Politiker".

Halten wir fest: Das Setzen von Zielen beruflicher Bildung fällt hiernach nicht in den Aufga­

benbereich einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Ziele beruflicher Bildung werden ihr

vielmehr vorgegeben. Wenn sie sich dennoch mit Zielen beruflicher Bildung befaßt, muß sie

sich auf einige Aspekte dieses Problemfeldes beschränken.

Sie kann vorfmdliche Ziele der beruflichen Bildung beschreiben und zu systematisieren ver­

suchen, beispielsweise um sich zu vergewissern, woran sie sich als Wissenschaft orientieren

muß oder zumindest orientieren sollte. Sie kann mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Zu­

sammenhänge von Zielsetzungen beruflicher Bildung deutlich machen: Wer verfolgt ver­

gleichbare, wer konkurrierende Ziele der beruflichen Bildung? Berufs- und Wirtschaftspäd­

agogik als Wissenschaft kann Ziele darüber hinaus logisch und empirisch auf Widersprüche

86 Zielsetzungen

untersuchen. Sie kann Ansprüche beruflicher Bildung empirisch auf deren Realisierbarkeit

hin überprüfen und praktische Folgewirkungen von Zielen aufzeigen.

Eine Beschränkung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zielen und Zielsetzungen

auf diese Aspekte des Problemfeldes markiert die Position des Kritischen Rationalismus. Der

Kritische Rationalismus ist ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das sich in den 1970er

Jahren stark verbreitete und in dieser Zeit auch für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik

sehr bedeutsam wurde. Diesem Selbstverständnis liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Zielset­

zungen letztlich immer auf Wertentscheidungen beruhen, Werte aber grundsätzlich nicht

objektiv überprüfbar sind. Ziele beruflicher Bildung können deshalb nicht "gut an sich" sein.

Sie sind es immer nur für konkrete Menschen oder Gruppen von Menschen in bestimmten

Zeiten und im Hinblick auf bestimmte Zwecke.

Wird dieser Wissenschaftsauffassung gefolgt, wäre das Thema "Zielsetzungen der berufli­

chen Bildung" tatsächlich wissenschaftlich uninteressant, es sei denn, der Wissenschaftler

schlüpft in die Rolle des Politikers. Aber genau hier liegt ein Problem, auf das uns Vertreter

eines anderen wissenschaftlichen Selbstverständnisses, Vertreter des sogenannten radikalen

Konstruktivismus, aufmerksam gemacht haben.

Zwei Kernaussagen, auch Aphorismen genannt, kennzeichnen das wissenschaftliche Selbst­

verständnis des radikalen Konstruktivismus (Maturana & Varela 1990, S. 32):

"Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun." "Alles Gesagte ist von jemandem gesagt"

Der erste Satz "Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun" besagt, daß auch Er­

kennen ein Tun ist und daß auch dieses Tun - nämlich das Erkennen - deshalb an Ziele ge­

bunden ist. Wie die biologische Gehirnforschung eindrucksvoll nachweisen konnte, ist eine

Orientierung an Zielen eine notwendige Voraussetzung für Tun. Ein Tun ohne Zielorientie­

rung ist biologisch und neurophysiologisch nicht nachweisbar (vgl. von Foerster 1985, S. 25

ff.).

Es muß daher wohl akzeptiert werden, daß auch dann, wenn über Berufs- und Wirtschafts­

pädagogik geforscht wird, dieses immer nur zielorientiert geschieht. Andernfalls käme eine

Erkenntnis gar nicht erst zustande. Zielsetzungen und zielorientiertes Handeln einerseits und

Erkenntnisgewinnung andererseits gehören also untrennbar zusammen. Sie bilden in jedem

Menschen eine operationale Einheit Egal, ob sich jemand als Wissenschaftler betätigt oder

in die Rolle des Politikers schlüpft, die operationale Einheit wird nicht aufgelöst, es sei denn,

er hört auf, als Mensch zu existieren.

Problematik wissenschaftlicher ZielsetZWlgen 87

Wer folglich vom Wissenschaftler verlangt, auf Zielsetzungen zu verzichten, weil dies nur

Aufgabe von Politikern sei, fordert strenggenommen von ihm, das Denken und Handeln zu

unterlassen. Nur als nichtbiologisches Konstrukt wäre er nämlich in der Lage, dieser Forde­

rung nachzukommen, nicht aber als Mensch mit einem Gehirn.

Der zweite Satz "Alles Gesagte ist von jemandem gesagt" bedeutet folgendes: Auch ein

Wissenschaftler, der Untersuchungen über Ziele und Zielsetzungen durchführt und seine

Untersuchungsergebnisse beschreibt, vermag diese Beschreibungen nur im Rahmen seiner

eigenen sprachlichen Möglichkeiten anzufertigen. Seine sprachlichen Möglichkeiten gestat­

ten und begrenzen zugleich seine wissenschaftlichen Aussagen. Immer bleiben sie an seine

persönlichen Möglichkeiten gebunden, wissenschaftliche Erkenntnisse auch sprachlich zu

fassen. Außerhalb dieser subjektiven Möglichkeiten zu "objektiven" Erkenntnissen zu gelan­

gen, ist erkenntnistheoretisch und empirisch nicht zu begründen. Über Ziele und Zielsetzun­

gen der beruflichen Bildungen "an sich" zu reden, ohne dabei die eigene Sprache zu beden­

ken und zu reflektieren, macht keinen Sinn.

88 Zielsetzungen

2 Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit

Die Ziele "Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit" weisen auf eine Dominanz beruflicher

Bildung durch privatwirtschaftlich organisierte Ausbildungsbetriebe hin (~ BWP, Wirt­

schaft). Diese Dominanz ist in der beruflichen Ausbildung besonders durch die Ankoppelung

der beruflichen Schulen an betriebliche Qualiflzierungsprozesse befördert worden, mit der

eine anforderungsgerechte QualifIZierung für Arbeitsplätze und betriebliche Produktion und

Dienstleistung gesichert werden soll (~ R, Qualiflkationsvoraussetzung und -verwertung).

Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit sind primär ökonomisch begrüfldbare Ziele.

Zielsetzungen beruflicher Bildung in Wirtschaftsbetrieben orientieren sich deshalb am Wirt­

schaftlichkeitsprinzip. Aus der Sicht der Personalwirtschaftslehre lassen sich folgende Ziel­

setzungen beruflicher Bildung ableiten:

• Herstellen und Sichern von Disponibilität (Verfügbarkeit) über Personal: Entwicklung des

Humanpotentials

• nach Aufgabenzuschnitt, benötigten Qualiflkationsstrukturen, verfügbaren Posi­

tionen (Stellen),

• nach hierarchischer Verteilung von Leitungs- bzw. Anweisungsbefugnissen und

Ausführungsfunktionen,

• nach Verteilung von Verantwortlichkeiten.

• Kontrollierte Nutzung des Personal potentials

• Leistungsbereitschaft und Leistungswilligkeit,

• IdentifIkation mit den Unternehmenszielen ("Wir-Gefühl", corporate identity),

• Akzeptanz wechselnder QualifIkationsanforderungen und flexiblen Personaleinsat-

zes,

• Erkennen und Annehmen von Verhaltenserwartungen der Unternehmensleitung

und Vorgesetzten,

• Umsetzen und Mitgestalten von unternehmerischen Zielsetzungen,

• Qualitätskontrolle und Qualitätsentwicklung von Produktion und Dienstleistung.

Diese Zusammenstellung läßt sich pointiert folgendermaßen erläutern. Aus der Sicht der

Personalwirtschaftslehre wird solches Personal benötigt, das betriebliche Aufgaben effektiv

im Sinne unternehmerischer Zielsetzungen erledigen kann, das die dafür zugeschnittenen

QualifIkationen besitzt und die verfügbaren Stellen auch tatsächlich einnimmt Das Personal

muß sich problemlos in das betriebliche Gefüge von Leitung und Anweisung, von Vorge-

Funktionalität und berufliche Tüchtigkeit 89

setzten und Untergebenen einfügen können. Es muß Verantwortung nach den betriebsorga­

nisatorischen Zuschnitten von Stellen übernehmen können.

Darüber hinaus wird den QualifIZierten aus betrieblicher Sicht Leistungsbereitschaft und

Leistungswilligkeit abverlangt. Sie müssen sich mit den Unternehmenszielen identifIZieren

und den zukünftig häufiger werdenden flexiblen Einsatz an unterschiedlichen Arbeitsplätzen

akzeptieren. llmen wird abverlangt, daß sie die betrieblichen Verhaltenserwartungen anneh­

men und nach diesen handeln. Sie sollen zum Umsetzen von Unternehmenszielen und zum

Mitgestalten ihres Unternehmens bereit und fähig sein. Das bedeutet auch, ihren individuel­

len Beitrag zur Kontrolle der Qualität von Dienstleistung und Produktion sowie zur Ent­

wicklung neuer Unternehmensstrukturen zu erbringen.

90 Zielsetzungen

3 Vergesellschaftung und soziale Integration

Jedes gesellschaftliche Teilsystem liefert Beiträge zur Stabilisierung und Weiterentwicklung

der Gesellschaft insgesamt: So koordiniert das Politiksystem die verschiedenen Interessen

der Gesellschaftsmitglieder und ihrer Gruppierungen, das Rechtssystem formuliert Rahmen­

bedingungen als Gesetze und Verordnungen und kontrolliert gesellschaftliches Handeln

durch die Rechtsprechung. Das Erziehungssystem übernimmt Aufgaben der Erziehung und

Bildung, das Wirtschaftssystem die Sicherung der materiellen Voraussetzungen für unser

Leben in der Gesellschaft und das Berufssystem die Aufgabe der Vergesellschaftung von

Individuen und deren soziale Integration (~BWP, Systemzusammenhänge).

In der berufspädagogischen Diskussion wurde deshalb der Forderung nach Funktionalität

und beruflicher Tüchtigkeit immer auch entgegengehalten, daß berufliche Bildung einen

"Überschuß an Qualiflkation" (Wolfgang Lempert) zu erzeugen habe. Dieser Überschuß

müsse in Mitbestimmung und Mitgestaltung von sozialen Systemen der Gesellschaft einge­

bracht werden (~ BWP, Systemische Innovationsleistung).

Berufliche Bildung soll demnach aus dieser Sicht Prozesse der Vergesellschaftung und sozia­

len Integration unterstützen helfen (~ BWP, Beruf). Heute bedeutet dies, daß berufliche

Bildung die Jugendlichen stützen soll, wenn sie ihren Weg in unsere "Risikogesellschaft"

(Ulrich Beck) suchen und diese "Risikogesellschaft" als Erwachsene mitgestalten wollen.

"Risikogesellschaft" ist zum Schlagwort geworden, mit dem wir unsere postindustrielle Ge­

sellschaftsformation bezeichnen, die sich deutlich von der Klassengesellschaft der Nach­

kriegszeit unterscheidet. Waren in der industriellen Klassengesellschaft beispielsweise

Schulbildung und Berufswahl noch weitgehend durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen

Schicht bestimmt, sind in der heutigen Risikogesellschaft die Zugänge zu Schul- und Be­

rufsbildung für alle sozialen Schichten offener geworden. Aber sie sind auch riskanter ge­

worden.

Niemand kann heute mehr sagen, daß eine höhere Schulbildung dauerhaft das Einkommen

sichert. Niemand vermag heute sicher anzugeben, welche Berufsausbildungen für künftige

Jobs gebraucht werden und wieviele Jobs in Zukunft überhaupt angeboten werden. Gleich­

wohl haben Jugendliche heute diese Unsicherheiten in ihren Lebensentwürfen zu berücksich­

tigen und in riskanten Entscheidungen über ihren Lebensweg zu bearbeiten.

Zielsetzungen der beruflichen Bildung, die von einer Funktion der sozialen Integration und

gesellschaftlichen Differenzierung ausgehen, können wie folgt markiert werden.

Vergesellschaftung und soziale Integration 91

Vorbereiten auf die Eingliederung in die "Risikogesellschaft" und Mitgestalten des sozialen

Zusammenlebens, d. h.

• dauerhafte Sicherung eines Einkommens, um erwachsen werden zu können,

• Sicherung der (horizontalen) beruflichen Mobilität durch berufs- und berufsfeldübergrei­

fende Qualifikationen und Kompetenzen,

• Sicherung des sozialen Aufstiegs (bzw. Verhinderung des sozialen Abstiegs) durch le­

benslanges Lernen,

• Beförderung von Akzeptanz, Toleranz und Verständigung zwischen Menschen mit ande­

ren Wertsystemen und aus anderen Kultur- und Sozialsystemen,

• soziale Integration von Randgruppen und Frauen.

Um überhaupt erwachsen handeln zu können, müssen junge Menschen über eigenes Ein­

kommen verfügen. Sie müssen den gesellschaftlich angeforderten häufigeren Berufswechsel

bewältigen. Dies erfordert berufliche Mobilität, die über den Erwerb von berufs- und berufs­

feldübergreifenden Qualifikationen und Kompetenzen zu sichern ist. Junge Menschen sollen

aber auch die beträchtlich verbesserten gesellschaftlichen Chancen zum sozialen Aufstieg,

die nicht mehr allein schon durch die Schichtzugehörigkeit der Eltern verteilt sind, nutzen.

Diese Sicherung des sozialen Aufstiegs bzw. der Vermeidung des sozialen Abstiegs erfordert

Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen.

Junge Menschen sollen zudem erkennen, daß die Risikogesellschaft nur erhalten und weiter­

entwickelt werden kann, wenn akzeptiert wird, daß wir in einer multikulturellen Gesellschaft

leben, in der die verschiedensten Wert- und Kultursysteme aufeinander treffen und zu ge­

samtgesellschaftlichem Handeln verknüpft werden müssen. Jugendliche sollen nicht nur wis­

sen, daß soziale Ausgrenzung von Randgruppen und Frauen in einer

"Zweidrittelgesellschaft" letztlich das Ende dieser Gesellschaft und damit auch ihrer eigenen

spezifischen Chancen für Entwicklung ist (-7 LS, Berufliches Schulwesen; -7 BWP, Beruf).

Sie sollen sich auch mit den Möglichkeiten beruflichen Handelns gegen jede soziale Aus­

grenzung solidarisch zur Wehr setzen können.

92 Zielsetzungen

4 Subjektivität und Persönlichkeitsentwicklung

Als wohl bedeutendster Bezugspunkt für pädagogisch angeleitetes Reflektieren über Ziele

und Zielsetzungen in der beruflichen Bildung gilt seit der (deutschen) Aufklärung und Klas­

sik mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bildungsbegriff (~ BWP, Päd­

agogik). Er wurde besonders von Wilhelm von Humboldt, Philosoph, Diplomat und zeitwei­

se auch Leiter der Sektion Unterricht und Kultur im preußischen Innenministerium, geprägt.

Humboldt entwickelte seinen Bildungsbegriff im Kontext seiner Vorstellungen von einer

neuhumanistischen Pädagogik. In diesen Vorstellungen von Bildung ist der Auftrag der Päd­

agogik zur Entwicklung aller Kräfte des Menschen zentral. Bildung, verstanden als Allge­

meinbildung, wurde in der neuhumanistischen Pädagogik zur Grundlage der sittlichen

Menschwerdung schlechthin erklärt.

Die Vorstellung von Bildung im Sinne der neuhumanistischen Pädagogik trennte aber die

Idee der Allgemeinen Bildung von der Berufsbildung ab, der pure Ausrichtung des Men­

schen auf Nützlichkeit unterstellt wurde. Sie grenzte sich scharf ab von den Erwartungen

und Ansprüchen von Wirtschaft und Gesellschaft ihrer Zeit, die sie nur mit Einschränkungen

von individueller Freiheit und Subjektwerdung verbinden konnte.

Aktuell bedeutsam für pädagogisches Reflektieren über Ziele und Zielsetzungen der berufli­

chen Bildung ist u. a. die pädagogische Anthropologie vor allem in ihrer Fassung durch

Heinrich Roth (vgl. Roth 1971). Auch sie geht vom Bildungsgedanken aus und transformiert

ihn im Bild vom "reifen Menschen", dessen verwirklichte Lebensform die mündige Hand­

lungsfähigkeit ist. Die Befreiung des Menschen, das Freiwerden für menschliche Hand­

lungsmöglichkeiten, für Freiheit und Mündigkeit ist auch in der pädagogischen Anthropolo­

gie leitende Zielvorstellung für berufliche Bildung. Besonders im Konzept der Programmatik

der Vermittlung von Schlüsselqualiftkationen kommen anthropologische Zielvorstellungen

zum Tragen. Allerdings verweist die pädagogische Anthropologie auch auf Verantwortung

als eine relevante berufspädagogische Kategorie. Verantwortung wird hier verstanden als

gesellschaftliche Mitverantwortung jedes einzelnen Menschen für die Freiheit des anderen.

In Stichworten zusammengefaßt können die Bildungsidee und ihre Transformation in eine

pädagogische Anthropologie folgendermaßen ausgedrückt werden:

• Freisetzung des Menschen zu seinen humanen Möglichkeiten (Wilhelm von Humboldt),

• Verhinderung von Einschränkungen der Berufswahl und des Berufswechsels,

• Orientierung am Idealtypus einer freien Gesellschaft,

Subjektivitlit und PersiJnlichkeitsentwicklung 93

• Erreichen der Daseinsmöglichkeit der freigesetzten Subjektivität (Herwig Blankertz).

• Entfalten zum reifen Menschen in der Entwicklung von Subjektivität (Heinrich Roth).

• Verantwortung gegenüber der Freiheit des anderen.

• Befähigung zur Selbstbestimmung und Subjektwerdung.

• allgemeingültige. das heißt für alle Menschen gültige Bildung und Vielseitigkeit der Bil­

dung (Wilhelm von Humboldt).

94 Zielsetzungen

5 Berufliche Handlungsfähigkeit

Funktionalität und Disponibilität, Vergesellschaftung und soziale Integration, Subjektivität

und Persönlichkeitsentwicklung bezeichnen Ansprüche an die berufliche Bildung, die über

Wirtschaft, Beruf und Pädagogik an die berufliche Bildung herangetragen werden. Sollen

diese Ansprüche nicht bloß nebeneinander stehen bleiben, wird eine Zielfonnel benötigt, auf

die diese verschiedenen Ansprüche bezogen werden können. Diese Zielfonnel kann lauten:

Beförderung beruflicher Handlungsfähigkeit Sie bietet derzeit wohl die größte Chance, alle

an der Gestaltung beruflicher Bildung beteiligten Interessengruppen in den Prozeß der ge­

genseitigen Orientierung über Ziele beruflicher Bildung einzubinden.

Dabei kann aufgezeigt werden, daß die analytische Unterscheidung verschiedener Zielsyste­

me beruflicher Bildung kein Glasperlenspiel ist, sondern für den Prozeß des Aushandelns von

Zielvorgaben auch praktisch bedeutsam ist. Dies soll an den Zielvorstellungen des Deutschen

Bildungsrates, den Zielen des Berufsbildungsgesetzes, den Zielen im Schulgesetz der Freien

und Hansestadt Hamburg und personalwirtschaftlichen Zielen beruflicher Bildung exempla­

risch vorgeführt werden.

Der Deutsche Bildungsrat (~B, Institutionen und Organisationen) war in den Jahren 1965-

1975 ein Beratungsgremium der Bundesregierung in Bildungsfragen. Im Strukturplan des

Deutschen Bildungsrates wurde 1970 ein Vorschlag für eine weitreichende Reform des ge­

samten Bildungswesens vorgelegt (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 29):

"Das umfassende Ziel der Bildung ist die Fähigkeit des einzelnen zu individuel­lem und gesellschaftlichem Leben, verstanden als die Fähigkeit, die Freiheit und die Freiheiten zu verwirklichen, die ihm die Verfassung gewährt und auferlegt"

Der Deutsche Bildungsrat bezog sich dabei auf das Grundgesetz und besonders auf Artikel

2, der das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und den Schutz der Person garan­

tiert. Festgehalten werden kann: Ziele der Bildung insgesamt - und damit auch der berufli­

chen Bildung - sind gemäß dem Deutschen Bildungsrat die freie Entfaltung der Persönlich­

keit und die Verwirklichung von Freiheit

Auch wenn der Deutsche Bildungsrat nur Empfehlungen aussprechen konnte, war die Erin­

nerung an die grundgesetzlich verankerten Ziele von Bildung wichtig. Empfehlungen sind

jedoch keine Gesetze, haben also keinen bindenden Charakter. Dies ist jedoch anders mit

dem Berufsbildungsgesetz, das 1969 verabschiedet wurde. Es bildet die Grundlage flir den

Berufliche HandlungsJiihigkeit 95

betrieblichen Teil der Berufsausbildung. Ziele, die im Berufsbildungsgesetz festgeschrieben

wurden, sind (§ 1 (2-4) Berufsbildungsgesetz):

"(2) Die Berufsausbildung hat eine breit angelegte berufliche Grundbildung und die für die Ausbildung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen. (3) Die berufliche Fortbildung soll es ermöglichen, die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erweitern, der technischen Entwicklung anzu­passen oder beruflich aufzusteigen. (4) Die berufliche Umschulung soll zu einer anderen beruflichen Tätigkeit befä­higen."

Festgehalten werden kann: Ziele beruflicher Bildung nach dem Berufsbildungsgesetz sind die

Vermittlung fachlicher Fertigkeiten und Kenntnisse, die Ermöglichung von Berufserfahrun­

gen, der Erhalt und die Anpassung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten, die Ermögli­

chung des beruflichen Aufstiegs und die Befähigung zu anderen beruflichen Tätigkeiten.

Diese Ziele sind im Vergleich zu den Zielen des Deutschen Bildungsrates schon sehr konkret

gefaßt. Allerdings ist von der freien Entfaltung der Persönlichkeit, wie es noch der Deutsche

Bildungsrat mit dem Blick auf unser Grundgesetz vortrug, nicht die Rede.

Darüber hinaus macht das Berufsbildungsgesetz eine Unterscheidung, die es notwendig

macht, hinsichtlich weiterer Ziele beruflicher Bildung die Schulgesetze der Länder heranzu­

ziehen. So besagt nämlich § 2 (1) Berufsbildungsgesetz:

"Dieses Gesetz gilt nur für die Berufsbildung, soweit sie nicht in berufsbildenden Schulen durchgeführt wird, die den Schulgesetzen der Länder unterstehen".

Wer also über Ziele der beruflichen Bildung nachforscht, muß deshalb auch in den Schulge­

setzen der Länder nachschauen. Folgende Ziele schulischer Bildung, also auch der berufli­

chen Bildung soweit sie schulisch vermittelt wird, sind in das Schulgesetz der Freien und

Hansestadt Hamburg 1997 eingeschrieben worden (§ 2 (1, 2, 4) Hamburgisches Schulge­

setz):

"Es ist Aufgabe der Schule, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen und ihre Bereitschaft zu stärken, ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz, der Gerechtigkeit und Solidarität sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, an der Gestaltung einer der Humanität ver­pflichteten demokratischen Gesellschaft mitzuwirken ... Unterricht und Erzie­hung sind auf die Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten sowie auf die Stärkung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auszurichten ... Die Schule soll durch die Vermittlung

96 Zielsetzungen

von Wissen und Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten die Entfaltung der Person und die Selbständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen ... fördern

11

Festgehalten werden kann: Ziele des schulischen Teils der beruflichen Bildung können also

sein:

• Entwicklung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten,

• Gestaltung der sozialen Beziehungen nach Grundsätzen von Achtung, Toleranz, Gerech-

tigkeit und Solidarität,

• Mitwirkung an der Gestaltung einer humanen Gesellschaft,

• Entfaltung der Person und

• Förderung der Selbständigkeit

Diese Ziele mögen vielleicht abgehoben klingen, weil Erfahrungen in Berufsausbildung und

beruflicher Tätigkeit sich darin nicht widerzuspiegeln scheinen. Aber es sind Ziele für Schule

und Unterricht, die zumindest in Hamburg gesetzlich festgeschrieben wurden und zwar für

alle Schulen. Eine Unterscheidung hinsichtlich der Ziele für allgemeinbildende Schulen und

berufliche Schulen macht das Gesetz nicht.

Allerdings unterscheiden sich diese Ziele schulischer Bildung deutlich von denen, die im Be­

rufsbildungsgesetz festgeschrieben wurden. Waren es im Berufsbildungsgesetz überwiegend

Ziele, die auf berufliche Tüchtigkeit, den beruflichen Aufstieg und den Erhalt der Berufsfä­

higkeit abstellten, sind es im Schulgesetz Ziele der Beförderung von Humanität und Solidari­

tät, des Ausgleichs jeder Form der Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung, der Sicherung

von Chancengleichheit und Integration, wie diese Ziele im Vorwort zu diesem Gesetz ge­

nannt wurden. Von Tüchtigkeit und Förderung der Leistungsbereitschaft und Leistungsfä­

higkeit steht dort nichts. Dies hat schon im Vorfeld der Gesetzgebung zu heftiger Kritik am

Gesetz geführt.

Wenn aber nun für den Lernort Betrieb mittels Berufsbildungsgesetz und für den Lernort

Schule mit den Landesschulgesetzen sehr unterschiedliche Ziele der beruflichen Bildung in

den jeweiligen Rahmenbedingungen festgeschrieben wurden, muß schon jetzt gefragt wer­

den: Verfolgen schulische und betriebliche Berufsausbildung völlig unterschiedliche Ziele?

Wie ist dann überhaupt eine an einem stimmigen Zielsystem ausgerichtete Berufsausbildung

im dualen System möglich? Wie verarbeiten die Betroffenen, die Lehrerinnen und Ausbilde­

rinnen und vor allem die Auszubildenden mögliche und sogar sehr wahrscheinliche Zielkon­

flikte (~ BWP, Systemische Innovationsleistung)?

Berufliche Handlungsjiihigkeit 97

Die Differenzen zwischen den Zielen beruflicher Bildung werden noch deutlicher, wenn Ziele

der beruflichen Bildung in Wirtschaftsbetrieben, wie sie die Personalwirtschaftslehre be­

schreibt, hinzugefügt werden: Wirtschaftsbetriebe sind keine Einrichtungen für die allgemei­

ne Wohlfahrt. Sie operieren am Markt und unterliegen Marktgesetzen. Wirtschaftsbetriebe

müssen Marktanteile erobern, Umsätze steigern, Produktivität und Rentabilität sichern,

Gewinne erzielen. So lauten ihre Zielformeln. Berufsausbildung wird deshalb auch als eine

Investition in das Betriebskapital betrachtet. Für die betriebliche Weiterbildung konnte des­

halb die Personalforschung folgende Aussage treffen (Kossbiel1991, S. 247):

"Aus betriebswirtschaftlicher Sicht wird Weiterbildung weder im Sinne von "l'art pour l'art" noch "just for fun" betrieben. Selbst Weiterbildungen ohne direkten Bezug zu bestimmten betrieblichen Aufgaben - z. B. als freiwillige Sozialleistun­gen konzipiert - sind nicht zweckfrei und wohl auch nicht das reine Vergnügen. Wenn aber schon solche Bildungsrnaßnahmen in den Zusammenhang betriebli­cher Zweckerfüllung gestellt sind, um wieviel mehr muß dies für die üblichen betrieblichen Anpassungs- und Aufstiegsweiterbildungen gelten? ... Für die Vorstellung vom betrieblichen (Weiter)Bildungswesen als einem relativ selb­ständigen, primär an Zielen der Mitarbeiter orientierten "eigenen Gesetzen un­terliegenden Bereich" personalwirtschaftlicher Betätigung, bleibt damit wenig Raum."

Festgehalten werden kann: Zielsetzungen beruflicher Bildung aus ökonomischer Sicht kön­

nen sein:

• Herstellung und Sicherung der Verfügbarkeit über Personal und

• Herstellung und Sicherung der Wirksamkeit des Personals.

Damit schließt sich der Kreis zu der schon vorher erwähnten Zielformel von der beruflichen

Tüchtigkeit, wie sie im Berufsbildungsgesetz formuliert wurde, und es kann der Versuch

unternommen werden, berufliche Handlungsfähigkeit als Leitidee für eine gegenseitige Ori­

entierung über Ziele beruflicher Bildung zu skizzieren. Berufliche Handlungsfähigkeit kann

umschrieben werden mit:

• Sachkompetenz: Erwerb berufsrelevanten Wissens;

• Metbodenkompetenz: Fähigkeit, berufsrelevantes Wissen im praktischen Handeln über­

prüfen und berufliche Praxis beschreiben und erklären zu können;

• Gestaltungskompetenz: Fähigkeit, an der Gestaltung beruflicher Praxis sachkompetent

und orientiert an moralischen und ethischen Leitvorstellungen mitzuwirken;

• moralischer Kompetenz: Entwickeln eigener Wertvorstellungen, Orientierung beruflichen

Handelns und Gestaltens an gemeinsamen Wertvorstellungen, Solidarität mit anderen,

aber auch Kritikfähigkeit;

98 Zielsetzungen

• Sozialkompetenz: Entwicklung von beruflichem Selbstbewußtsein und Ich-Identität, Be­

förderung von Sprache und Kommunikation;

• Abstraktionsfähigkeit: Entwickeln sprachlicher Verallgemeinerungen, Fähigkeit zur

sprachlichen Verständigung mit anderen.

Berufliche Handlungsfähigkeit meint zunächst die berufliche Sachkompetenz

(Fachkompetenz). Gemeint sind damit das berufsrelevante Wissen und die Fähigkeiten, im

Beruf sachlich angemessen und fachlich kompetent zu handeln. Berufliche Handlungsfähig­

keit meint aber auch die Methodenkompetenz, das heißt die Fähigkeit, berufsrelevantes Wis­

sen und Problemlösungen in der beruflichen Praxis überprüfen und für Probleme der berufli­

chen Praxis Lösungsvorschläge entwickeln zu können. Berufliche Handlungsfähigkeit um­

faßt darüber hinaus auch die Gestaltungskompetenz und die moralische Kompetenz. Gestal­

tungskompetenz und moralische Kompetenz sind Zielsetzungen beruflicher Bildung, die sich

auf die Gestaltung beruflicher Praxis, orientiert an moralischen und ethischen Vorstellungen

und zusammen mit anderen, bezieht. Und schließlich umschließt berufliche Handlungsfähig­

keit auch Sozialkompetenz und Abstraktionsfähigkeit, mit denen Sprache und Kommunika­

tion, aber auch die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Ich-Identität befördert werden

(~ LB, Arbeiten und Lernen (vgl. Schaubild 9)).

literatur 99

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Strukturbegriff:

Lernort Schule

1 Berufliches Schulwesen

Rahmenbed.iosuogeo

Ausbi1dUD8 ({;,:::"l-~I-f~~~;;-IV---+:::::::~ ZiebelZun8eD der Lehrer Ulld der Ausbilder

Lemort Schule

Lernon Beuieb

Seit dem Gutachten über das berufliche Ausbildungs- und Schulwesen des Deutschen Aus­

schusses für das Erziehungs- und Bildungswesen von 1964 wird der Begriff duales System

für das deutsche berufliche Ausbildungsmodell verwendet. Es soll darunter das Zusammen­

wirken von Betrieb und Berufsschule in der Berufsausbildung junger Erwachsener verstan­

den werden. Im Gegensatz hierzu wird europaweit außerdem in einem vollzeitschulischen

System (z. B. in Frankreich) und in einem rein betrieblichen Ausbildungssystem (z. B. in

Großbritannien) sowie in sogenannten Mischsystemen (z. B. in Dänemark) ausgebildet (~

R, Internationalisierung; ~ R, Finanzierung).

Das duale System durchlaufen bundesweit jeweils etwa zwei Drittel aller Jugendlichen eines

Geburtenjahrganges. Die Berufsausbildung fmdet in Deutschland jedoch nicht nur im dualen

System statt. Eine andere Möglichkeit - jedoch weitaus seltener - besteht im Besuch einer

berufsbildenden Vollzeitschule. Hierunter fällt zum Beispiel die berufliche Ausbildung an den

Berufsfachschulen und an den Schulen des Gesundheitswesens.

Neben der Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf im Rahmen

des dualen Systems und der Berufsausbildung in einem vollzeitschulischen Bildungsgang

existieren in manchen Bundesländern noch alternative Ausbildungsgänge im tertiären Be­

reich (z. B. Berufsakademien). Das berufliche Schulwesen besteht darüber hinaus noch aus

weiteren Schulformen und ist in das Gesamtbildungssystem eingebunden (vgl. Schaubild 1).

102 Lernort Schule

Weiterbildung (allgemeine und berufsbezogene Weiterbildung in vielfältigen Formen)

zeit-scbul-pflicht 16117

Teil- [

15/16'--_--,.-____ .-"*"""........,k-~-

Voll­zeit­schul­pflicht

3 Lebens­alter

Realschule

Gymnasium (Gymnasiale Unter- und Mi ttelstufe)

Kindergarten (freiwillig)

~ Hauptbildungs- und Ausbildungsabscblüsse

...::::::::... Hauplabgangswege in die Berufstätigkeit

Gymnasium, BeruflidIes

Gymnasium, Facbgymnasium,

Gesamtscbule

Gesamtschule

Se­kun­dar­be-

reich I1

Se­kuß­dar­be-

reich I

men­tarbe­reich

Bereiche

Schaubild 1: Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Münch 1994, S. 23)

Berufliches Schulwesen 103

Gemäß Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 8.12.1975 werden im beruflichen Schul­

wesen bundeseinheitIich folgende Schulformen unterschieden: die Berufsschule, die Berufs­

fachschule, die Berufsautbauschule, die Fachoberschule sowie die Fachschule. Daneben

existieren noch länderspezifische berufliche Schulen, wie z. B. die Berufsoberschule, die

Fachakademie, das Berufskolleg, die Berufsakademie und das Fachgymnasium.

Berufsschulen werden von Berufsschulpflichtigen bzw. -berechtigten besucht. Berufsschulen

lassen sich je nach beruflicher Fachrichtung in kaufmännische, gewerbliche, hauswirtschaftli­

che, landwirtschaftliche und gemischtberufliChe differenzieren und sind entweder als Teilzeit­

schule oder als Blockunterricht organisiert

Berufsautbauschulen gibt es in Vollzeit- und Teilzeitform. In der Vollzeitform wird die Be­

rufsaufbauschule in einem Schuljahr nach abgeschlossener Berufsausbildung besucht. In der

Teilzeitform wird sie von Jugendlichen neben der Lehre oder einer Berufstätigkeit abends

besucht. Die Berufsautbauschule führt zum Realschulabschluß bzw. zur Fachoberschulreife.

Fachoberschulen setzen den RealschulabschIuß voraus. Sie führen nach erfolgreichem Be­

such von einem Jahr in Vollzeitform und von zwei Jahren in Teilzeitform zur Fachhochschul­

reife. Sie vermitteln keine eigenständige Berufsausbildung.

Die Fachschulen sind in der Regel ein- bis zweijährige Bildungsgänge in Vollzeitform, die

bereits einen abgeschlossenen Beruf oder eine praktische Berufstätigkeit voraussetzen. In

Teilzeitform handelt es sich um vierjährige Bildungsgänge. Fachschulen stellen eher Schulen

der beruflichen Fortbildung dar (z. B. Meisterschulen, Technikerschulen und Fachschulen für

Betriebswirtschaftslehre).

Berufsfachschulen sind Vollzeitschulen mit mindestens einjähriger Dauer, die in der Regel

den Hauptschulabschluß voraussetzen, jedoch keine Berufstätigkeit oder eine Berufsausbil­

dung. Berufsfachschulen sind nach Fachrichtungen gegliedert und streben an: erstens einen

Abschluß in einem Beruf, der nur an Schulen erlernt werden kann (dann ist der Lehrgang

dreijährig; z. B. Ausbildung zum Uhrmacher, Datentechnischen Assistenten, Biologisch­

technischen Assistenten), zweitens - und das ist weitaus seltener - einen Abschluß in einem

anerkannten Ausbildungsberuf (auch dreijährig) oder drittens Lehrangebote, die auf eine

spätere Berufsausbildung im dualen System angerechnet werden können (1-2 Jahre Dauer;

hierzu zählen die Handelsschulen und Höheren Handelsschulen sowie hauswirtschaftliche

Berufsfachschulen).

Von 1960 bis 1994 stieg die Zahl der Schüler und Schülerinnen in Berufsfachschulen von

125700 auf 295000 an, dabei liegt der Anteil an Schülerinnen derzeit bei etwa 65 % (vgl.

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996b, S. 54, S.

62). Die Zunahme an Schülern in dieser Schulform erklärt sich vor dem Hintergrund des

104 Lemort Schule

angespannten Lehrstellenmarktes. Der besonders hohe Anteil an Schülerinnen ist in histo­

risch bedingten differenten Berufskonzepten für Männer und Frauen begründet (vgl. Mayer

1996). Während das des Mannes aus der Tradition der Handwerkslehre und des Handels

entspringt, stellt sich das der Frauen je nach Schichtzugehörigkeit entweder als Konzept des

Berufes als Hausfrau, Mutter und Ehefrau oder als Konzept der Erwerbsarbeit im pädagogi­

schen, sozialen oder typisch haushaltsbezogenen Bereich (z. B. Näherin, Wäscherin, Webe­

rin etc.). Gefördert wurde diese Herausbildung unterschiedlicher Berufskonzepte auch da­

durch, daß es Frauen noch bis in die 1920er Jahre rechtlich untersagt war, eine Lehre im

Handwerk oder Handel aufzunehmen. So befmden sich auch heute nur etwa 40 % Frauen in

einer Ausbildung im Rahmen des dualen Systems. Durch den Einfluß der ersten Frauenbe­

wegung und der Berufsverbände für Frauen wurden schließlich berufliche Schulen für Frau­

en gegründet. Dabei dominierte die schulbezogene Erziehung und Ausbildung in hausbezo­

genen Tätigkeiten noch bis in die 1960er Jahre hinein und erst langsam trat die Beschäfti­

gung auch außerhalb des Hauses hinzu (vgl. Mayer 1996, S. 40).

Dieses insgesamt von Männerberufen unterschiedliche Berufskonzept flir Frauen wirkte auf

die Entwicklung der modemen Berufsausbildung ein, wie es sich noch heute an zwei

Hauptmerkmalen zeigen läßt: erstens im System der beruflichen Bildung und Ausbildung,

namentlich in Form von beruflichen Vollzeitschulen, wie insbesondere den Berufsfachschu­

len und den Schulen des Gesundheitswesens, in denen der Frauenanteil bei durchschnittlich

65 % liegt. Und zweitens in der Struktur der von Frauen aufgenommenen Berufstätigkeiten.

So zählen zu den am häufigsten von jungen Frauen gewählten Ausbildungsberufen z. B. die

Ausbildung zur Zahnarzthelferin, Arzthelferin, Bürokauffrau, Kauffrau im Einzelhandel, Fri­

seurin, Hotelfachfrau sowie Fachverkäuferin im Nahrungsmittelhandwerk (vgl. Bundesmini­

sterium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996a, S. 125). Das darin

zum Ausdruck kommende Bild ist zwar das Ergebnis der Berufswahlentscheidung von jun­

gen Frauen, diese wird aber durch das entsprechende Angebotsverhalten der Ausbildungsbe­

triebe gestützt Beurteilend läßt sich zusammenfassen, daß es sich hierbei um Berufe handelt,

die eine eher problematische Berufsperspektive bieten. Denn es handelt sich um stark bela­

stende Berufe mit relativ ungünstigen Einkommens- und Aufstiegschancen, mit ungünstigen

Arbeitszeitregelungen sowie einem geringen Transferpotential für einen möglichen Berufs­

wechsel (vgl. Arbeitsgruppe BiIdungsbericht 1994, S. 613).

Neben den Berufsfachschulen gibt es noch eine weitere schulische Form der Berufsausbil­

dung, die von den Schulen für die Berufe des Gesundheits- und Sozialwesens angeboten

wird. Diese stellen die zweitgrößte Gruppe von Schulen dar, welche eine volle berufliche

Erstausbildung vermitteln und überwiegend von jungen Frauen besucht werden. Die Ausbil-

Berufliches Schulwesen 105

dung verbindet theoretischen und praktischen Unterricht mit praktischer Ausbildung. Die

Schulen des Gesundheits- und Sozialwesen stehen außerhalb des Geltungsbereiches des Be­

rufsbildungsgesetzes und sind in Folge davon sehr uneinheitlich und unübersichtlich hinsicht­

lich ihrer Prüfungen, ihrer Bezeichnung, ihrer Eingangsvoraussetzung und ihrer Träger gere­

gelt (vgl. Mönch 1994, S. 57). Als Träger kommen meist Krankenhäuser und damit Kom­

munen, Kirchen und karitative Einrichtungen in Frage. Im Bereich des Gesundheitswesens

werden Ausbildungen z. B. zum Krankenpfleger, zur Hebamme und zum Logopäden durch­

geführt. Im Bereich des Sozialwesens werden z. B. Erzieherinnen und Altenpflegerinnen

ausgebildet

Zum Teil bundesländerspeziflsch gibt es neben den im Kultusministerkonferenz-Beschluß

benannten Schulformen noch weitere berufliche Schularten. Hierzu zählen die Fachgymnasi­

en in Form der Wirtschafts- und technischen Gymnasien, die zur allgemeinen oder zur fach­

gebundenen Hochschulreife führen und den Realschulabschluß voraussetzen. Weiterhin ge­

hören dazu die Berufsvorbereitungsklassen sowie das Berufsgrundbildungsjahr, die jeweils

eine Vorbereitung auf eine Berufsausbildung leisten. Hier werden Jugendliche ohne Haupt­

schulabsehluß oder ohne Ausbildungsvertrag in einem Vollzeitschuljahr auf einen Beruf vor­

bereitet. Zum Teil ist es möglich, den Hauptschulabschluß nachzuholen. Der Unterricht wird

größenteils über Projekte gestaltet, also in einer sehr praxisorientierten Lemform.

Eine weitere landesspeziftsehe Schulform ist die Kollegschule (ursprünglich Kollegstufe).

Kollegschulen gibt es nur in Nordrhein-Westfalen. Sie haben das Ziel, die Trennung zwi­

schen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulbereichen aufzuheben. Hierfür wurden

in der Regel bereits bestehende berufliche Schulen um die gymnasiale Oberstufe erweitert

(vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 585). Der erfolgreiche Besuch dieser Schule in

Vollzeitform führt zu einer Doppelqualitizierung: erstens wird ein beruflicher Abschluß

vermittelt und zweitens berechtigt der Schulabschluß zu einem Studium an einer Fachhoch­

schule bzw. zum Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule. Als weitere länderspezifl­

sehe Einrichtungen werden in dem Kultusministerkonferenz-Beschluß die Berufsakademien

genannt. Berufsakademien sind streng genommen Einrichtungen des tertiären Bildungsberei­

ches außerhalb und unterhalb der Hochschulebene, setzen die Fachhochschulreife voraus und

führen in drei Jahren zu einem wissenschaftlichen und berufsqualiflzierenden Abschluß. Die

Ausbildung fmdet wie in der dualen Ausbildung alternierend in einem Ausbildungsbetrieb

und in der Akademie statt. Mögliche Berufsabschlüsse führen u. a. zur Diplom-Betriebs­

wirtin (BA), Diplom-Ingenieurin (BA), Mathematisch-technischen Assistentin (BA), Wirt­

schaftsassistentin (BA) und Ingenieurassistentin (BA).

106 Lernort Schule

Die aufgeführten berufsbildenden Schulen umfassen also berufsvorbereitende, berufsqualifi­

zierende, studienqualifizierende oder doppelqualiftzierende Schulformen. Zu den berufsvor­

bereitenden Angeboten zählen neben sechs- bis zwölfmonatigen Maßnahmen des Arbeitsam­

tes das Berufsvorbereitungsjahr und - faktisch, aber nicht geplant - das Berufsgrundbildungs­

jahr. Zu den berufsqualiftzierenden Bildungsgängen gehören die Ausbildung im dualen Sy­

stem sowie die Angebote der Berufsfachschulen. Zu den studienqualiftzierenden Bildungs­

gängen gehören die Fachoberschulen und die Fachgymnasien, deren erfolgreicher Besuch

zum Studium an Fachhochschule oder Universität berechtigt. Im Rahmen der doppelqualifi­

zierenden Bildungsgänge wird sowohl ein allgemeiner Schulabschluß als auch eine berufliche

QualifIkation vermittelt.

Ben4sschule 107

2 Berufsschule

Zu den direkten Vorläufern der Berufsschule gehören die religiösen und gewerblichen

Sonntagsschulen, die im 18. Jahrhundert gegründet wurden und die sich im späten 19. Jahr­

hundert zu den Fortbildungsschulen allgemeiner und beruflicher Art hin entwickelten (vgl.

Thyssen 1954, S. 48). Diese beiden Fortbildungsschularten haben sich schließlich im Verlau­

fe des 19. Jahrhunderts angeglichen in Richtung Teilzeitschule, die ausbildungsbegleitend in

der Regel abends stattfand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten sich schließlich die

nach Berufen gegliederten Fortbildungsschulen. Etwa 1920 setzte sich für diesen schulischen

Lernort der Begriff der Berufsschule durch. Mit dem Reichsschulpflichtgesetz vom 6.7.1938

wurde in Deutschland schließlich für alle Jugendliche die allgemeine Berufsschulpflicht, in

der Regel drei Jahre, eingeführt. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg wurde die Berufsschu­

le als fester Bestandteil des Ausbildungssystems in der Bundesrepublik Deutschland allge­

mein anerkannt. Mit dem 1.10.1990 trat das Berufsbildungsgesetz und damit auch das duale

Ausbildungssystem für das Gebiet der DDR in Kraft

In Folge der zum Teil grundlegend veränderten Rahmenbedingungen für die berufliche Er­

stausbildung (Internationalisierung der Märkte, Globalisierung, starker und rasanter techno­

logischer Wandel, Selbstverwirldichungsanspruch an die Arbeit etc.) sieht sich die Berufs­

schule vor verschiedene Problembereiche gestellt (vgl. Rebmann 1996). Hierbei ist zu beach­

ten, daß es sich weitgehend um sich überlagernde, einander bedingende Problembereiche

handelt, die daher auch gleiche Lösungsprozeduren bzw. -versuche erfordern.

Ein erster Problembereich besteht in der zunehmend erkennbaren Gewichtsverlagerung von

der beruflichen Erstausbildung hin zur betrieblichen Weiterbildung. Ursächlich für den Be­

deutungsgewinn der betrieblichen Weiterbildung ist zum einen, daß sich diese für das Unter­

nehmen als eine kostengünstigere Alternative zur Erstausbildung darstellt, die zudem eine

flexiblere Planung für die Betriebe erlaubt (vgl. Kau 1995, S. 63). Zum anderen fordern die

raschen technologischen Veränderungen, die damit verbundene geringere "Halbwertzeit" des

Wissens sowie die bislang eher unflexible berufliche Erstausbildung zusätzliche Weiterbil­

dungsmaßnahmen ein. Dies hat zur Folge, daß das Ausbildungsengagement sowie das Ange­

bot an Ausbildungsplätzen der Betriebe reduziert werden, damit wird sich die Zahl der

Schiller in den Berufsschulen verringern und der Wettbewerb der Schulen um die Schüler

steigen.

108 Lemort Schule

Ein zweiter Problembereich stellt die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes dar und

die damit verbundene Gewährleistung der Freizügigkeit beim Zugang zu Bildung und Beruf.

Hierduch werden die bestehenden Berufsbildungssysteme der Mitgliedstaaten in Konkurrenz

zueinander gestellt. Mit anderen Worten, das deutsche duale Modell muß gegenüber einer

überwiegend vollschulischen Berufsausbildung und einer überwiegend betrieblichen Berufs­

ausbildung seine Konkurrenzfähigkeit unter Beweis stellen (~ R, Internationalisierung).

Weiterhin stellt sich in einem internationalen Vergleich die Frage nach der Gleichwertigkeit

der erreichbaren Abschlüsse. Eine problematische Frage insofern, als sich die deutschen be­

ruflichen Bildungsabschlüsse nicht mit den schulisch erworbenen Abschlüssen in anderen

Ländern der Europäischen Union vergleichen lassen, die in der Regel zunehmend an allge­

meinbildende Inhalte geknüpft sind.

Einen dritten Problembereich stellen die veränderten gesellschaftlichen sowie individuellen

Wertorientierungen dar, die den Anspruch auf mehr persönliche Autonomie, auf Persönlich­

keitsbildung und Selbstbestimmung der eigenen Zukunft für den einzelnen zur Folge haben.

Nicht nur die unterschiedlichen Wertvorstellungen der Klientel der beruflichen Bildung bil­

den eine Herausforderung, sondern auch die Polarisierung dieser Klientel, die sich durch die

Heterogenität und das gestiegene Bildungsniveau der Auszubildenden zunehmend verstärkt.

Insgesamt haben sich durch diese Veränderungen die Bildungsorganisation, die die institu­

tionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen, Zertiflzierungen, Lehrpläne und Lerninhalte

umfaßt, und die Bildungsbedeutung, die der einzelnen mit seiner Ausbildung sinnhaft verbin­

det, voneinander abgelöst und gegeneinander verselbständigt (vgl. Beck 1986, S. 242 f.).

Hierdurch sieht sich die Berufsschule verstärkt vor die Aufgabe gestellt, neben ihren institu­

tionellen und rechtlichen Gegebenheiten und ihrer Einbindung ins Berechtigungswesen ihre

Lehrpläne und Lerninhalte kritisch zu reflektieren, ein stärker differenziertes Lernangebot für

das gespaltene Klientel zu entwerfen sowie die didaktisch-methodische Ausgestaltung des

Unterrichts auf die unterschiedlichen Lernbedingungen und Lernvoraussetzungen dieser Kli­

entel abzustimmen.

Grundlegende technologische, organisatorische und strukturelle Veränderungen, die neue

bzw. neu akzentuierte Anforderungen an Arbeitskräfte und deren QualifIkationen mit sich

bringen, sind ein weiterer, vierter Problembereich. Insbesondere im kaufmännisch­

verwaltenden Berufsfeld nehmen die entsprechenden Tätigkeiten an Abstraktheit und Kom­

plexität zu. Für die Lernenden werden hierdurch betrie?liche Abläufe zunehmend intranspa­

renter und unanschaulicher. Zudem wird trotz systemischer Rationalisierung und Verschlan­

kung die Möglichkeit reduziert, ganzheitliche Erfahrungen in der Ausübung der jeweiligen

Berufsschule 109

Tätigkeit zu erwerben. Als Ursache hierfür werden häufig angeführt: die strikte arbeitsteilige

Trennung von bestimmten Tätigkeiten (planung, Ausführung und Kontrolle) sowie die Zer­

schneidung von organisatorischen, betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhän­

gen. Wie beim letztgenannten Problembereich ist auch durch diese Entwicklungen ein Über­

denken traditioneller Lerninhalte und traditioneller Unterrichtsgestaltung der Berufsschule

gefordert.

Ein flinfter aufzuflihrender Problembereich ist darin zu sehen, daß die berufsschulischen

Lerninhalte als theorielastig und nicht praxisrelevant vor allem von betrieblicher Seite ange­

sehen bzw. als solche erfahren werden. Dem kann man entgegensetzen: "So wichtig das Er­

fahrungslernen in authentischen (betrieblichen) Situationen auch ist, so wichtig bleibt die

kognitive Verarbeitung (Reflexion) und die emotionale Integration von Erfahrungen, Erleb­

nissen und Erkenntnissen, die einander oft widersprechen" (Reetz 1995, S. 190). Und gerade

die Berufsschule kann sich zu dem Ort etablieren, an dem diese Reflexion und Integration

"gefahrlos" erfolgen kann und mögliche Widersprüche aufgelöst werden können.

Welche Handlungsperspektiven bestehen nun angesichts dieser skizzierten Problembereiche

frtr die Berufsschule?

Zunächst ist eine verstärkte Durchlässigkeit der Ausbildungs- und Berufswege zu fördern.

Hierzu gehört eine Durchlässigkeit in Richtung auf höhere Positionen auch frtr Absolventen

mit berufsbildenden Abschlüssen (vgl. Adler, Dybowski & Schmidt 1993, S. 6). Diese For­

derung setzt voraus, daß es zur gesellschaftlichen Anerkennung der Gleichwertigkeit von

allgemeiner und beruflicher Bildung kommt, daß die Berufsbildung generell an Ansehen und

Attraktivität gewinnt und daß in der dualen Ausbildung Abschlüsse erworben werden kön­

nen, die zum Hochschulzugang berechtigen (vgl. Frömsdorf 1995, S. 82; Greinert 1994, S.

391). Zusammenfassend gilt es frtr eine Berufsbildungspolitik, verschiedene Möglichkeiten

zu verfolgen bzw. zu bedenken (vgl. Lutz 1991, S. 34 f.). Hierunter fallen die Doppelquali­

ftzierung, die Entkopplung der berufsqualiftzierenden Ausbildungsgänge von der Hierarchie

der allgemeinbildenden Abschlüsse und die Schaffung von Perspektiven beruflichen Auf­

stiegs nach der Berufsausbildung. Ferner sollten Möglichkeiten der Rückkehr nach Abschluß

des berufsqualifizierenden Ausbildungsganges ins Bildungssystem beleuchtet werden.

Ungeachtet der rechtlichen und bildungspolitisch tradierten Voraussetzungen scheint eine

verstärkte gesellschaftliche Akzeptanz der Berufsschule dadurch erreichbar zu sein, daß sich

deren Image verändert. Hierzu kann die Berufsschule beitragen, indem sie sich neue Aufga­

benbereiche erschließt. So kann innethalb der Berufsschule eine Verzahnung von beruflicher

110 Lemort Schule

Erstausbildung und Weiterbildung erfolgen. Eine entsprechende formale Basis hierfür wurde

bereits 1991 mit einem Beschluß der Kultusministerkonferenz geschaffen, wonach die Be­

rufsschule "zusätzlich bei Aufgaben der beruflichen Fort- und Weiterbildung mitwirken"

kann (Münch 1994, S. 70). So soll die Berufsschule in ihren Angeboten auch Kompensati­

ons- und Korrektivfunktionen übernehmen, sie soll allgemeinbildende Berechtigungen nach­

liefern, bestehende Qualiftkationsdefizite ausgleichen, Umschulungen fördern, Fördermaß­

nahmen anregen sowie berufliche Aufstiegsmöglichkeiten eröffnen (vgl. Pukas 1990, S. 10).

Eng mit obiger Aufgabenerweiterung verknüpft, gilt es, die Kooperationsbeziehungen mit

betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten auf- bzw. auszubauen und altherge­

brachte Arbeitsteilungen neu zu überdenken. Damit wird die aktuelle Diskussion der Ler­

nortkooperationen und damit das technisch-organisatorische und pädagogische Zusammen­

wirken des Lehr- und Ausbildungspersonals der an der Berufsbildung beteiligten Lemorte

berührt (vgl. Pätzold 1995, S. 3). Dabei zeichnen sich die jeweiligen Lemorte durch ganz

spezifische Aufgabenbereiche und rechtliche Grundlagen aus. Allerdings gibt es schon längst

keine klare Abgrenzung zwischen der traditionellen Funktionszuschreibung, fachpraktische

Ausbildung im Betrieb (HandelnlPraxis) und fachtheoretischer Unterricht in der Berufsschu­

le (DenkenfTheorie), was die Forderung nach Informationsaustausch und Lernortkooperati­

on verstärkte. Erstens scheint mit dem Prinzip der Handlungsorientierung eine Möglichkeit

gefunden zu sein, diese getrennt gedachten Ansätze zu überwinden bzw. Denken und Han­

deln zu verbinden (~ D, Neue didaktische Leitideen, Ansätze und Entwürfe). Denn sol­

chermaßen innovative Lerninhalte und -methoden lassen sich nicht in ihren jeweiligen Theo­

rie- und Praxisanteil aufteilen. Zweitens erhofft man sich von einem entsprechenden Zusam­

menwirken, das über die bloße Informations- und Abstimmungsebene hinausgeht, neben

allgemeinen Impulsen für die Berufsausbildung, eine Öffnung der Berufsschule für betriebli­

che Belange (und umgekehrt!), eine erfolgreiche Implementierung innovativer Konzepte

sowie eine schnellere und einfachere Aufgabenbewältigung (vgl. Pätzold 1995, S. 4).

In der Praxis zeigt sich, daß "die Berufsausbildung im Dualen System offenbar derart orga­

nisiert (ist), daß sie ohne umfassende Kommunikation und enge Kooperation zwischen den

Lehrenden an den einzelnen Lemorten auskommt" (Pätzold 1995, S. 4). So belegen Unter­

suchungen, daß Kontakte in der Regel nur in Not- bzw. Ausnahmefällen zustande kommen

und daß sich die Lehrenden an den verschiedenen Lemorten eine Verbesserung der Zusam­

menarbeit im Sinne einer zeitlichen und thematischen Abstimmung der Lerninhalte wünschen

(vgl. Frömsdorf 1995, S. 90 f.). Ursachen einer mangelnden Zusammenarbeit können zum

einen in gegenseitigen Vorurteilen gesehen werden, im unterschiedlichen Selbstverständnis

der Lehrenden sowie in den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Lemorte. So hat der

Berufsschule 111

Betrieb rechtlich und faktisch ein größeres Gewicht bei der Berufsausbildung. Eine Verbes­

serung der dauerhaften Beziehungen auf informeller Ebene könnte z. B. durch folgende

Maßnahmen bewirkt werden (vgl. Frömsdorf 1995, S. 90 f.; Pätzold 1995, S. 5): Informati­

onsveranstaltungen und Betriebserkundungen, gemeinsame Weiterbildungs- und Fortbil­

dungsprojekte und die Einrichtung von gemeinsamen Arbeitskreisen. Darüber hinaus werden

die gegenseitige Achtung der jeweiligen Autonomiebereiche, gegenseitiges Vertrauen und

die Überlassung von Gestaltungsfreiräumen bedeutsam.

Weiterhin könnte in zunehmendem Maße eine (binnen)differenzierte und zugleich individua­

lisierte Gestaltung der Ausbildung in der Berufsschule neue attraktive Perspektiven öffnen

(vgl. Adler, Dybowski & Schmidt 1993, S. 9; Greinert 1994, S. 393). Diese scheint nicht nur

für die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der europäischen Bildungssysteme förderlich, son­

dern scheint auch angesichts der Heterogenität der Klientel in der Berufsschule (aufgrund

unterschiedlicher soziokultureller, anthropogener und motivationaler Lemvoraussetzungen

etc.) generell eine angemessene Antwort zu sein. Denn mit einer Individualisierung geht eine

Zielgruppenorientierung einher, das heißt, es können die ganz speziflSChen Ausgangslagen

der einzelnen Betroffenen bzw. ganzer Gruppen von Betroffenen berücksichtigt werden (vgl.

Keune & Zielke 1992, S. 34). Bei einer Differenzierung schließlich sollen zu Kern- bzw.

Basisqualiftkationen spezielle zusätzliche Ausbildungsinhalte und Ausbildungsanforderungen

treten, die eine gezielte individuelle Leistungsförderung, z. B. leistungsstarker und leistungs­

schwacher junger Erwachsener (~ D, Lemschwache und Begabte), ermöglichen (vgl. Keu­

ne & Zielke 1992, S. 35). Wenn insgesamt mit der "DiversiflZierung des Lemangebots ein

erfolgversprechender Weg aus der Misere der Berufsschule" gefunden zu sein scheint

(Kutscha 1992, S. 153), sind an eine entsprechende Umsetzung einige Bedingungen ge­

knüpft, wie eine generelle Flexibilisierung der Ausbildung, eine grundlegende Umstrukturie­

rung der Berufsschule sowie ein neues Lernerbild und ein neues Lehrerselbstverständnis

(vgl. Keune & Zielke 1992, S. 35).

Dieses neue Selbstverständnis der Lehrenden hebt sich ab vom Bild des Lehrers als Fach­

mann und Stoffvermittler. Die Rolle des Lehrenden wird sich in zunehmendem Maße hin

zum Beobachter, Betreuer, Berater (Moderator) und Organisator von verstärkt schülerori­

entierten Lernprozessen entwickeln. Hier zeigt sich, daß die bisherigen folgenden Verände­

rungen gemeinsam durchgesetzt werden müssen. Zum Beispiel muß mit einer veränderten

Lehrerrolle eine Kompetenzerweiterung für Lehrer einhergehen, die vorheriger Organisati­

onsveränderungen der Institution Schule bedarf. Weiterhin beinhaltet diese neue Rolle auch

Austausch, Kooperation und Teamarbeit untereinander, das heißt, der Lehrende ist hier als

112 Lemort Schule

Lernender gefordert. Zugleich muß sich auch das bestehende Lernerbild des Lehrenden än­

dern, das von Reetz (1994, S. 13) als ein pessimistisches beschrieben wird. Der Lernende im

Unterricht wird als passives, rezeptives Objekt begriffen und nicht als aktives, handelndes,

kooperatives, selbstbestimmendes Subjekt. Damit verbindet sich zugleich, daß Schulen, Leh­

rer und Schüler mehr Möglichkeit zur Selbstorganisation erhalten und daß der Lehrer in die­

sem Zusammenhang den Lernprozessen einen höheren Stellenwert einräumt als den Lern­

produkten (vgl. Reetz 1994, S. 34). Darüber hinaus muß Schule zu dem Ort werden, in dem

die Vermittlung allgemeinen Handlungswissens im Mittelpunkt steht, das als komplementär

zu dem in den Betrieben zu vermittelnden berufsbezogenen, speziellen Handlungswissen

aufzufassen ist.

Eine Einlösung dieser Forderungen ist in der zielstrebigen und konsequenten Umsetzung

handlungsorientierter schulischer Lehr-Lernprozesse zu sehen, die nachgefragte Qualiftka­

tionen wie Team- und Kooperationsfähigkeit, Problemlösefähigkeit, Flexibilität, System­

kenntnis etc. berücksichtigen. Solche Lehr-Lernprozesse können durch den Einsatz von

Planspielen, Fallstudien, Projekten etc. initiiert werden. Allerdings zeigt sich, daß sie noch

nicht ausreichend eingesetzt werden und daß auch auf der Ebene der gesamten Schulorgani­

sation weitere Veränderungen vonnöten sind. Solche Veränderungen bahnen sich mittlerwei­

le jedoch an; dafür sprechen die zahlreichen Neuentwicklungen der gesetzlichen Verordnun­

gen für die berufsbildenden Schulen.

Eine weitere Handlungsperspektive wird in den letzten Jahren verstärkt unter dem Stichwort

Schulautonomie an den beruflichen Schulen diskutiert (-? P, Autonomiebestrebungen). Mit

diesem Begriff verbindet sich die Vorstellung, den Betroffenen in der Schule mehr Hand­

lungsfreiräume sowie mehr Eigenverantwortlichkeit im Rahmen eines unverändert politisch

wie rechtlich zu bestimmenden und zu verantwortenden Auftrages zu ermöglichen (vgl.

Lange 1995, S. 21). Diese Handlungsfreiheit bezieht sich zum einen auf pädagogisch­

unterrichtliche Entscheidungen und zum anderen auf organisatorische sowie fmanzielle Fra­

gestellungen (vgl. Lange 1995, S. 24). Dabei soll jede Schule je nach regionalen Erfordernis­

sen ein eigenständiges pädagogisches Schulproftl entwickeln können. Angeregt wurde diese

Diskussion nicht nur aus den bereits genannten veränderten Rahmenbedingungen für die

berufliche Ausbildung allgemein. Sondern gerade die permanente Verschlechterung der

Schulwirklichkeit, die sich mit den Stichworten Gewalt an Schulen, Schulmüdigkeit, Burn­

out-Syndrom, Knappheit an fmanziellen Mitteln etc. umreißen läßt, führte zum Nachdenken

über äußere und innere Schulreformen an den beruflichen Schulen (vgl. Kallbach 1994, S.

345). Die Bestrebungen hinsichtlich der äußeren Schulreform beziehen sich auf Schulbehör-

Berufsschule 113

de und Schulgesetze. Die inneren Reformen sind z. B. in organisatorischen Veränderungen

und in didaktischen Umgestaltungen zu sehen.

Festgehalten werden kann: Für die Berufsschulen eröffnet sich ein großes Entwicldungspo­

tential durch die dargestellten Reaktionsmöglichkeiten auf die veränderten Rahmenbedin­

gongen, wie

• Verstärkung der Durchlässigkeit der Ausbildungs- und Berufswege,

• Erschließung neuer Aufgabenbereiche in der Weiterbildung,

• Verstärkung der Kooperationsbeziehungen zu den Partnern in der Berufsausbildung,

• differenzierte und individualisierte Gestaltung der Ausbildung in der Schule,

• Verfestigung eines neuen Selbstverständnisses von Lehrenden und Lernenden,

• Stärkung der gegenwärtigen Bestrebungen nach Schulautonomie.

Die Nutzung dieses Entwicldungspotentials obliegt auch und gerade jeder Schule selbst, und

damit den dort Lehrenden und der Schulleitung. Von deren Lernbereitschaft, Engagement

und Kooperationsfähigkeit sowie der entsprechenden bildungspolitischen, wissenschaftlichen

und betrieblichen Unterstützung wird es wesentlich abhängen, ob sich die aufgezeigten Per­spektiven langfristig erfüllen lassen.

114 Lemort Schule

3 Merkmale schulischen Lernens

Der Begriff des Lernortes Schule ist nicht gleichzusetzen mit der Institution Schule, dem

Ort, an dem Menschen unterschiedlichen Alters zusammentreffen, "zum Zwecke der geplan­

ten und verantworteten Organisation von Erziehungs- und Unterrichtsprozessen im Auftrag

der Gesellschaft mit dem Ziel, das Leben des einzelnen und den Fortbestand der Kultur zu

sichern" (fwellmann 1981, S. 3).

Schulisches bzw. verschultes Lernen und Lehren fmdet im Rahmen der Berufsausbildung

auch jenseits von Schule statt, z. B. in überbetrieblichen Ausbildungsstätten, privatwirt­

schaftlichen Bildungszentren und im Rahmen des innerbetrieblichen Unterrichts. Überbe­

triebliche Ausbildungsstätten stellen "Einrichtungen (der Berufsbildung) außerhalb der

Ausbildungsstätte" dar (§ 27 Berufsbildungsgesetz), werden seit den 1960er Jahren insbe­

sondere im gewerblich-handwerklichen Bereich eingerichtet. Privatwirtschaftliche Bildungs­

zentren z. B. von Kreditinstituten und Versicherungen sind im kaufmännisch-verwaltenden

Bereich das Gegenstück zu den überbetrieblichen Ausbildungsstätten (z. B. Sparkassenaka­

demie). Wird die praxisgebundene Ausbildung in Betrieben zunehmend durch betrieblich

organisierte Qualiflzierungsprozesse in Lehrgangsform ersetzt, dann spricht man von Ver­

schulung (vgl. Kutscha 1990, S. 289). Mit der Verschulung fant einerseits das Privileg der

Unmittelbarkeit von Praxiserfahrungen seitens der Betriebe, andererseits wird dadurch die

schulspeziflsche Systematisierung beruflichen Lernens auf überbetriebliche Lernorte und

innerbetriebliche Schulungsanteile ausgedehnt (vgl. Dauenhauer 1997, S. 54).

Welches sind nun die Merkmale schulspeziftschen Lernens? Der Lernort Schule ist insbeson­

dere durch seinen Bildungsauftrag mit einer Betonung des pädagogischen Aspektes geprägt.

Zugleich läßt sich schulisches Lernen kennzeichnen als eine stoff-systematische, wissen­

schaftsorientierte Einführung in grundlegende Sachverhalte. Damit erklärt sich auch der

Rollenkonflikt vieler Lehrender, die sich einerseits als Pädagoge verstehen und andererseits

als Fachvertreter (~ LA, Pädagoge und Fachmann). Darüber hinaus erfolgt schulisches Ler­

nen in einem Schonraum jenseits der Praxis. Das bedeutet zugleich, daß "Fehler" keine

schwerwiegenden Folgen wie in der Berufswelt haben können. Fehler zu machen, sollte im

Schonraum der Schule vielmehr erlaubt und erwünscht sein. In organisatorischer Hinsicht

zeigt sich ferner, daß schulisches Lernen zeitlich und inhaltlich standardisiert erfolgt. So sind

45 bzw. zunehmend auch 90 Minuten dauernde Unterrichtsstunden die Regel im Schulalltag.

Die inhaltliche Standardisierung wird durch Lehrpläne, aber auch durch feste Stundenpläne

und die Fächereinteilung festgeschrieben.

Merkmale schulischen Lemens 115

Schulisches Lernen läßt sich weiterhin charakterisieren durch eine Beobachtung des

Schulalltags und der schulischen Lehr-Lernprozesse. Empirisch-analytische Analysen von

Lehrplänen, Lehrbüchern und Prüfungen sowie Unterrichtsbeobachtungen der verwendeten

Aktions- und Sozialformen im Unterricht zeigen nämlich speziftsche Merkmale schulischen

Lernens auf.

Beispielhaft sind die seit Mitte der 1970er Jahre durchgeführten Analysen von Lehrbüchern

und Lehrplänen (vgl. z. B. Krumm 1973; Rebmann 1994; Reetz 1984; Reetz & Witt 1974).

Diese Untersuchungen beziehen sich insbesondere auf den Wirtschaftslehrebereich, können

aber tendenziell auch auf andere Bereiche übertragen werden. Die Befunde ergeben ein recht

einheitliches und eindeutiges Bild: so weisen sie einen Mangel an Sozial- und Schülerbezü­

gen sowie an Realitäts- und Praxisbezügen nach. Ferner zeichnen sich Schulbücher und auch

Lehrpläne durch eine große Stofftille aus, wobei der Anteil von Detail- und Faktenwissen

überwiegt. Statt Verbundenheit und angemessener Komplexität der einzelnen Lerninhalte

dominieren Linearisierung und Isolierung der Lerninhalte, die durch ebenso defizitäre Zwi­

schen- und Abschlußprüfungen der Zuständigen Stellen (~ B, Institutionen und Organisa­

tionen) in Multiple-choice-Form (richtig/falsch-Beantwortung) für die beruflichen Schulen

festgeschrieben bzw. verstärkt werden.

Empirische Studien zur methodischen Umsetzung von schulischen Lerninhalten zeigen eine

Ein- bzw. Gleichförmigkeit des methodischen Einsatzes auf. Eine bereits in den 1980er Jah­

ren durchgeführte Studie von Hage und anderen zum "Methodenrepertoire von Lehrern"

zeigte beispielsweise auf, daß gut 75 % der Methoden in den beobachteten Unterrichtsstun­

den als Frontalunterricht zu kennzeichnen waren, gefolgt von einem lO%igen Anteil an Ein­

zelarbeit. Gruppenorientierte Arbeitsformen spielten nur eine untergeordnete Rolle (vgl.

Hage et al. 1985). Eine Untersuchung von 349 Lehrenden an kaufmännischen Berufsschulen

konnte einerseits die Dominanz des Frontalunterrichts bestätigen (86,4 % der Lehrenden

gaben an, diesen vorzugsweise umzusetzen). Andererseits spielte der Methoden-Mix eine

große Rolle. Das bedeutet: Neben dem Frontalunterricht fmden sich auch in großem Aus­

maß weitere Aktions- und Sozialformen (vgl. Rebmann in Vorbereitung). Lediglich hand­

lungsorientierte Methoden werden noch in einem relativ geringen Umfang verwendet. Dies

gilt beispielsweise für den Einsatz von Planspielen. So gaben knapp 80 % der befragten Leh­

rer und Lehrerinnen an, daß ihnen die Planspielmethode (weitgehend) unbekannt sei. Eine

Veränderung der gegenwärtigen Unterrichtspraxis hat daher insbesondere bei veränderten

Ausbildungsbedingungen angehender Lehrer und Lehrerinnen, aber auch bei veränderten

Weiterbildungsmöglichkeiten anzusetzen (~LA, Professionalisierung).

116 Lemort Schule

4 Konzepte schulischen Lernens

Welches sind die vorfmdbaren Konzepte schulischen Lernens? Basierend auf den Merkmalen

schulischen Lernens sind es insbesondere Simulationskonzepte für die Ausbildung im kauf­

männisch-verwaltenden Bereich (Bürosimulationen sowie Simulationsspiele). Hierunter fal­

len - aufgeführt nach ihrer abnehmenden Simulationsstärke - Übungsfmnen, Lernbüros,

Planspiele sowie Rollenspiele. Für den gewerblich-technischen Bereich lassen sich noch die

Produktionsschulen benennen. Sie können sowohl dem schulischen als auch dem betriebli­

chen Lernen zugerechnet werden (~ LB, Arbeiten und Lernen). Gerade für die Simulati­

onskonzepte gilt, daß sie aufgrund ihres Modellbezugs grundsätzlich ein Lernen im Modell,

aber auch ein Lernen am Modell erlauben.

Es fmden sich noch weitere Formen des schulischen Lernens. Diese sind das Lernen mit Fäl­

len, das Lernen an Projekten, das Lernen mit Lern- und Arbeitsaufgaben, das Lernen mit

Experimenten, das Lernen anhand von Leittexten sowie das computerunterstützte

(multimediale) Lernen.

Bereits im vergangenen Jahrhundert entstanden die ersten Übungsfinnen, in denen kauf­

männische Funktionen wie Einkauf, Verkauf, Lagerhaltung und Verwaltung durch die

Nachbildung der Praxis dargestellt und vermittelt werden sollten. Dabei soll in den Übungs­

fmnen der Ernstfall betrieblichen Handelns eingeübt werden, ohne daß Produkte oder

Dienstleistungen tatsächlich erzeugt werden. In den deutschsprachigen Ländern sind die

Übungsfmnen zum Deutschen Übungsfmnenring zusammengeschlossen, der insbesondere

die Außenbeziehungen für die Übungsfmnen, z. B. in Form von Banken, Finanzamt, Versi­

cherungen, Post etc. simuliert.

Übungsfmnen können in aller Regel entweder praxisergänzend oder praxisersetzend in ihrer

Funktion sein. Praxisergänzend sind sie für die kaufmännische Erstausbildung vorwiegend in

Großunternehmen. Durch eine Übungsfmna sollen Arbeitsabläufe und Arbeitszusarnmen­

hänge, die durch die zunehmende Technisierung ansonsten nicht mehr überschaubar und

verständlich sind, verdeutlicht werden. Praxisersetzend werden Übungsfmnen z. B. in der

Erstausbildung von Behinderten in Berufsbildungswerken und in der Umschulung von Er­

wachsenen in Berufsförderungswerken eingerichtet

Lernbüros sind an kaufmännischen Schulen (insbesondere Berufsfachschulen) eingerichtete

Räume der Bürosimulation eines Unternehmens. Die meisten Lernbüros werden meist nach

einem real existierenden Firmenvorbild konstruiert, allerdings stellen sie reduzierte Abbilder

Konzepte schulischen Lemens 117

dieser Originalmodelle dar. Dadurch können betriebliche Abläufe und Geschäftsvorfälle

transparenter und überschaubarer nachgebildet werden.

Lembüros wollen die Arbeiten aus dem kaufmännisch-verwaltenden Bereich handlungs- und

praxisorientiert gestalten (vgl. Achtenhagen & Schneider 1993, S. 170). Die notwendige

Realitätsnähe wird u. a. dadurch erreicht, daß diese Büros eine der Realität entsprechende

Ausstattung sowie authentische Arbeitsaufträge haben. Die Außenbeziehungen des Lembü­

ros, z. B. zu den Kunden, werden meist von den Lehrpersonen simuliert

Die Arbeit im Lembüro kann arbeitsgleich und arbeitsteilig erfolgen. Die Einführung in die

Lembüroarbeit wird in der Regel im Rahmen einer arbeitsgleichen Phase durchgeführt: alle

Schüler bearbeiten die Geschäftsvorfälle und Belege zur selben Zeit. In der arbeitsteiligen

Phase bearbeiten die Schüler in Gruppen ihren jeweils speziftschen Anteil an einem oder

mehreren Geschäftsvorflillen.

Es wird den Chinesen zugeschrieben, Erfinder des Planspiels zu sein; sie entwickelten be­

reits um 3000 v. Chr. ein Brettspiel, welches militärische Kräfte simulierte. Planspiele stellen

dynamische Modelle der Realität dar, in denen die Spieler simulierte Problemsituationen

zielgerichtet und selbsttätig lösen müssen. Bis heute wurde das Planspiel aus dem militäri­

schen Bereich auch auf den ökonomischen und administrativen Bereich übertragen, um si­

mulierte problemhaltige Ausgangssituationen auf ihre Lösungswege hin zu untersuchen, sich

für einen Lösungsweg zu entscheiden und diesen umzusetzen. Das Planspiel bietet die Mög­

lichkeit, die Konsequenzen dieser Entscheidungen und Umsetzungsmaßnahmen zu erleben.

Ein idealtypischer Ablauf eines Planspieleinsatzes stellt sich folgendermaßen dar: In der

Konstruktions- und Designphase fällt zunächst die Entscheidung für den Zugriff auf ein be­

reits existierendes Planspiel oder für die Eigenentwicklung eines Planspiels. Daran schließt

sich die Vorbereitung des Spielleiters auf das Spiel an und die Einführung der Spieler auf

Inhalt und Verfahren durch den Spielleiter. Nach der eigentlichen Spiel- oder Durchfüh­

rungsphase folgt abschließend die Auswertung der Ergebnisse sowie die notwendige Refle­

xion über die Ergebnisse, die Spielerverhaltensweisen etc.

Das Rollenspiel wurde in den 1920er Jahren entwickelt. Es ist ein Spielverfahren, in dem die

Spieler vor eine Konflikt- bzw. Problemsituation gestellt werden und diese in einer ihnen

zugewiesenen Rolle handelnd innerhalb vorgegebener Regeln bewältigen müssen. Es handelt

sich also um eine Methode, die eher personenorientiert als sachorientiert ist. Das bedeutet,

es sollen in erster Linie Verhaltensweisen trainiert werden, die Vermittlung von Sach- und

Fachwissen tritt in den Hindergrund. Vor dem eigentlichen Rollenspiel müssen in einer soge­

nannten Motivationsphase die Spieler vorbereitet werden (vgl. Kaiser & Kaminski 1994, S.

118 Lemort Schule

151). Diese Phase umfaßt neben einer Spieleinflihrung und der Rollenübertragung auch

mögliche Beobachteraufträge für die Zuschauer sowie die Vorbereitung der Rollenargumen­

tation. Nach der Rollenspielphase schließlich, die nicht länger als etwa zehn Minuten dauern

sollte, folgt - ähnlich wie beim Planspiel- die Reflexionsphase.

Mit der Gründung der Harvard Business School in Cambridge, USA, 1908 fand die Fall­

studienmethode Eingang in die Managementausbildung. Reale Fälle aus dem Wirtschaftsle­

ben mußten von Studenten bearbeitet und gelöst werden. Anleihen wurden bei der typisch

fallbasierten Ausbildung der Juristen gemacht. In Deutschland wurden zuerst Führungskräfte

der Wirtschaft mit Hilfe des Einsatzes realer Fälle aus dem Wirtschaftsalltag aus- und wei­

tergebildet, bevor diese Unterweisungsform seit einigen Jahren zunehmend in Schulen ver­

wendet wird. Nach Kaiser und Kaminski (1994 S. 127) liegt die Grundstruktur einer Fall­

studie darin,

"daß die Schüler mit einem aus der Praxis bzw. Lebensumwelt gewonnenen Fall konfrontiert werden, den Fall diskutieren, für die Fallsituation nach alternativen Lösungsmöglichkeiten suchen, sich für eine Alternative entscheiden, diese be­gründen und mit der in der Realität getroffenen Entscheidung vergleichen".

Bei der Auswahl und der Konstruktion von Fällen ist darauf zu achten, daß diese für die

Lerner subjektiv bedeutsam, problemhaltig und faßbar sowie realitätsnah und widerspruchs­

frei sind (vgl. Reetz 1988, S. 148 ff.).

Die Idee des Lernens am Projekt entstand Anfang des 18. Jahrhunderts in den Kunstaka­

demien in Italien und Frankreich und wurde ein Jahrhundert später in den technischen Hoch­

schulen aufgegriffen. Das Projekt stellt hier jeweils die von den Studierenden selbständig zu

erstellende Abschlußarbeit dar. Demnach stellt ein Projekt ein Vorhaben dar, bei dem die

Lerner in Gruppen ein Problem bzw. eine authentische und komplexe Aufgabenstellung

weitgehend selbständig und selbsttätig planen, realisieren und auswerten. Nach Gudjons

(1986 S. 57 ff.) lassen sich zehn Merkmale von Projektunterricht ausmachen. Hierzu zählen

u. a. der Situationsbezug, die Selbstorganisation und Selbstverantwortung, die zielgerichtete

Projektplanung, die Produktorientierung, das soziale Lernen, das Einbeziehen vieler Sinne

und die Interdisziplinarität

Der Verlauf eines Projektes läßt sich in Form von Phasen beschreiben (vgl. Frey & Frey­

Eiling 1993). Nach der Projektinitiative, die nicht nur vom Lehrenden, sonden auch von den

Schülern ausgehen sollte, wird eine Projektskizze angefertigt. Auf die Auseinandersetzung

mit dem Ergebnis der Projektskizze folgen schließlich die Schritte der Projektplanung, Pro­

jektdurchführung und Projektbewertung.

Konzepte schulischen Lemens 119

Lern- und Arbeitsaufgaben werden vorzugsweise dann eingesetzt, wenn es gilt, einen

technischen Sachverhalt zu erschließen. Sie erfordern das instrumentelle Handeln und in

Verbindung mit einer teamorientierten Gestaltung des Lernprozesses auch das kommunika­

tive Handeln. Wird beruflicher Unterricht durch Lern- und Arbeitsaufgaben gestützt, können

Schüler über den zu bearbeitenden technischen Sachverhalt Kenntnisse erwerben, deren Ein­

bettung in berufsförmig organisiertes Arbeiten erfahren und Fertigkeiten in der sach- und

fachgerechten Handhabung und Bedienung von Werkzeugen und Maschinen entwickeln.

Didaktisch tragfähig werden Lern- und Arbeitsaufgaben dann, wenn sie einen Problemgehalt

aufweisen und auch zu persönlich sinnstiftendern Handeln auffordern. Dies ist in der Regel

der Fall, wenn sie nicht nur technisch zweckrationales Handeln anfordern, sondern auch Fra­

gen zur Bedeutung dieses Handelns für die Gestaltung der beruflichen Lern- und Arbeitsum­

gebung aufwerfen. Im Idealfall fmden Lern- und Arbeitsaufgaben ihre Entsprechung im tat­

sächlichen Ablauf technischer Prozesse im Betrieb (vgl. Pah11997, S. 64 ff.).

Lern- und Arbeitsaufgaben waren in der DDR sehr verbreitet. Derzeit werden sie im Zu­

sammenhang mit der Entwicklung dezentraler Konzepte des beruflichen Lernens verwendet,

in denen Arbeiten und Lernen wieder verknüpft werden (~ LB, Arbeiten und Lernen).

Lern- und Arbeitsaufgaben stellen dort die Bindeglieder dar, mit denen Lernen am Arbeits­

platz mit dem Anspruch eines systematischen Lernens vermittelt werden soll, indem Erfah­

rungswissen, das am Arbeitsplatz erworben wurde, theoriegeleitet zum strukturierten Fach­

wissen verallgemeinert wird. Mit den Lern- und Arbeitsaufgaben als Kernstück können

Lehr-Lernarrangements zu didaktischen Konzepten weiterentwickelt werden, in denen

selbstorganisiertes Lernen und Arbeiten in Teamarbeit befördert werden (vgl. Höpfner 1996,

S. 179 f.).

Das technische Experiment wird vorzugsweise in gewerblich-technischen Berufsausbildun­

gen angewendet (vgl. Pahl1997, S. 84 f.). Es ist die geplante und kontrollierte Einwirkung

auf einen technischen Gegenstand. Angeleitet durch Hypothesen, Theorien und systemisch

entwickelte Handlungsstrategien gewinnt das technische Experiment die Qualität eines wis­

senschaftsorientierten Lernens. Beim technischen Experiment gilt es also, das technische

Verhalten eines Gegenstandes theoriegeleitet zu beobachten, zu beschreiben und zu erklären.

Es unterscheidet sich vom naturwissenschaftlichen Experiment, das Kausalzusammenhänge

erforscht, indem es auf Finalität angelegt ist: Beim technischen Experiment gilt es, Wissen

über die Voraussetzungen und Bedingungen des Verhaltens von technischen Gegenständen

zu e!Werben, um dieses Wissen dann auf die praktische Bearbeitung von Realaufgaben zu

übertragen. In einem weiten Sinne ist das technische Experiment deshalb dem entwickelnden

und forschenden Lernen im Unterricht zuzurechnen.

120 Lernort Schule

Die Leittextmethode wird seit den 1970er Jahren vor allem im gewerblich-technischen

Ausbildungsbereich eingesetzt. Ursprünglich war sie integrativer Bestandteil der aufkom­

menden Projektausbildung in Großunternehmen (vgl. Kaiser & Kaminski 1994, S. 245) (~

LB, Konzepte betrieblichen Lernens (vgl. Schaubild 4». Mittlerweile werden Leittexte auch

im kaufmännisch-verwaltenden Ausbildungsbereich angewendet

Der Leittextmethode liegt der Gedanke der vollständigen Handlung mit den Elementen des

Informierens, Planens, Entscheidens, Ausführens, Kontrollierens und Aus- bzw. Bewertens

zugrunde. Um Auszubildende zu entsprechenden Handlungen zu befähigen, werden Leittex­

te eingesetzt. Leittexte sind meist schriftliche Materialien, die den Lernprozeß der einzelnen

Lernenden insoweit strukturieren, daß der einzelne weitgehend selbständig im eigenen

Lerntempo die ihm gestellte Arbeitsaufgabe lösen kann. Anstelle von schriftlichen Unterla­

gen oder als Kombination mit diesen können z. B. auch Bilder, Kassetten, Ftlme und Com­

puter(lern)programme als Leittexte herangezogen werden. Leittexte haben neben der gestell­

ten Arbeitsaufgabe noch folgende Bestandteile, die gemeinsam einen vollständigen Hand­

lungsablauf befördern sollen: Leitfragen, Arbeitspläne, Kontrollbögen und Leitsätze. Leitfra­

gen als zentrale Elemente sollen die Lerner anleiten, sich ziel- und zweckgerichtet Informa­

tionen zu beschaffen (vgl. Koch & Selka 1991, S. 20). Auf der Basis der beschafften Infor­

mationen und der vorliegenden Unterlagen müssen die Lerner dann einen Arbeitsplan ent­

wickeln, den der Ausbilder begutachtet. Kontrollbögen dienen der Beurteilung der Arbeits­

ergebnisse. Hierfür enthalten die Kontrollbögen zu beachtende Qualitätsmerkmale (vgl.

Koch & Selka 1991, S. 20). Leitsätze schließlich enthalten alle Sachinformationen, die zur

Aufgabenbewältigung notwendig sind. Während der gesamten Leittextausbildung können die

Auszubildenden darüber hinaus durch fest integrierte Fachgespräche mit dem Ausbilder un­

terstützt und gefördert werden.

Im Zusammenhang mit den sich rasch entwickelnden Computertechnologien ist die Entste­

hung der Idee des computerunterstützten Lernens zu sehen. Insbesondere mit der Ent­

wicklung der Mikrocomputer Ende der 1970er Jahre setzte die Diskussion um Möglichkei­

ten und Grenzen des computerunterstützten Lernens verstärkt ein. Mit dem Begriff des

computerunterstützten Lernens verbindet sich die Vorstellung, daß der Computer ein Werk­

zeug des Lernens ist, das den Lernprozeß unterstützt (vgl. Euler 1992, S. 11). Ein einheitli­

ches computerunterstütztes Lernen existiert nicht Es gibt vielmehr verschiedene Varianten

des Lernens mit Hilfe des Computers (vgl. Greinert 1997, S. 156 f.). Es lassen sich tutorielle

Ansätze fmden, die dem Lernen und Üben nach defmierten Programmen zuzuordnen sind,

und in der Tradition zur Programmierten Unterweisung stehen. Darüber hinaus existieren

Konzepte schulischen Lemens 121

Varianten, deren Kernstück die Interaktion des Lernenden mit dem Computer ist. Ferner

lassen sich Formen differenzieren, die auf der Grundlage selbständiger Lemsteuerung und

Lernkontrolle des Lerners basieren. Aktuell wird das Lernen im Internet verstärkt diskutiert

(vgl. Gross, Langer & Seising 1997).

122 Lernort Schule

5 Schule und Wirtschaft

Die Berufsausbildung in Deutschland fmdet überwiegend in Form des dualen Systems statt.

Etwa zwei Drittel aller Jugendlichen eines Geburtenjahrganges durchlaufen die mit der be­

ruflichen Erstausbildung beauftragten Institutionen Betrieb und Berufsschule. Die berufliche

Erstausbildung wird in ihrem betrieblichen Anteil auf Bundesebene vom Berufsbildungsge­

setz geregelt und in ihrem schulischen Anteil sind die Länder mit ihren jeweiligen Schulge­

setzen zuständig (~ R, Rechtlich-institutionelle Grundlagen). Das Zusammenwirken von

Betrieb und Berufsschule wird bundesweit durch das sogenannte Gemeinsame Ergebnispro­

tokoll vom 30.05.1972 rechtlich-institutionell verankert und wird bei der Abstimmung von

Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen zwischen der Bundesregierung und den Kul­

tusministern bzw. -senatoren praktiziert (~ B, Abstimmung und Koordination). Eine dar­

über hinausgehende kontinuierliche Kooperation und Koordination zwischen Betrieb und

Berufsschule ist rechtlich-institutionell nicht verankert und fmdet auch nicht statt. Sie voll­

zieht sich jedoch auf örtlich punktueller, informeller Ebene. Hierzu zählen z. B. Zusammen­

treffen von Ausbildern und Berufsschullehrern in Prüfungsausschüssen der Zuständigen

Stellen (~ B, Institutionen und Organisationen), Kontakte im Rahmen von Ausbildungsver­

suchen von Einzelbetrieben und einzelnen Schulen, Fachtagungen unter anderem von Ge­

werkschaften, Hochschulen, Berufsverbänden und Zuständigen Stellen sowie freiwillige Ar­

beitskreise. Hierin läßt sich ein gemeinsames Interesse an Fragen der beruflichen Erstausbil­

dung erkennen. Der Zugang zu solchen Fragen ist dabei seitens der Schulen und seitens der

Betriebe zum Teil recht unterschiedlich.

Folgende Auswahl an Beispielen soll dies verdeutlichen. Hinsichtlich der Ausbildungsorgani­

sation stehen die Betriebe tendenziell für eine flexiblere Gestaltung, während die Berufsschu­

len eine kontinuierliche Ausgestaltung wünschen. Hinsichtlich der Ziele und Inhalte steht

eine relativ enge fachlich-qualiftkationsbezogene Ausrichtung der Ausbildungsbetriebe den

schulischen Interessen der Vermittlung beruflicher Allgemeinbildung gegenüber. Hinsichtlich

der Lernorganisation haben Betriebe ein starkes Interesse an einer flexibleren Gestaltung der

Reihenfolgenplanung der Ausbildungsabschnitte, während Schulen an einer einheitlichen, an

ihren Lehrplänen orientierten Sequenzierung interessiert sind.

Diese unterschiedlichen Interessenslagen müssen zwischen den Beteiligten ausgehandelt

werden. Die Praxis lehrt, daß hierbei nicht nur konsensuales Handeln erfolgt, sondern auch

Konfliktlinien entstehen, die zu Verweigerungen, aber auch zu Koalitionen führen.

Der Fall "Hamburger Bündnis für Ausbildung" zeigt eine solche Konfliktlinie auf: Im laufen­

den Jahr wurden von der bundesdeutschen Wirtschaft 7,4 % weniger Ausbildungsplätze zur

Schule und Wirtschaft 123

Verfügung gestellt, obgleich etwa 7 % mehr Jugendliche einen Ausbildungsplatz suchten.

Vor diesem Hintergrund haben sich in verschiedenen Bundesländern sogenannte Bündnisse

für Ausbildung zusammengefunden. Gewerkschaften, Schulbehörden, Vertreter aus Politik,

Zuständige Stellen (Kammern) und Arbeitgeberverbände verfolgen das gemeinsame Ziel,

mehr Ausbildungsplätze zu schaffen, wenn es zugleich gelingt, die Berufsausbildung den

aktuellen wirtschaftlichen Anforderungen entsprechend anzupassen (~ B, Bildungspoliti­

sehe Streitfälle). Das Hamburger Bündnis für Ausbildung einigte sich am 14.02.1997 auf

folgende Eckpunkte (vgl. o.V. 1997, S. 2 f.):

• Flexibilisierung des Berufsschulunterrichts,

• Integration von Inhalten der überbetrieblichen Ausbildung in den Berufsschulunterricht,

• Differenzierung des Berufsschulunterrichts nach Beruf und Vorbildung der Auszubilden-

den,

• Einleitung einer Curriculumreform,

• Sportförderung für Auszubildende im Rahmen des Vereinssports,

• Verlängerung der Ausbildungszeit für lembeeinträchtigte Jugendliche,

• Verkürzung der Unterrichtszeit durch Anrechnung schulischer Vorleistungen.

Die Flexibilisierung des Berufsschulunterrichtes kann nach den Vorstellungen des Bündnis­

ses verschiedene Formen annehmen. So sollen Betriebe künftig je nach Betriebsbedarf zwi­

schen Teilzeit- und Blockunterricht für ihre Auszubildenden wählen können. Auch Kombi­

nationen aus beiden Organisationsformen sind möglich. Darüber hinaus soll der Berufsschul­

tag in der Teilzeitform nunmehr acht Stunden umfassen. Damit entfallen die sogenannten

freien Nachmittage. Der Blockunterricht soll zwischen 36 und 40 Wochenstunden umfassen.

Schließlich soll.auch die Ausbildung in der Berufsschule konzentriert stattfmden können,

wenn es z. B. saisonale Erfordernisse notwendig machen. Über die tatsächlich durchzufüh­

rende Organisation des Berufsschulunterrichts soll ein zu schaffender Lenkungsausschuß

befmden, dem Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern sowie der Schulbehörde angehö­

ren. Über eine mögliche Integration von Inhalten der überbetrieblichen Ausbildung in den

Berufsschulunterricht sollen auch die oben genannten Lenkungsausschüsse befmden.

Die Differenzierung des Berufsschulunterrichts nach Beruf und Vorbildung der Auszubil­

denden soll ermöglichen, daß einerseits Inhalte des berufsschulischen Unterrichts reduziert

werden können (z. B. Anteile des allgemeinbildenden Unterrichts für Abiturienten) und daß

andererseits auch zusätzliche Inhalte hinzugenommen werden können (z. B. Fremdsprachen­

unterricht und Förderangebote).

Mit einer Differenzierung des Berufsschulunterrichtes muß auch die Einleitung einer Curricu­

lumreform einhergehen. Hierbei ist insbesondere der stärkere Berufsbezug einzuarbeiten

124 Lemort Schule

sowie die Berücksichtigung der unterschiedlichen Vorbildungen der Schüler. Die Sportför­

derung für Auszubildende im Rahmen des Vereinssports soll den zu streichenden Berufs­

schulsportunterricht ersetzen.

Die Verlängerung der Ausbildungszeit für lembeeinträchtigte Jugendliche (~ D, Lem­

schwache und Begabte) soll ein Jahr betragen. Hierbei wird der Berufsschulunterricht in

seinem bisherigen zeitlichen Umfang belassen, so daß dieses Jahr der Ausbildungszeit des

Ausbildungsbetriebes zugeschlagen wird. Verkürzungen der Unterrichts zeit durch Anrech­

nung schulischer Vorleistungen sind insbesondere für die berufsvorbereitenden Bildungsgän­

ge vorgesehen und können entweder sechs oder zwölf Monate ausmachen.

Neben den genannten Eckpunkten verständigten sich die Mitglieder des Bündnisses für

Ausbildung noch auf zwei weitere Maßnahmen, von denen sie sich eine positive Belebung

der Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt versprechen. Diese Maßnahmen beinhalten

den Modellversuch "Kooperative Berufsfachschulen" und die Erprobung neuer Wege für

Jugendliche ohne Hauptschulabschluß.

Wenngleich das Ziel verfolgt wurde, das Angebot an Ausbildungsplätzen zu erhöhen, traten

Konflikte hervor, die dazu führten, daß die Gewerkschaften am 18.03.1997 aus dem Bündnis

für Ausbildung ausschieden. Sie befürchteten, daß die Qualitätsstandards der Berufsschulen

drastisch reduziert würden und hinter den einzelnen Flexibilisierungsbestrebungen die gleiche

und einzige Intention, nämlich die betrieblichen Ausbildungszeiten auf Kosten der berufs­

schulischen Anteile zu erhöhen, steckten (vgl. Ammonn 1997, S. 3).

In der Diskussion: Doppelqualijikation /25

6 In der Diskussion: Doppelqualifikation

Bereits vor 20 Jahren entbrannte die Debatte um Doppelqualifikation und Integration von

beruflicher und allgemeiner Bildung. Ziel war die Aufwertung beruflicher Bildung, um die

historisch bedingte und belastende Trennung von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung

wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest abzuschwächen. Die neuerliche Wiederbelebung

dieser Diskussion ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Zahl der Studierenden die Zahl

der Auszubildenden zu überflügeln scheint Darin kommt zum Ausdruck, daß berufliche

Qualifikationen eine geringere individuelle Wertschätzung erfahren als insbesondere die all­

gemeinbildenden Qualifikationen des Gymnasiums, die zum Hochschulstudium berechtigen.

Lutz (1991 S. 31 f.) spricht in diesem Zusammenhang von der meritokratischen Logik: Hö­

here allgemeinbildende Bildungsabschlüsse versprechen mehr gesellschaftliche Privilegien,

höheren sozialen Status und höhere berufliche Positionen. Dies erklärt die quantitative Zu­

nahme der Klientel in Gymnasien und Hochschulen. Zugleich werden traditionelle Berufs­

ausbildungsgänge zunehmend entwertet und marginalisiert

Insgesamt lassen sich verschiedene Konzepte ausmachen, die dem gemeinsamen Ziel der

Herstellung von Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung dienen (vgl. Bremer

1996, S. 153). Hierunter fallen die Modellkonstruktion der Ergänzung der Allgemeinbildung

durch berufliche Grundbildung und der Versuchsansatz der Annäherung und Verzahnung

beruflicher und allgemeiner Bildung. Ferner wird das Modell der Integration beruflicher und

allgemeiner Bildung diskutiert

Im Modell der Ergänzung der Allgemeinbildung durch berufliche Grundbildung werden die

allgemeinbildenden Oberstufen durch eine berufliche Orientierung erweitert. In der Praxis

wird dies allerdings dadurch realisiert, daß die allgemeinbildenden Fächer lediglich durch ein

weiteres Fach ergänzt werden, das Berufsbezug aufweist Die Folge ist zumeist ein Absen­

ken des Berufsbildungsniveaus (vgl. Bremer 1996, S. 154 f.). Zugleich wird durch diesen

Modellansatz die Frage, ob sich "Bildung im Medium des Beruflichen" verwirklichen läßt,

gar nicht erst gestellt. Das gilt im übrigen auch für das nachfolgende Modell. Im Modell der

Annäherung werden zunächst allgemeinbildende und berufliche Fächer auf mögliche Ent­

sprechungen in ihren Inhalten überprüft. Aus der dabei sich ergebenden Schnittmenge wer­

den dann sogenannte polyvalente Kurse entwickelt und Gleichwertigkeit beruflicher und

allgemeiner Bildung lediglich über die Gleichartigkeit von Inhalten begründet (vgl. Bremer

1996, S. 156).

126 Lernort Schule

Besondere Bedeutung kommt dem Konzept der Integration beruflicher und allgemeiner Bil­

dung zu. Den wohl bekanntesten Versuch der Integration beruflicher und allgemeiner Bil­

dung stellen die Kollegschulen seit den 1970er Jahren in Nordrhein-Westfalen dar. Die Kol­

legschule ist eine neue organisatorische Einheit und besteht aus der gymnasialen Oberstufe

und Bildungsgängen der beruflichen Schulen. Ziel dieser Schulform ist es, ihren Schülern

mehrere Bildungsgänge und Abschlußmöglichkeiten anzubieten. Die Unterrichtsorganisation

der Kollegschule basiert deshalb auf einem Kurssystem, in dem der Besuch von Basis- und

Spezialkursen für mehrere Bildungsgänge und Abschlüsse anrechnungsfähig ist.

Ein weiteres Beispiel ist der Modellversuch "Schwarze Pumpe", der 1993 initiiert wurde.

Ziel dieses Modellvorhabens ist die Ausbildung in den staatlich anerkannten Ausbildungsbe­

rufen Industriemechanikerin und Energieelektronikerin bei gleichzeitigem Erwerb der Fach­

hochschulreife innerhalb der regulären Ausbildungszeit von 3,5 Jahren (Höpfner 1996, S.

292). Dabei soll die Vorbereitung auf das Studium (Wissenschaftspropädeutik) sowohl in

der beruflichen Schule als auch innerhalb der betrieblichen Ausbildung durch eine Integration

der Inhalte und der didaktisch-methodischen Ausgestaltung von schulischem und betriebli­

chem Lernen erfolgen (vgl. Höpfner 1996, S. 293). Ähnlich konzipierte Modellversuche

laufen für den Baubereich in Rostock und an drei Standorten in Sachsen (vgl. Buggenhagen

et al. 1996; Höpfner, Telgkaemper & Walter 1996). Auch im europäischen Ausland sind

verschiedene Varianten der Doppelqualiftkation feststellbar. Gemeinsam ist diesen Ausprä­

gungen, daß berufliche Qualiftkationen zugleich mit der (fachgebundenen) Hochschulreife

vermittelt werden. Unterschiede können in der Art der Vermittlung von beruflicher und all­

gemeiner Bildung aufgezeigt werden (vgl. Manning 1996, S. 134 f.).

Die konsequente Umsetzung der Idee der Doppelqualiftkation stellt an den Lernort Schule

verschiedene Anforderungen (vgl. Bremer, Heidegger, Schenk, Tenfelde & Uhe 1993, S.

155 ff.). Zunächst ist die Verknüpfung verschiedener Schulformen integrativ und nicht addi­

tiv zu leisten. Sodann brauchen Schulen didaktisch-curriculare Konzepte beruflichen Ler­

nens, die sicherstellen, daß die Ausbildungsziele auch tatsächlich in kürzerer Zeit erreicht

werden können. Neben der Erhöhung der Effektivität beruflichen und allgemeinen Lernens

müssen diese Konzepte auch eine Binnendifferenzierung erlauben. Das Prinzip der Hand­

lungsorientierung sollte dabei durchgängig als das Prinzip des Lernens und Lehrens in der

Berufsausbildung herangezogen werden.

Nicht nur Schülerinnen und Schüler müssen Kompetenzen erwerben, auch die Lehrerinnen

und Lehrer. So sind beispielsweise insbesondere deren didaktisch-methodischen Kompeten­

zen hinsichtlich der Umsetzung des Prinzips der Handlungsorientierung weiterzuentwickeln.

In der Diskussion: Doppelqualifikation 127

Lehrende müssen lernen, Lernumgebungen fach-, berufs- und berufsfeldübergreifend zu ge­

stalten. Dies setzt u. a. den Aufbau und Ausbau von Kommunikationsstrukturen mit betrieb­

lichem Ausbildungspersonal voraus (~ B, Abstimmung und Koordination; ~ LA, Betriebli­

ches Ausbildungspersonal).

128 Lernort Schule

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Strukturbegriff:

Lernort Betrieb

1 Betriebliche Lernorte

Rahmenbedingungen

Ausbildung ~===-J-~~p~~~-p"L-t=:~Zielsetzungen der Lehrer und der Ausbilder

Lernort Betrieb

Wenn vom Lernort Betrieb die Rede ist, dann ist damit umgangssprachlich gemeint: Der

Betrieb ist eine wirtschaftliche und organisatorische Einheit, in der Güter produziert und

Dienstleistungen erbracht werden. Solche Betriebe sind Handwerksbetriebe, Industriebetrie­

be, Bankbetriebe, Handelsbetriebe, Versicherungsbetriebe u. a. Wenn diese Betriebe auch

ausbilden oder weiterbilden, dann handelt es sich offenbar um einen Lernort Betrieb. Mit

dieser Vorstellung vom Lernort Betrieb kommen wir allerdings in Schwierigkeiten, wenn sie

an der Praxis überprüft wird.

Nahezu jede Arbeit im Betrieb bietet zugleich auch Lernchancen. Gelernt wird auch am Ar­

beitsplatz und nicht nur in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Ein Betrieb mit Ar­

beitsplätzen ist deshalb immer auch ein Ort des Lernens, auch dann, wenn das Lernen dort

nicht institutionalisiert ist zum Beispiel in der Form von Ausbildungsplätzen oder in der

Lehrwerkstatt. Ein Ort des Lernens ist ein Betrieb auch dann, wenn dieses Lernen nicht ge­

regelt ist beispielsweise durch Ausbildungsordnungen oder Weiterbildungsprogramme.

Es gibt nun aber auch Einrichtungen der beruflichen Bildung, z. B. Berufsbildungswerke

oder Berufsförderungswerke, die berufliche Ausbildung, Weiterbildung und Umschulung

leisten, ohne Betriebe im oben genannten Sinne zu sein. Und wie sind Rechtsanwalts-, No­

tar-, Arzt- bzw. Zahnarztpraxen, Apotheken und Steuerberatungsbüros zu verstehen? Dort

wird ausgebildet. Zählen sie deshalb auch zum Lernort Betrieb? Wie verhält es sich mit der

132 Lernort Betrieb

Produktionsschule? Ist diese Einrichtung eine Schule, wie der Name sagt? Oder ist sie ein

Betrieb, weil dort Güter und Dienstleistungen produziert bzw. erstellt und vermarktet wer­

den?

Außerdem gibt es das Berufsbildungsgesetz, dessen § 27 besagt:

"Die Ausbildungsordnung kann festlegen, daß die Berufsausbildung in geeigne­ten Einrichtungen außerhalb der Ausbildungsstätte durchgeführt wird, wenn und soweit es die Berufsausbildung erfordert."

Dies ist z. B. der Fall in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Ungefähr 80 % der Aus­

zubildenden im Handwerk besuchen zeitweise solche überbetrieblichen Ausbildungsstätten.

Sind diese überbetrieblichen Ausbildungsstätten deshalb auch als Lernort Betrieb anzusehen,

obwohl sie doch nichts produzieren und keine Dienstleistungen auf einem Markt anbieten,

sondern nur ausbilden?

In dieser mißlichen Situation, den Lernort Betrieb auf Anhieb nicht genau bestimmen zu

können, vermag das Berufsbildungsgesetz weiterzuhelfen. Es nimmt in § 1 (5) zumindest

einige Festlegungen vor:

"Berufsbildung wird durchgeführt in Betrieben der Wirtschaft, in vergleichbaren Einrichtungen außerhalb der Wirtschaft, insbesondere des öffentlichen Dienstes, der Angehörigen freier Berufe und in Haushalten (betriebliche Berufsausbildung) sowie in berufsbildenden Schulen und sonstigen Berufsbildungseinrichtungen außerhalb der schulischen und betrieblichen Berufsausbildung."

Schaubild 1 zeigt die Lernorte der Berufsbildung im Überblick.

I ~rnort Betrieb 1 ___ 1 Schule 1___ sonstige Berufsbildungs-_ _ _ _ einrichtungen ~ ~--~~

r-----'-----, Betriebe der Wirtschaft

des öffentI. Dienstes

vergleichbare Einrichtungen außerhalb der

Wirtschaft

IHauShalte

Schaubild 1: Lernorte der Berufsbildung gemäß § I Berufsbildungsgesetz

Betriebliche Lemorte 133

Als Lemort Betrieb im Sinne des Berufsbildungsgesetzes gelten Wirtschaftsbetriebe

(einschließlich überbetrieblicher Ausbildungsstätten, soweit diese mit einem Betrieb verbun­

den sind), der öffentliche Dienst, die freien Berufe und die Haushalte. Zum Lemort Betrieb

zählen hingegen nicht die sonstigen Berufsbildungseinrichtungen, wie z. B. Berufsbildungs­

werke und Berufsförderungswerke. Auch die Produktionsschule zählt nicht zum Lemort

Betrieb im Sinne des Gesetzes.

134 Lemort Betrieb

2 Lernort "Betriebe der Wirtschaft"

Mit der Einschränkung auf den Lemort "Betriebe der Wirtschaft" wird zugleich auch festge­

legt, daß sich dessen Bedeutung aus dem wirtschaftlichen Handeln der Betriebe ergibt. An­

ders und pointiert formuliert: Berufliche Bildung ist, soweit sie über den Lemort Betrieb

vermittelt wird, dann effektiv, wenn sie nachweislich eine rentable Investition in

"Betriebskapital" ist, mit der der Betrieb seine wirtschaftlichen Ziele, nämlich Sachgüter zu

produzieren und Dienstleistungen zu erbringen, mit dem geringstmöglichen Einsatz von Res­

sourcen erreicht.

Betriebliche Qualifizierung orientiert sich deshalb nicht etwa primär an einem Naturrecht des

Menschen auf Bildung im Sinne eines Individualrechtes oder an einem gesellschaftlichen

Auftrag zur Integration junger und auch alter Menschen in unsere Sozialsysteme (~ BWP,

Beruf; ~ BWP, Pädogogik). Sie bedeutet primär ökonomisch sinnvolle Verwertung von

Arbeitskraft. Beispiele aus der Entwicklung der industriellen Produktion und der kaufmänni­

schen Verwaltung können diese Ansicht bekräftigen. Ein erstes Beispiel ist der

(teil)automatisierten Produktion entnommen, wie sie zumindest noch in den 1970er Jahren

als typischer Fall industrieller Produktion angesehen wurde.

Die Industrialisierung in der Nachkriegszeit wurde geprägt durch eine rigorose Taylorisie­

rung. Mit "Taylorisierung" ist die konsequente Umsetzung der "Grundsätze einer wissen­

schaftlichen Betriebsführung" gemeint, die der amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor

im Jahre 1913 vorlegte. Die einfache Logik dieser Prinzipien liegt in der Erkenntnis begrün­

det, daß durch die Automatisierung von gleichartigen Tätigkeiten die Wirtschaftlichkeit be­

trieblicher Prozesse der Produktion und Dienstleistung verbessert wird. Besonders ein­

drucksvoll wurden diese Prinzipien in der Fließfertigung der Automobilindustrie vorgeführt,

die für andere Funktionsbereiche und Branchen Modellcharakter hatte, auch wenn dort das

Ideal einer Fließfertigung nicht ganz erreicht wurde. Beispiele für die Übertragung tayloristi­

scher Prinzipien einer Automatisierung von gleichartigen Tätigkeiten auf andere betriebliche

Funktionsbereiche sind die Einrichtung von Arbeitsplätzen für Steno- bzw. Phonotypistinnen

und deren räumliche Zusammenfassung in einem Schreibsaal sowie die strikte Trennung von

kaufmännischer Sachbearbeitung und elektronischer Datenverarbeitung.

Soweit die Prinzipien einer "wissenschaftlichen Betriebsführung" auf Produktion und kauf­

männische Verwaltung angewandt wurden, verschärfte sich das Problem einer Kluft zwi­

schen Ausbildung und betrieblicher Realsituation, in der Lempotentiale und Lemchancen

Lemort "Betriebe der Wirtschaft" 135

eines ganzheitlichen und erfahrungsbezogenen Lemens schwerlich auszumachen waren (vgl.

Schaubild 2).

Produktions-, Arbeits- und Organisationskonzept in der (tcil)automaUsierten Produktion:

Trennung von Kopf- und Handarbeit rigorose Arbeitsteilung (Arbeitsz.erlegung mit ldea1fall Fließfertigung) Spe7.ialisicrung Koonlination über Pläne, Programme, Siellenbeschreihunge Konfiguration der Weisungs- und Leitungsheziehungen: ßürokratiemodell mit liefgestaffelten Hierarchien

C'·~'--"~

Vorau~set7,ungcn der ßenlrsausbildung 3m Lemort Betrieb: abnehmende Lemchancen und l.empolenliale im unmittelharen Arbcit.<;pr01.cß zunehmend abslraklere ArbciL'Itlttigkeilen abnehmende sinnliche (gam:heitlidle) Erfaßbarkeit und Erfahrbarkeit Wis~nsba')ierung der Qualifikationen

Kluft zwischen Berufsausbildung und betrieblicher Realsituation

onsequenzen rur die Berufsaushildung am Lernort Retrieb: Zentralisierung der Berufsausbildung in der Au. .. hildungsabteilung und Abkoppelnng von der Produklion 7'coLralislische Ausbildung.'li;lufieilung Systematisierung der Berufsausbildung in Lehrg1:\ngen Orientierung der Ausbildungsinhalle an fachlicher und fochwis~n5Chafl!icher Did.,ktik Slufenmetboden des bemmchen I.emens

Schaubild 2: Lemort Betrieb in der (teil)automatisierten Produktion

Die betriebswirtschaftlich begründeten Anforderungen einer auf Arbeitsteilung, Spezialisie­

rung und Massenproduktion begründeten Arbeitsorganisation an die Berufsausbildung haben

sich seit den 1980er Jahren nachhaltig geändert. Auslöser waren wohl die mit den neuen

Technologien möglichen, aber auch notwendigen Umstellungen auf neue Produktions-, Ar­

beits- und Organisationskonzepte. Auch hier waren es wieder produktionswirtschaftliche

Ziele, auf die der Lemort Betrieb zu reagieren hatte (vgl. Schaubild 3).

136 Lemort Betrieb

.,.---bewirken , \ haben

'-.

Schaubild 3: Aktuelle betriebswirtschaftliche Anforderungen am Lemort Betrieb

Um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben, muß heute permanent Produktinnova­

tion betrieben werden. Betriebe müssen bei aller Spezialisierung dennoch flexibel genug sein,

ihre Produktion kurzfristig umstellen zu können. Kunden sind heute nicht mehr mit Produk­

ten aus der Massenfertigung zufriedenzustellen. Gefragt ist die variantenreiche Produktion

mit kurzfristiger Lieferbereitschaft

Die Umsetzung dieser neuen Produktionskonzepte geht einher mit beweglichen Arbeitsab­

läufen und Arbeitsstrukturen. Je nach wechselnden Auftragslagen müssen Arbeitsabläufe und

Arbeitseinsätze auch mit wechselnden Qualiftkationsanforderungen umorganisiert werden.

Das heißt aber auch, daß Mitarbeiter flexibel genug sein müssen, diese neuen Arbeitseinsätze

und Arbeitsplätze an- und einzunehmen, und daß Qualiftkationspotentiale nicht erst in lang­

wierigen Qualiftzierungsprozessen aufgebaut werden müssen. Sie müssen bereits im Arbeits­

prozeß selbst und kontinuierlich erworben werden: Lernen muß mit Arbeiten verknüpft wer­

den. Des weiteren treten mit der schrittweisen Auflösung der starren Produktion nach dem

Prinzip der Fließfertigung Gruppen und Teams an die Stelle des einzelnen Arbeiters in der

Fließfertigung.

Um die neuen Produktionskonzepte der flexiblen Spezialisierung und variantenreichen Pro­

duktion organisatorisch abzusichern, kommen komplexe Logistiksysteme zum Einsatz bei

Lemort "Betriebe der Wirtschaft" 137

gleichzeitiger Auflösung der starren hierarchischen Konfiguration von Weisungs- und Lei­

tungsbeziehungen. Wie die Produktion muß auch die Organisation "schlanker" werden. Per­

sonalentwicldung kann dann aber nicht mehr allein als Entwicldung von Personal begriffen

werden. Personalentwicldung muß auch einen Beitrag zur Organisationsentwicldung ablie­

fern.

Das Schlagwort von der "lernenden Organisation", einer Organisation, die solches Lernen

ermöglicht, das die Organisation entwickelt und zugleich auch neue Lemmöglichkeiten für

weitere Organisationsentwicldungen schafft, macht derzeit die Runde (~ LA, Kooperative

Selbstqualiftkation).

Schlagwortartig lassen sich auch die über den Lemort Betrieb zu vermittelnden Qua1ifikatio­

nen skizzieren: Zukünftige Mitarbeiter müssen "über den Tellerrand" ihres jeweiligen Ar­

beitsplatzes hinausblicken können. Sie müssen Einsicht in betriebliche Arbeitsstrukturen ha­

ben, in Systemen denken können, die Gestaltbarkeit von Arbeitsstrukturen erkennen und die

vorhandenen Gestaltungsfreiräume im beruflichen Handeln eigenverantwortlich nutzen. Sie

müssen als Gruppe Verantwortung tragen rlir die produzierte Qualität aber auch für die

Fehler, die sie machen. Sie müssen an der kontinuierlichen Verbesserung von Produkt und

Prozeßabläufen mitwirken und das selbständige Entscheiden und Steuern lernen (~ LA,

Betriebliches Ausbildungspersonal; ~ P, Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit; ~ P,

Systemische Sichtweise).

138 Lernort Betrieb

3 Merkmale betrieblichen Lemens

Halten wir fest: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Gestaltung betrieblicher

Bildungsarbeit haben sich in vielen Wirtschaftsbereichen und Betrieben erheblich geändert

(vgl. Oberbeck 1997). Dadurch begünstigt, tritt neben systematisches und zentral organisier­

tes betriebliches Lernen das situativ gestaltete Lernen in Lernarrangements. Darüber hinaus

sind Mischformen beider Konzepte betrieblicher Bildungsarbeit anzutreffen. Wohin die wei­

tere Entwicklung gehen wird, kann zur Zeit niemand vorhersagen. Damit eröffnen sich aber

für berufs- und wirtschaftspädagogische Überlegungen zur alternativen Gestaltung betriebli­

chen Lernens beträchtliche Spielräume. Zugespitzt stellt sich die Frage: "Situatives oder sy­

stematisches Lernen?" (vgl. Uhe 1994a).

Beim systematischen Lernen sind die Lernorte im Betrieb zentrale Einrichtungen wie Ausbil­

dungswerkstatt und Schulungsraum für betrieblichen Unterricht. Hinzu kommen eine Reihe

von Arbeitsplätzen, die für das Lernen vor Ort herangezogen werden (vgl. Fulda, Meyer,

Schilling & Uhe 1994). Besonders die Ausbildungswerkstatt ist fester Bestandteil einer sy­

stematischen Ausbildung. Sie ist in der Regel von der Produktion getrennt. Betriebliches

Lernen in der Ausbildungswerkstatt orientiert sich nicht unmittelbar an den Produktionsbe­

dingungen im Betrieb, sondern primär an den Anforderungen von Zwischen- und Abschluß­

prüfungen (vgl. Uhe 1994a, S. 190 f.). Charakteristisch für die systematische Ausbildung ist

die Lehrgangsform, gelegentlich kombiniert mit leittextgestütztem Selbstlernen (~ LS,

Konzepte schulischen Lernens).

Situatives Lernen ist Lernen in der Realsituation. Es ist Lernen am Arbeitsplatz, Lernen bei

der Arbeit und durch die Arbeit. Situatives Lernen wird dort befördert, wo Qualiflkationen

benötigt werden, die nur durch die Arbeit selbst und nicht allein in einer systematisch ange­

legten Ausbildung von Einzelfertigkeiten erworben werden können. Im Idealfall sind die für

situatives Lernen geltenden Strukturen bereits in den Strukturen des Arbeitshandelns ange­

legt. Im situativen Lernen werden Leistungsmotivation und Arbeitsfreude befördert nicht

zuletzt auch deshalb, weil die Auszubildenden für ihr eigenes Arbeits- und Lemhandeln mit­

verantwortlich sind. Die Beförderung von Selbständigkeit und Zielorientierung sind bedeu­

tende Ziele situativen Lernens am Lernort Betrieb (vgl. Uhe 1994a, S. 191).

Konzepte betrieblichen Lemens 139

4 Konzepte betrieblichen Lernens

Systematisches und situatives Lernen markieren die Eckpunkte für mögliche Konzeptent­

wicklungen betrieblichen Lernens. Beispiele für Konzepte betrieblichen Lernens sind das

betriebliche Lernen nach dem Imitationsprinzip, die Drei-Stufen-Methode, die Vier-Stufen­

Methode und die Leittextmethode.

Beim Imitationslernen, wie es seit dem Mittelalter praktiziert wird, führt der Meister oder

Ausbilder einen Arbeitsvorgang vor, und der Lehrling bzw. Auszubildende macht die Aufga­

be nach. Das Imitationslernen ist auch heute noch fester Bestandteil betrieblicher Bildungs­

arbeit, auch wenn es nicht mehr mit diesem Begriff belegt wird.

Die Drei-Stufen-Methode des "Vormachen-Nachmachen-Üben" versteht sich von selbst

Die qualitativ nächste Entwicklungsstufe ist die Vier-Stufen-Methode, die in der amerikani­

schen Kriegswirtschaft entwickelt wurde, um mit Hilfe dieser Methode qualifizierte männli­

che Arbeitskräfte, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden, möglichst schnell durch Unge­

lernte bzw. Angelernte und Frauen zu ersetzen. Die Vier-Stufen-Methode besteht aus den

Schritten: Vorbereiten, Vormachen, Nachmachen und Üben. Diese Methode war bis in die

1950er Jahre hinein die dominierende Ausbildungsmethode im Betrieb und wird auch heute

noch praktiziert.

Als eine modeme Methode betrieblicher Bildungsarbeit gilt die Leittextmethode (vgl.

Schaubild 4) (~LS, Konzepte schulischen Lernens).

1. Was soU getan werden?

Leitfragen Leitsätze

6. Was muß beim nächsten Mal 2.

besser gemacht werden? Wie geht man vor?

Fachgespräch mit dem I. ArbeiL'plan

Ausbilder Informieren Kontrollbogen

Lempaß Liste der Arbeitsmiuel

I 6. 2. I Bewerten Planen

5. ~ T 3.

Ist der Auftrag fachgerecht I 5. 3. I Fertigungsweg und

gefertigt? Kontrollieren Entscheiden Betriebsmittel fcst.1cgcn Fachgespräch mit dem

Kontrollbogen 4. Ausbilder Ausflibren

4. Fertigen des Werkstilckes

Auftragsbearbeitung

Schaubild 4: Grundschema des Lelttextsystems (vgl. Pätzold 1996, S. 178)

140 Lernort Betrieb

Die Leittextmethode umfaßt in idealtypischer Form die sechs Schritte: Informieren, Planen,

Entscheiden, Ausführen, Kontrollieren und Bewerten. Unter dem Gesichtspunkt des von den

Neuordnungen geforderten selbständigen Planens, Durchfuhrens und Kontrollierens gewinnt

diese Methode besonderen Wert (~ B, Abstimmung und Koordination). Von den sechs

Schritten ist der dritte besonders wichtig, weil der Auszubildende bei diesem Schritt ange­

regt wird, Entscheidungen in Absprache mit dem Ausbilder über den Fortgang des Arbeits­

vorgangs zu treffen. Wichtig ist außerdem der qualitative Unterschied zwischen dem fünften

und dem sechsten Schritt: "Kontrollieren" meint den Soll-Ist-Vergleich des Auszubildenden

selbst, während der sechste Schritt eine Gesamtbewertung des Lernvorgangs von außen in

einem Gespräch mit dem Ausbilder einschließt

Diesen methodischen Konzepten des betrieblichen Lernens können verschiedene Lernarran­

gements zugeordnet werden: innerbetrieblicher Unterricht, Ausbildungswerkstatt, Lehrecke,

Leminsel, Qualitätszirkel und Iuniorftrma (vgl. Uhe 1994a, S.191 ff.).

Der innerbetriebliche Unterricht kann in systematischer Weise die praktische Unterwei­

sung ergänzen. Besonders dann, wenn Auszubildende Erfahrungen in der betrieblichen Pra­

xis nur noch eingeschränkt machen können und betriebliche Ausbildung großenteils nur noch

wissensbasiert erfolgen kann, kommt dem innerbetrieblichen Unterricht eine große Bedeu­

tung zu. Darüber hinaus bereitet innerbetrieblicher Unterricht auf Prüfungen vor, ergänzt den

Unterricht in der Berufsschule und befördert lernschwächere Schüler (~ LS, Berufsschule;

~ D, Lernschwache und Begabte).

Am Beispiel der Ausbildungswerkstatt wurden bereits Merkmale des systematischen Ler­

nens erläutert.

Mit der Ausbildungswerkstatt vergleichbar ist die Lehrecke. Sie wird zumeist in der Nähe

von Arbeitsplätzen eingerichtet. Dies geschieht hauptsächlich dann, wenn eine direkte

Vermittlung arbeitsplatzrelevanter Qualifikationen entweder nicht möglich oder unwirt­

schaftlich ist

Ein Beispiel, das systematisches und situatives Lernen verknüpft, ist das arbeitsplatzgebun­

dene betriebliche Lernen in Lerninseln (vgl. Schaubild 5).

Konzepte betrieblichen Lernens 141

Schaubild 5: Lernen in der Lerninsel

Lerninseln werden mitten im Produktionsprozeß eingerichtet. Sie sind in eine Arbeitsumge­

bung mit der besonderen Zielrichtung eingebettet, das selbständige Planen, Organisieren,

Durchführen und Kontrollieren in Gruppen- und Teamarbeit zu befördern. Die Lernenden

erproben in den Lerninseln unterschiedliche Produktionsweisen und versuchen, Produktin­

novationen zu bewirken, indem sie Alternativen zum Produktions-, Arbeits- und Organisati­

onskonzept der Produktionshauptlinie entdecken. In Lerninseln werden von den Mitarbeiter­

gruppen Kommunikation und Kooperation, aber auch Konfliktbearbeitung verlangt. Die

Gruppen übernehmen auch Mitverantwortung für die Qualität ihrer Arbeit und damit auch

für Fehler, die sie machen. Hierfür werden ihnen, anders als den Mitarbeitern in der Hauptli­

nie, begrenzte Entscheidungs-, Gestaltungs- und Handlungsfreiräume zugestanden. Auszu­

bildende und Mitarbeiter in den Lerninseln müssen darüber hinaus ihr eigenes Qualifizie­

rungskonzept z. B. als Rotationsmodell entwerfen und entwickeln.

Lerninseln eignen sich deshalb nicht nur für die berufliche Erstausbildung, sondern auch für

die betriebliche Weiterbildung von Mitarbeitern in den Bereichen von neuen Produktions-,

Arbeits- und Organisationskonzepten (~ Z, Berufliche Handlungsflihigkeit).

142 Lemort Betrieb

Ein erstes Beispiel für die Ausprägung von Konzepten betrieblichen Lemens nach Merkma­

len des situativen Lemens ist der Qualitätszirkel. In Qualitätszirkeln werden einzelne Pro­

bleme, die am Lemort Betrieb, d. h. in der Aus- und Weiterbildung, erfahrbar und für den

Prozeß der betrieblichen Leistungserstellung von grundsätzlicher Bedeutung sind, gleichsam

ausgelagert und in einer eigenen Arbeitsgruppe einer Problembearbeitung zugeführt. Solche

Probleme können beispielsweise sein: hohe Produktion von Ausschuß, Probleme der Ar­

beitssicherheit, der Bewertung von Gruppenleistungen, Schwierigkeiten in der innerbetriebli­

chen Kommunikation usw.

Wie in der Lerninsel geht es auch im Qualitätszirkel um die Umsetzung produktionswirt­

schaftlicher Ziele in neue Produktions-, Arbeits- und Organisationskonzepte.

Qualitätszirkel gehen jedoch darüber hinaus, indem sie auch Mitarbeiter aus dem Produkti­

ons- und Dienstleistungsbereich in den Qualitätszirkel integrieren. Damit soll erreicht wer­

den, daß die gefundenen Problemlösungen nicht nur zu Veränderungen in der Aus- und

Weiterbildung, sondern auch in Produktion und Dienstleistung eingehen (vgl. Schaubild 6).

Veränderungen müssen dann nicht mehr "verordnet" werden, sie sind gemeinsam erfahrbare

oder bereits erfahrene Verbesserungen, die dadurch leichter akzeptiert werden können, daß

sie in eigenen Erfahrungen gründen, selbst erarbeitet und erprobt wurden. Qualitätszirkel

gehen deshalb über die Gruppenmodelle der Umsetzung neuer Produktions-, Arbeits- und

Organisationskonzepte hinaus. Sie sind fast schon mit Beteiligungsmodellen einer Mitgestal­

tung von Produktion, Arbeit und Organisation zu vergleichen.

Produktion, Dienstleistung

Aus- und Weiterbildung

Schaubild 6: Lernen im Qualitätszirkel zwischen Aus- und Weiterbildung

Konzepte betrieblichen Lemens 143

Ein weiteres Beispiel für die Ausprägung von Konzepten betrieblichen Lernens nach Merk­

malen des situativen Lernens ist die Juniorfinna, die vor allem für betriebliches Lernen im

kaufmännisch-verwaltenden Bereich bedeutsam ist (vgl. Schaubild 7).

I Juniorfmna

rechtlich abhängig von

I Unternehmung I

Schaubild 7: Lernen in der Juniorfnma

Bei der Juniorftrma handelt es sich um eine "kleine" Firma in einer "großen" Firma Junior­

fnmen entstehen zumeist dann, wenn die große Firma Produktionsteile auslagert, weil sie

beispielsweise diese Teile nicht mehr selbst fertigen will oder aber deren Fertigung gezielt für

Ausbildungszwecke zur Verfügung stellt. Eine Juniorfnma umfaßt nahezu alle Geschäftsbe­

reiche einer großen Firma von der Produktionsplanung über die kaufmännische Verwaltung

bis zur Gestaltung von Ausbildung. Allein die rechtliche Vertretung nach außen (Verträge

mit Lieferanten und Kunden, gerichtliche Vertretung u. a.) wird von der großen Firma aus­

geübt, weil eine Juniorfnma in der Regel zwar ein kleiner Betrieb, aber keine eigenständige

Unternehmung mit einer eigenen Rechtsform ist. Im Gegensatz zu den Übungsfnmen wird in

der Juniorfnma echte Ware gegen echtes Geld mit allen Konsequenzen wie Einkauf, Ver­

kauf, Personalwirtschaft, Produktion und Rechnungswesen verkauft (~ LS, Konzepte schu­

lischen Lernens).

144 Lernort Betrieb

5 Betrieb und Gesellschaft

Betriebliches Lernen fmdet nicht in einem Raum statt, der von wirtschaftlichen und gesell­

schaftlichen Entwicklungen abgeschinnt ist (~ BWP, Systemzusammenhänge). Wohin diese

Entwicklungen führen werden, ist nicht prognostizierbar. Angesichts solcher Unsicherheiten

scheint es deshalb begründet zu sein, betriebliche Bildung im Spannungsfeld von Betrieb und

Gesellschaft in Szenarien zu skizzieren.

Ein Szenarium könnte die Wiederentdeckung und kontinuierliche Weiterentwicklung des

Arbeitsplatzes als Lernort beschreiben. Ein zweites Szenarium könnte an der aktuellen Frage

nach der Einstiegsqualiftkation für berufliche Weiterbildung ansetzen (0. V. 1996).

Erstes Szenarium: Wiederentdeckung des Arbeitsplatzes als Lernort (vgl. Uhe 1994b): Ler­

nen am Arbeitsplatz, bei der Arbeit und durch die Arbeit wird in einer auffallenden Häufung

von einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum eigentlichen Wesensmerkmal

beruflichen Lernens erklärt. Vergleichbares geschieht in der Praxis: Ausgehend von Bran­

chen, in denen die Einführung der neuen Produktions- und Arbeitsorganisationen schnell

voranschreitet, wird das Prinzip der systematischen Ausbildung allmählich vom situativen

Lernen abgelöst, bei dem der Arbeitsplatz zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt be­

trieblichen Lernens wird. In der Realsituation verschmelzen zunehmend Arbeiten und Ler­

nen. Das produktionsunabhängige Lernen wird auf seine wesentlichen Funktionen be­

schränkt. Dafür wird aber die motivierende Funktion einer Verbindung von Arbeiten und

Lernen am Lernort Betrieb neu entdeckt. Auszubildende lernen wieder, für ihre Arbeitsvoll­

züge auch die Verantwortung zu übernehmen und ihre Bedeutung im Betriebsganzen zu

erkennen. Sie lernen auch, Selbständigkeit handelnd zu gewinnen. Isolierter Erwerb von

Fertigkeiten und rein theoretisches Lernen treten in den Hintergrund. Jeder Arbeitsplatz wird

daraufhin geprüft, ob er sich auch als Lernplatz eignet. Indem Arbeiten und Lernen mitein­

ander verschränkt werden, orientiert sich Arbeiten verstärkt am Individuum und seinen

Qualiftkationen.

Zweites Szenarium: Berufsausbildung als Einstiegsqualiftkation für berufliche Weiterbildung

(vgl. o. V. 1996): Dieses zweite Szenarium ist gekennzeichnet durch eine beträchtliche Ab­

weichung von der Entwicklung im ersten Szenarium. Wenn die Berufsausbildung als eine

Einstiegsqualiftkation für berufliche Weiterbildung gesehen wird, dann reicht eine circa

zweijährige Ausbildung in Basisqualiftkationen, wie sie beispielweise für alle Mechanikerbe­

rufe notwendig ist. Diese strategische, d. h. langfristig tragende Komponente der Berufs­

ausbildung wird kontinuierlich ausgebaut. Nach dieser verkürzten Ausbildung durchlaufen

Auszubildende je nach Leistungsfähigkeit spezielle Einweisungs- und Traineeprogramme, die

Betrieb und Gesellschaft 145

inhaltlich und betriebsbezogen auf die geplanten betrieblichen Tätigkeitsbereiche abgestimmt

sind. Auch diese marktorientierte Komponente beruflicher Bildung setzt sich zunehmend

durch. Der Leistungsfähigkeit entsprechend werden auch die Ausbildungsvergütungen diffe­

renziert: Während der zweijährigen Basisqualifizierung wird eine geringe Ausbildungsvergü­

tung, während der Weiterqualifizierung je nach Ertragswert der geleisteten Arbeit eine ge­

staffelte höhere Weiterqualifizierungsvergütung gewährt. Während der Basisqualiftkation

wird eine enge Kooperation mit der Berufsschule angestrebt. In der Weiterqualifizierungs­

phase dagegen ist die Berufsschule außen vor.

Diese Szenarien beschreiben Zukunftsvisionen: Die eine Vision zeichnet ein Bild von der

zunehmenden Pädagogisierung des Lernortes Betrieb. In der zweiten Vision werden zukünf­

tig mehr oder weniger qualifizierte Arbeitskräfte gebraucht, die gezielt auf betriebliche An­

forderungen vorzubereiten sind und die einen Deckungsbeitrag zum unternehmerischen Ge­

samterfolg abzuliefern haben. Allein die Tatsache, daß zwei so unterschiedliche Szenarien

durchaus annehmbare Beschreibungen von möglichen Entwicklungen enthalten, könnte auch

die Erkenntnis befördern, daß das Verhältnis von Betrieb und Gesellschaft noch gestaltbar

ist

146 Lernort Betrieb

6 Arbeiten und Lernen

Dort wo der Einsatz neuer Technologien zu nachhaltigen Veränderungen in der Nutzung

neuer Produktions-, Organisations- und Arbeitskonzepte geführt hat, bieten sich auch neue

Möglichkeiten des Lernens am Arbeitsplatz. Diese Möglichkeiten schließen die Verknüpfung

von einzelnen Arbeitsverrichtungen zu komplexen Arbeitshandlungen ein. Sie stellen Ar­

beitshandeln in einen strategischen Zusammenhang der Wertschöpfung, d. h., daß die eigene

Arbeitsleistung als Beitrag zur betrieblichen Produktion und Dienstleistung erkannt und an­

erkannt wird. Verknüpft damit sind erweiterte MögliChkeiten der Mitbestimmung und Mit­

gestaltung am Arbeitsplatz. Wenn Arbeitsprozesse in der Verknüpfung von Arbeiten und

Lernen ihren repetitiven Charakter verlieren, darf erwartet werden, daß betrieblich organi­

sierte Arbeit auch zur Beförderung von Lemmotivation, Sinnverstehen der eigenen Arbeits­

leistung, Bereitschaft zur Kooperation mit anderen und letztlich auch zur Identiftkation mit

den Unternehmenszielen im Sinne einer corporate identity beiträgt.

Ausprägungsformen dieser Verknüpfung von Arbeiten und Lernen sind beispielsweise Pro­

duktionsinsel, Qualitätszirkel, Juniorftrma und Lemecke. Ein weiteres Beispiel ist die Pro­

duktionsschule. Obwohl sie nicht dem Lemort Betrieb zugerechnet wird, soll sie an dieser

Stelle vorgestellt werden, weil sie viele Merkmale betrieblichen Lernens aufweist und als

Alternative zum betrieblichen Lernen im dualen System diskutiert wird. Produktionsschulen

lassen sich zudem eindeutiger auf eine Verpflichtung zur Persönlichkeitsentwicklung im

Medium beruflichen Lernens ein.

Produktionsschulen sind Schulen, in denen Vorstellungen einer ganzheitlichen Persönlich­

keitsentwicklung im Konzept der Verknüpfung von Arbeiten und Lernen, so wie es bei­

spielsweise auch in den Juniorftrmen anzutreffen ist, verfolgt werden. Produktionsschulen

vertreten den Gedanken der Persönlichkeitsentwicklung jedoch weitaus konsequenter inso­

fern, als sie Arbeiten und Lernen in einen pädagogischen Schonraum einstellen, der einer

Funktionalisierung von Arbeitskraft für produktionswirtschaftliche Zwecke weitestgehend

entzogen ist, ohne dabei jedoch den Gedanken der fmanziellen Absicherung der beruflichen

Ausbildung und Weiterbildung durch den Verkauf produzierter Güter und Dienstleistungen

aufgeben zu müssen (vgl. Mayer 1997).

Daß sich gerade heute Produktionsschulen wieder in der berufspädagogischen Diskussion

befmden, ist als ein tiefsitzendes und angesichts sich verringernder Chancen auf einen Aus­

bildungsplatz vielleicht auch berechtigtes Mißtrauen gegenüber den Versprechungen einer

Arbeiten und Lernen 147

Versöhnung von Wirtschaftlichkeit und Pädagogik zu verstehen. Befürworter von Produkti­

onsschulen stehen der Vision von der Pädagogisierung des Lernorts Betrieb skeptisch ge­

genüber. Das neuerliche Interesse an Produktionsschulen mag auch als konsequentes Behar­

ren auf dem pädagogischen Prinzip der Beförderung von Selbstfmdung, Selbstbestimmung

und Selbstentwicklung im Gegensatz zur Fremdbestimmung durch die Institution Wirt­

schaftsbetrieb zu sehen sein (vgl. Arnold 1994, S. 22 f.).

An den Produktionsschulen zeigt sich aber auch das Dilemma einer möglichst radikalen päd­

agogischen Sichtweise auf eine berufliche Bildung im Konzept der Verknüpfung von Arbei­

ten und Lernen und des Beharrens auf einer Pädagogisierung von Arbeitsverhältnissen: Die

tatsächlichen Marktverhältnisse gestatten Produktionsschulen im allgemeinen nur ein Dasein

in Nischen unseres Wirtschaftssystems. Produktionsschulen wenden sich mit ihrem Angebot

an diejenigen, die "Opfer der Qualifizierungsoffensive" geworden sind. Es sind diejenigen,

die für den Lernort Betrieb nicht erreichbar sind oder bei denen sich eine berufliche Qualifi­

zierung für den Lernort Betrieb nicht rechnet (~ BWP, Wirtschaft).

Produktionsschulen als genuin pädagogische Antwort auf einen Lernort Betrieb, der berufli­

che Bildung auch nach ökonomischen Gesichtspunkten gestaltet, fmden wir deshalb vor al­

lem in der Entwicklungshilfe, dort also, wo es Wirtschaftsbetriebe mit einem Lernort Betrieb

nicht gibt. Sie sind aber auch in Dänemark weit verbreitet, wo durch ein eigenes Produkti­

onsschulgesetz der pädagogische Schonraum abgesichert wird, um Arbeitslose, Lernschwa­

che oder sozial benachteiligte Jugendliche, an denen der Lernort Betrieb ohnehin kaum In­

teresse hätte, ausbilden zu können. Sie sind ferner auch dort anzutreffen, wo sich diese Kon­

zepte außerhalb von Konkurrenz, Wettbewerb und Markt etablieren lassen. So z. B. in Bre­

men, wo für die Produktion öffentliche Aufträge bearbeitet werden, häufig aus solchen Be­

reichen des Umweltschutzes, für die derzeit noch keine Angebote von Wirtschaftsbetrieben

zu erwarten sind.

In der Typologie von Produktionsschulen ist als "höchste" Form die Lernfabrik ausgewie­

sen. In der Lernfabrik entsteht ein hohes Maß an Komplexität allein schon dadurch, daß alle

betrieblichen Funktionsabläufe zum Lerngegenstand gemacht werden (vgl. Hass 1997). In­

dem betriebswirtschaftlich-kaufmännische mit fertigungstechnischen Tätigkeiten im Lern­

und Arbeitshandeln verknüpft werden, entstehen komplexe Handlungsstrukturen, die das

reale berufliche Arbeitshandeln abbilden. Schaubild 8 zeigt die Grundstruktur einer Lernfa­

brik.

148

Lemfabrik P AULA

EntwicklunglFertigung

Gewerbliche

Berufsschule

Berufsschule

VertriebN erwaltung

Fertigung

Ausbildungs­

betrieb

Schaubild 8: Grundstruktur einer Lemfabrik (Hass 1997, S. 183)

Lemort Betrieb

Komplexe Strukturen des Lern- und Arbeitshandelns fordern komplexe betriebsdidaktische

Konzepte an. Andernfalls würden sie auf das niedrigere Maß an Komplexität zurückgeführt,

das weniger anspruchsvolle Modelle zuläßt. Der höheren Komplexität einer Verbindung von

Arbeiten und Lernen könnte deshalb das Konzept des integrierten Lernens für die Beförde­

rung von Handlungskompetenz angemessen sein (vgl. Tenfelde & Uhe 1996, S. 104 ff.) (~

Z, Berufliche Handlungsfähigkeit; ~ P, Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit). Die

höhere Komplexität des Lernens ergibt sich durch die kreisstrukturelle Modellierung dieses

Konzeptes (vgl. Schaubild 9). Dadurch unterscheidet es sich deutlich beispielsweise von den

komplexitätsreduzierenden Konzepten der Stufenmethoden.

Arbeiten und Lernen

I. Komponente:

1. Relation: Erzeugen effektiven Wissens im Erklären und Überprüfen => (wiss.) Methoden­kompetenz

Zusammenfassung früherer und jetziger Erfahrungen zu Wissen; Koordination im Rahmen operativer Schemata

2. Komponente: Tatsächliches Herstellen von Vorstellungen durch Operieren im Milieu => Gestaltungskompetenz

=> Sachkompetenz

2. Relation: Entwickeln von Rationalitäts­definitionen (Begriffssysteme, Grammatik, Logik, Mathematik) => Fähigkeit zum sinnvollen Abstrahieren

3. Relation: Entwickeln und Überprüfen von Normen und ethischen Imperativen => moralische Kompetenz

3. Komponente: Selbst( !)verwirklichung in einem Netzwerk dauerhafter sozialer Beziehungen => Sozialkompetenz (kommunikative und sprachliche Kompetenz)

149

Schaubild 9: Modell des integrierten Lemens zur Beförderung von Handlungskompetenz

Im Konzept des integrierten Lemens wird effektives Wissen in der Verknüpfung von Erfah­

rungen erzeugt. Nur solches Wissen wird zu effektivem Wissen, das im Rahmen von Hand­

lungen, genauer im Rahmen von operativen Schemata, erzeugt wird. Deshalb sind die Be-

150 Lemort Betrieb

dingungen für den Erwerb effektiven Wissens durch Verknüpfen von Arbeitserfahrungen

günstiger einzuschätzen als Wissenserwerb durch Umfüllen von einem Kopf in den anderen.

Erfahrungswissen kann im Gestalten von konkreten Arbeitsabläufen und Arbeitsergebnissen

überprüft werden. Es kann als "richtig" bestätigt (veriftziert) oder als "falsch" (falsiftziert)

widerlegt werden. Im letzteren Fall muß das Erfahrungswissen so verändert werden, daß

erklärt werden kann, warum sich das Wissen als "falsch" erwiesen hat bzw. erweisen mußte.

In diesem Prozeß von Überprüfung und Erklärung im Rahmen von konkreten Arbeitsprozes­

sen entsteht Methodenkompetenz. So stellt auch hier die Verknüpfung von Arbeiten und

Lernen günstige Bedingungen für die Beförderung von Gestaltungskompetenz und Metho­

denkompetenz bereit

Wird das Gestalten von Arbeitsprozessen und Arbeitsergebnissen systematisch in Gruppen­

arbeit und Gruppenlernen eingebettet, werden nicht nur sprachliche und kommunikative

Kompetenz, sondern auch die gegenseitige Verständigung auf moralische und ethische Vor­

stellungen vom Wert und Nutzen der eigenen Arbeit und ihrer Ergebnisse befördert. Eine

Beförderung von moralischer Kompetenz im gemeinsamen (sozialen) Handeln fmdet in der

Verknüpfung von Arbeiten und Lernen deshalb günstige Voraussetzungen, weil betriebliches

Arbeiten nicht notwendigerweise mit Wertvorstellungen von Auszubildenden übereinstim­

men muß, sondern letztlich in ökonomischen Zielsetzungen des Betriebes begründet ist. Ler­

nen und Arbeiten im Betrieb ist primär fremdbestimmtes, jedenfalls kein selbstbestimmter

Lernvorgang. Deshalb eignet sich die Verbindung von (fremdbestimmtem) Arbeiten und

(selbstbestimmtem) Lernen besonders auch zur Beförderung von moralischer Kompetenz im

Betrieb (~ BWP, Systemische Innovationsleistung).

Schließlich eignet sich die Verbindung von Arbeiten und Lernen auch für die Beförderung

von Abstraktionsfähigkeit, gilt es doch hierbei, den tatsächlichen Gebrauchswert beispiels­

weise von Fachbegriffen und Fachsprache, Logik und Mathematik sowohl zur gegenseitigen

sprachlichen und kommunikativen Verständigung in der Gruppenarbeit und zur Erzeugung

von Erfahrungswissen zu nutzen und zu bewerten. Ein Lernen von Abstraktionen wie grafi­

schen Darstellungen, Schaubildern, Begriffssystemen und mathematischen Formeln um ihrer

selbst willen wird im integrierten Lernen dagegen sehr schnell als sinnloses Lernen erkannt.

Literatur 151

Literatur

Amold, R. (1994). Berufsbildung: Annäherungen an eine evolutionäre Berufspädagogik. Balbnannsweiler: Schneider.

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Pätzold, G. (1996). Lehrmethoden in der beruflichen Bildung (2. Aufl.). Heidelberg: Sauer. Taylor, F. W. (1913/1977). Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. Weinheim:

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Ein Entwurf von Otto Laudi. berufsbildung, 41, S. 33-34.

StrukturbegrifT:

Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens

1 Didaktik - Fachdidaktik

IWunenbedingungen

Ausbildung ~==-~~.LrF~~~-p.,L-}=:~ZielsetzUngen de<Leh=und der Ausbilder

Lernort Betrieb

lichen Lernens und Lehrens

In einer sehr allgemeinen Form kann Didaktik beschrieben werden mit der Frage, wer, was,

wann, mit wem, wo, wie, womit, warum lernen soll. Mit dieser allgemeinen Umschreibung

von Didaktik allein ist es aber nicht getan, denn neben der Allgemeinen Didaktik haben sich

verschiedene spezielle Didaktiken etabliert: schulformspezifische, schulstufenspezifische und

schulfachspezifische Didaktiken, Technikdidaktik, berufsbildende Didaktiken etc. Aus diesen

speziellen Didaktiken haben sich auch die Fachdidaktiken zu besonderen wissenschaftlichen

Disziplinen entwickelt

Obwohl Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik gleichermaßen die Unterrichtswirklichkeit

erforschen, stehen sie in einem Spannungsverhältnis. Die Allgemeine Didaktik beschränkt

sich bisher darauf, allgemeine Strukturmodelle für unterrichtliches Handeln zu entwickeln,

während die Fachdidaktik den Fachunterricht konkret gestalten und dafür Handlungsempfeh­

lungen bereitstellen will. Das Spannungsverhältnis entsteht also dadurch, daß Allgemeine

Didaktik häufig im Allgemeinen verharrt, während die Fachdidaktik als kaum verallgemeine­

rungsfähig angesehen wird (~ LA, Theorie-Praxis-Problem).

Fachdidaktiken stellen wissenschaftliche Disziplinen dar, die sich zumeist relativ unabhängig

voneinander entwickelt haben und die sich mit dem institutionalisierten und fachlich geordne­

ten Unterrichten beschäftigen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Pädagogik bzw. Er-

154 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens

ziehungswissenschaft und Fachwissenschaften als Bezugsdisziplinen. Dieser Zusammenhang

ist vielfältig denkbar und auch tatsächlich vorfmdbar (vgl. Schaubild 1).

. : Fach-lFachwlssen-~ di- Erziehungs-schaften ~ dak- It-' wissenschaft

!tik

Sonderpädagogik

Schaubild 1: Zusammenhänge zwischen Fachdidaktik, Fachwissenschaft und Erziehungs­wissenschaft (Kuhlmeier & Uhe 1992, S. 129 f.)

Zusammenhänge zeigen sich u. a. an der wissenschaftssystematischen Einbindung der Fach­

didaktiken an den Hochschulen. So bestehen an manchen Universitäten eigenständige Insti­

tute für Fachdidaktik. An anderen wiederum sind die Fachdidaktiken bei der Erziehungswis­

senschaft angesiedelt Die meisten Fachdidaktiken sind jedoch den Fachwissenschaften an­

gegliedert. Die Vielfalt, mit der Fachdidaktiken in den Hochschulen eingerichtet wurden,

zeigt an, daß es sich hierbei auch um wissenschafts- und bildungspolitische Entscheidungen

handelte.

Fachdidaktiken beziehen sich immer auf Lehrerausbildung, wenngleich auch betriebliches

Lehren und Lernen in der Weiterbildung unter fachdidaktischen Gesichtspunkten betrachtet

Didaktik - Fachdidaktik 155

werden kann. Oftmals zeichnen sie sich deshalb durch ein ausgeprägtes schulformspezifi­

sches Denken und eine Betonung des exemplarischen Lernens aus. Fachdidaktiken, die enge

Bezüge zur Lehrerausbildung suchen, bearbeiten das Legitimationsproblem, das heißt die

Auswahl von Zielen und Inhalten des Lernens, aus einer wissenschaftssystematischen Sicht­

weise auf fachlich geordnetes Lehren und Lernen. Dabei orientieren sie sich an den jeweili­

gen Fachwissenschaften.

Wenn die Fachwissenschaft die Fachdidaktik dominiert, ist das Schulfach eine Bezugswis­

senschaft im kleinen: Ziele und Inhalte der Fachdidalctik werden aus der Fachwissenschaft

"abgeleitet". In polemisierender Absicht wurden diese Fachdidalctiken deshalb auch

"Abbilddidaktiken" genannt. Gegen diese Auffassung von Fachdidaktik kann kritisch einge­

wendet werden, daß sie keine originäre Fragestellung hat, sich nur noch mit dem Vermitt­

lungsproblem beschäftigt und dadurch zur Fachmethodik wird. Eine Fachdidaktik, die sich

nur an Fachwissenschaften orientiert, vermag den Jugendlichen nicht als Lernenden zu be­

trachten und kann deswegen auch keine Relevanz- und Selektionskriterien für Entscheidun­

gen über Inhalte und Ziele eines Unterrichtsfaches anbieten.

In der kritischen Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlich orientierten Didaktiken ent­

standen Alternativen, die sich dem Vorwurf, Abbilddidaktiken zu sein, entzogen. Dazu zäh­

len Fachdidaktiken, die sich an beruflichen Anforderungen orientieren. Zu nennen sind auch

Ansätze, die komplexe Lebens- und Handlungssituationen von Jugendlichen zum Ausgangs­

punkt fachdidaktischer Reflexion machen (~LA, Fachmann und Pädagoge).

Die Fachdidaktik steht also im sehr komplexen Problemfeld einer Bestimmung ihres wissen­

schaftlichen Standortes zwischen Erziehungswissenschaft, Fachwissenschaft und Allgemei­

ner Didaktik. Darüber hinaus steht die Fachdidalctik unter dem besonderen Anspruch, nicht

nur didaktische Analyse, sondern auch die didaktische Konstruktion zu leisten.

Es war sicherlich das Verdienst des Deutschen Bildungsrates, bereits 1970 eine Aufgabenbe­

schreibung für Fachdidaktiken vorgelegt zu haben. An dieser Systematik läßt sich noch heute

das Aufgabengebiet von Fachdidaktik weiterentwickeln. Zu den Aufgaben der Fachdidaktik

zählt gemäß Deutschem Bildungsrat (1970, S. 225):

"1. festzustellen, welche Erkenntnisse, Denkweisen und Methoden der Fachwis­senschaft Lernziele des Unterrichts werden sollen; 2. Modelle zum Inhalt, zur Methodik und Organisation des Unterrichts zu ermit­teln, mit deren Hilfe möglichst viele Lernziele erreicht werden; 3. den Inhalt der Lehrpläne immer wieder daraufhin kritisch zu überprüfen, ob er den neuesten Erkenntnissen fachwissenschaftlicher Forschung entspricht, und

156 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

gegebenfalls überholte Inhalte, Methoden und Techniken des Unterrichts zu eliminieren und durch neue zu ersetzen; 4. erkenntnistheoretische Vertiefung anzuregen und fächerübergreifende Gehalte des Faches beziehungsweise interdisziplinäre Gesichtspunkte zu kennzeichnen."

Didaktik beruflicher Bildung 157

2 Didaktik beruflicher Bildung

Didaktik beruflicher Bildung ist ein Sammelbegriff für verschiedene Didaktikansätze im Be­

reich der beruflichen Bildung. Dieser Sammelbegriff bezeichnet Didaktiken, die sich auf ein­

zelne Berufsfelder oder auf mehrere Berufsfelder zugleich beziehen. Dazu zählen aber auch

Didaktiken, die sich auf spezifische Schulfächer beziehen lassen, wie dies beispielsweise für

die verschiedenen Didaktiken der Betriebswirtschaftslehre in der Handelslehrerausbildung

zutrifft. Im gewerblich-technischen Bereich orientiert sich die Didaktik in der Regel an Be­

rufsfeldern.

Während des 19. Jahrhunderts gab es für berufstätige Jugendliche noch keine spezifischen

Didaktikkonzepte. Diese wurden aber mit der Handelslehrerausbildung an den deutschen

Handelshochschulen zu Beginn des Jahrhunderts notwendig. Fachdidaktische Veranstaltun­

gen und methodische Übungen an den Handelshochschulen können deshalb als Vorläufer

einer Didaktik beruflicher Bildung gesehen werden. Später in den 1920er Jahren, als mit der

Ausbildung von Gewerbelehrern an den nichtwissenschaftlichen Berufspädagogischen Insti~

tuten begonnen wurde, erhielt dann auch die Didaktik der gewerblich-technischen Fachrich­

tungen ein erstes speziflsches Profil.

Mit der Entwicklung von Fachdidaktiken beruflichen Lernens ging eine allmähliche Ablö­

sung der Didaktik von den Erziehungswissenschaften einher. Für die Handelslehrerausbil­

dung läßt sich diese Ablösung an ihrer Ausrichtung an der Betriebswirtschaftslehre aufzei­

gen. Eine vergleichbare fachwissenschaftliche Anlehnung in der Gewerbelehrerausbildung

setzte mit deren Akademisierung zu Beginn der 1960er Jahre ein. Die Konsequenzen dieser

zumindest zeitweisen Orientierung an Fachwissenschaften war eine weitgehende Überein­

stimmung zwischen den an der Universität gelehrten fachlichen Inhalten und den Inhalten des

Unterrichtsfaches, wie sich beispielsweise an den Inhalten des Wirtschaftslehreunterrichts an

Handelsschulen ablesen läßt (vgl. Zabeck 1995, S. 224). Häufig bestand die

"wissenschaftliche" Leistung dieser Fachdidaktik in der Reduktion der von der Fachwissen­

schaft vorgegebenen Inhalte. Die Lerninteressen der jeweiligen Adressaten, die Anforderun­

gen der im Wandel befmdlichen Berufspraxis und die Erkenntnisfortschritte in den Erzie­

hungswissenschaften spielten keine oder nur eine geringe Rolle. Wie rückständig Fachdidak­

tik noch in den 1960er Jahren war, zeigen fachdidaktische Arbeiten, die auf der Grundlage

der sogenannten essentialistischen Wirtschaftspädagogik entstanden. Hier galten die vorin­

dustriellen Leitbilder des selbständigen Kaufmanns und des tüchtigen Handwerkers auch

158 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

dann noch, als Industrialisierung und Arbeitsorganisation nach tayloristischen Prinzipien die

Berufs- und Arbeitswelt längst grundlegend verändert hatten.

Die "realistische Wende" setzte in den 1960er Jahren mit einer Neuorientierung didaktischen

Denkens im Kontext der Rezeption des Curriculumbegriffs ein. Mit dem Vorschlag, Curricu­

lumentwicklung und Curriculumrevision auch an den Anforderungen künftiger Lebens- und

Arbeitssituationen zu orientieren, wurden Lehr-Lerninhalte zunächst kritisch überprüft. Als

Kriterien für die Inhaltsauswahl wurden vorgeschlagen: die Bedeutung eines Gegenstandes

im Gefüge der Wissenschaft, die Leistung eines Gegenstandes für das Weltverstehen und die

Funktion eines Gegenstandes in spezifischen Verwendungssituationen (vgl. Robinsohn 1969,

S. 47). Darauf bezogene didaktische Entscheidungen sollten dann durch Expertenbefragung,

empirische Berufsanalysen oder Analysen von speziftschen beruflichen oder gesellschaftli­

chen Verwendungssituationen begründet werden.

Der Gedanke, Didaktik beruflicher Bildung zusätzlich an Lebens- und Arbeitssituationen zu

orientieren, wurde von Zabeck in seinem Modell einer antizipativen Didaktik systematisch

entfaltet (siehe Zabeck 1973). Reetz führte über die didaktische Kategorie der Bedeutsam­

keit für den zu erziehenden Menschen einen weiteren Bezugspunkt für die Stoffauswahl ein

"und zwar konkret bezogen auf seine gegenwärtige und künftige Situation in psychischer

und soziokultureller Hinsicht" (Reetz 1973, S. 153).

Als Aufgabe einer Didaktik beruflicher Bildung kann deshalb heute gelten: Sie soll für un­

terrichtliches Handeln Entscheidungshilfen bereitstellen und diese begründen. Dabei sollen

die Handlungen und deren Erfolgsaussichten angegeben werden, die Umstände, unter denen

diese Handlungen auszuführen sind, sowie die handelnden Personen bezeichnet werden (vgl.

Achtenhagen 1984, S. 19). Sie soll weiterhin die didaktische Auswahl von Lerninhalten und

Zielen im Spannungsverhältnis von Fachwissenschaften, gesellschaftlichen wie beruflichen

Anforderungen und individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen anleiten und begründen

helfen (vgl. Tramm & Preiß 1996, S. 2). Fachdidaktik kann darüber hinaus Empfehlungen

aussprechen, wie Ziele zu Zielsequenzen zu verarbeiten sind. Sie kann fachwissenschaftliche

Inhalte ideologiekritisch überprüfen, Handlungsanforderungen analysieren, Auswahlkriterien

entwickeln und Arbeits- und Ausbildungswirklichkeit beschreiben (vgl. Pleiß 1996, S. 273;

Reetz 1973, S. 164) (~LA, Professionalisierung).

Voraussetzung jeder fachdidaktischen Analyse und Konstruktion ist jedoch, daß die Le­

benssituation von Jugendlichen mit bedacht wird, indem Erkenntnisse der Entwicklungspsy­

chologie, der Pädagogischen Psychologie, der Pädagogischen Soziologie und der Jugend-

Didaktik beruflicher Bildung 159

und Berufsforschung herangezogen werden. Fachdidaktische Forschung und Entwicklung

bezieht deshalb auch die Voraussetzungen und Bedingungen beruflichen Lehrens und Ler­

nens ein. Zu diesen Voraussetzungen und Bedingungen zählen die personalen Eigenschaften

von Schülern und Lehrern, deren Lern- und Lehrvoraussetzungen, ihre kognitiven, emotio­

nalen und motivationalen Befmdlichkeiten sowie geschlechtsspezifische Einflüsse ihrer bis­

herigen Lebensgeschichte. Fachdidaktische Forschung und Entwicklung bezieht sich weiter­

hin auf Strukturmomente des Unterrichtens, beispielsweise auf vorfmdliche Lerninhalte und

Lernziele, Medien beruflichen Lernens sowie schul- und unterrichts organisatorische Bedin­

gungen. Ein weiteres Feld für fachdidaktische Forschung und Entwicklung sind Beschrei­

bung und Analyse von Lehr-Lern-Prozessen in Schule und Betrieb. Zu einem eigenen Be­

reich fachdidaktischer Forschung und Entwicklung zählt die Bewertung von Prozessen und

Ergebnissen beruflicher Bildung. Bei der Evaluation sind besonders die Faktoren in ihrer

Wechselwirkung zu untersuchen (Prozeßbewertung) und der Gebrauchswert von Lernpro­

zessen und Lemergebnissen für Schüler, Schule und Betrieb zu überprüfen (Ergebnis­

evaluation).

Die Didaktik beruflicher Bildung läßt sich aber auch als Problemfeld beschreiben. Sie mußte

sich den Vorwurf gefallen lassen, eine Abbilddidaktik zu sein. Dieser Vorwurf ist dann be­

rechtigt, wenn Fachdidaktik die Lerninhalte allein aus fachwissenschaftlichen Lehrinhalte

abzuleiten versucht, wie es mit dem Verfahren der didaktischen Reduktion von Inhalten ver­

sucht wurde. Die Didaktik beruflicher Bildung mußte sich außerdem mit dem Vorwurf aus­

einandersetzen, eine Feiertagsdidaktik zu sein. Der Vorwurf lautet, daß fachdidaktische

Konstruktionen nur dann für die Gestaltung von Unterricht herangezogen werden, wenn es

gilt, Schaustunden im Ralunen von Unterrichtsbesuchen vorzuführen. Feiertagsdidaktik zu

sein, meint jedoch auch, die Praxis beruflicher Bildung zu verfehlen. Auf diesen Vorwurf hat

die Didaktik beruflicher Bildung mit der Entwicklung von Konzepten der schul- und praxis­

nahen Curriculumentwicklung, z. B. auf der Basis von Unterrichtsmodellen, eine Antwort zu

geben versucht. Dabei konnten Lehrer und Schüler, Wissenschaftler und Studierende an der

theoriegeleiteten Entwicklung von Unterrichtsmodellen und deren Umsetzung in unterricht­

liche Praxis mit anschließender Evaluation mitarbeiten. Die Didaktik beruflicher Bildung hat

sich lange Zeit auch durch fehlenden Rückgriff auf empirisch verläßliche Daten ausgezeich­

net, wie Frank Achtenhagen wiederholt monierte. So wurden zum Beispiel fachwissen­

schaftliche Lehrinhalte zu Lerninhalten, ohne daß diese durch empirische Analysen von

Facharbeiter- und Angestelltentätigkeiten in den Unternehmen überprüft wurden. Viele

Schulbücher und Lehrpläne zeigen noch heute diesen Mangel an.

Mußten sich Abbild- und Feiertagsdidaktik einerseits ihre Theorielastigkeit vorwerfen lassen,

kann sich Fachdidaktik andererseits auch den Vorwurf einhandeln, lediglich Rezeptwissen zu

160 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

vennitteln. Dann bestehen didaktische Empfehlungen für die Hand des Lehrers und der Leh­

rerin lediglich in Beispielen. Wie Achtenhagen in einer Studie nachweisen konnte, sind sol­

che didaktischen Handreichungen immer vage, unverbindlich und wenig begründet. In die­

sem Rezeptwissen tauchen dann nicht einmal mehr Angaben zur Lerngruppe mit ihren sozia­

len und persönlichen Lernvoraussetzungen und -bedingungen auf (vgl. Achtenhagen 1984,

S. 3 f.).

Ein weiteres Problem einer Didaktik beruflicher Bildung ist die ungelöste Transferfrage. Oft

genug läßt sich feststellen, daß Wissen, das zur erfolgreichen Bearbeitung bestimmter Auf­

gaben erworben wurde, nicht in andere Anforderungssituationen übertragen wird. Das Wis­

sen ist zwar vorhanden, es wird aber nicht genutzt. Oder die Fonn des Wissens unterbindet

die Anwendung (vgl. Renkl1994, S. 6). Es konnte aufgezeigt werden, daß solches Wissen

zumeist als wenig bedeutsam angesehen und als nicht interessant eingestuft wird oder unter

Prüfungsangst aktualisiert werden soll, dann aber nicht zur Verfügung steht.

Schon die Alltagserfahrung lehrt, daß denkend erworbenes Wissen nicht notwendigerweise

handlungsbedeutsam sein muß. Dieses Phänomen wird als Dualismus von Denken und Han­

deln bezeichnet und ist für eine Didaktik beruflicher Bildung von besonderer Bedeutung (~

LA, Theorie-Praxis-Problem). Nur solches Wissen kann als effektives Wissen bezeichnet

werden, das handelnd erworben und handelnd überprüft wurde. Löst sich dieser Zusammen­

hang auf, beispielsweise weil Wissen um seiner selbst willen gelernt wird (Klausuren!), liegen

Prozesse des entkoppelten Lernens vor. Diese Prozesse werden dann als sinnloses Lernen

erfahren. Die Fonn des Wissenserwerbs um seiner selbst willen (pauken von Wissen!) ver­

hindert, daß Wissen erfolgreich in Handlungen umgesetzt wird. Didaktische Konstruktionen,

die dieses Problem des entkoppelten Lernens nicht bedenken und erfolgreich bearbeiten, sind

praktisch bedeutungslos für die Beförderung beruflichen Lernens (vgl. Tenfelde & Uhe

1996, S. 115 ff.).

Große didaktische Positionen 161

3 Didaktik beruOichen Lernem und Lehrens auf der Grundlage großer didaktischer

Positionen

In ihrer Entwicklungsgeschichte haben sich die Didaktiken beruflichen Lernens und Lehrens

an verschiedenen Bezugsdisziplinen orientiert. Waren es zunächst die Fachwissenschaften,

an denen sie sich zu Beginn der Handelslehrer- und Gewerbelehrerausbildung anlehnten,

gewannen mit der Verlagerung der Gewerbelehrerausbildung an die Universitäten im Verlauf

der 1960er Jahre und der Einbindung der Handelslehrerausbildung in die wirtschafts- und

sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten auch andere Bezugsdisziplinen an Be­

deutung. Zu diesen Bezugsdiszplinen zählen die Erziehungswissenschaft und die Didaktik.

Vor allem Modelle und Konzepte der Allgemeinen Didaktik wurden in den 1970er Jahren

für Zwecke der beruflichen Bildung rezipiert. Für mehr als ein Jahrzehnt waren sie die Foli­

en, auf denen "Generationen" von zukünftigen Gewerbe- und Handelslehrern ihre didakti­

schen Analysen und Konstruktionen vorbereiteten. Noch heute sind sie vor allem in der

zweiten Phase der Lehrerausbildung sehr beliebt Es lassen sich fünf große didaktische Posi­

tionen ausmachen, an denen sich didaktisches Handeln in der beruflichen Bildung orientiert:

bildungstheoretische Didaktik, lehrtheoretische Didaktik, lernzielorientierte Didaktik, kri­

tisch-kommunikative Didaktik sowie kybernetisch-informationstheoretische Didaktik.

Die älteste der großen didaktischen Positionen ist die bildungstheoretische Didaktik. Sie

ist ein Konzept der Unterrichtsvorbereitung auf der Grundlage einer "Theorie der Bildung"

(~ BWP, Pädagogik). Indem sie auf eine Theorie der Bildung gründet, macht sie zugleich

deutlich, daß sie an einen humanistischen Bildungsbegriff anknüpft. Der Bildungsbegriff

verweist auf ein Menschenbild, das schon Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pesta­

lozzi, Friedrich D. E. Schleiermacher, Johann Friedrich Herbart und vor allem Wilhelm von

Humboldt verwendeten. Bildung bedeutet danach: Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie,

Mündigkeit, praktizierte Solidarität mit den Schwächeren in der Gesellschaft und Gestaltung

eines demokratischen Zusammenlebens. Im Bildungsbegriff spiegeln sich kulturelle Werte

des Abendlandes wider, die durch Bildung und Erziehung an die nachfolgenden Generatio­

nen weitergegeben werden. Der Bildungsbegriff ist also eine regulative Idee für die Gestal­

tung von Prozessen des Lehrens und Lernens. Er soll ein Maßstab sein, mit dem entschieden

wird, was gelehrt werden soll und was zurückzuweisen ist. Er trennt pädagogisch nicht ver­

antwortbares von verantwortlichem Handeln.

Ein bedeutender Vertreter einer bildungstheoretischen Didaktik ist Wolf gang Klafki, ein

Schü1er von Erlch Weniger, der zu den Begründern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik

in der Bundesrepublik Deutschland gerechnet wird. In seinem Konzept der Unterrichtsvor-

162 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

bereitung ist der erste Schritt der didaktischen Analyse die Unterscheidung zwischen Bil­

dungsinhalt und Bildungsgehalt. Indem aus dem besonderen Bildungsinhalt der allgemeine

Bildungsgehalt gehoben wird, entstehen die Lehrgegenstände. Für diesen Schritt hat Klafki

fünf Leitfragen formuliert (vgl. Klafki 1964, S. 15 ff.):

• Exemplarität: Was ist die exemplarische Bedeutung des Bildungsinhalts?

• Gegenwartsbedeutung: Welche Gegenwartsbedeutung hat er für die Schülerinnen?

• Zukunftsbedeutung: Worin liegt die Zukunftsbedeutung des Bildungsinhalts?

• Struktur: Welche Struktur weist der Bildungsinhalt auf?

• Zugänglichkeit: Wie wird der Bildungsinhalt den Schülerinnen zugänglich gemacht?

In einem weiteren Schritt erläutert Klafki sein Konzept der Unterrichtsvorbereitung, in dem

er ein Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung vorstellt (vgl. Schaubild 2).

Bedingungsanalyse: Analyse der konkreten, sozio·kulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer Lemgruppe (Klasse), des! der Lehrenden sowie der unterrichtsrelevanten (kurzfristig änderbaren oder nicht änderbaren) institutionellen Bedingungen, ein­schließlich mö licher oder wahrscheinlicher Schwieri keiten bzw. "Störun en"

(Begrundungs­zusammenhang)

1I Gegenwartsbedeutung 1

(themal. Struktur) (Bestimmung von Zugangs- und Darstellungs­

möglichkeiten)

1L.::2,-,Z:c::u""k::::un",f::::tSbe=d::::eu""tu""n",g __ -,I~ 4 thematische Struk- 6 Zugänglichkeit bzw. Dar-tur (einseh!. Teillem- _ stellbarkeit (u. a. durch bzw. zielen und sozialer in Medien)

rc-----,--,---,--=--,--~I Lernziele) 3 exemplarische Bedeutung,

/ ausgedrückt in den allge-meinen Zielsetzungen der Unterrichtseinheit, des Projektes oder der Lehrgangssequenz

5 Erweisbarkeit und Überprüfbarkeit

Schaubild 2: Schema zur Unterrichtsplanung (vgl. Klafki 1980, S. 14)

(method. Strukturierung)

7 Lehr-Lern­Prozeßstruktur verstanden als variables Konzept notwendiger oder möglicher Organisations­und Vollzugsformen des Lernens (einschI. sukzes­siver Abfolgen) und entspr. Lehrhilfen, zugleich als

Interaktionsstruktur und Medium sozialer Lernvrozesse

Große didaktische Positionen 163

In diesem Konzept sind die Leitfragen enthalten und ergänzt durch weitere Fragen zur Un­

terrichtsplanung. Darüber hinaus soll dieses Schema anregen, schrittweise bei der Unter­

richtsplanung zu verfahren.

Ein Unbehagen an der eher akademischen Diskussion der bildungstheoretischen Didaktik,

starke Zweifel an der Gültigkeit des Bildungsbegriffes und wenig präzise Anleitungen zur

Gewinnung von Lehr-Lernzielen im Konzept der bildungstheoretischen Didaktik haben zwei

neue Theorien und Modelle befördert: die lehrtheoretische Didaktik und den lernzielorien­

tierten Unterricht. Die lehrtheoretische Didaktik verstand sich als Theorie des Unterrichts.

Sie setzte im Unterschied zur bildungstheoretischen Didaktik nicht bei der regulativen Idee

des Bildungsbegriffs an. Statt dessen entwickelten Paul Heimann, Gunter Dtto und Wolf­

gang Schulz eine einfache Grundstruktur der Prozesse, die Unterricht kennzeichnen (vgl.

Schaubild 3).

soziokulturelles Bedingungsfeld

Schaubild 3: Strukturanalyse von Unterricht (vgl. Heimann, Dtto & Schulz 1977)

164 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

Die lehrtheoretische Didaktik beschreibt Unterricht als das Zusammenwirken von Unter­

richtsfaktoren. Aufgabe des Lehrers ist es, dieses Zusammenwirken zu beschreiben, zu ana­

lysieren und zu konstruieren. Die lehrtheoretische Didaktik bindet sich dabei nicht an eine

Leitidee, die dem Bildungsbegriff vergleichbar wäre. Das Modell der lehrtheoretischen Di­

daktik ist statt dessen ein offenes, fachdidaktisch indifferentes System, das ohne Festlegun­

gen auszukommen meint Das System soll dem Lehrer eine wertfreie Betrachtung von Un­

terricht ermöglichen. Darin ist wohl auch begründet, weshalb dieses Konzept der Unter­

richtsanalyse und -planung bis zur heutigen Zeit gern verwendet wird. Kritik erfuhr dieses

Konzept nicht etwa durch die Unterrichtspraxis, sondern durch die Erziehungswissenschaft

Nachdem sich Wolfgang Schulz gründlich mit dieser Kritik auseinandergesetzt hatte, legte er

mit seinem sogenannten Hamburger Modell eine revidierte Fassung des Modells der lehr­

theoretischen Didaktik vor (vgl. Schulz 1981). Das Hamburger Modell fand Zustimmung in

Wissenschaftskreisen, die Akzeptanz in der Praxis war jedoch eher gering. Es handelte sich

den Vorwurf ein, eine Feiertagsdidaktik zu sein, die für alltäglichen Unterricht zu komplex

ist und von unrealistischen Voraussetzungen für Unterrichtsplanung ausgeht

Das Konzept des lernzielorientierten Unterrichts will eine Lücke im Modell der lehrtheo­

retischen Didaktik schließen. Es handelt sich bei dieser Lücke um den Faktor "Lernziele".

Die Leerstelle ergab sich dadurch, daß in der lehrtheoretischen Didaktik nicht angegeben

wurde, wie ein Lehrender zu seinen Lehr- und Unterrichtszielen gelangt, wie er diese be­

schreibt und so formuliert, daß der Unterrichtserfolg daran gemessen werden kann. Es war

im deutschsprachigen Raum vor allem Christine Möller, die dieser Frage nachging und ein

didaktisches Konzept entwickelte, das unter dem Namen "lernzielorientierter Unterricht"

bekannt wurde (vgl. Möller 1973). Zwar ist es kein Didaktikkonzept, das die Analyse und

Konstruktion von Unterricht insgesamt anleiten konnte, es trug jedoch zur Systematisierung

der Lernzielgewinnung und -formulierung bei. In der didaktischen Praxis ist dieses Konzept

deshalb sehr schnell mit lehrtheoretischen Konzepten verknüpft worden. Schaubild 4 zeigt

aus einer solchen Verknüpfung des Modells der lehrtheoretischen Didaktik mit dem Konzept

des lernzielorientierten Unterrichts denjenigen Ausschnitt, in den Empfehlungen für die Ope­

rationalisierung von Lernzielen eingearbeitet wurden.

Große didaktische Positionen

1. Klare Formulierung von Zielvorstellungen

Inhaltskomponente Verhaltenskomponente (Stimuluskomponente ) (Reaktionskomponente )

\~ ____ ~ ______________ -JI

+ Präzisierung • Was soll die Lernende tun? • Woran und unter welchen

Bedingungen soll er es tun? • Woran wird das richtige

Verhalten erkannt?

Feinziel (operat Lernziel)

2. Ordnung der Zielvorstellungen

Verhalten Inhalte

a) kognitiv I geordnete Lernziele b) affektiv

3. Entscheidung für Lernziele und Entscheidungsbegründung

Schaubild 4: Lernzielorientierter Strukturraster

165

Die große Beliebtheit von Planungskonzepten der lehrtheoretischen Didaktik führte sehr

schnell zu ihrer Schematisierung. Eine Schematisierung liegt dann vor, wenn die Bedingun­

gen und Voraussetzungen eines didaktischen Modells nicht mehr geprüft werden. Darauf hat

insbesondere Rainer Winkel hingewiesen. Er zeichnet ein anderes Bild von Unterricht:

Schüler, die schwatzen, die unaufmerksam sind, sich aggressiv verhalten, miteinander strei­

ten, sich gegen den Lehrer verbünden. Lehrer, die nur noch in ihrem Unterricht überleben

können, wenn sie sich mit Psychotricks, Drohungen oder Repressalien gegen ihre Schüler

durchsetzen, letztlich aber damit ihre eigene pädagogische Hilflosigkeit demonstrieren (vgl.

166 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

Winkel 1976). Auch in Berichten von Lehrern an beruflichen Schulen fmden sich solche Be­

schreibungen wieder. Winkel leitet daraus die zentrale These ab, Unterricht sei gestörter

Unterricht und diese Störungen seien letztlich als Kommunikationsstörungen zu interpretie­

ren. Dem Modell einer lehrtheoretischen Didaktik stellt er deshalb seinen Entwurf einer kri­

tisch-konstruktiven Didaktik gegenüber. Als Bezugspunkte für diesen Entwurf dienen die

empirische Analyse von realem Unterricht, die Orientierung am obersten Lernziel der

Emanzipation sowie das kommunikative Herausarbeiten von Widersprüchen und von Lö­

sungsmöglichkeiten für die handelnde Aufhebung dieser Widersprüche (vgl. Winkel 1980).

Wie diese Vorstellungen von einer kritisch-kommunikativen Didaktik auch in einen Unter­

richt in einer Berufsfachschulklasse umgesetzt werden können, zeigt folgendes Beispiel (vgl.

Schaubild 5).

Thema: Das Bild der Frau in der Werbung Ziel: Schüler sollen Widersprüchlichkeiten im Grundgesetz und Werbung, zwischen

grundgesetzIich garantierten Werten und realer Werbepraxis erkennen und AlternativenlBeispiele humaner Werbung erarbeiten

Arrangement der Lem- und Kommunikationssituation (methodisch, medial, organisatorisch)

Vermittlungs- und Kommunikationshilfen

Lösungsschritte und Unterrichtsstationen

1. Anzeigensammlung I1.Leitfragen für die Analyse 1 1. S. erkennen Widerspruch 2. Auszüge aus GG, Art. 1-3,: auf Schülerarbeitsblatt : zwischen den Grundwerten _J_~nE$ß~~~~~~~~ ___ ~~9~~~~~ ____________ ~_Eg~~~~~~~~ ______ _ 3. Gegenüberstellung von 13. Vorbereitete Kärtchen mit 12. S. erarbeiten Katalog von

inhumaner Werbung und : Postulaten an humane : Anforderungen an humane Postulaten an humane : Werbung : Werbung Werbung (geteilte, groB- 1 1 ~ . P . b 1 1 lormauge apler ogen, 1 1

Schere, Klebstoff, Notiz- : : kärtchen) 1 1

4.EfstellenvonWerbetexten-~4.Baüsieilieftif---------b~s:-entwerfenäiierniltlve---und -bildern u. a. in : Anzeigenwerbung : humane Werbung mit

__ ~~~Q~~~~ ________ ~ __ ~~~~~E~ _______ ~_E~E~~E~~ ________ _ 5. Bewerten der Ergebnisse im 1 5. Thesenpapier zu den 14. S. diskutieren

Unterrichtsgespräch : Ausführungen des : Werbewirksamkeit mit 1 ''Werbefachmannes'' 1 "Werbefachmann"

Schaubild 5: BeIspiel emer Untemchtsplanung nach dem Modell der kritisch-kommuni­kativen Didaktik am Thema "Das Bild der Frau in der Werbung"

Große didaktische Positionen 167

Der Lehrplan für Berufsfachschulen sieht das Thema "Aufgaben und Arten der Werbung"

vor. Dieses Thema wird zunächst in ein anderes transferiert, das die Anforderungen des

Lehrplanes aufnehmen kann und zugleich ein kommunikatives Herausarbeiten von Wider­

sprüchen und ein kommunikatives Autbeben dieser Widersprüche erlaubt: "Das Bild der

Frau in der Werbung". Das Planungsschema besteht aus Kurzbeschreibungen der Kommuni­

kations- und Lernsituation, aus den gegebenenfalls einzusetzenden Vermittlungs- und Kom­

munikationshilfen sowie einer Beschreibung wichtiger Lösungsschritte und zu erreichender

Unterrichtssituation.

Zunächst wurde den Schülern eine Anzeigenzusammenstellung mit sexistischer Werbung

und Auszügen aus dem Grundgesetz (Artikel 1-3, 5) mit der Hoffnung vorgelegt, daß sie

darüber in eine anregende Diskussion eintreten. Diese Erwartung erfüllte sich im Unter­

richtsversuch jedoch nicht Eine erste Vermittlungshilfe in Form eines äußerst provozieren­

den Gedichtes über Werbung mit Frauenbildern - überschrieben mit "Mann-oh-Mann" - so­

wie Leitfragen für die Gedichtanalyse auf Schülerarbeitsblättern löste die erhoffte lebhafte

Diskussion aus. In deren Verlauf erkannten die Schüler einen Widerspruch zwischen den

Grundwerten des Grundgesetzes und der Praxis der Werbung mit Frauenbildern. Diese Er­

kenntnis wurde systematisch an einer Gegenüberstellung von inhumaner Werbung und For­

derungen an humane Werbung aufgearbeitet und mit Hilfe der Metaplantechnik zu einem

Anforderungskatalog an humane Werbung mit Frauenbildern verdichtet. Danach erstellten

die Schüler selbständig Werbetexte und -bilder in Gruppenarbeit mit Hilfe der Collagetech­

nik. Sie bewerteten ihre Ergebnisse im Unterrichtsgespräch und präsentierten ihre Ergebnisse

in einer Ausstellung. Eingeladen war ein Werbekaufmann, der die Ergebnisse aus seiner

Sicht bewerten sollte. Seine Kritik fiel geradezu vernichtend aus und warf die Schüler

scheinbar auf ihre Ausgangssituation zu Beginn dieser Unterrichtseinheit zurück. Diese ver­

teidigten jedoch ihre Erkenntnisse und Ergebnisse und diskutierten sehr kontrovers die un­

terschiedlichen Sichtweisen auf Werbung mit Frauenbildern. Die für Unterrichtskommunika­

tion notwendige dialektische Spannung, die zunächst mit der Präsentation von Arbeitser­

gebnissen der Gruppe aufgehoben schien, wurde erneut aufgebaut: der Unterricht konnte in

ein neues Stadium treten.

Ein weiteres Modell, das sich aus der lehrtheoretischen Didaktik heraus entwickelt hat, ist

die kybernetisch-informationstheoretische Didaktik. Wie der Name schon sagt, hat dieses

Konzept zwei Bezugswissenschaften, die außerhalb der Erziehungswissenschaft liegen: die

Kybernetik als Wissenschaft von den sich selbst regelnden Systemen und die Informations­

theorie als Theorie der Nachrichtenübermittlung zwischen technischen Systemen. Dieses

didaktische Modell erhielt seine speziflschen Sichtweisen auf Didaktik durch diese Bezugs-

168 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens

disziplinen. Lehren und Lernen werden im direkten Vergleich mit der Informationsübertra­

gung zwischen technischen Systemen beschrieben. Kybernetisch heißt dieses Modell, weil es

wie bei einem Heizungssystem einen Regler mit eingestellten Meßwerten gibt, der die Pro­

zesse der Nachrichtenübermittlung steuert und entsprechend den vorher eingestellten Steu­

erwerten gegebenenfalls Korrekturen vornimmt (vgl. Schaubild 6).

El7.iehungsstrategie (LchlStra~teg:..ie':) _____ --j

Steuerung

Regler: Eu.ieher, Ausbilder als Planer

StörgrOßen (innere und äußere EinflUsse)

Ist·Wert

Reaktionen des Adressaten

Schaubild 6: Erziehung und Ausbildung als Regelkreis (von Cube 1980, S. 49)

Auch in der beruflichen Bildung hat dieses didaktische Konzept große Bedeutung erlangt im

Zusammenhang mit der Entwicklung der programmierten Unterweisung, sei es in Buchform

oder in Form des computerunterstützten Lernens. Nachdem dieses didaktische Modell etwa

Mitte der 1980er Jahre stark an Bedeutung verlor, weil es sich nur für Konzepte einer soge­

nannten Instruktionsdidaktik und für "gesicherte" Lerninhalte zu eignen schien, ist es jetzt in

modernisierter Form wieder aktuell geworden (-+ LA, Konzepte schulischen Lernens).

Neue didaktische Leitideen. Ansiitze und Entwütfe

4 Didaktik beruflichen Lernens und Lehrens auf der Grundlage von neuen

didaktischen Leitideen, Ansätzen und Entwürfen

169

In den letzten Jahren entstanden in zunehmendem Maße Leitideen, Ansätze und Entwürfe,

die Handlungsorientierung als gemeinsamen Bezugspunkt haben. Das Kernstück der Hand­

lungsorientierung ist der Handlungsbegriff. Der Handlungsbegriff ist so zentral, weil er aus

verschiedenen Perspektiven diskutiert und legitimiert werden kann (vgl. Schaubild 7).

IKOgnitive Psychologie

IReformpädagogik

~ /1 M .. ,';']i,""", L.---J Tätlgkeltstheone

IsystcmtheOrie

Theorie der

~ _''''''''''''''00 ~ ~(k","''''

Kritische Psychologie "'J Epistemologie

Biologisch-neurophysiologische Kognitionswissenschaften

Schaubild 7: Zugänge zu Handlung und Handlungsorientierung

So kann beispielsweise handlungsorientiertes Lernen und Lehren mit Hilfe der kognitiven

Psychologie gestaltet werden. Die Kognitionspsychologie beschäftigt sich mit der menschli­

chen Informationsverarbeitung. Deshalb steht im handlungsorientierten Lernen und Lehren

die Gestaltung kognitiver Prozesse, d. h. die Gestaltung der Art von Informationen und der

170 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

Prozesse bei der Informationsaufnahme, Informationsspeicherung und Informationsverwer­

tung, im Vordergrund (vgl. Dörner 1987; Mandl & Spada 1988). Ferner können Erkenntnis­

se der genetischen Epistemologie herangezogen werden, um über die Entstehung, Verände­

rung und Beförderung von Handlungsschemata aufzuklären (vgl. Piaget & Inhelder 1955).

Für die Gestaltung von beruflichem Lernen ist auch die materialistische Tätigkeitstheorie

bedeutsam. Sie zeigt inbesondere zu beachtende materiale Bedingungen und Voraussetzun­

gen für Tätigkeit und Handeln auf (vgl. Leontjew 1975). Eng damit verknüpft ist die Theorie

der Handlungsregulation, die das Modell einer vollständigen Handlung als Möglichkeit für

Persönlichkeitsentwicklung vorgestellt hat (vgl. Hacker 1978; Volpert 1974). Auch die kriti­

sche Psychologie bietet mit neuen Konzepten des Lernens einen Zugang zu Handlung und

Handlungsorientierung an (vgl. Holzkamp 1993). Neuere Entwicklungen in den Kogniti­

onswissenschaften, die von den biologisch und neurophysiologischen Forschungen beeinflußt

wurden, stellen besonders die Bedeutung von Sprache und Kommunikation für die Beförde­

rung von Handlungsfähigkeit und Handeln heraus (vgl. Maturana 1982). Auch soziologisch­

systemtheoretische Ansätze befördern die Diskussion über Handlungsorientierung mit ihren

sozialtheoretisch akzentuierten Forschungen über gesellschaftliche Handlungsstrukturen und

gesellschaftliche Handlungssysteme (vgl. Lange 1970; Luhmann & Schorr 1979). Des weite­

ren sind Anregungen für Handlungsorientierung im Sinne von Schüleraktivierung, Selbsttä­

tigkeit und Projektarbeit in der Tradition reform pädagogischen Denkens entwickelt worden

(vgl. Gudjons 1992).

Der Begriff "Handlungsorientierung" führt also eine Vielzahl von unterschiedlichen wissen­

schaftlichen Disziplinen und Ansätzen zusammen. Obwohl die Zugänge zum Konstrukt der

Handlungsorientierung und zum Handlungsbegriff sehr unterschiedlich sind, lassen sich die­

se, über das Konstrukt von Handlungsorientierung vermittelt und aufgeschlüsselt nach Kate­

gorien, auf didaktische Fragestellungen beziehen und zu Leitideen für handlungsorientierte

Innovationen verdichten (vgl. Schaubild 8).

Kategorien für handlungsorientierte Innovationen: • Dualismus von Denken und Handeln • Ringstruktur von Subjekt und Objekt • Schüleraktivierung • Handeln und Persönlichkeitsentwicklung • Verallgemeinerung von beruflicher Bildung • Historisches und ökologisches Bewußtsein

Leitideen für handlungsorientierte Innovationen: • Ausrichten didaktischen Handeins an Schlüs­

selproblemen • Programmatik der Vermittlung von Schlüssel-

qualifikationen • Gestalten von Arbeiten und Technik • Dezentrales Lernen am Arbeitsplatz • Lernhandeln

Schaubild 8: Kategorien und Leitideen für handlungsorientierte Innovationen

Neue didaktische Leitideen, Ansätze und Entwürfe 171

Den Begründungen für handlungsorientiertes Lernen und Lehren ist gemeinsam, daß sie die

Annahme eines Dualismus von Denken und Handeln zurückweisen. Sie betonen, daß sich

das Denken, das Wissen und das Können aus dem praktischen Handeln und dem Wahrneh­

men entwickelt, und daß sich Denken und Wissen wiederum im praktischen Handeln und in

der deutenden Wahrnehmung von Welt zu bewähren habe (Tram m 1991, S. 252).

Das Konstrukt der Handlungsorientierung hat auch die Diskussion zum Verhältnis von Sub­

jekt und Objekt wieder neu angeregt. Handlungsorientierung verweist darauf, daß Objektivi­

tät die Voraussetzung und Bedingung für subjektives Handeln ist und sich dieses subjektive

Handeln wiederum auf die Gestaltung von Objekten in der Umwelt bezieht. Diese über

Handlungsorientierung vermittelte Sichtweise erkennt Subjekt und Objekt in einer

Ringstruktur. Sie hebt sich damit deutlich ab vom klassischen naturwissenschaftlichen Den­

ken in Ursache-Wirkungszusammenhängen.

Durch das Konstrukt der Handlungsorientierung rücken Schüler und Auszubildende mit ih­

ren konkreten Handlungen in den Vordergrund didaktischer Überlegungen beruflichen Ler­

nens und Lehrens. Schüleraktivierung wird als Aufforderung verstanden, die noch vorherr­

schende Lehrerdominanz abzubauen und die Selbstorganisation und Selbsttätigkeit von

Schülern zu befördern. Über das Konstrukt Handlungsorientierung wird auch die Einsicht in

einen reflexiven Zusammenhang von Handeln und Persönlichkeitsentwicklung vermittelt. In

dieser Sichtweise bedingt die Handlungsstruktur die Persönlichkeitsentwicklung, und Per­

sönlichkeitsentwicklung stellt ihrerseits die Bedingungen für die Veränderung von Hand­

lungsstrukturen dar. Für Zwecke der beruflichen Bildung ist es demnach wichtig zu erken­

nen, daß die Gestaltungsmöglichkeiten für berufliche Bildung immer auch in den Möglichkei­

ten der Gestaltung einer vollständigen Handlung zu suchen sind.

Über das Konstrukt der Handlungsorientierung wird auch die Diskussion um eine Verallge­

meinerung beruflicher Bildung angeregt. Die Forderung einer Verknüpfung von Kopf- und

Handarbeit, von geistigen und körperlichen Tätigkeiten, der Beförderung des abstrakten und

vernetzten Denkens fmden Eingang in Zielvorstellungen von einer Verallgemeinerung beruf­

licher Bildung (~ Z, Berufliche Handlungsfähigkeit). Schließlich wird über Handlungsorien­

tierung auch die Vorstellung vermittelt, daß historisches und ökologisches Bewußtsein in

Prozessen des beruflichen Lernens verknüpft werden müssen. In dieser Sichtweise wird be­

rufliche Bildung nachhaltig daran erinnert, daß aktuelle Entwicklungen und Probleme in

Handlungen der Vergangenheit erzeugt wurden und daß in aktuellen Handlungen die Mög­

lichkeiten für zukünftiges Zusammenleben bereits angelegt sind. Diese Erkenntnis gilt es

beispielsweise in die Bearbeitung ökologischer Problemstellungen einzubringen oder mit

Fragen zum Geschlechterverhältnis zu verknüpfen.

172 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

Die genannten Kategorien können sodann in Ansätze und Leitideen didaktischer Innovatio­

nen im Feld der beruflichen Bildung, wie zuvor verdeutlicht, eingehen (vgl. Schaubild 8).

Auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik setzt mittlerweile die Diskussion über Klafkis

Vorschlag ein, jedes didaktische Handeln an Schlüsselproblemen auszurichten (vgl. K1atki

1985, S. 21 f.). Ein weiteres Beispiel ist in Versuchen einer Neubegründung der kritisch­

kommunikativen Didaktik durch Erkenntnisse der empirischen Kommunikations- und

Sprachwissenschaften zu erkennen.

Die Programmatik der Vermittlung von SchlüsselqualifIkationen nach Reetz (1994, S. 4)

erfaßt das "Potential an Selbst-, Sozial- und Sach-/Methodenkompetenz, das hinter den je­

weils aktuell abgeforderten Qualifikationen steht": In diesem Konzept wird die Persönlich­

keit in den Mittelpunkt des didaktischen Interesses gestellt. Zuvor überbewertete Arbeitsan­

forderungen werden im Konzept der Handlungsorientierung neu bewertet. In der Program­

matik der Vermittlung von SchlüsselqualifIkationen treten solche Aspekte der Beförderung

von Handlungsfähigkeit hervor, die insbesondere das sacheinsichtige, sozialeinsichtige und

werteinsichtige Handeln befördern.

Die Leitidee der sozialen Gestaltung von Arbeit und Technik beruht auf der Einsicht in die

Möglichkeit und Notwendigkeit einer Gestaltung von Arbeit und Technik und der darin be­

gründeten Entwicklung von Gestaltungskompetenz. Diese Leitidee verweist sehr nachdrück­

lich auf die Nutzung vorfindlicher Handlungs- und Gestaltungsspielräume für eine Didaktik

des beruflichen Lernens. Dabei spielt besonders die schöpferische Qualität des selbstverant­

wortenden Tuns eine Rolle (vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1993, S. 125

ff.; Rauner 1995, S. 52).

Die Konzeption des dezentralen Lernens am Arbeitsplatz fokussiert vor allem das betriebli­

che Lernen (vgl. Dehnbostel1992; 1995). Es geht dabei um die Entwicklung und Erprobung

dezentraler Berufsbildungskonzepte, d. h. vor allem um das Lernen am Arbeitsplatz in der

Verknüpfung von Arbeiten und Lernen (~ LB, Arbeiten und Lernen; ~ LA, Betriebliches

Ausbildungspersonal). Wenngleich sich diese Anstrengungen gegenwärtig noch auf die

EntwiCklung geeigneter Methoden richten, soll zukünftig auch das Problem angegangen

werden, für dezentrales Lernen am Arbeitsplatz geeignete Inhalte zu fmden, diese zu struk­

turieren und in betriebliches Lernen umzusetzen.

Aus den verschiedenen Handlungsformen wird das Lernhandeln als eine besonders relevante

Form für die Didaktik beruflichen Lernens herausgearbeitet. Dies gelingt durch eine deutli-

Neue didaktische Leitideen, Anslitze und Entwürfe 173

ehe Abgrenzung gegenüber Handlungsfonnen, die sich allein auf die Bewältigung von An­

forderungssituationen beziehen. Beim Lernhandeln geht es dagegen um die Ausbildung der subjektiven Orientierungs- und Handlungsfähigkeit und den Auf- und Ausbau kognitiver Strukturen (vgl. Tramm 1992, S. 192). In diesem Zusammenhang könnte Handlungsorientie­

rung auch dazu anregen, die Lehrerrolle neu zu entwerfen (~ LA, Professionalisierung).

174 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

5 Berufsschuldidaktik für Lernschwache und Begabte

Die Vorbildung von Schülern, die in eine Berufsausbildung eintreten wollen, hat sich be­

trächtlich verändert: Der Anteil der Schüler ohne Hauptschulabschluß, die 1993 einen Aus­

bildungsvertrag abgeschlossen haben,liegt nunmehr bei 3 %. Zugleich ist der Anteil der Be­

rufsschüler mit allgemeiner oder Fachhochschulreife auf 13,8 % gestiegen (vgl. Bundesmi­

nisterium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1996). Dazwischen liegt

ein breites Feld sehr unterschiedlich qualifizierter Berufsschüler. Die Heterogenität zeigt sich

darüber hinaus auch an der Altersstruktur der Schüler und Schülerinnen, der Nationalität,

der sozialen Herkunft und der Lebensgeschichte von Schülern, die in eine Berufsausbildung

eintreten. Diskutiert wird dieses Problem der Heterogenität derzeit unter dem Aspekt von

Begabung und Benachteiligung. Auf der einen Seite stehen die Begabten, die durch die der­

zeitigen Leistungsanforderungen in der beruflichen Bildung unterfordert sind und die mehr

aus ihren Leistungspotentialen machen können und wollen. Auf der anderen Seite stehen die

Benachteiligten, die durch sie behindernde Bedingungen nicht an die "Normalleistung" her­

anreichen.

Das System der Berufsbildung muß auf diese Problemlage eine Antwort fmden, wenn es

weiterhin einen Beitrag zur Integration von Jugendlichen in die Sozialsysteme unserer Ge­

sellschaft leisten soll (~BWP, Beruf). Gleichwohl sind die Bedingungen für eine erfolgrei­

che Bewältigung besonders schwierig. Die Schwierigkeit ergibt sich zum einen aus der

Vielfalt der möglichen Ausprägungsformen von Lernschwächen und zum anderen aus den

vielzähligen Möglichkeiten, als begabt oder besonders leistungsfähig eingestuft zu werden.

Zu den Ausprägungsformen von Benachteiligungen zählen zum Beispiel Entwicklungsrück­

stände im geistigen Bereich, im sprachlichen Bereich, im Gefühlsbereich sowie im Sozialver­

halten. Im geistigen Bereich können beispielsweise Probleme bei der Wahrnehmung, der

Erinnerung, der Konzentration und der Aufmerksamkeit auftreten. Im sprachlichen Bereich

behindern ein verringerter Wortschatz, erschwerte Wortfmdung, Rechtschreibschwierigkei­

ten sowie Störungen im Leseverständnis u. a., im Gefühlsbereich Mißerfolgsängste und ex­

treme Beeinflußbarkeit von außen. Im Bereich des Sozialverhaltens zeigen sich Entwick­

lungsrückstände vielfältiger Art.

Jugendliche mit unterschiedlichen Voraussetzungen sollen aber dennoch im dualen System

gemeinsam lernen. Das duale System bietet hierfür günstige Voraussetzungen. Es kennt we­

der besondere Eingangsprüfungen oder ZertifIkate noch unterschiedliche Ausbildungsanfor­

derungen während der Berufsausbildung (~ R, QualiflZierungsvoraussetzung und Qualifi-

Berujsschuldidaktikfiir Lemschwache und Begabte 175

kationsverwertung). Darüber hinaus zeichnet sich das duale System durch einheitliche Ab­

schlüsse am Ende der Berufsausbildung aus (vgl. Manstetten 1996a, S. 2). Dennoch muß

sich das duale System der Forderung nach einem differenzierten Ausbildungsangebot stellen.

Für die Lernbehinderten hat das Berufsbildungsgesetz mit § 48 eine besondere Möglichkeit

geschaffen. Es handelt sich hierbei um spezifische Maßnahmen der beruflichen Bildung, bei

denen der Berufsausbildungsvertrag des Behinderten ins Verzeichnis der Berufsausbildungen

eingetragen wird und der Behinderte gegebenenfalls zur Abschlußprüfung zugelassen wird.

Für Lernschwache z. B. mit spezifischen Ausprägungen von Entwicklungsrückständen und

für Jugendliche ohne Hauptschulabschluß existieren verschiedene Fördermaßnahmen. Diese

können der Vorbereitung auf eine Berufsausbildung oder dem erfolgreichen Berufsabschluß

dienen. Zudem gibt es Maßnahmen, die zum nachträglichen Erwerb eines Abschlusses in

einem anerkannten Ausbildungsberuf fUhren. Berufsvorbereitende Maßnahmen werden von

der Arbeitsverwaltung finanziert und insbesondere von freien Trägern und Betrieben angebo­

ten. Hierunter fallen Förderungslehrgänge, die ein gelenktes Betriebspraktikum enthalten

und eine sozialpädagogische Betreuung vorsehen, Grundausbildungslehrgänge sowie Infor­

mations- und Motivationslehrgänge (vgl. Rademacker 1993, S. 62).

So können beispielsweise Jugendliche in Nordrhein-Westfalen an einem sogenannten

"Kombi-Projekt" mit Berufsschule und betrieblicher Praxis teilnehmen. Diese "Schulen der

zweiten Chance" wollen vor allem lernschwache und benachteiligte Jugendliche ansprechen:

An drei Tagen pro Woche arbeiten die Jugendlichen als Praktikanten in Handwerks- und

Industriebetrieben, an zwei Tagen besuchen sie die Berufsschule. Die einjährige Ausbildung

wird aus Mitteln der Europäischen Union und des Landes fmanziert. Entscheidend für das

Gelingen des Projektes ist vor allem die Bereitschaft von Betrieben, Praktikumsplätze zur

Verfügung zu stellen und die Jugendlichen nach einem Jahr in die Regelausbildung zu über­

nehmen.

Neben den berufsvorbereitenden Maßnahmen des Arbeitsamtes gibt es auch schulische

Maßnahmen, die zur Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereiten und befähigen sollen, wie

beispielsweise das Berufsvorbereitungsjahr und das Berufsgrundschuljahr (~ LS, Berufli­

ches Schulwesen). Während der Berufsausbildung erhalten lernschwache Jugendliche oder

Jugendliche ohne Hauptschulabschluß beispielsweise eine besondere Förderung im Rahmen

von ausbildungsbegleitenden Hilfen, die durch die staatlichen Benachteiligungsprogramme

fmanziert werden und im Arbeitsförderungsgesetz rechtlich verankert sind, sozialpädagogi­

sche Betreuung und Stützunterricht, z. B. bei Lese- und Rechtschreibschwächen. Wer bei­

spielsweise keinen Ausbildungsplatz bekommen hat, wechselt in die Vorklasse der Berufs-

176 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

schule. Hier können benachteiligte Jugendliche, wie zum Beispiel ausländische Jugendliche

und junge Aussiedler, zusätzlich zum normalen Unterricht eine intensive Sprachschulung

erhalten. Wer dann die Vorklasse bewältigt, wechselt im nächsten Jahr in das Berufsgrund­

schuljahr und kann schließlich noch den Hauptschulabschluß erreichen.

Bei den Maßnahmen zum Nachholen von Berufsabschlüssen handelt es sich in aller Regel

um Modellversuche. Ein Beispiel hierfür ist der Modellversuch "Arbeit und Qualiflzierung -

eine integrierte Maßnahme für junge Erwachsene, die bisher ohne Berufsausbildung geblie­

ben sind". Mit Hilfe eines modularisierten Ausbildungsmodells (---? P, Modularisierung) und

einem individuellen Förderplan je Teilnehmer und Teilnehmerin, der auch sozialpädagogi­

sche Betreuung beinhaltet, werden ungelernte junge Erwachsene zu folgenden Berufsab­

schlüssen geführt: Maler, Lackierer, Kaufmann im Einzelhandel sowie Fachverkäufer im

Nahrungsmittelhandwerk. Diese Maßnahme wird nach dem Arbeitsplatzförderungsgesetz

gefördert und erfolgt in drei Phasen. Einer bis zu einem halben Jahr dauernden Orientie­

rungsphase schließt sich die eigentliche Qualiflzierungsphase für drei Jahre an. Beiden Pha­

sen parallel geschaltet ist jeweils eine Teilzeittätigkeit in einem Betrieb. Nach Abschluß der

Qualiflzierungsmaßnahme werden die Teilnehmer noch weitere drei Monate betreut

Darüber hinaus können Lernschwache und Jugendliche ohne Hauptschulabschluß auch durch

ein spezifIsch differenziertes Lernangebot gefördert werden, beispielsweise durch eine zeitli­

che Differenzierung der Berufsausbildung. Des weiteren kann das Lernangebot curricular auf

die besonderen Lernvoraussetzungen zugeschnitten und auf die besonderen Lernbedürfnisse

von Lernschwachen didaktisch-methodisch ausgelegt werden.

Eine zeitliche Differenzierung des Lernangebots bedeutet in der Regel, Berufsausbildung zu

verlängern (analog zur Ausbildungsverkürzung bei Abiturienten). Zur curricularen Differen­

zierung führen verschiedene Wege. Ein erster Weg führt über die Einrichtung von Ausbil­

dungsgängen mit unterschiedlichen Anforderungen, zum Beispiel über Ausbildungen mit

einem theoriegeminderten Ausbildungsanteil oder über eine Stufenausbildung. Dieser Weg

ist jedoch als sehr problematisch einzuschätzen, weil er auf eine pädagogisch reflektierte

Bearbeitung des Problems von Lernschwachen verzichtet Er schreibt deren Probleme fest

und weist Lernschwache statt dessen über spezifIsche Ausbildungen auf Arbeitsplätze ein,

die weniger Qualifikation anfordern. Dieser Weg stellt eher ein Steuerungsinstrument dar,

mit dem minderqualiflZierte Jugendliche anforderungsreduzierten Arbeitsplätzen im Be­

schäftigungssystem zugeführt werden sollen. Ob diese Arbeitsplätze aber tatsächlich zur

Verfügung stehen, ist zweifelhaft Auch das Stufenmodell ist bildungspolitisch als problema-

Berufsschuldidaktikfür Lernschwache und Begabte 177

tisch einzuschätzen. Es wird jetzt erneut in die Diskussion eingebracht, obwohl es doch ge­

rade durch das Ausbildungsverhalten der Auszubildenden praktisch abgewählt worden war.

Ein zweiter Weg führt über eine curriculare Binnendifferenzierung des Lernangebots. Damit

ist eine Profllierung von Bildungsgängen gemeint, die den unterschiedlichen Lernanforde­

rungen entsprechen. Zum Beispiel werden in der Ausbildung für Friseure Ausbildungsgänge

für leistungsschwächere Auszubildende und für leistungsstärkere angeboten. Innerhalb dieser

Ausbildungsgänge bestehen darüber hinaus Möglichkeiten der individuellen Gestaltung der

Ausbildung in Wahlpflichtbereichen (vgl. Enggruber 1994). In solchen Wahlpflichtbereichen

können die Jugendlichen ihre individuellen Neigungen und Leistungsstärken einbringen. Der

dritte Weg für Lernschwache führt über die Berufsvorbereitung des Arbeitsamtes und ge­

stützte Berufsausbildungen. Dieser Weg beginnt mit einjährigen Förderlehrgängen des Ar­

beitsamtes, dem sich eine Berufsausbildung mit ausbildungsbegleitenden Hilfen anschließt

(s.o.).

Für eine didaktische Differenzierung für Lernschwache stehen mehrere Konzepte bereit. Ein

didaktisches Konzept setzt an der Idee des Lernens als Strukturmodiflkation an. Hier wird

zumeist mit Hilfe der didaktischen Reduktion der Lehrstoff vereinfacht und auf die begrenz­

ten Lemmöglichkeiten zugeschnitten. Ein zweites didaktisches Konzept verwendet das

Prinzip des anwendungsorientierten Lernens. Im häuflgen Wechsel von Theorie und Übung

werden die theoretischen Anforderungen zurückgefahren. Diesem Konzept liegt die Erfah­

rung zugrunde, daß es den Lernschwachen zumeist an der Fähigkeit zum analytischen Den­

ken und an Abstraktionsfähigkeit mangelt, womit eine Überforderung in theoretischer Hin­

sicht einher geht. Ein weiteres didaktisches Konzept setzt ganz auf die Lernfördermöglich­

keiten des problemlösenden Lernens, in denen die Lerner mit (komplexen) Problemen zum

Beispiel in Form von Fällen konfrontiert werden. Ein viertes Konzept orientiert sich an den

produktiven Möglichkeiten von Lernschwachen im handlungsorientierten Lernen. Dieser

didaktische Ansatz geht nicht so sehr von den Lernschwächen und Lernstörungen von Aus­

zubildenden aus, sondern setzt an den besonderen Lernanforderungen im Dualismus von

Denken und Handeln an. Wenn nämlich im handlungsorientierten Lernen entkoppelte Lern­

prozesse möglichst vermieden werden, werden Überforderungen durch einseitiges theoreti­

sches Lernen abgeschwächt und zugleich die Möglichkeiten für integriertes Lernen gestei­

gert, aus dem auch Lernschwache einen Nutzen ziehen können.

Im Gegensatz zu Lernschwachen wurden besonders begabte und leistungsfähige Jugendliche

in der beruflichen Bildung bislang weitgehend vernachlässigt, möglicherweise auch dadurch,

178 Didaktik beruflichen Lemens und Lehrens

daß weder Berufsbildungsgesetz noch Handwerksordnung auf diese Gruppe von Jugendli­

chen explizit eingehen. Zwar gab es bereits in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts

deutschsprachige Arbeiten zur Förderung von Begabten im technischen Bereich und im

Handwerk, doch

" ... ganz in der Tradition des neuhumanistischen Bildungsdenkens werden bis­lang Begabungen primär im Kontext klassischer Bildungsinhalte gefördert. Of­fensichtlich wird das Klientel der Berufsbildung als Bildungsrestmenge einge­schätzt, so daß besondere Leistungsfahigkeit und Begabung hier erst gar nicht vermutet werden" (Manstetten 1996a, S. 17).

Erst mit dem Begabtenförderungsprogramm der Bundesregierung von 1991 rückte dieses

Thema in den Blickpunkt des Interesses. Adressaten waren begabte junge Fachkräfte, die

durch Stipendien im Bereich der Weiterbildung gefördert werden sollten. Über die Vergabe

dieser Stipendien entschieden die Zuständigen Stellen (~ B, Institutionen und Organsiatio­

nen). Maßgebend war in der Regel die Note aus der Berufsabschlußprüfung (vgl. Fauser &

Schreiber 1996, S. 243). Gefördert wurden zu gleichen Teilen junge Frauen und Männer.

Häufiger gefördert wurden junge Fachkräfte mit (Fach-)Hochschulreife und seltener hinge­

gen junge Erwachsene mit Hauptschulabschluß (vgl. Fauser & Schreiber 1996, S. 244). Zu

beachten ist, daß sich dieses Forschungsprojekt ausschließlich auf die Förderung junger be­

rufstätiger Erwachsener im Rahmen der Weiterbildung bezieht.

Eine schriftliche Befragung bei allen 16 Kultusministerien ergab im Jahr 1993, daß nur 44

Maßnahmen einer leistungs- und begabungsfördernden Differenzierung bereits während der

Berufsausbildung zuzurechnen waren (vgl. Manstetten 1996b, S. 25). Als curriculare Diffe­

renzierungen für Leistungsstärkere lassen sich Spezialklassen, Leistungskurse, Zusatzunter­

richt sowie doppelqualifizierende Lehrangebote nennen. Allerdings ist darunter nur eine

Maßnahme zu fmden, die explizit auf die Leistungsfahigkeit von Berufsschülern und Berufs­

schülerinnen abhebt (vgl. Manstetten 1996b, S. 78). Darüber hinaus dominieren die soge­

nannten Abiturientenmodelle, in denen vor allem die Theorieteile der Ausbildung beträchtlich

gesteigert werden. Ein Beispiel hierfür sind die Ausbildungen zum Industriekaufmann mit

zusätzlichem Hochschulstudium an der Fernuniversität Hagen, die Ausbildung nach dem

sogenannten Hamburger Modell, die sich an den Anforderungen eines Fachhochschulstudi­

ums orientiert, oder die Ausbildung an den Berufsakademien. Ernüchternd läßt sich diesbe­

züglich aber feststellen, daß diese Angebote

"eher im Hinblick auf den allgemeinen Bildungsabschluß Abitur hin konzipiert sind und weniger im Hinblick auf besondere berufliche Leistungsfahigkeit von Jugendlichen" (Manstetten 1996b, S. 79).

literatur 179

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Rahmenbedingungen

Strukturbegriff: Ausbildung der Lehrer ~:::=""-I---~f.-jI~~~l'\I--t==~

Ausbildung der Lehrer und der '" Zielsetzungen

und der Ausbilder Ausbilder

1 Lehrer: Fachmann und Pädagoge

Lernort

Betrieb

Ein Lehrer muß Fachmann und Pädagoge zugleich sein; seine Tätigkeit erfordert den Fach­

mann, wenn es gilt, sich einen Überblick über das Lehrgebiet und die darin vertretenen

Lehrmeinungen zu verschaffen, Lehrinhalte auszuwählen, zu systematisieren und unter

fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Als Pädagoge ist er vielfältig gefordert.

Zu seinen pädagogischen Aufgaben zählt auch die Beratung. Der Deutsche Bildungsrat

(1970, S. 217 ff.) nennt die fachunterrichtliche Beratung, die Erziehungsberatung, die

Schullaufbahn- und Berufsberatung sowie die Beratung von Eltern, Schülern, Berufsberatern

und betrieblichen Ausbildern. Zu seinen Aufgaben wird auch das Erziehen und Beurteilen

gezählt, die sich angesichts der inhomogenen Schülerklientel als zunehmend problematisch

erweisen. Lehrer müssen außerdem Verwaltungsaufgaben übernehmen und an curricularen,

didaktisch-methodischen und schulorganisatorischen Reformen mitarbeiten.

Der Lehrer ist weiterhin Lehrender. Er vermittelt Kenntnisse und Fertigkeiten, macht Zu­

sammenhänge im Lernprozeß transparent und befördert Verständnis und Problembewußtsein

bei den Schülern. Er regt den Transfer des Gelernten in Anwendungsbereichen an, fördert

Motivation, problemlösendes und kreatives Handeln sowie die Kooperation in der Lern­

gruppe. Die fachdidaktischen Aufgaben des Lehrers werden vom Deutschen Bildungsrat

(1970, S. 225) genauer spezifiziert: Gewinnen von Lernzielen aus der Fachwissenschaft,

Entwickeln von Modellen des Unterrichtens, Überprüfen der Lehrpläne und facherübergrei-

184 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

fendes und interdisziplinäres Verknüpfen von Gehalten des Faches (~D, Didaktik - Fachdi­

daktik).

Der Lehrer ist deshalb als Fachmann, Erziehungswissenschaftler und Fachdidaktiker zugleich

gefordert (vgl. Arnold 1990, S. 13 ff.). Diesen Qualiftkationsanforderungen entsprechend ist

das Studium für das Lehramt an berufsbildenden Schulen organisiert. Es gliedert sich in eine

berufliche Fachrichtung bzw. einen fachwissenschaftlichen, einen erziehungs- und gesell­

schaftswissenschaftlichen sowie einen fachdidaktischen Anteil. Kontroverse Vorstellungen

bestehen allerdings darüber, wie diese Studienanteile im Lehrerstudium zu gewiChten sind

und wie eine Verknüpfung dieser Anteile zu erreichen ist. Durch Vereinbarungen der Kul­

tusministerkonferenz von 1973 und 1995 (~B, Institutionen, Organisationen und Konflikt­

linien) nimmt die berufliche Fachrichtung bzw. die Fachwissenschaft etwa die Hälfte der zu

studierenden Semesterwochenstunden in Anspruch. Die andere Hälfte wird auf die erzie­

hungs- und gesellschaftswissenschaftlichen und die fachdidaktischen Studienanteile im Ver­

hältnis 5:3 verteilt. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz müssen in den Ländern um­

gesetzt werden. Daß es dabei zu beträchtlichen Abweichungen kommen kann, zeigt folgende

Untersuchung. Bader und Kreutzer (1994) analysierten die Studien- und Prüfungsordnungen

von 39 Hochschulen mit insgesamt 145 Studiengängen auf deren Aussagen zur Fachdidak­

tik. Es zeigte sich dabei der nach wie vor geringe Stellenwert der Fachdidaktik im Rahmen

der Berufsschullehrerausbildung. Dieser äußert sich im zeitlichen Umfang der fachdidakti­

schen Anteile im Studium. So fmden sich in den Ordnungen, die überhaupt fachdidaktische

Pflichtveranstaltungen aufführen, im Durchschnitt 6,3 Semesterwochenstunden fachdidakti­

sche Veranstaltungen an den verschiedenen Hochschulen und Studiengängen. Das Minimum

liegt bei 3 Semesterwochenstunden und das Maximum bei 10 Semesterwochenstunden. Al­

lerdings gibt es auch acht Studiengänge, die ohne jegliche fachdidaktische Pflichtveranstal­

tung auskommen (vgl. Bader & Kreuzer 1994, S. 54)!

Über Möglichkeiten einer Verknüpfung der Studienanteile bestehen unterschiedliche Vorstel­

lungen. Über die Stellung und Bedeutung der beruflichen Fachrichtungen bzw. Fachwissen­

schaften gibt es verschiedene Ansichten. Diese Ansichten lassen sich in unterschiedlichen

Ansätzen einer Verknüpfung der Fachwissenschaften mit den anderen Studienanteilen nach­

weisen (vgl. Bader 1995, S. 325). Ein erster Verknüpfungsansatz ist die Entwicklung einer

eigenständigen Wissenschaftskonzeption ("Berufliche Fachwissenschaft"). Ein zweiter An­

satz ist das auf Berufsausbildung ausgerichtete fachwissenschaftliche Lehrangebot. In einem

dritten Ansatz werden fachwissenschaftliche Lehrangebote durch die Beteiligung von Fach­

vertretern der Berufspädagogik und der Fachdidaktiken ausgewählt. In einem vierten Ansatz

entscheiden schließlich die Vertreter der Fachwissenschaften allein über das fachwissen-

Lehrer: Fachmann und Pädagoge 185

schaftliche Lehrangebot. Die Situation kann sich allerdings dadurch noch komplizierter ge­

stalten, daß innerllalb des Lehramtsstudienganges verschiedene Ansätze zusammentreffen.

So sind beispielsweise in Hamburg der zweite Ansatz eines auf Berufsausbildung ausgerich­

teten fachwissenschaftlichen Lehrangebots für die Gewerbelehrerausbildung und der vierte

Ansatz für die Handelslehrerausbildung, bei dem allein die Vertreter der Fachwissenschaft

über das fach wissenschaftliche Lehrangebot entscheiden, in einem gemeinsamen Studiengang

"Lehramt Oberstufe - Berufliche Schulen" anzutreffen.

Für die Verknüpfung der Fachdidaktik mit den anderen Studienanteilen wird zwar das Mo­

dell der Integration favorisiert, d. h. einer hochschuldidaktischen Abstimmung zwischen der

beruflichen Fachrichtung bzw. den fachwissenschaftlichen, erziehungs- und gesellschaftswis­

senschaftlichen und fachdidaktischen Anteilen. Gleichwohl beschränken sich Bemühungen

um eine Integration auf die Frage einer Eingliederung der Fachdidaktik entweder in die Er­

ziehungswissenschaft oder die Fachwissenschaften. An den meisten Universitäten wird die

Fachdidaktik den jeweiligen Fachwissenschaften und deren Fakultäten zugeordnet. In der

Untersuchung von Bader und Kreutzer (1994, S. 56) ist dies bei insgesamt 95 Studiengän­

gen der Fall. In wenigen Fällen, dies gilt für insgesamt 20 Studiengänge, fmden sich die

Fachdidaktiken in den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten wieder. In 10 Studiengängen

bilden die Fachdidaktiken eigenständige Institute. Regelhaft wird die Fachdidaktik mittler­

weile bei der beruflichen Fachrichtung bzw. den Fachwissenschaften angesiedelt, ohne daß

sich die Fachwissenschaft dabei auf die Fachdidaktik einzulassen hat. Eines der wenigen

Konzepte, das von dieser Regel abweicht, konnte an der Technischen Universität Berlin um­

gesetzt werden. Dort werden in den beruflichen Fachrichtungen Elektrotechnik, Meta11tech­

nik sowie Bauingenieurtechnik circa 20 Semesterwochenstunden für den lehrerspezifischen

Bereich ausgewiesen. Innerhalb dieser 20 Semesterwochenstunden werden den Studierenden

in hohem Maße Wahlmöglichkeiten eingeräumt. In der Fachrichtung Elektrotechnik können

beispielsweise im Hauptstudium aus zehn angebotenen Bereichen zwei für Prüfungen ge­

wählt werden. Diese Bereiche sind: Elektrische Maschinen, Starkstromanlagen, Leistungse­

lektronik, Meßtechnik, Regelungstechnik, Telekommunikationstechnik, Hochfrequenztech­

nik, Informationstechnik, Elektronik und Halbleitertechnik. Teilweise werden Veranstaltun­

gen aus diesen Bereichen gemeinsam von Fachwissenschaftlern, Fachdidaktikem und Berufs­

pädagogen durchgeführt.

186 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

2 Professionalisierung der Lehrerausbildung

Ende des letzten Jahrhunderts forderte der Deutsche Verband für das kaufmännische Unter­

richtswesen ein Gutachten über die Notwendigkeit an, Handelshochschulen einzurichten

(vgl. Schötz 1984, S. 117). Das Ergebnis dieses Gutachtens führte dann in den Jahren 1898

bis 1908 zur Gründung von Handelshochschulen in Leipzig, Köln, Frankfurt am Main, Ber­

lin, Mannheim, München, Königsberg und Aachen. 1900 legten an der Handelshochschule

Leipzig die ersten vier Kandidaten eine Lehramtsprüfung ab. Bis dahin wurden für die Tätig­

keit an berufsbildenden Schulen in der Regel Volksschullehrkräfte in mehrwöchigen Fortbil­

dungskursen vorbereitet.

An den Handelshochschulen erfolgte dann die gemeinsame Ausbildung von Kaufleuten und

Handelslehrern. Die Zulassungsvoraussetzungen, die Studiendauer und auch die Prüfungs­

bestimmungen waren allerdings sehr heterogen. Anfang der 1920er Jahre wurden die Han­

delshochschulen zu wissenschaftlichen Hochschulen. Seit Mitte der 1920er Jahre schließen

diese vollakademischen Studiengänge mit dem Grad des Diplom-Handelslehrers ab (vgl.

Pleiß 1987, S. 403). Schließlich wurde 1937 eine Ordnung für die Diplomprüfung für das

Handelslehramt aufgestellt, die eine mindestens sechssemestrige Studiendauer vorsah (vgl.

Schötz 1987, S. 4).

Die Entwicklung der Gewerbelehrerausbildung verlief hierzu unterschiedlich. Der Beginn der

geordneten Ausbildung von Berufsschullehrern kann in der Gründung von Polytechnischen

Schulen gesehen werden (vgl. Stratmann 1994, S. 3). Allerdings setzten sich diese nicht

durch. Von 1910 an wurden für Lehrer gewerblicher Fortbildungsschulen Kurse angeboten,

die durch spezielle Gewerbelehrerseminare abgelöst wurden. Mitte bzw. Ende der 1920er

Jahre wurde dann die Ausbildung der Gewerbelehrer in der Regel an Berufspädagogische

Institute verlagert, die allerdings kein Promotionsrecht besaßen. Lediglich an der Universität

Dresden war es möglich, eine akademische achtsemestrige Ausbildung zum Gewerbelehrer

aufzunehmen (vgl. Bloy 1991, S. 158; DrechseI 1991, S. 576). Mit der Verlagerung der

Ausbildung an die Universitäten bzw. Technischen Hochschulen Mitte der 1960er Jahre war

schließlich die Akademisierung der Gewerbelehrerausbildung vollzogen. Analog zur Han­

delslehrerausbildung orientierte sich die Gewerbelehrerausbildung fortan an den bereits be­

stehenden Studiengängen und deren Berufsbildern, hier insbesondere den Ingenieurwissen­

schaften (vgl. Lipsmeier 1992, S. 285; Stratmann 1994, S. 13).

Gut dreißig Jahre später stellte sich das Problem einer Reform der Ausbildung von Lehrern

für berufsbildende Schulen erneut. Mit der Akademisierung der Gewerbelehrerausbildung

Professionalisierung der Lehrerausbildung 187

war zwar eine formale Gleichstellung mit den Gymnasiallehrern erreicht, die damit erhoffte

Professionalisierung erwies sich jedoch als deftzitär. Mit der ausgeprägten fachlichen Orien­

tierung im Studium der Lehrer an berufsbildenden Schulen waren zwar günstigere Voraus­

setzungen für den Erwerb fachlicher Qualifikationen gegeben, auf die sich rasch verändern­

den bzw. steigenden pädagogischen Anforderungen wurden die Lehrenden jedoch nicht hin­

reichend vorbereitet. Als besonders deftzitär erwies sich eine unzureichende Verklammerung

von Fach- und Erziehungswissenschaft und die darin begründeten Schwierigkeiten, fachwis­

senschaftliche Inhalte unter pädagogischen Fragestellungen aufarbeiten zu können. Beson­

ders aus pädagogischer Perspektive betrachtet, war zu kritisieren, daß das Ziel der berufli­

chen Tüchtigkeit das nur pädagogisch zu erschließende Ziel der beruflichen Mündigkeit

überlagerte. Pädagogische Ziele können aber nur in enger Anbindung der Lehrerausbildung

an pädagogische Praxis verfolgt werden. Damit in Einklang stehen gegenwärtige Forderun­

gen, die Lehrerausbildung aus einer vermeintlich überzogenen Wissenschaftsorientierung

herauszuführen und sie dafür an die praxisorientierten Fachhochschulen zu verlagern.

Diesen Vorstellungen von einer Reform der Lehrerausbildung für berufsbildende Schulen

wird aber besonders von der Kommission Berufs- und Wirtschaftspädagogik innerhalb der

Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft entgegengehalten (vgl. Deutsche Gesell­

schaft für Erziehungswissenschaft 1990, S. 672 f.): Lehrerausbildung ist grundständig zu

organisieren. Die für berufliche Schulen nötige Differenzierung ist durch Diplomstudiengän­

ge anstelle der Lehramtsstudiengänge mit dem Ziel der Staatsprüfung zu sichern. Die Be­

rufs- und Wirtschaftspädagogik sollte in diesem Diplomstudium einen eigenen Schwerpunkt

bilden. Diese Forderung wurde mit der Idee, integrierte Praktika anzubieten, verknüpft.

Darüber hinaus wurde diskutiert, wie ein breit gefächertes Angebot an Studiengängen gestal­

tet werden könnte, beispielsweise auch dadurch, daß Spezialisierungsmöglichkeiten auch für

außerschulische Tätigkeitsfelder eingerichtet werden (vgl. Kutscha 1992, S. 120 ff.).

Alle Bemühungen um eine kontinuierliche und systematisch angelegte Professionalisierung

der Lehrerbildung werden aber in regelmäßigen Abständen unterlaufen durch Sparmaßnah­

men der öffentlichen Haushalte und undifferenzierte Mahnungen der Kultusministerkonfe­

renz (~ B, Institutionen und Organisationen) vor einem drohenden Lehrerüberangebot. Die

ständig sie begleitende Angst von Referendaren und Studierenden, später nicht in den

Staatsdienst eingestellt zu werden, führt derzeit zu starken Rückgängen bei den Studienan­

fängerzahlen und häuftgeren Studienabbrüchen und Studienwechseln. Aber auch verschlech­

terte Laufbahnbedingungen, zunehmend längere Ausbildungszeiten für Lehrer sowie das

bestehende System der Lehrerausbildung an sich erschweren die Umsetzung systematisch

angelegter Konzepte der Lehrerausbildung (vgl. Weber 1993, S. 154 f.). Die Konsequenzen

188 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

einer zurückgehenden Lehrerausbildung zeigten sich aber schon wiederholt und in früheren

Jahren: die quantitativ unzureichende Lehrerversorgung über Lehrerausbildung mußte durch

sogenannte Notlösungen wieder abgefangen werden. Hierzu gehören beispielsweise die Zu­

lassung von Absolventen aus Hochschul- und Fachhochschulstudiengängen verwandter Dis­

ziplinen wie Jura, Ingenieurwissenschaften, Medizin und Wirtschaftswissenschaften, und

Zulagen zur üblichen Referendariatsbesoldung.

Ob durch die Europäisierungsbestrebungen im Bildungswesen auch Impulse für eine weitere

Professionalisierung ausgehen, ist derzeit nicht zu entscheiden. Bis dato gibt es nämlich noch

keine einheitliche europäische Lehrerbildung (~ R, Internationalisierung). Die deutsche

Konzeption der Lehrerbildung mit den Merkmalen eines grundständigen Hochschulstudiums,

von erziehungswissenschaftlichen Anteilen im Studium, der Zweifachausbildung sowie der

Zweiphasigkeit der Ausbildung steht den folgenden Modellen in Europa gegenüber: dem

Modell eines fachwissenschaftlich orientierten Studiums mit anschließender seminaristischer

Ausbildung und dem Modell eines einphasigen Studiums mit einem großen Anteil an Schul­

praktika (vgl. Bader 1991, S. 353). Diese zwei Modelle werden europaweit unterschiedlich

anerkannt. Wenngleich der EWG-Vertrag vom 25.3.57 u. a. Freizügigkeit innerhalb Europas

gewährleistet, stehen dem in der Bundesrepublik Deutschland einerseits der Artikel 33

Grundgesetz (Nationalitätsvorbehalt) sowie der Kultusministerkonferenz-Beschluß vom

14.12.1990 entgegen (vgl. Drechsel1993, S. 9 f.). Dieser Beschluß setzt die folgenden Eck­

punkte für die Ausbildung von Lehrern an berufsbildenden Schulen verbindlich fest: erzie­

hungswissenschaftliches Begleitstudium, zwei Unterrichtsfächer sowie Eingangsprüfung

bzw. Anpassungslehrgang als Ersatz für fehlenden Vorbereitungsdienst. Ähnliche Verfas­

sungsbestimmungen bzw. Gesetze haben beispielsweise auch Belgien, Dänemark, Italien,

Griechenland, Luxemburg und Frankreich (vgl. Berggreen 1989, S. 753). Auch der Vertrag

von Maastricht schaffte hierfür keine Klärung. So werden zwar mit dem Artikel 128 Mög­

lichkeiten für eine gemeinschaftliche Bildungspolitik geschaffen, aber diese darf die nationa­

len Bildungspolitiken allenfalls unterstützen.

Theorie-Praxis-Problem 189

3 Theorie-Praxis-Problem

Ausbildung und Tätigkeit von Lehrern erfolgen im Spannungsfeld von Theorie und Praxis.

Durch die inhaltlich-organisatorische Gestaltung der Ausbildung in einer ersten Phase an der

Universität und einer zweiten Phase im Studienseminar wird dieses Spannungsfeld aufge­

baut. In ihrer späteren beruflichen Tätigkeit als Lehrer erfahren sie sich als Theorielehrer, die

mit den sogenannten Lehrern für Fachpraxis kooperieren (müssen). Sie unterrichten Schiller

an berufsbildenden Schulen, die ihre berufspraktischen Erfahrungen jedoch im Betrieb ma­

chen (~ LB, Konzepte betrieblichen Lernens; ~ LS, Konzepte schulischen Lernens). Fol­

gendes Schaubild zeigt das Spannungsfeld im Überblick (vgl. Schaubild 1).

Wissenschaftliche Ausbildung (1. Phase: Universitätsstudium)

Lemort Betrieb

Lehrer für Fachpraxis

Lehrertätigkeit

Theorielehrer

Lemort Schule

Praxisbezogene Ausbildung (2. Phase: Referendariat im Studienseminar)

Schaubild 1: Spannungsfeld von Theorie und Praxis in der Lehrerausbildung und -tätigkeit

Das Theorie-Praxis-Problem, das sich insbesondere in der Lehrerausbildung stellt, ist das

Problem der institutionalisierten Trennung einer theorie- und wissenschaftsorientierten

Ausbildung an der Universität in der ersten Phase und einer praxis- und handlungsorientier­

ten Ausbildung im Studienseminar in der zweiten Phase.

190 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

Wenngleich beide Institutionen gemeinsame Interessen verfolgen, nämlich die Entwicklung

pädagogischen Könnens sowie die fachdidaktische Ausbildung, entsteht durch die institutio­

nelle Trennung ein Abstimmungsproblem. Der Universität wird häufig der Vorwurf gemacht,

sie vermittle Wissen, welches für die berufliche Praxis wenig brauchbar erscheint. Thr wird

vorgehalten, den angehenden Lehrern keine realistischen Einblicke in ihren späteren Beruf­

salltag zu gewähren. Die Studienseminare hingegen sehen sich Vorwürfen ausgesetzt, in der

theoretischen Diskussion rückständig zu sein.

An dieser Kritik setzten auch Reformen der Lehrerausbildung ein, die zu Beginn der 1970er

Jahre in Osnabrück und Oldenburg für die Handelslehrerausbildung initiiert wurden. Sie

wurden an den Universitäten als einphasige Lehrerausbildungen angelegt. Diese Reformver­

suche wurden jedoch 1976 bzw. 1981 wieder eingestellt. Auch die einphasige Lehrerausbil­

dung in der DDR wurde mit der Wiedervereinigung durch eine zweiphasige abgelöst.

Die Ausbildung der Lehrer an berufsbildenden Schulen ist seitdem regulär zwei- bzw. drei­

phasig angelegt. Die erste Phase ist das Hochschulstudium mit den Bestandteilen Berufs­

ausbildung bzw. Berufspraktika und Schulpraktikum und die zweite Phase das Referendari­

at. Als dritte Phase kann schließlich der Bereich der Lehrerfortbildung gesehen werden.

Bei der ersten Phase handelt es sich um ein grundständiges Lehrerstudium, das mit dem er­

sten Staatsexamen bzw. dem Diplom abschließt Bestandteil des Studiums sind in vielen

Universitäten Schulpraktika, die semesterbegleitend oder in Blockform durchgeführt wer­

den. Sie sollen angehende Lehrer mit Berufsrealität konfrontieren und sie zur kritischen Re­

flexion des Lehrerberufes anregen (vgl. Peters 1986, S. 102 f.). Dabei können aber die All­

tagsbelastung von Lehrern, deren Verantwortung sowie die aufkommende Routine im Be­

rufsleben nicht erlebt werden (vgl. Rothgängel 1988, S. 101). Schulpraktika sollen aber für

das weitere Studium motivieren.

Bei der zweiten Phase der Lehrerbildung handelt es sich um den staatlichen Vorbereitungs­

dienst für Referendare. Ein Blick in die Geschichte des Vorbereitungsdienstes zeigt auf, wie

sich dessen Bedeutung für die Lehrerausbildung entwickelte. Am 30.6.1933 errichtete Preu­

ßen richtungsweisend das sogenannte Kandidatenjahr für angehende Handels- und Gewerbe­

lehrer (vgl. Grüner 1975, S. 764). Zwei Jahre später wurden Arbeistgemeinschaften für die

Kandidaten an den Ausbildungsschulen gebildet. Vierzehntägig trafen sich etwa drei bis

sechs Kandidaten und hielten Lehrproben ab. Als direkte Konsequenz aus der Akademisie­

rung der Gewerbelehrerausbildung in den 1960er Jahren wurde dann das Kandidatenjahr in

ein Referendariat umgewandelt. Die angehenden Lehrer hatten nämlich an den Universitäten

Theorie-Praxis-Problem 191

vor allem fachtheoretische Veranstaltungen zu belegen, die praktisch-pädagogische Ausbil­

dung kam zu kurz (vgl. Baritsch 1960, S. 758 f.). Aus den Arbeitsgemeinschaften entstanden

dann die Studienseminare, in denen die fachdidaktische Ausbildung dominierte (vgl. Grüner

1975, S. 764). Am 1.7.1960 wurde so zum Beispiel in Hamburg das zweijährige staatliche

Studienseminar gegründet. Für Handelslehrer bestand allerdings bereits ein Jahrzehnt früher

eine einjährige entsprechende Ausbildung (vgl. Meier 1962, S. 586).

Das Hauptziel der Ausbildung von Referendaren in der zweiten Phase liegt in der Förderung

beruflicher Handlungskompetenz und Professionalisierung für die Arbeit an beruflichen

Schulen. Die Inhalte im Studienseminar beziehen sich auf das Handlungsfeld Schule und

Unterricht. Sie reichen von der Unterrichtsplanung über die didaktisch-methodische Umset­

zung bis hin zur Evaluation, Selbstreflexion und Leistungsbewertung.

Probleme, die in der zweiten Phase der Lehrerausbildung auftreten können, sind vielfältiger

Natur. Beklagt wird häufig die zu starke Abhängigkeit der Referendare vom Fachleiter im

Studienseminar und die Distanz zu den in der ersten Phase aufgearbeiteten Theorien. Zum

Problem wird auch, daß das pädagogisch-didaktische Handeln bei den Vorbereitungen auf

das Unterrichten zunächst hinter die Aufbereitung von Lehrinhalten zurücktritt. Es wird nur

allzu bereitwillig theorieloses Rezeptwissen aufgenommen (vgl. Adolph 1990, S. 160).

Analog zum Theorieschock in der ersten Ausbildungsphase tritt hier ein Praxisschock auf.

Dieser Praxisschock kann nicht dadurch verhindert werden, daß den Studienreferendaren

häufig sogenannte Problemklassen vorenthalten werden. Er wird nur zeitlich verzögert und

tritt dann aber verstärkt auf.

Die Lehrerfortbildung kann als eine dritte Phase der Lehrerausbildung betrachtet werden. Sie

umfaßt alle Maßnahmen, die zur Sicherung, Aktualisierung, Erweiterung und Vertiefung

vorhandener Qualifikationen oder zum Erwerb zusätzlicher Qualifikationen im Bereich der

Fachwissenschaft, der Fachdidaktik, der Fachpraxis sowie der Erziehungswissenschaft die­

nen (vgl. Schirra 1985, S. 359; Winke 1978, S. 306). Notwendig sind aber auch Angebote

im sozial-persönlichen Bereich. Dies erscheint angesichts frühzeitiger Pensionierungen unter

Lehrenden, auftretenden Burnout-Syndromen und Schulmüdigkeit umso bedeutsamer (vgl.

Neumann 1990, S. 184, S. 189). Eine Studie zum Fortbildungsverhalten von Lehrern und

Lehrerinnen zeigte aber gerade, daß solche Veranstaltungen kaum angeboten und außerdem

wenig nachgefragt wurden (vgl. Pätzold 1988, S. 189). Es dominieren statt dessen Veran­

staltungen zur Aktualisierung fachwissenschaftlicher Kenntnisse.

192 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

Noch stellt die Lehrerfortbildung einen Bereich mit Entwicklungsbedarf und -perspektiven

dar. Der Bedarf läßt sich aus einer Teilnehmerbewertung von Veranstaltungen erkennen. 42

% bzw. 37 % der befragten Lehrer gaben an, daß ihnen umfassende bzw. rechtzeitige infor­

mationen zu entsprechenden Veranstaltungen fehlten, 33 % sprachen von zu hoher Bela­

stung trotz Freistellung vom Unterricht, 45 % bzw. 23 % berichteten von schulorganisatori­

schen bzw. administrativen Schwierigkeiten und immerhin noch 10 % stuften die Veranstal­

tungen als ineffizient ein (vgl. Pätzold 1988, S. 189).

Betriebliches Ausbildungspersonal 193

4 Betriebliches AusbUdungspersonal

Betriebliche Bildung umfaßt ein breites Spektrum von Konzepten und Methoden, die vom

Imitationslernen am Arbeitsplatz (Vormachen und Nachmachen) bis zum betrieblichen Un­

terricht reichen (~ LB, Konzepte betrieblichen Lemens). Betriebliches Ausbildungspersonal

sollte das Methodenspektrum kennen und möglichst beherrschen, auch wenn eine Arbeitstei­

lung zwischen verschiedenen Personen erfolgt

Die unterschiedlichen Aufgaben und Vorgehensweisen bei der Unterweisung im Betrieb er­

fordern betriebliches Ausbildungspersonal, das an den jeweiligen Einsatzorten eine qualifIZie­

rende Ausbildung gewährleisten kann. Die Anzahl der am betrieblichen Ausbildungsprozeß

Beteiligten richtet sich nach der Betriebsgröße und nach der Branche. Während in Kleinbe­

trieben zuweilen nur eine Person mit Ausbildungsaufgaben betraut ist (und das manchmal

nur mit einem Teil der Arbeitszeit) haben mittlere und größere Betriebe Ausbildungsabtei­

lungen mit Personal auf verschiedenen Hierarchiestufen.

Wieviele Personen ganz und teilweise mit Ausbildungsaufgaben betraut werden, hängt von

den betrieblichen Entscheidungen ab. Das Berufsbildungsgesetz (~ R, Rechtlich­

institutionelle Grundlagen) schreibt im § 22 (1) lediglich vor, daß die Zahl der Auszubilden­

den in einem angemessenen Verhältnis zur Zahl der Ausbildungsplätze oder zur Zahl der

beschäftigten Fachkräfte stehen muß.

Qualifizierung und Auswahl des Ausbildungspersonals unterscheiden sich deutlich von Bran­

che zu Branche und von Betrieb zu Betrieb. Sie hängen ab von der Ausbildungskonzeption

des Betriebes, von der Bereitschaft, in Ausbildung zu investieren, und auch von den Perso­

nalressourcen, die dem jeweiligen Betrieb zur Verfügung stehen.

In großen Betrieben ist zumeist folgende Hierarchie auszumachen: Im Funktionsbereich Per­

sonalwirtschaft ist die Ausbildung meist eine selbständige Organisationseinheit, die von ei­

nem Ausbildungsleiter geführt wird. Diese Führungspositionen werden in der Regel mit aka­

demisch qualifizierten Fachkräften wie Diplom-Kaufleuten, Diplom-Handelslehrern oder

Diplom-Ingenieuren besetzt. Selten fmden sich auch Nichtakademiker in Führungspositionen

wieder, die sich, aus dem Betrieb kommend, zu dieser Ebene emporgearbeitet haben.

Der Ausbildungsleiter widmet sich ausschließlich allgemeineren Ausbildungsfragen ein­

schließlich der Vertretung von Ausbildungsinteressen des Betriebes nach außen. Er ist der

Ansprechpartner für die Zuständige Stelle. Innerbetrieblich obliegt ihm die Organisation der

Ausbildung, wozu auch die Einsatzplanung für die einzelnen Ausbilder gehört. Der Auszu-

194 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

bildende hat im Regelfall mit dem Ausbildungsleiter keinen direkten Kontakt, es sei denn bei

der Einstellung oder in Konfliktfällen.

Auf der nächsten Ebene in der Ausbildungshierarchie in großen Betrieben befmden sich die

Ausbilder. Dieser Begriff ist durch das Berufsbildungsgesetz im § 20 festgelegt worden.

Ausbilder sind demnach solche Personen, die fachliche und persönliche Voraussetzungen für

die Ausbildung besitzen. Die fachliche Eignung ist der Ausbildungsaufgabe entsprechend

doppelter Natur: Der Ausbilder muß ein ausgewiesener Fachmann sein, der für die Ausbil­

dungsberufe, für die er ausbildet, über die entsprechenden beruflichen Qualifikationen ver­

fügt. Daneben muß er auch berufspädagogische Kenntnisse nachweisen. In § 2 der Ausbil­

dereigungsverordnung, die auf Grund des Berufsbildungsgesetzes erlassen wurde, sind diese

wie folgt festgelegt:

• Grundfragen der Berufsausbildung,

• Planung und Durchführung der Ausbildung,

• Der Jugendliche in der Ausbildung,

• Rechtsgrundlagen.

In großen Betrieben gibt es zunächst Ausbilder, die ihre Aufgabe hauptberuflich wahrneh­

men und jeweils für Berufe und Berufsfelder zuständig sind. Bundesweit dürfte es ca.

500000 Ausbilder geben, die diese Funktion auch tatsächlich ausüben.

Unterhalb der Ebene dieser durch Ausbildereignungsverordnung formal ausgewiesenen

Ausbilder gibt es in den Betrieben eine große Personenzahl, die Ausbildung betreibt und die

unter der Bezeichnung "ausbildende Fachkräfte" tätig sind. Bis vor einigen Jahren war die

Benennung dieser Personengruppe sehr uneinheitlich. Es wurde von Arbeitsplatzausbildern,

von Anleitern, (noch früher) von Lehrgesellen gesprochen. Das Bundesinstitut für Berufsbil­

dung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) hat hier durch die konsequente Verwendung

des Begriffs "ausbildende Fachkraft" normierend gewirkt

Ausbildende Fachkräfte brauchen keinen formalen Nachweis ihrer Ausbildungseignung.

Trotzdem wird immer wieder die pädagogische Qualillzierung auch dieser Personengruppe

gefordert, weil sie die eigentliche Qualift.zierungsleistung erbringt. Die Zahl der ausbildenden

Fachkräfte wird auf ein Vielfaches der Zahl der Ausbilder geschätzt. Daher ist es verständ­

lich, daß die Unternehmen sich der Forderung nach einer wie auch immer gearteten Ausbil­

dung dieser Personengruppe widersetzen. Allerdings gibt es auch viele Personen, die in der

Funktion von ausbildenden Fachkräften tätig sind und die Ausbildereignungsprüfung abge­

legt haben.

Betriebliches Ausbildungspersonal 195

In Klein- und Mittelbetrieben schrumpfen die weiter oben aufgeführten drei Hierarchieebe­

nen (Ausbildungsleiter, hauptamtliche Ausbilder und ausbildende Fachkräfte) häufig zusam­

men. So kann es vorkommen, daß ein Ausbilder für die Organisation der Ausbildung ver­

antwortlich ist und gleichzeitig die Ausbilderfunktionen wahrnimmt "Ausbilderfunktion"

bedeutet hier beispielsweise, in der Lehrwerkstatt zu unterweisen, die Auszubildenden auf

die zuvor für die Ausbildung ausgesuchten betrieblichen Arbeitsplätze vorzubereiten usw. Er

bedient sich dann der ausbildenden Fachkräfte, die Teile der Ausbildungsaufgaben - vorwie­

gend am Arbeitsplatz - übernehmen.

In kleinen Betrieben steht häufig kein hauptamtlicher Ausbilder zur Verfügung. Der Meister

oder eine andere Person, die über die Ausbildereignung nach Ausbildereignungsverordnung

verfügt, werden während ihrer Arbeitszeit auch mit Ausbildungsaufgaben betraut. Diese Per­

sonengruppe wird daher als "nebenamtliche Ausbilder" bezeichnet Welchen Anteil seiner

Arbeitszeit ein solcher nebenamtlicher Ausbilder für Ausbildungsaufgaben zur Verfügung zu

stellen hat, hängt von der Zahl der zu betreuenden Auszubildenden und auch davon ab, für

wie wichtig der Betrieb die Ausbildungsaufgaben einschätzt. Bei der Ermittlung der Ausbil­

dungskosten (~ R, Kosten und Nutzen) wird hier häufig ungenau und wenig korrekt verfah­

ren, was zu falschen Aussagen über die tatsächlichen Ausbildungskosten führen kann, die mit

der Ausbildung tatsächlich einhergehen.

Kleinstbetriebe haben häufig nur eine Ebene, wenn der Betriebsinhaber beispielsweise als

Meister gleichzeitig die Koordination der Ausbildung übernimmt, gegebenenfalls praktische

und theoretische Unterweisungen erteilt und die Ausbildung am Lernort Arbeitplatz selbst

oder zusammen mit anderen durchführt. Damit übt er alle drei Funktionen in seiner Person

aus, was dann mit der handwerklichen Ausbildung im Mittelalter vergleichbar ist.

Nicht zu verwechseln mit dem Ausbilder ist der Ausbildende. Dies ist nach § 3 (1) Berufsbil­

dungsgesetz die zuständige Person, die das Ausbildungsverhältnis vertraglich begründet, d.

h. der Betriebsinhaber bzw. der dazu Berechtigte.

Außerhalb von Betrieben sind Ausbilder in vereinzelten Fällen auch in beruflichen Schulen

beispielsweise bei der praktischen Unterweisung tätig. Insbesondere versehen sie aber auch

Aufgaben in überbetrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbildungsstätten.

Erstmalig wurden durch das Berufsbildungsgesetz von 1969 die Qualifikationen für Ausbil­

der festgelegt und in der Ausbildereignungsverordnung von 1972 spezifiziert Die Ausbil­

dung der Ausbilder wurde auf einen Umfang von 120 bis 200 Stunden begrenzt. Inhaltlich

196 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

konkretisiert stehen sie in einem Rahmenplan, der im Jahre 1992 vom Hauptausschuß des

Bundesinstituts für Berufsbildung (~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) neu gefaßt wur­

de. Er enthält Empfehlungen für eine aktualisierte, den veränderten und gestiegenen Anfor­

derungen an Ausbildern entsprechende Ausbildung (vgl. Merk 1993, S. 25 ff.).

Leitidee ist auch die Beförderung der beruflichen Handlungsfähigkeit (~ Z, Berufliche

Handlungsfähigkeit; ~ P, Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit), in der ein tragfähiges

Konzept auch für eine modeme fachliche, berufs- und arbeitspädagogische Qualifizierung

von Ausbildern erkannt wird. Neben der beruflichen Handlungsfähigkeit wird zudem auf das

neue Rollenverhalten eines Moderators und Gestalters von Lernprozessen verwiesen, über

das Methoden- und Sozialkompetenz von Ausbildern befördert werden sollen (~ P, Mode­

ratorenausbildung). Erwähnt wird auch die Beförderung von Planungskompetenz, die sich

dann erweist, wenn Ausbilder den Rahmenstoffplan als offenes Konzept für die Gestaltung

beruflicher Bildung annehmen und nach Prinzipien des handlungsorientierten Lernens (~ D,

Neue Leitideen, Ansätze und Entwürfe) umsetzen können.

Daß diese Empfehlungen des Bundesinstituts aber auch tatsächlich schon die Qualität von

Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Ausbildung der Ausbilder haben, ist zumindest

zweifelhaft. Der Rahmenstoffplan zeigt nämlich die nicht unbekannten Merkmale eines bil­

dungspolitischen Kompromisses vor allem zwischen den im Hauptausschuß vertretenen Ar­

beitgeber- und Arbeitnehmervertretern: Die richtungsweisenden Prinzipien, die aktuelle An­

strengungen zur Modernisierung auch der Ausbildung der Ausbilder aus berufspädagogi­

scher Sicht anleiten sollten, fmden sich nämlich nur im Vorwort wieder. Unangetastet blei­

ben die stoffliche Gliederung und vor allem die Prüfungspraxis, in der fachlich geordnetes

Wissen üblicherweise in einer Unterweisungsprobe nach der Vier-Stufen-Methode (~ LB,

Konzepte betrieblichen Lernens) abgeladen wird. Es bedarf kaum hellseherischer Fähigkei­

ten, um erkennen zu können, daß es letztlich doch wieder die Ausbildungsbetriebe und das

betriebliche Ausbildungspersonal selbst sind, die diese Empfehlungen des neuen Rahmen­

stoffplans aufnehmen und in eine verbesserte Praxis der Ausbildung von Ausbildern umset­

zen müssen.

Kooperative Selbstqualijizierung 197

5 Kooperative Selbstqualifizierung

Facharbeiter und Fachangestellte werden auch weiterhin Aufgaben zu bewältigen haben, die

als "gut-strukturiert" gelten dürfen. Jedoch sind auch diese Aufgaben immer eingebunden in

einen Aufgabenzusammenhang. Es genügte bei hierarchischen Weisungsbeziehungen im Be­

trieb, um diesen Zusammenhang zu wissen, ohne ihn jedoch auch im Detail kennen zu müs­

sen. Die Situation änderte sich mit dem Übergang zur dezentralisierten Koordination und

Konfiguration der Weisungsbeziehungen. Mitentscheidend für eine erfolgreiche Aufgaben­

bearbeitung ist dann aber auch das Wissen über die eigene Leistung im betrieblichen Aufga­

ben- und Arbeitszusammenhang.

Für die Bewältigung anspruchsvollerer Aufgaben bedeutet dies, " ... mit komplexen, offenen

Situationen selbständig und kreativ umzugehen, wobei Kriterien des erfolgreichen Handelns

vom handelnden Subjekt selbst mitdefmiert werden können bzw. müssen" (Pätzold 1996, S.

188). Mit dem Übergang zur ganzheitlichen Bearbeitung der Aufgaben werden diese nicht

nur komplexer sondern auch kontingent: Prozesse und Ergebnisse erfolgreichen beruflichen

Handelns sind immer auch anders denkbar und tatsächlich erfahrbar als zunächst vorgestellt

Wie ist dann aber betriebliche Qualifizierung für die Bewältigung komplexer und kontingen­

ter Anforderungssituationen möglich? Wie können vor allem Ausbilder und Weiterbildner

auf die Gestaltung und Bewertung dieser Qualifizierungsprozesse im Betrieb vorbereitet

werden? Hierfür ist u. a. der Vorschlag der "kooperativen Selbstqualiftkation" gemacht wor­

den: "Kooperative Selbstqualiflkation besagt, daß fachlich gebildete Personen mit unter­

schiedlicher Erfahrung und Spezialisierung miteinander und voneinander an einem Problem

oder in einem Projekt - also direkt "vor Ort" -lernen" (Heidack & Schulz 1993, S. 105).

Das Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation ist ein sehr weitreichender Vorschlag zur

Gestaltung von Weiterbildung und Qualifizierung von Aus- und Weiterbildnern, wenn seine

Voraussetzungen und Bedingungen mitbedacht werden. Folgendes Schaubild 2 vermag die­

sen Zusammenhang anzuzeigen.

Kooperative SelbstqualifIkation wird zumeist dem situativen Lernen "vor Ort", d. h. am Ar­

beitsplatz zugerechnet (~ LB, Arbeiten und Lernen). Sie kann jedoch auf systematisches

Lernen, d. h. auf Lernen im innerbetrieblichen Unterricht, in Lehrgängen, Kursen, Seminaren

u. a. nicht verzichten (~ LB, Merkmale betrieblichen Lernens). Systematisches Lernen ist

auch bei kooperativer Selbstqualifizierung dann vorteilhaft, wenn es gilt, Vorstellungen zu

gewinnen, die durch Erfahrungen und Wahrnehmung im Betrieb bzw. den notwendigerweise

begrenzten Arbeitszusammenhängen im Betrieb nicht angeregt werden können. Dies ist dann

198 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

der Fall, wenn Wissen über den eigenen Arbeitsbereich im Zusammenhang betrieblicher

Wertschöpfungsketten nötig ist, Vorstellungen von alternativen Produktions-, Arbeits- und

Organisationsformen zu erzeugen sind, bisher nicht erfahrene Kooperations- und Kommuni­

kationsformen tatsächlich erlebt und auf Transfermöglichkeiten in die eigene berufliche Pra­

xis geprüft werden sollen usw.

~ / ~ /

"" 7

'" /

"" 7

Situativ~ Lernen Kontinuierliches Aushandeln des

Arbeiten und Lernen Konzeptes KSQ in einander

S . T widersprechenden Verhaltenserwar-

ystemattsches Lernen longen ("lernende

I Organisation")

1/ Qualifizierungsstategie: SOL \ I

1/ !

\ Gestaltung von Lernumgebungen fürKSQ

I

/ '" \ Betriebliches Gratiftkationssystem für KSQ

I

1/ +

\ Unterstützung von KSQ durch Vorgesetzte und Unternehmensleitung

I

1/ Entwicklung von Unternehme~kultur und Wertorientierung \ fürKSQ

SOL: Selbstorgamsiertcs Lernen KSQ: Kooperative SelbstqualifIZierung

Schaubild 2: Voraussetzungen und Bedingungen kooperativer Selbstqualiftkation

Kooperative Selbstqualijizi,erung 199

Allerdings bekommt systematisches Lernen im Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation

eine andere Funktion und einen anderen Stellenwert als in tradierten Konzepten eingeräumt

Systematisches Lernen wird dabei nicht an die Lernenden verabreicht. Es ist statt dessen ein

Bildungsangebot, das dann in Anspruch genommen wird, wenn es erkennbar gebraucht wird,

und mit dem situativen Lernen sinnvoll und möglichst ertragreich verbunden werden kann.

Anders als im tradierten systematischen Lernen sind hier die Lernenden in der betrieblichen

Aus- und Weiterbildung gefordert, ihren Bildungsbedarf "vor Ort" selbst zu erkennen, zu

begründen und in Kooperation mit den Mitarbeitern der Bildungsabteilungen eine Auswahl

aus dem Bildungsangebot zu treffen. Im Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation wird

das Aufgabenprofil von Aus- und Weiterbildnern als Unterweisende deshalb erweitert um die

Aufgabe des Lernberaters (~P, Moderatorenausbildung).

Kooperative Selbstqualiftkation am Arbeitsplatz und im Verbund von situativem und syste­

matischem Lernen verweist auf eine neue Qualifizierungsstrategie: selbstorganisiertes Ler­

nen. Es ist nicht nur eine neue Methode betrieblichen Lernens, die effektiver ist als andere

Methoden. Selbstorganisiertes Lernen gründet in neuen subjektwissenschaftlichen Theorien

von Wahrnehmung, Erkennen und Handeln (vgl. Dürr 1995; Lumpe 1995). Es fordert neue

didaktische Konzepte an, die Lernen ermöglichen und befördern können und mit den eher

vertrauten Konzepten einer Instruktionsdidaktik nicht mehr vergleichbar sind (vgl. Deitering

1995; Greif & Kurtz 1996). Aus- und Weiterbildner, die sich auf das Konzept der kooperati­

ven Selbstqualiftkation einlassen, müssen sich dieser Grundlagen vergewissern, wenn sie

Aus- und Weiterbildung theoriegeleitet gestalten und ihr eigenes Handeln unter demselben

Anspruch auch reflektieren und bewerten wollen.

Auf das Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation abzustimmen sind auch die Lernum­

gebungen mit Lernquellenpool, (multi)medialer Ausstattung für Präsentation und Moderati­

on, Gruppenarbeitsräumen, Handbibliotheken u. a. Mitentscheidend für die erfolgreiche Um­

setzung des Konzeptes der kooperativen SelbstqualifIkation ist auch das betriebliche System

von GratifIkationen. Wurde bisher betriebliche Weiterbildung nicht selten als "Belohnung"

für erfolgreiches berufliches Handeln zugeteilt, verkehrt sich das Verhältnis von beruflichem

Erfolg und Weiterbildung im Konzept der kooperativen SelbstqualifIkation: Nicht Beloh­

nung durch Weiterbildung, sondern Belohnung der Weiterbildung sollte dem Lernenden si­

gnalisieren, daß seine Weiterbildungsaktivitäten im Betrieb geschätzt werden. Auf diese ver­

änderte Bedeutung von Weiterbildung im System betrieblicher QualifIkationen wäre auch

das sogenannte Bildungscontrolling abzustellen, das mit der Beförderung von kooperativer

200 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

Selbstqualiftkation vor völlig neue und bisher kaum bearbeitete Aufgaben der Bewertung

von betrieblicher Aus- und Weiterbildung gestellt wird.

Kooperative Selbstqualiftkation im Betrieb muß durch Vorgesetzte und die Unternehmens­

leitung gestützt werden. Diese Unterstützung ist sicherlich leichter einzufordern, als in be­

triebliche Praxis umzusetzen. Zu sehr ist das Bild von Arbeitern und Angestellten noch durch

die Sichtweise der "Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung" von Frederick W. Tay­

lor mit dem darin eingeschriebenen Mißtrauen gegen die Leistungs- und Bildungsbereitschaft

bei Arbeitern geprägt, als daß sich Vorgesetzte und Unternehmensleitungen leichten Herzens

davon verabschieden könnten. Dennoch gilt es, dem Konzept der kooperativen Selbstquali­

f!kation zu trauen und den Mitarbeitern, die dieses Konzept umsetzen, auch zu vertrauen.

Betriebsorganisatorisch absichern läßt sich das Konzept der kooperativen Selbstqualiftkation

in vielfältigen Formen des symbolischen Organisierens, durch kooperative Formen der Per­

sonalausbildungs- und Personalentwicklungsplanung bis hin zu projektorientierter Selbst­

qualiftkation im Verbund von Personal- und Organisationsentwicklung. Allesamt sind es

weitreichende Veränderungen von Betriebs- und Unternehmensorganisationen, die bewußt

und nachhaltig auch durch Führungsentscheidungen im Unternehmen vorbereitet, gesteuert

und gestützt werden können.

Und schließlich muß kooperative Selbstqualiftkation eingebettet sein in den allmählichen

Wandel der Unternehmenskultur und des betrieblichen Systems von Wertorientierungen.

Gegenseitiges Vertrauen gehört ebenso zu dieser neuen Unternehmenskultur wie auch die

Vorstellung von Personalentwicklung mit dem Anspruch auf Bildung und einer Arbeits- und

Wirtschaftsethik, die auch im Betrieb konkret erfahren werden kann.

In diesem erweiterten Kontext von kooperativer Selbstqualiftkation und ihren Bedingungen

und Voraussetzungen erscheint das Konzept als ein Idealtypus betrieblicher Aus- und Wei­

terbildung. Es muß deshalb auch geprüft werden, welche Bedeutung dieser Idealtypus für

die Qualifizierung von Aus- und Weiterbildnern überhaupt hat bzw. haben könnte.

Eine erste Bedeutung ergibt sich direkt aus dem Wissen um die Voraussetzungen und Be­

dingungen des Konzeptes selbst. Nur wer die Prämissen dieses anspruchsvollen Konzeptes

kennt, vermag auch die Chancen, Schwierigkeiten und Risiken einer Umsetzung in betriebli­

che Praxis abzuschätzen. Dies war in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Beson­

ders in den 197Üer Jahren wurden enttäuschende Erfahrungen mit verschiedenen Konzepten

Kooperative Selbstqualifitierung 201

der "Humanisierung der Arbeit" gemacht, weil diesen häufig nur unzureichende Analysen

von Eingriffen in systemische Verflechtungen vorausgegangen waren.

Eine zweite Bedeutung idealtypischer Entwürfe entsteht in der Verwendung als Leitidee für

Reformen in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Als Leitidee sind sie solange akzep­

tabel, wie sich Reformanstrengungen daran ausrichten können. So sind beispielsweise mit

dem neuen Rahmenstoffplan des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung

(~ B, Bundesinstitut für Berufsbildung) für die Ausbildung der Ausbilder von 1992 in den

ersten Teil "Grundfragen der Berufsausbildung" auch Empfehlungen eingegangen, das Per­

sonal in der Berufsausbildung, seine Stellung und Bedeutung in der Unternehmung zu the­

matisieren und für Veränderungen aufzuschließen. Hier könnte direkt mit einer systemischen

Sichtweise auf das Konzept der kooperativen Selbstqualiftkation angeschlossen werden.

Des weiteren können idealtypische Konzepte der kooperativen Selbstqualiftkation zur Ori­

entierung in den Fällen herangezogen werden, in denen neue Vorstellungen von Aus- und

Weiterbildung mit tradierten konfligieren. Hier gilt es dann, auf der Basis der neuen Vorstel­

lungen das Konzept der kooperativen Selbstqualiftkation im Spannungsfeld einander wider­

sprechender Verhaltenserwartungen "auszuhandeln". Gerade die Erfahrung mit erfolgreich

verlaufenden Reformen im Feld der beruflichen Bildung zeigte immer wieder auf, wie wich­

tig solche Leitideen wie "Schlüsselqualiftkationen", "Handlungsorientierung", "Selbst­

organisiertes Lernen" u. a. als Verständigungsformeln für das "Aushandeln" von Innovatio­

nen in der beruflichen Bildung auch für die daran beteiligten Ausbilder und Weiterbildner

waren (~BWP, Systemische Innovationsleistung).

202 Ausbildung der Lehrer und der Ausbilder

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Strukturbegriff: Perspektiven Ausbildung ~:::"'l--\?-li~~~=-I\,L--+:::::::~ ZieIsetzuDseo

der Lebrcr UIld der Ausbilder

LernortBetrieb

1 Perspektiven eines Strukturmodells der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Das Strukturmodell wurde konstruiert aus neun Strukturbegriffen. Auffiillig ist, daß diese

Strukturbegriffe in ein Netzwerk eingewoben sind. Zwei Gründe seien hierfür angeführt:

• Wenn wir die Berufspädagogik und die Wirtschaftspädagogik als wissenschaftliche Dis­

ziplinen einander annähern wollen, benötigen wir eine Perspektive, die für beide Diszipli­

nen annehmbar ist und über die beide Disziplinen sowohl unterschieden als auch aufein­

ander bezogen werden können. In der systemischen Sichtweise fmden wir diese Perspek­

tive.

• Systemisches Denken wird notwendig, um eine komplexer werdende Umwelt überhaupt

erkennen, beschreiben und gestalten zu können. Wer aber systemisches Denken und Han­

deln als Lehrerin, Ausbilderin oder Weiterbildnerin bei Schülerinnen, Auszubildenden und

anderen jungen Erwachsenen befördern will, muß es möglichst selbst gelernt haben. Des­

halb wurde fUr dieses Buch eine systemische Sichtweise und in Ansätzen auch eine syste­

mische Sprache gewählt

Diese beiden Thesen werden nun erläutert, zunächst als Perspektiven eines Strukturmodells

Berufs- und Wirtschaftspädagogik für die Forschung und sodann für die Lehre.

Perspektiven des Strukturmodells rür die Forschung. Die Berufspädagogik und die

Wirtschaftspädagogik sind - geschichtlich betrachtet - ziemlich unterschiedliche Disziplinen.

Sie wurden zunächst institutionalisiert in verschiedenen Einrichtungen: den wissenschaft-

206 Perspektiven

lichen Handelshochschulen und den nichtwissenschaftlichen berufspädagogischen Instituten.

Sie haben verschiedene Bezugsdisziplinen, einerseits die Wirtschaftswissenschaften, ander­

erseits die Ingenieurwissenschaften. Sie bilden aus in unterschiedlichen beruflichen Fach­

richtungen, nur locker verklammert über Pädagogik und Didaktik. Berufspädagogik bezieht

sich auf Erziehung und Bildung im Medium des Berufes, Wirtschaftspädagogik dagegen

bedeutet Erziehung und Bildung im Medium wirtschaftlichen Handeins.

Einige einführende Veröffentlichungen erwecken zumeist den Eindruck, als können bereits

einheitliche oder zumindest vergleichbare wissenschaftliche Disziplinen vorgestellt werden.

Siehe hierzu:

• Amold (1994). Berufsbildung.

• Amold (1990). Betriebspädagogik.

• Amold & Lipsmeier (1995). Handbuch der Berufsbildung.

• Bunk (1982). Einführung in die Berufs, Arbeits- und Wirtschaftspädagogik.

• Schelten(1994). Einführung in die Berufspädagogik.

• Schmiel & Sommer (1985). Lehrbuch Berufs-und Wirtschaftspädagogik.

• Voigt (1975). Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

Ein Blick in Einführungen, die die Begriffe "Beruf' und "Wirtschaft" im Titel führen, zeigt

aber, daß es zumeist Einführungen in die Berufspädagogik sind. Der Anspruch, zugleich

auch in die Wirtschaftspädagogik einzuführen, wird jedoch nicht eingelöst.

Die derzeitigen Konzeptionen einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik lassen sich knapp

charakterisieren als "Wege zum gegenseitigen Vereinnahmen", obwohl dies sicherlich nicht

in der Intention der Autoren liegt.

Wir versuchen dagegen, einen anderen Weg zu gehen: Wir akzeptieren Berufs- und Wirt­

schaftspädagogik als unterscheidbare Aussagensysteme. Diese Systeme stehen zunächst

nebeneinander. Damit jedoch Berufs- und Wirtschaftspädagogen aufeinander bezogen dis­

kutieren und handeln können, haben wir ein "offenes" Strukturmodell entworfen. Mit Hilfe

der Strukturbegriffe ("Begriffe sind Gießformen für Sätze!") können nun aus berufs- und aus

wirtschaftspädagogischer Sicht Fragen diskutiert, Probleme erörtert, Konzepte entwickelt

werden, bei gegenseitiger Orientierung auf gemeinsames Handeln. Dabei muß es sich erst

erweisen, was der Berufspädagogik und der Wirtschaftspädagogik gemeinsam ist oder was

sie trennt, ob sie sich ergänzen, wo Schwerpunkte gelegt werden und was randständig ist.

Perspektiven eines Strukturmodells der Berufs- und Wirtschaftsptidagogik 207

Wenn wir neue Wege beschreiten wollen, können wir uns nicht auf ein gegenseitiges

Vereinnahmen einlassen. So bleibt nur der Versuch einer Integration - besser: Annäherung -

aus einer disziplinübergreifenden Sicht. Dies ist unsere systemische Sichtweise.

Wir haben deshalb ein offenes Strukturmodell entworfen. Darin werden zwar

Strukturbegriffe festgelegt, die weitere Bearbeitung dieser Strukturbegriffe und deren Ver­

knüpfung ist jedoch der Forschung überlassen, an der sich Berufspädagogen und Wirt­

schaftspädagogen gleichermaßen beteiligen sollten. Erste Ergebnisse stellen wir hiermit vor.

Perspektiven des Strukturmodells für die Lehre. Unser Ziel ist es, über Strukturbegriffe

ausgewählte Sachverhalte der Berufs- und Wirtschaftspädagogik anzusprechen. Die Texte

geben einen Überblick, die darin enthaltenen Literaturhinweise erlauben eine Vertiefung.

Über Querverweise sind freie Verknüpfungen mit anderen Strukturbegriffen möglich. Das

könnte dann ausschnitthaft folgendermaßen aussehen (vgl. Schaubild 1):

./ .. /

. ," .. ZielselZUllgen,-.a......,_".,....,._4.,. , ....

..... -....

...... .... ......... ,.-

... -...... -_ ...... _-.------.. , ......... -_ ....... . . ......... -.

lerno.lt Belrieb

. ... -

! ./

,/ ,/'

......

.............. -.-Didaktik beruitltlll!."..._-~\·· ···, ... Lerneos und Lehrens

.... :t ·_· . ~ .... __ .. -.... . .......... . .................... ,. \ ..

Schaubild 1: Verknüpfungsmöglichkeiten der Strukturbegriffe

..... .......

............ .....

208 Perspektiven

2 Modularisierung

Als eine Möglichkeit der Veränderung der Rahmenbedingungen beruflicher Bildung ist das

Konzept der Modularisierung zu betrachten. Modularisierung stellt ein Organisationsprinzip

der Berufsbildung dar, das eine bestimmte Anordnung und Abfolge von Ausbildungs­

bausteinen (Modulen) zum Ziel hat. Module sind standardisierte, in sich abgeschlossene und

zertifizierbare Lemangebote, die auf den Erwerb spezifischer QualifIkationen bzw. Kom­

petenzen abheben.

Das Konzept der Modularisierung wird gegenwärtig in Deutschland kontrovers diskutiert.

Mit dem Entstehen der Europäischen Union wurde die Debatte um die Einführung modu­

larisierter Ausbildungsgänge in Deutschland neu entfacht. In den Artikeln 126 und 127 des

Maastrichter Vertrages werden die Mitgliedstaaten zu stärkerer Kooperation hinsichtlich

einer gemeinsamen europäischen Berufsbildungspolitik aufgefordert. Hierdurch steht das

deutsche Berufsbildungssystem vor der Situation, mit seinem nach dem Berufskonzept

geordneten Ausbildungssystem in Konkurrenz zu modularisierten Systemen zu treten.

Solche modularisierten Systeme verwenden beispielsweise Frankreich, die Niederlande, Spa­

nien sowie das Vereinigte Königreich.

Es lassen sich unterschiedliche Ausprägungen von Modularisierung unterscheiden:

Module können erstens als curriculare Gestaltungselemente mit Ergänzungscharakter im

Hinblick auf Erstausbildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen verstanden werden. Diese

Form wird in Deutschland bereits im Rahmen der beruflichen Weiterbildung und bei der

Qualifizierung von lemschwachen Jugendlichen verwendet. So können zum Beispiel lem­

schwache Jugendliche bzw. jugendliche Arbeitslose per Modularisierung in zweieinhalb bis

dreieinhalb Jahren zum Abschluß Bürokaufmann geführt werden. Die betrieblichen und

außerbetrieblichen Lerninhalte werden in acht Modulen vermittelt. Teilnehmer, die die Maß­

nahme abbrechen, erhalten alle bis dahin absolvierten Qualifizierungen in einem Paß beschei­

nigt. Teilnehmer, die alle Module absolviert haben, werden zur Prüfung vor den Zuständigen

Stellen, hier: der Industrie- und Handelskammer, zugelassen.

Module können zweitens der Neustrukturierung existierender Ausbildungsgänge dienen,

ohne deren Ziel- und Abschlußcharakter in Frage zu stellen. Diese Form fmdet sich bei­

spielsweise in den Niederlanden und in Frankreich.

Drittens können Module Ersatz für existierende Ausbildungformen sein. Sie können indivi­

duell zertifiziert werden. Beispiele fmden sich hierfür im Vereinigten Königreich und in

Spanien.

Modularisierung 209

Radikale Kritiker sehen in der Modularisierung keine Perspektive für die deutsche

Berufsausbildung und führen hierbei u. a. folgende Argumente an: Das Abprüfen der ein­

zelnen Module würde das Prüfungswesen unnötig aufblähen. Andererseits bestehen Beden­

ken, daß zwar die Teilnahme an Maßnahmen bescheinigt würde, aber nicht der tatsächliche

Erwerb von Qualiftkationen. Es gibt auch rechtliche Einwände, da die §§ 1 und 34 des Be­

rufsbildungsgesetzes einer Modularisierung entgegenstehen, und es besteht die Gefahr, nur

noch nach dem einzelbetrieblichen Bedarf auszubilden und personale Kompetenzen nicht zu

befördern. Darüber hinaus wird langfristige Qualiftzierung unterhöhlt, wenn ausschließlich

der individuelle Bedarf als Bezugsgröße dient

Folgende Gründe sprechen für eine Modularisierung im bestehenden dualen System: Ange­

sichts der Vielzahl von Weiterbildungsträgern und deren Freiheit, Weiterbildungsangebote

zu machen, kann eine modulare Gestaltung (Standardisierung und Zertiflzierung) zu mehr

Transparenz beitragen. Mit der einhergehenden Standardisierung und ZertiflZierung können

auch Bedarfsgerechtigkeit und Qualität der Weiterbildung erhöht werden. Diese Vorzüge

der erhöhten Transparenz und Qualität zeigen sich auch im Bereich der Erstausbildung.

Während bislang nur der Ausbildungsgang als ganzer durch Qualitätsmaßstäbe abgesichert

ist, wird derzeit die Qualität der Einzelteile nicht bewertet. Zudem können nun auch Aus­

bilder an der Gestaltung von Modulen intensiv beteiligt werden, was Ausbildungsqualität nur

fördern kann.

Durch eine modulare Qualiflzierung, die auf anerkannte Berufsabschlüsse ausgerichtet ist,

können auch bislang vernachlässigte Adressatengruppen eingebunden werden, wie z. B. Per­

sonen ohne Berufsabschluß, Langzeitarbeitslose und Frauen nach einer Familienpause. Mo­

dule sind flexibler als ganze Bildungs- und Ausbildungsgänge den jeweiligen Anforderungen

der Arbeits- und Lebenswelt anzupassen.

Module können den individuellen Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen angepaßt werden.

Jeder Lernende könnte sich nach Lemschwierigkeiten und Lerntempo seinen eigenen Bil­

dungsgang zusammenstellen und dabei an bereits bearbeitete Module individuell anknüpfen.

Langfristig können mit einem sogenannten Qualillzierungspaß alle erworbenen Teil­

kompetenzen - auch bei Abbruch des Bildungsganges oder Nichtbestehen der Ab­

schlußprüfung - festgehalten und gegebenenfalls bescheinigt werden. Dieser formale Qualill­kationsnachweis könnte auch von anderen Betrieben anerkannt werden und damit zur Mobi­

lität beitragen.

Modularisierung unterstützt den Modernisierungsvorgang in der beruflichen Bildung in­

sofern, als ständig neu auftretende Qualiftkationsanforderungen konkret in Modulen

210 Perspektiven

erkennbar gemacht werden und sich einzelne Lernorte ihr jeweils eigenes Profll (Autonomie,

Organsiationsentwicklung, selbständiger Ressourceneinsatz) schaffen können.

Module können auch zwischen den Regelungen einzelner Mitgliedstaaten der Europäischen

Union vermitteln und damit einer Europäisierung der beruflichen Bildung nutzen. Unter Um­

ständen können sie gemeinsam entwickelt, gegenseitig anerkannt und von den Partner­

ländern übernommen werden.

Autonomiebestrebungen 211

3 Autonomiebestrebungen

Eine Perspektive der Berufsbildungspolitik zeichnet sich in Autonomiebestrebungen ab.

Diese Tendenzen gilt es, gegen Zentralisierungsansprüche zu unterstützen. Zu solchen Zen­

tralisierungsbestrebungen trägt auch die Berufsbildungspolitik des Bundes bei, mit der das

Bundesrecht auf Länderrecht, und damit auch auf schulische Bereiche der Berufsbildung,

ausgedehnt werden soll.

Seit Beginn der 1990er Jahre wird die Schulautonomie zunehmend zu einem bildungs­

politisch bedeutsamen Thema. Gerade in den berufsbildenden Schulen zeigt sich, daß zentra­

listische Bindungen dem notwendigen Wandel der Lerninhalte und Lernmethoden entgegen­

stehen. Eine Reform kann möglicherweise von oben initiiert, jedoch nicht zielsicher gesteu­

ert werden. Sie muß letztendlich von den auf lokaler Ebene handelnden Personen ausgehen

und umgesetzt werden.

Mit dem Begriff der Schulautonomie verbindet sich die Vorstellung, den Betroffenen in der

Schule mehr Handlungsfreiräume und mehr Eigenverantwortlichkeit zu ermöglichen. Diese

Handlungsfreiheit bezieht sich zum einen auf die pädagogisch-unterrichtliche Gestaltung und

zum anderen auf Entscheidungen über Organisation und Finanzen. Damit kann jede Schule

je nach regionalen Erfordernissen ihr ganz spezifISches Schulproftl entwickeln. Angeregt

wurde diese Diskussion in erster Linie nicht aus den veränderten Rahmenbedingungen für

die berufliche Bildung, sondern durch die Erfahrung einer mit den Stichworten "Gewalt an

Schulen", "Schulmüdigkeit", "Burnout-Syndrom", "Knappheit an fmanziellen Mitteln" etc.

zu umschreibenden Schulwirklichkeit, auf die eine zentralistische Schuladministration keine

pädagogische Antwort fand.

Die Erfahrung führte auch an beruflichen Schulen zum Nachdenken über äußere und innere

Schulreformen. Die Reichweite dieser Reformen kann unterschiedlich sein. Gegenwärtig

wird insbesondere die Teilautonomie favorisiert. Eine Form der Teilautonomie zeichnet sich

durch weitgehende Lehrplanautonomie und verstärkte Handlungsspielräume auf didaktisch­

curricularer Ebene aus. Ferner ermöglicht sie Organisationsautonomie, so daß sich schul­

spezifische Organisationsstrukturen bilden können.

Bestrebungen hinsichtlich der inneren Schulreform beziehen sich auf den verstärkten

Einsatz innovativer Lehr-Lernarrangements innethalb einer zu verändernden Schul- und

Unterrichtsorganisation. Ohne das Potential an Innovationsbereitschaft der Beteiligten, das

in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurde, wäre eine innere Schulreform heute nicht

212 Perspektiven

möglich. Sicherlich kann sich diese innere Schulreform, die sich gegenwärtig auf die

Entwicklung neuer Organisationsformen konzentriert, auf eine neue didaktische Pro­

fessionalität, auf ein verändertes Selbstbild von Lehrerinnen und neue Formen der Inter­

aktion von Schülerinnen und Lehrerinnen stützen. Ob diese Voraussetzungen jedoch bereits

hinreichend sind für eine Teilautonomisierung von Schule, ist zumindest fraglich.

Die Bestrebungen hinsichtlich der äußeren Schulreform beziehen sich hingegen auf

Schulbehörden und Schulgesetze. Tatsächlich wird auch bereits in Schulgesetzen bzw.

entsprechenden Entwürfen der Gedanke der erweiterten Eigenständigkeit der Schule und der

erweiterten Mitwirkungsrechte der an Schule Beteiligten festgeschrieben. So heißt es im §

3(4) des Hamburger Schulgesetzes von 1997:

"Die Schule ... eröffnet Schülerinnen und Schülern alters- und ent­wicklungsgemäß ein größtmögliches Maß an Mitgestaltung von Unterricht und Erziehung, um sie zunehmend in die Lage zu versetzen, ihren Bildungsprozeß in eigener Verantwortung zu gestalten."

Zu beantworten wäre für jede Schule ganz spezifisch, welcher Art und wie weit die

Veränderungen von Kompetenzen der Lehrpersonen, der Schulverwaltung, der SchuIleitung

etc. gehen. Jede Schule hätte Vorstellungen davon zu entwickeln, wie Schulverwaltung,

Schulleitung usw. zu verändern und welche weiteren Entwicklungsschritte zu gehen wären.

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik könnte diese Schritte auf dem Weg zu einer inneren

und äußeren Schulreform prozeßbegleitend und beratend erforschen.

Zielsetzung: Berufliche Handlungsjahigkeit 213

4 Zielsetzung: Berufliche Handlungsfahigkeit

Wir stellen die Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von Beruf,

Wirtschaft und Pädagogik dar. Dabei beziehen wir uns auf drei verschiedene soziale Syste­

me, die sich im Handeln und Kommunizieren an ganz unterschiedlichen Bedeutungs­

systemen orientieren. Am Beispiel von "Zielsetzungen" haben wir dieses herausgearbeitet

(vgl. Schaubild 2).

Zielsetzungen in der Berufs- und Wirtschaftspädago 'k

Aus- und Weiterbildung entsprechend den betriebswirtschaftlichen Qualifikationsanforderungen und unter Beachtung von Kosten-Leistungs-Gesichts­punkten "Funktionalität")

Individuelle Entwicklung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ("Persönlichkeitsentwicklung")

Integration junger Menschen in die Sozialsysteme der Gesellschaft durch den Beruf ("Berufliche Sozialisation")

Schaubild 2: Zielsetzungen

Betrachten wir diese unterschiedlichen Zielsetzungen "Funktionalität", "Berufliche Soziali­

sation" und "Persönlichkeitsentwicklung", können wir uns fragen, wie wir sie in einem Über­

schneidungsbereich zusammenführen können. Die Frage verweist auf Möglichkeiten der

Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Wissenschaft Als Berufs- und Wirtschaftspädagogen

können wir diese Zielsetzungen nicht einfach gegen unsere eigenen Zielsetzungen aus­

tauschen. Wir können aber versuchen, solche Zielformeln zu entwickeln, über die wir diese

214 Perspektiven

unterschiedlichen Zielsetzungen einander näherbringen können, so daß von den drei

verschiedenen Standpunkten aus aufeinanderbezogen kommuniziert und gehandelt werden

kann. Vertreter einer ökonomischen Sichtweise der beruflichen Bildung kooperieren also mit

Vertretern, denen vor allem an einer gelingenden Sozialisation durch Berufsbildung liegt,

und auch mit solchen, die vor allem eine Pädagogisierung von beruflicher Bildung im Blick

haben. Für diesen Überschneidungsbereich schlagen wir die Zielformel "Berufliche Hand­

lungsfahigkeit" vor (~LB, Arbeiten und Lernen (vgl. Schaubild 9».

Wenn wir uns die Kompetenzen anschauen, die berufliche Handlungsfähigkeit ausmachen,

dann erkennen wir, daß darin solche enthalten sind, die sich deutlich auf einzelne Zielsysteme

beziehen lassen. SachkompetenzlFachkompetenz, Gestaltungskompetenz und Sozialkom­

petenz werden als Bündel von Qualiftkationen betrachtet, die erforderlich sind, um die neuen

Produktions-, Arbeits- und Organisations strukturen umzusetzen. Damit werden insbeson­

dere ökonomische Zielsetzungen angesprochen. Die (wissenschaftliche) Methodenkompe­

tenz und die Fähigkeit zum sinnvollen Abstrahieren ergänzen diese. Moralische Kompetenz

bezieht sich auf das Handeln, das sich an ethischen und moralischen Grundsätzen orientiert,

z. B. Solidarität mit den Schwächeren und Kritik an denen, die andere sozial ausgrenzen.

Moralische Kompetenz ist wichtig für die gesellschaftliche Eingliederung des einzelnen und

für die Sicherung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Moralische Kompe­

tenz verweist deshalb insbesondere auf Ziele beruflicher Bildung, die sich aus "Beruflichkeit"

gewinnen lassen. Pädagogische Zielsetzungen sind angesprochen mit Sozialkompetenz, die

Selbstbewußtsein und Identität entwickeln hilft. Sie fmden sich außerdem in einem scheinbar

nebensächlichen Konstruktionsmerkmal dieses Modells von Handlungsfähigkeit wieder: der

Zusammenfügung der Kompetenzen zu einer Kreisstruktur. Damit wollen wir sagen, daß wir

Handlungsfähigkeit nur verstehen wollen als aufeinander bezogene Kompetenzen, die immer

im Zusammenhang bleiben müssen. Wir müssen also Lehr- und Lernarrangements

entwickeln, in denen idealerweise alle Kompetenzen im Zusammenhang befördert werden.

Wenn wir also Handlungskompetenz als kreisstrukturell geschlossene Verknüpfung von

Kompetenzen verstehen, dann sichern wir zugleich auch das pädagogische Prinzip der

Selbstbestimmung: Kreisstrukturell geschlossene Prozesse kennen keine Ursache und keine

Wirkung, keinen Output und keinen Input. Darin gibt es keine unabhängigen und keine

abhängigen Variablen, die wir manipulieren könnten. Kreisstrukturell organisierte Prozesse

haben keinen Anfang und kein Ende. Mit anderen Worten: Wir haben als Außenstehende, als

Lehrerinnen oder Ausbilderinnen, keine Möglichkeit, in diesen Prozeß, in dem Handlungs­

fähigkeit erzeugt wird (drei der sechs Kompetenzen entstehen erst in der Verknüpfung, d. h.

Zielsetzung: Berufliche Handlungsfähigkeit 215

im Prozeß selbst!), einzugreifen, es sei denn, wir zerschneiden diesen Prozeß und zerlegen

ihn in seine Bestandteile. Wenn wir aber diesen Zusammenhang zerschneiden, d. h. analy­

tisch vorgehen, können wir zwar einzelne Kompetenzen befördern, aber nicht die Hand­

lungskompetenz !

Kreisstrukturell organisierte Prozesse, in denen Handlungskompetenz entsteht, können also

von außen nur angeregt werden. Wie und wohin sich dieser Prozeß aber entwickelt, hängt

streng genommen vom Schüler oder Auszubildenden ab. Kreisstrukturell organisierte Pro­

zesse sichern deshalb die Entwicklung von Handlungskompetenz. Handlungskompetenz

kann darüber aber nicht vermittelt werden. Es können aber günstige Bedingungen für ihre

Beförderung geschaffen werden. Wenn alle Kompetenzen im Zusammenhang gefördert wer­

den und Komplexität des Lernens gewährleistet ist, dann wird auch selbstbestimmtes Lernen

gesichert. Und das genau fordert die pädagogische Sichtweise der beruflichen Bildung.

216 Perspektiven

5 Systemische Sichtweise

Wer als Lehrer oder Ausbilder systemisches Denken und Handeln vermitteln will, muß

zuerst selber lernen, systemisch zu denken und zu handeln. - Dieser Satz benennt nur eine

Binsenweisheit Mit der Entwicklung eines Strukturmodells und dem Entwurf einer Berufs­

und Wirtschaftspädagogik im Überschneidungsbereich von drei sozialen Systemen versuchen

wir, diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Uns ist dabei klar, daß wir damit hohe

Anforderungen stellen. Denn wir alle sind es nicht gewöhnt, systemisch zu denken und zu

handeln. Gewöhnt sind wir statt dessen an das linear sequentiell fortschreitende Denken und

Handeln. Dieses wurde uns in Schule und Ausbildung vorgeführt, und dieses Denken und

Handeln haben wir eingeübt. Unsere Schwierigkeit mit dem system ischen Denken wird

vielleicht deutlich im nachstehenden Schaubild 3.

Das vielfach verzweigte Netzwerk

Verzweigungen mit Rücksprung

.... ~ .... -{]/ Lineare Abfolge

Schaubild 3: Reduktion von Komplexität

4

/ Linearer Hauptstrang mit netzartigen / ~erzweigungen

2

/ verzweigungen" ohne Rücksprung in Baumstruktur

Systemische Sichtweise 217

Mit der Anforderung, systemisch zu denken und zu handeln, befmden wir uns ganz oben im

Schaubild 3. Die Netzform kennzeichnet dabei ein vernetztes Denken, das von höchster

Komplexität und Kontingenz ist. Komplexität bezeichnet die Anzahl der verknüptbaren Ele­

mente, und Kontingenz bezeichnet die Anzahl der möglichen und sinnvollen Verknüpfungen

zwischen den Elementen.

Komplexität und Kontingenz sind in einer Netzstruktur größtmöglich und nehmen auf den

Schritten zur linearen Struktur kontinuierlich ab. Auf diesem Weg reduzieren wir also Kom­

plexität und Kontingenz. Nichts anderes geschieht im Prinzip bei der didaktischen Reduk­

tion.

Wenn wir uns nun aber einmal selbstkritisch betrachten, so werden wir feststellen, daß wir

uns zur Zeit eher im unteren Bereich des Schemas befmden oder zu befmden wünschen. Was

können wir nun tun, um diesen Wünschen entgegenzukommen? Das Schaubild 3 zeigt den

Weg auf. Wir können Komplexität reduzieren in vier Schritten:

1. Schritt: Wir können einen roten Faden durch unser Strukturmodell legen und "Ausflüge"

(z. B. als Exkurse) in Nachbargebiete unternehmen. Dies würden wir sicherlich als ein nicht

sehr zielstrebiges Vorgehen empfinden.

2. Schritt: Wir können unser Konzept gliedern wie ein Buch mit Abschnitten und

Unterabschnitten in einer hierarchischen Struktur und auch Rücksprünge einbauen. Dann

würden wir uns allerdings fragen, welchen Sinn es überhaupt macht, zum Ausgangspunkt

zurückzukehren.

3. Schritt: Wir können auf Rücksprünge verzichten und streng der hierarchischen Gliederung

folgen. Mehrere nebeneinanderstehende Ziele würden gleichsam als Alternativen gesehen.

Damit würden wir aber die Kreisstruktur ganz aufgeben.

4. Schritt: Wir können schließlich nur noch einem roten Faden folgen, der uns sicher von

einem Ausgangspunkt über einen Weg zu einem Ziel führt. Damit hätten wir allerdings

jeglichen Anspruch auf die Beförderung systemischen Denkens und Handelns aufgegeben!

Anders ausgedrückt: Wir hätten die für system ische Sichtweise hohe Komplexität (Anzahl

der verknüpfbaren Elemente) und Kontingenz (Anzahl der sinnvollen Verknüpfungen)

schrittweise zurückgefahren. Und wären wieder da, wo wir schon sind, nämlich bei der

Vorstellung, daß jede Wirkung eine Ursache hat und sich Wirkungen und Ursachen gleich­

sam zu einer Kette von Wirkungszusammenhängen zusammenfügen lassen.

Genau dieses Denken hat sich jedoch als problematisch erwiesen, weil wir mit diesem

analytischen Denken komplexe systemische Zusammenhänge - z. B. ökologischer Art - nicht

mehr beschreiben, erklären, verstehen und gestalten können. Die Konsequenz für berufliche

218 Perspektiven

Bildung lautet deshalb: Komplexität erhalten, wo wir sie antreffen. Komplexität schrittweise

erhöhen, wo sie reduziert wurde.

Entwicklung kognitiver Ansätze in der Didaktik 219

6 Entwicklung kognitiver Ansätze in der Didaktik

Eine Entwicldungsperspektive für die Didaktik beruflichen Lehrens und Lernens ist in

neueren kognitiven Ansätzen konstruktivistischer Didaktik zu erkennen.

Konstruktivistische Ansätze lehnen die Vorstellung ab, das zu vennittelnde Wissen könne

direkt vom Lehrenden in die Köpfe der Lernenden umgefüllt werden. Sie sehen statt dessen

Lernprozesse als Vorgänge aktiver Konstruktion, die die Lernenden weitgehend selbst

vollziehen müssen. Mit dieser Sichtweise rückt der Lernende in den Mittelpunkt: ein Lernen­

der, der sich seine Welt und sein Wissen über die Welt selbständig auf der Grundlage seiner

bisherigen Erfahrungen konstruiert hat und neue Erfahrungen macht, die sich mit den

bisherigen zu neuem Wissen verbinden lassen. Dabei muß bedacht werden, daß dieser Kon­

struktionsprozeß stets in einen sozialen Kontext eingebunden ist.

Gestaltung von Unterricht und Unterweisung bedeutet dann:

• die Lernenden zu Eigenaktivität und Eigenkonstruktion anzuregen und ihre Problem­

lösefähigkeit, wie auch andere Schlüsselqualiflkationen, zu fördern. An die Stelle der Fak­

tenvennittlung tritt die Vennittlung transferfähigen Wissens, eines Wissens also, das fle­

xibel auf neue Problemsituationen übertragen werden kann.

• daß Alltagsprobleme bzw. -konflikte und solche Situationen, die für die Lernenden in

ihrem Arbeits- bzw. Lebenszusammenhang bedeutsam sind, als Lerngegenstände gewählt

werden.

• daß Lernen als Enkulturationsprozeß aufgefaßt wird, indem die Lernenden vor Aufgaben

gestellt werden, die sie nach dem Vorbild eines Expertenmodells zu lösen versuchen. Der

Lehrende tut dabei das, was als scajfolding and fading bezeichnet wird: Er gibt Hilfe­

stellung und nimmt seine Unterstützung schrittweise zurück. Dabei sollten möglichst viele

Interaktionsmöglichkeiten gegeben sein, sowohl der Lernenden untereinander als auch

zwischen Lernenden und Lehrenden.

• die Notwendigkeit des Einsatzes moderner Technologien, nicht nur wegen der späteren

Bedeutung in der Arbeitswelt, sondern auch wegen der durch sie zu aktivierenden Lern­

potentiale. So kann z. B. von den Lernenden über Videodisc, Film oder Hypertext die

Konstruktion von Wissen anschaulich nachvollzogen werden, wobei insbesondere auch

lernmotivierende Elemente eingebaut werden können.

• die Lernenden als aktiv problemlösende und eigenverantwortliche Menschen anzu­

erkennen, deren individuelle Überzeugungen, Gewohnheiten und Einstellungen in der

Lernsituation berücksichtigt werden.

220 Perspektiven

• Lernumgebungen zu schaffen, die eine Berücksichtigung der individuellen Umwelten der

Lernenden wie auch der Lehrenden ermöglichen. Solche Lernumgebungen sollten folg­

lich:

• authentische Situationen beinhalten, die den Rahmen und den Anwendungs­

kontext für das zu erwerbende Wissen anbieten.

• Wissen in verschiedenen Zusammenhängen präsentieren, um eine flexible Über­

tragung auf neue Problemsituationen zu ermöglichen.

• eine Problemstellung mehrperspektivisch ausleuchten und von mehreren Stand­

punkten her betrachten. Das Ziel ist dabei die Erleichterung der flexiblen Anwen­

dung des erworbenen Wissens auf andere Anforderungssituationen.

• Interaktionen und kooperatives Lernen und Arbeiten mit Gleichaltrigen und mit

Experten erlauben.

• den Lernenden weitgehende Gestaltungs- und Handlungsfreiheit gewähren. Fehler

sind dabei nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht.

Unterrichts- und Ausbildungsgestaltung enden damit nicht in der Auswahl von Inhalten und

Methoden sowie der abschließenden Ermittlung des Lernergebnisses. Lehrende sind

vielmehr auch zur Gestaltung von Lernumgebungen und zur Beförderung der Selbst­

evaluation der Lernenden aufgefordert.

Schule als Lem- und Lebensraum 221

7 Schule als Lern- und Lebensraum

In einem vom Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens in Auftrag gegebenen Gutachten

"Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" (1995) legt die Bildungskommission ein

Zukunftsszenario von Schule vor. Auch wenn sie durchweg ein idealistisches Bild vom

"Haus der Schule" aufzeichnet, sind doch einige Perspektiven enthalten, die auch Berufs­

und Wirtschaftspädagogen diskutieren sollten.

Schule ist in erster Linie ein Lern- und Lebensraum, in dem sich eine Schul- und eine

Lemkultur entwickeln muß. Dabei ist jede Einzelschule aufgerufen, die schulischen

Teilaufgaben - je nach regionalen Bedürfnissen - neu zu formulieren (vgl. Bildungs­

kommission NRW 1995, S. 30):

• Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung müssen neu gewichtet und wieder zuein­

ander in Beziehung gesetzt werden.

• Fachliches und überfachliches Lernen müssen ins Gleichgewicht gebracht werden.

• Soziales Lernen muß als Zusammenleben und Zusammenarbeiten ermöglicht und bewußt

gemacht werden.

• Anwendungsorientiertes Lernen mit Bezügen zu biographischen, historischen und um­

weltbezogenen Erfahrungen ist zu fördern.

• Identitätsfindung und zugleich Achtung der Integrität anderer müssen in der Schule ge­

lebt werden.

Neben einer Veränderung der Aufgaben von Schule ist auch der Lernbegriff zu erweitern:

Lernen in der Schule ist die Grundlage, aber nicht der Ersatz für lebenslanges Lernen. Die

Expertenkommission schlägt daher eine Ordnung des Lernens vor (vgl. Schaubild 4).

Nicht nur veränderte Aufgaben und eine Erweiterung des Lernverständnisses machen Schule

als "Haus des Lernens" aus. Folgende Leitvorstellungen sollen helfen, das "Haus des Ler­

nens" zu skizzieren:

• Im Mittelpunkt schulischen Lemens soll der Erwerb von Lernkompetenz stehen. Hierfür

sind insbesondere die Ergebnisse der neueren Lernforschung zu nutzen.

• Lernfreude gilt es durch die Erfahrung von Selbstverantwortung und Selbstwirksarnkeit

zu wecken.

• Im Sinne eines Lehr- und Lemmanagements sollen durch den optimalen Einsatz vor­

handener Mittel alle Lernmöglichkeiten ausgeschöpft werden (produktives Lernen).

222 Perspektiven

• Lernarrangements sind zu entwickeln, die insbesondere ein hohes Maß an selbst­

bestimmtem, interaktivem Lernen gewährleisten.

• Flexibel einsetzbares Wissen, das der Reflexion zugänglich ist, soll besonders gefördert

werden (intelligentes Wissen).

• Erfahrung von Erfolg und Mißerfolg sind gleichermaßen bedeutsam für die Befähigung

zur Selbstevaluation. Dafür müssen neue Formen der Leistungsbeurteilung entwickelt

werden.

• Lernumgebung, Lemräume, Lernmittel, Lernhelfer sind konsequent als Mittel zum Ler­

nen zu nutzen.

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,/ Dimensionen '\ / des Lernens \ I \ , : ......... ---- ............

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/ Fachliche Fachliches und SChlüssel- \ : Wissensbe- überfachliches probleme : , , \ slände und Lernen, Zc. B. / \ Methoden Fachunterricht, " \, Lehrgänge, KüIse, //

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\ Kulturtechniken \; ompetenzen. : \ 't Schlüsselqualifi- /

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....... _----_.......... ' ... _---_ .... '

Schaubild 4: Ordnung des Lernens (Bildungskommission NRW 1995, S. 114)

Viele dieser Leitvorstellungen, die die Kommission in erster Linie für die allgemeinbildenden

Schulen formuliert hat, sind beim beruflichen Lernen in Betrieb und Schule möglicherweise

eher zu realisieren und teilweise schon realisiert. Gleichwohl bietet die Kommission in einer

Schule als Lern- und Lebensraum 223

Gesamtschau von allgemeiner und beruflicher Bildung, von Gesellschaft und Schule, von

Planung und Verantwortung sowie von Strukturen und Prozessen des Lemens eine Per­

spektive zukünftiger Bildung, die auf die besonderen Bedingungen beruflichen Lemens hin

überprüft werden muß.

224 Perspektiven

8 Ausbildung erhalten und ausbauen

Es ist ein drängendes Problem, daß Betriebe und besonders diejenigen, die gute Ausbildung

betreiben können, ihre Ausbildungskapazitäten zurückfahren oder sogar ganz einstellen bzw.

auslagern. Begründet wird diese Entwicklung u. a. auch damit, daß Ausbildung zu teuer ge­

worden ist und sich Investitionen in berufliche Erstausbildung derzeit nicht mehr rechnen.

Wenn aber der notwendige Abbau von Ausbildungsabteilungen mit Kosten-Leistungs-Rech­

nungen belegt und begründet wird, heißt es, diese Rechnungen auch einmal aus berufs- und

wirtschaftspädagogischer Sicht auf den Prüfstand zu stellen. Dann nämlich lassen sich etliche

Ungereimtheiten aufdecken (vgl. Schaubild 5).

Vollkosten der Ausbildung

Bruttovollkosten der Ausbildung

Bruttoerträge

Bruttoteilkosten der Ausbildung

~lkosten ~------------------~

Bruttoerträge

Ausbildung

Investition in Ausbildung

I Berufstätigkei; nach Übernahme

r--------------------------L-------Erträge ~---------------------------- ------

Schaubild 5: Kosten-Leistungs-Rechnungen

Ausbildung erhalten und ausbauen 225

Mit dem Übergang von einer Kosten- zu einer Investitionsrechnung zeichnet sich eine neue

Qualität in der Diskussion über Kosten und Nutzen der beruflichen Bildung ab. Zu dieser

Diskussion können Berufs- und Wirtschaftspädagogen wichtige Beiträge beisteuern, vor

allem zum Erkennen, Beschreiben und Operationalisieren von Erträgen der Berufsaus­

bildung. Damit würden sie auch helfen, Argumente zusammenzutragen, die offensiv für den

Erhalt und den Ausbau beruflicher Bildung vorgetragen werden können.

Nicht selten werden bei Entscheidungen für oder gegen Berufsbildung nur die Vollkosten

der Ausbildung betrachtet. Vernachlässigt werden dagegen die Erträge, die Auszubildende

erwirtschaften. Es gibt jedoch auch Konzepte, die den Bruttovollkosten der Ausbildung die

Erträge gegenüberstellen. Daraus lassen sich dann die Nettovollkosten der Ausbildung

errechnen. Wie von Bardeleben und Beicht aufzeigen konnten, differieren die Nettokosten

beträchtlich zwischen den Wirtschaftsbereichen (vgl. von Bardeleben & Beicht 1996). Für

eine sachgerechte Diskussion über Kosten und Nutzen in der Berufsausbildung sollten aber

nur die Teilkosten zugrunde gelegt werden. So werden beispielsweise die Kosten für neben­

berufliche Ausbilder und die Ausbildungsverwaltung bei der Teilkostenrechnung nicht er­

faßt, da die Kosten auch dann anfallen, wenn nicht ausgebildet wird.

Die bisher aufgeführten Ansätze zur Erfassung von Kosten und Erträgen der Berufs­

ausbildung berücksichtigen nicht, daß Ausbildungsbetrieben nach Ausbildungsende weitere

Erträge erwachsen:

• Die im eigenen Betrieb ausgebildeten jungen Mitarbeiter brauchen nicht in die betriebs­

speziftschen Besonderheiten eingeführt zu werden. Sie sind vom ersten Tag an voll ein­

setzbar. Es entfallen die Kosten der Einarbeitung.

• Wenn Betriebe die bei ihnen Ausgebildeten übernehmen, sparen sie die Kosten der Per­

sonalbeschaffung.

• Das Risiko, eine Fehlbesetzung vorzunehmen, ist deutlich geringer.

• Arbeitnehmer, die im eigenen Betrieb ausgebildet wurden, haben eine stärkere Bindung

an "ihre" Firma In ihnen konnte die corporate identity bereits über einen längeren - und

für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutsamen - Zeitraum (16.-19. Lebensjahr!) reifen.

Erste betriebs- und arbeitswissenschaftliche Modellrechnungen über die Vorteile der Aus­

bildung im eigenen Betrieb liegen bereits vor (vgl. Grossmann & Meyer 1996). Sie könnten

allerdings auf der "Nutzen-Seite" noch beträchtlich verbessert werden.

226 Perspektiven

9 Moderatorenausbildung

Die Aufgaben von Lehrenden bestehen darin, zu lehren, zu erziehen, zu beurteilen, zu

beraten, zu innovieren und zu verwalten. Diese Aufgaben haben auch heute noch ihre

Gültigkeit, allerdings mit veränderten Schwerpunkten. Traditionell sehen sich die Lehrenden

in erster Linie in der Rolle des Fachmanns und weniger in der Rolle des Pädagogen (~ LA,

Fachmann und Pädagoge). Dies gilt in besonderem Maße für die Ausbilder in den Betrieben.

Unterstützt wurde und wird dies durch die Art der Lehrerausbildung in den Universitäten

und den Studienseminaren sowie durch die Ausbildung der Ausbilder. Mit den gewandelten

Anforderungen in der Schule und mit den veränderten Anforderungen, die auf die Aus­

zubildenden in ihrem Berufsleben zukommen, wird es aber nötig, sich von dieser einseitigen

Sichtweise zu lösen. Hierbei tritt insbesondere die Beraterfunktion für Lehrer und Ausbilder

in den Mittelpunkt.

Der Lehrende als Berater soll die Vorstellungen der Schüler von ihren Lernprozessen und

den gewünschten Lemergebnissen ernst nehmen. Er soll direkt auf Schülerideen eingehen,

ein offenes, konstruktives und angstfreies Lemklima schaffen, Lemwege antizipieren, Lern­

fortschritte registrieren und solche Lemaufgaben stellen, die den Lehr-Lernprozeß reflexiv

unterstü tzen.

Bereits dieser kurze Aufriß der Beraterfunktion zeigt deutlich, daß sich auch die bisherige

Lehrerausbildung verändern muß. Weitere Gründe, die bisherige Lehrerausbildung zu über­

denken, lassen sich benennen: Durch die zunehmend enger werdende Verzahnung von beruf­

licher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung und durch verringerte Beschäf­

tigungsmöglichkeiten für Absolventen eines Lehrerstudiums in rein schulischen Tätigkeits­

feldern muß sich die Lehrerausbildung zu einer polyvalenten Ausbildung entwickeln, d. h. sie

muß auch für Berufe in außerschulischen Tätigkeitsfeldern qualifizieren. Hierzu ist die Ver­

mittlung von Zusatzqualiftkationen eine geeignete Möglichkeit. Solche Zusatzqualiftkationen

sollten in Kooperation mit Instituten für Erwachsenenbildung und den beruflichen Fach­

richtungen an den Universitäten angeboten und zertifiziert werden.

Ein entsprechender Zusatzstudiengang hat seinen Schwerpunkt in der beruflichen Weiter­

bildung, einem stetig größer werdenden Tätigkeitsfeld für angehende Lehrer beruflicher

Schulen. Zugleich würde in einer Zusatzqualiftkation auch die veränderte Lehrerrolle be­

rücksichtigt, wenn nämlich Moderations- und Präsentationstechniken besonders gefördert

würden. Diese Techniken wären einzuarbeiten in Themen, wie beispielsweise Rhetorik,

Visualisierung, Teamteaching, Führungs- und Unterrichtsstile und Entwicklung von

Moderatorenausbildung 227

Moderationskompetenz. Ansatzweise wird in der wissenschaftlichen Lehrerbildung auf diese

neue Aufgabe mit einem entsprechenden Lehrangebot reagiert, jedoch ist das Qua­

lifizierungsangebot der wissenschaftlichen Hochschulen in dieser Hinsicht eher als beschei­

den zu bezeichnen. Die Beiträge von Hochschulen zur beruflichen Weiterbildung sind so un­

bedeutend, daß sie statistisch nicht erfaßt werden.

Das mag vielleicht nicht sonderlich verwundern, wenn die Ansicht vertreten wird,

Universitäten seien Stätten für die Ausbildung des akademischen Nachwuchses und sollten

nicht etwa Berufsausbildung und schon gar nicht berufliche Weiterbildung betreiben.

Das Hamburgische Hochschulgesetz bezieht jedoch eine andere Position, die sich auch in

vergleichbaren Weiterbildungsangeboten an anderen Hochschulen wiederfmden läßt. So

heißt es im § 3 (3) des Hamburgischen Hochschulgesetzes:

"Die Hochschulen dienen dem weiterbildenden Studium (Kontaktstudium) und beteiligen sich an anderen Veranstaltungen der Erwachsenenbildung. Sie fördern die Weiterbildung ihres Personals."

Wenn sich die Hochschulen auch um die Professionalisierung von Ausbildern, der haupt­

beruflichen wie auch nebenamtlichen, sowie von Weiterbildnern kümmern würden, wäre das

bestimmt keine Grenzüberschreitung, sondern sogar ein Beitrag zur Erfüllung ihres gesetz­

lichen Auftrags. Welche Beiträge könnte die Universität beispielsweise für die Professio­

nalisierung von Ausbildern anbieten?

Sie könnte verstärkt wissenschaftliche Begleitungen von betrieblichen Modellversuchen zur

Berufsausbildung und Weiterbildung übernehmen, praxisnahe Angebote im Rahmen des

Kontaktstudiums an Berufstätige unterbreiten, Betrieben und anderen Institutionen Weiter­

bildungsangebote durch die Arbeitsstelle für den wissenschaftlichen Technologietransfer

anbieten sowie Kooperation zwischen Universitätsinstituten und Betrieben zum Beispiel im

Rahmen von Doktor- und Diplomarbeiten befördern helfen. Schließlich könnte sie auch

Studiengänge anbieten, über die sich Studierende für Tätigkeitsfelder in der beruflichen

Weiterbildung besonders proftlieren und qualifizieren können.

228 Perspektiven

Literatur

Bardeleben, R. von & Beicht, U. (1996). "Investitionen in die Zukunft" - eine bildungs­ökonomische Betrachtung der Berufsausbildung aus betrieblicher Sicht. Beiheft 12 der Zeitschriftfür Berufs- und Wirtschaftspädagogik (S. 22-41). Stuttgart: Steiner.

Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung (Hrsg.) (1997). Hamburgisches Schulgesetz vom 16. April 1997. Hamburg: Schüthe.

Bildungskommission NRW (1995). Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Neuwied: Luchterhand.

Grossmann, S. & Meyer, H. C. (1996). Kosten und Nutzen der betrieblichen Berufs­ausbildung: Eine theoretische und empirische Analyse. Unveröffentlichte Diplom­arbeit Universität Hannover.

Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.) (1997). Hamburgisches Hoch­schulgesetz in der Fassung vom 2. Juli 1991, zuletzt geändert am 11. Juni 1997. Hamburg: Lütcke+Wulff.

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