Drüben!

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Leseprobe aus dem avant-verlag

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Drei Jahre nachdem mein Vater mit mir und meiner Mutter die DDR verlassen hatte, schrieb er seinen Eltern einen Brief.

Die lebten weiterhin in der DDR.

Wir wohnten in West-Berlin. Seit unserer Ausreise hatte mein Vater seine Eltern weder gesehen noch gesprochen.

Ich war damals vier Jahre alt und ging in einen Kreuzberger Kindergarten.

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Es war der Fr ü¢hling des Jahres 1987 und wir wohnten in einer sch£ünen Altbauwohnung nur wenige Schritte von der Mauer entfernt.

Mein Vater schrieb von unserem neuen Leben.

Einige Tage sp$ üter kam der Brief wieder zurüü¢ck. Es lag eine kurze handschriftliche Notiz bei.

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Als wir 1984 in West-Berlin eintrafen, hatten wir kein Geld und keine Wohnung. Nur die Dinge, die wir in unseren Koffern und am K£rper trugen.

West-Berlin war ein Kontrast. Man sah sofort, dass wir aus dem Osten kamen. Das lag an unserer Kleidung, Sprache und erkennbaren Unsicherheit.

Die Leute begegneten uns aber durchweg freundlich und positiv.

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Verzeihen Sie. Kann ich Ihnen helfen?

Wir wissen nicht, wie wir am besten in

die U1 umsteigen.

Da fahren Sie einfach bis Hallesches Tor. Sind nur noch zwei Stationen. Sind Sie neu in Berlin?

Ja, wir sind gerade

erst aus Erfurt hergezogen.

Nun, ich muss hier leider schon aussteigen. Einen sch£ünen Tag noch.

Erfurt! Oh, ich hatte

einen Schwager dort dr¢ben.

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Als der Mann fort war, hielt mein Vater seinen ersten 20-DM-Schein in der Hand.

Wir wohnten zunü$chst bei Freunden meiner Eltern aus deren Studienzeit.

Die beiden waren schon vor ¢ber einem Jahr ausgereist und neben ihnen teilten wir die Wohnung mit drei weiteren Familien. Alle Bewohner waren aus der DDR “abgehauen”.

“Abgehauen” - ich habe diese Bezeichnung nie gemocht. Sie wurde in der DDR abwertend f¢ür Ausgereiste benutzt. Als w¢ürde man sich vor etwas dr¢ücken oder sich einer Verantwortung entziehen.

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Meine Eltern lernten sich 1974 in Erfurt kennen.

Sie studierten beide P$dagogik f¢r Kunst und Mathematik.

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Guck mal, den finde ich

ganz s¢#.

Ach, ich weiss nicht. Der quatscht mir zu sehr wie aus’m

Parteibuch.

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Mein Vater stammte aus einer sozialis-tischen Musterfamilie. Wie seine Eltern war er Mitglied der SED. Sein Vater war Betriebsleiter einer Druckerei und auch seine Mutter war ¢berzeugte Anh$ngerin der DDR.

Meine Groü#mutter war schon vor dem Krieg als Jugendliche durch ihre Eltern kommunistisch motiviert. Wie ihr Vater wurde sie Mitglied der KPD.

Dort lernte sie nach dem Krieg auch meinen Gro#üvater kennen.

Er kam aus einer j¢dischstü$mmigen Familie. Die Nazis hatten viele seiner Fa-milienmitglieder in die Vernichtungslager deportiert. Er selbst konnte untertauchen und entging so seiner Verhaftung.

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Ja, mach ich.Beeile dich,du kommst sonst noch zu sp$ üt.

Die Schrecken der Diktatur und des Krieges hatten sie stark geprü$gt. Mit dem Wunsch “Nie wieder Krieg, nie wieder Uniformen” bauten sie begeistert den neuen Staat mit auf.

Mein Vater liebte seine Eltern und ¢bernahm selbstverst$ndlich deren Sicht auf die Welt.

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Guten Morgen Frau

Reidel!

Ah, da bist du ja.

Er ging gern zur Schule und hatte Spa# bei den Pionieren.

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F¢ür Frieden und Sozialismus:

Seid bereit!

Jungpioniere, antreten zum Fahnenappell!

Er mochte auch die Appelle und die ihm ü¢bertragenen Aufgaben.

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Meine Mutter hingegen wuchs unter anderen Bedingungen auf. Ihre Eltern lehnten die DDR nicht grundlegend ab, aber sie hatten viele Westkontakte.

Ihr Onkel war vor dem Mauerbau in den Westen geflohen und ihre Eltern hatten vor ihrer Geburt ¢berlegt, ihm zu folgen.

Regelm$ ü#ig besuchte sie ihr gleichaltriger Westcousin und erzü$hlte von seinem Leben.

Meine Mutter war von dem Teenager-wunsch erfü¢llt, diese ihr verbotene, fremde Welt zu sehen und vielleicht eines Tages Mick Jagger zu heiraten.

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Auch wenn eine “Bravo” aus dem Westensehr verhei#ungsvoll schien, so zweifeltesie noch nicht am “Sieg des Sozialismus”.

Die Rolling Stones kannte mein Vater auch, aber er h£ürte sie nicht. Da er keinen Westkontakt hatte, besa#ü er keine ihrer Schallplatten.

In der Oberschule war er in der FDJ aktiv und er merkte, dass seine Mitsch¢üler ihm gegenü¢ber in manchen Punkten reserviert blieben.

Ey, kommst du nach der Schule auch

mit zu Frank?

Der hat von seiner Tante aus’m Westen eine Platte von Jimi Hendrix. Die wollen wir uns alle

ü¢berspielen.

J¢ürgen und Karl kommen auch.

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ü >h, Haus-aufgaben.

Hey, was macht ihr

denn so nach-her noch?

Wir haben Besuch.

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Meine Mutter ging mit ihren Freundinnen auf fast jeden Tanz, der in ihrer N$he um Dresden herum stattfand.

Auch als wir schon im Westen lebten, besuchte ich dort noch regelm$#ig meine Gro#üeltern.

Meine Mutter brachte mich daf¢ür immer zum Grenzü¢bergang am Bahnhof Friedrichstra#e.

Warum weinst du denn?

Ach, nichts. Da vorne ist der <bergang.

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Meist begleitete mich eine Arbeits-kollegin meiner Mutter ü¢ber die Grenze.

Halt dich immer sch£n an ihrer

Hand fest, ja? Und gr¢ü# mir Oma und Opa.

Ich hab’ dich lieb.

Im Gegensatz zu meinen Eltern durfte ich wieder in die DDR einreisen.

Aber da war immer diese Sorge, dass man mich nicht wieder zur¢ücklassen wü¢rde.

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