Durststrecken - Natuerlich Online · in Miniatur. Einige der Kakteenstandorte sah Karl Wullschleger...

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62 Natürlich | 10-2003 S o mancher Passant bleibt vor den grossen Treibhäusern am Zürcher Mythenquai verwundert stehen und erkennt hinter Glas seltsame Gewächse. Oft aus purer Neugierde werfen einige einen Blick ins Innere der Treibhäuser. Andere melden sich zuerst an und nehmen eine lange Reise in Kauf, um diese einzigartige Sammlung an Sukkulenten zu studieren. Beispielsweise Schüler, die einen Vortrag über Sukkulen- ten vorbereiten. Oder Menschen, die zu Hause Probleme mit ihrem Kaktus haben und Rat suchen. Wiederum andere betrei- ben wissenschaftliche Forschung. «Wir Karl Wullschleger arbeitet seit 34 Jahren in der Sukku- lenten-Sammlung Zürich. Manche seiner Pflanzen sind kugelrund, andere lang und schmal. Einige haben Blätter, andere Dornen, und gewisse machen in ihrem ganzen Leben nur eine einzige Blüte. Aber alle sind äusserst widerstandsfähig und überleben monatelange Trockenheit. Text und Fotos: Claudia Schneider Beziehung mit Durststrecken

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62 Natürlich | 10-2003

So mancher Passant bleibt vor dengrossen Treibhäusern am ZürcherMythenquai verwundert stehenund erkennt hinter Glas seltsame

Gewächse. Oft aus purer Neugierdewerfen einige einen Blick ins Innere derTreibhäuser. Andere melden sich zuerstan und nehmen eine lange Reise in Kauf,um diese einzigartige Sammlung anSukkulenten zu studieren. BeispielsweiseSchüler, die einen Vortrag über Sukkulen-ten vorbereiten. Oder Menschen, die zuHause Probleme mit ihrem Kaktus habenund Rat suchen. Wiederum andere betrei-ben wissenschaftliche Forschung. «Wir

Karl Wullschleger arbeitet seit 34 Jahren in der Sukku-

lenten-Sammlung Zürich. Manche seiner Pflanzen

sind kugelrund, andere lang und schmal. Einige haben

Blätter, andere Dornen, und gewisse machen in ihrem

ganzen Leben nur eine einzige Blüte. Aber alle sind

äusserst widerstandsfähig und überleben monatelange

Trockenheit.

Text und Fotos: Claudia Schneider

Beziehung mit

Durststrecken

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Porträt GESELLSCHAFT

pflegen regen Kontakt mit unseren Besu-chern», erzählt Obergärtner Karl Wull-schleger, 56. Doch in den Treibhäusernsind nicht die Menschen die Protagoni-sten, sondern die rund 9000 Arten sukku-lenter Pflanzen.

Dank ihrer enormen Widerstands-kraft gedeihen Sukkulenten in freier Na-tur an extremen Standorten, wo anderePflanzen keine Überlebenschance haben.Sie halten massive Temperaturschwan-kungen aus und können monatelangohne Regen überleben, weil sie die Fähig-keit haben, Wasser zu speichern. MancheSukkulenten leben nur ein Jahr lang,andere werden mehrere hundert Jahre alt.Einige Arten sind kugelrund, andere langund so dick wie ein Feuerwehrschlauch.Manche wachsen nur ein paar Millimeterpro Jahr, andere machen in ihrem ganzenLeben nur eine einzige Blüte.

Kakteen und AffenbrotbäumeJe nach Klimazone, in der die Sukkulen-ten leben, haben sie Blätter oder Dornen.Die bekanntesten Vertreter der Sukkulen-ten sind Kakteen, aber genauso zählenafrikanische Affenbrotbäume und ver-schiedene Liliengewächse dazu. Die meis-ten Sukkulenten sind endemisch, dasheisst, eine bestimmte Art wächst einzigin einer bestimmten Region. «Mexiko hatweltweit die grösste Vielfalt an Kakteen-arten», erklärt Karl Wullschleger. Hier,im Nordamerika-Haus, pflanzt er geradeverschiedene mexikanische Kakteen inein bodenbeheiztes Beet. Er platziert dieKakteen nicht einfach nach Gutdünken.Vielmehr orientiert er sich anhand einerMexikokarte an den Originalstandorten:So entsteht eine Art mexikanische Steppein Miniatur.

Einige der Kakteenstandorte sah KarlWullschleger während einer Mexikoreise:«Es war überwältigend. Ich stand in ei-nem natürlich gewachsenen Kakteen-wald, in einem Abstand von zehn bisdreissig Metern ragen die Kakteen dortbis zu 15 Meter hoch.» Hier im Treibhauserreichen sie eine maximale Höhe von 8 Metern.

Die meisten Sukkulenten-Arten ste-hen heutzutage unter Schutz – eine Mass-nahme, die notwendig wurde, weil zu-vor Kakteenhändler Pflanzen in derWildnis ausgruben und mit Lastwagenabtransportierten. Heute ist der Schutz

allerdings so rigoros, dass es seither auchfür botanische Institute fast unmöglichgeworden ist, wild gewachsene Kakteenzu erwerben. «Das ist schade», sagt KarlWullschleger. Er ist der Auffassung, dassinternationale Kakteengärten dazu bei-tragen könnten, die Vermehrung be-drohter Arten zu fördern. «Die ZürcherSukkulenten-Sammlung hat schon bota-nische Gärten mit Pflanzen beliefert, dieim betreffenden Heimatland ausgestor-ben sind.»

Immerhin hat das Importverbot fürwilde Sukkulenten auch zur Folge, dassim Handel erhältliche Kakteen heut-zutage ausschliesslich aus Gärtnereienstammen.

Zu viel Feuchtigkeit ist GiftWer keine Erfahrung mit Sukkulentenhat, sollte nicht gleich einen anspruchs-vollen Melokaktus für 100 bis 200 Fran-ken kaufen. Karl Wullschleger empfiehltfür den Anfänger pflegeleichte Arten wiekugelförmige Echinopsis, grüne Warzen-kakteen (Mammillarien), Wolfsmilch-gewächse (so genannte Euphorbien) oderAloe-Arten. «Diese Arten brauchen nichtviel mehr als Licht, Sonne und ein wenigFeuchtigkeit.» Die Erde, in der sie ver-kauft werden, ist gut für die Aufzucht,aber für das weitere Wachstum weniggeeignet. Deshalb sollte man Kakteen imFrühjahr kaufen, wenn man sie problem-los umtopfen kann. Am wohlsten fühlensich Sukkulenten in speziell minerali-scher Erde, die bei der Sukkulenten-Sammlung, bei Kakteengärtnereien oderbei den lokalen Ortsgruppen der Kak-teengesellschaft erhältlich ist. Werdenbeim Umtopfen die Wurzeln geschnittenoder Stecklinge gemacht, muss der Kak-tus unbedingt einige Wochen an der Lufttrocknen, bevor man ihn wieder ein-pflanzt. Ansonsten riskiert man, dass diePflanze fault. Dasselbe gilt, wenn zu oftgegossen wird – zu viel Feuchtigkeit istGift für die genügsamen Pflanzen. VonNovember bis März sollte man sie über-haupt nicht giessen. «Am besten stelltman Sukkulenten im Winter an einenkühlen, aber möglichst hellen Ort imKeller oder Treppenhaus», sagt Wull-schleger. «Durch den markanten Tempe-raturrückgang erhalten sie den Impuls,im folgenden Frühjahr Blüten zu ma-chen.»

Das richtige Mass an Feuchtigkeitist auch in den Treibhäusern ein heiklerPunkt. Nur im Sommer, wenn es wochen-lang heiss und trocken ist, giessen dieGärtner grossflächig. Sobald die Witte-rung feucht ist, wird die Erde nur nochstellenweise benetzt. Während der Haupt-blütezeit, von Mitte April bis Mitte Juni,brauchen die Pflanzen alle zwei bis dreiWochen etwas Dünger. «Kakteen müssenlangsam wachsen. Ansonsten können sieihre Form nicht optimal entwickeln», sagtKarl Wullschleger. Deshalb enthält Kak-teendünger vor allem Phosphor und Kali,auf keinen Fall zu viel Stickstoff. Wenneine neue Pflanze in die Sammlungkommt, gibt es selten eine Kulturanlei-tung dazu. «Man muss ausprobieren, wasdie Pflanze mag.» Es gibt zwar guteBücher über die Pflege von Sukkulenten,entscheidend ist jedoch die lokale klimati-sche Situation. Deshalb mag auch ein Kak-teenbuch aus Südfrankreich die Pflege ei-ner bestimmten Pflanze anders beschrei-ben als ein Buch aus Norddeutschland.

Um Schädlinge wie Blattläuse undwinzige rote Spinnen zu bekämpfen, hatKarl Wullschleger schon vieles auspro-

Obergärtner Karl Wullschleger im «Kakteen-wald» der Sukkulenten-Sammlung Zürich.Gewisse Exemplare erreichen eine Höhe vonüber 8 Metern.

Bizarre, kugelrunde Schönheit:Echinocactus grusonii

biert. «Biologische Mittel sind leidernicht effizient. Wir haben es auch mitMarienkäfern probiert.» Den hübschenkleinen Nützlingen war es jedoch zuheiss und zu trocken in den Gewächs-häusern. Sie flohen binnen kurzer Zeitdurch die Dachfenster auf die Linden-bäume im umliegenden Park. Effizient alsSchutz vor Schädlingen sei hingegen einBlattglanzmittel. «Seit wir es verwenden,brauchen wir wesentlich weniger chemi-sche Mittel.»

Komplimente verteilenAbgesehen von der botanischen Kultur-pflege brauchen die Pflanzen auch Zu-wendung – davon ist Wullschleger über-zeugt: «Wenn wir in einem Teil derGewächshäuser eine Zeit lang wenigmachen, weil andere Arbeiten anstehen,dann sehen die Pflanzen aus, als fühltensie sich vernachlässigt.» Manchmal,wenn ein Kaktus besonders schön blüht,macht ihm Wullschleger Komplimente.Wenn andererseits eine Pflanze ewig aufsich warten lässt, bis sie eine Blüte macht,mag der Gärtner schon mal die Geduldverlieren. Dann droht er (mit einemLächeln auf den Stockzähnen), diePflanze auf den Kompost zu werfen,wenn sie nicht bald blühen will. «Nein,im Ernst», sagt der Gärtner, «wenn einePflanze schlecht wächst, wird sie unterUmständen ausgegraben und auf eine ge-sunde Pflanze gepfropft.» Das heisst, manmacht auf der Trägerpflanze einen schar-fen Schnitt und setzt die kränklichePflanze darauf. So wachsen, bei Schön-wetter, die beiden Pflanzen innerhalbvon 48 Stunden zusammen. Hat sichdie Gastpflanze erholt, wird sie wiedervon der Trägerpflanze getrennt und neubewurzelt.

Die Arbeit in den Gewächshäusernist körperlich anstrengend. «Man mussvor allem aufpassen, dass man schwereSachen wie Säcke voller Erde, Steine undPflanzen richtig hebt», sagt Karl Wull-schleger. «Als ich jung war und zu wenigdarauf Acht gab, bekam ich Schwierig-keiten mit den Bandscheiben.» Nichts-destotrotz war für Wullschleger, seit ersich erinnern kann, stets klar, dass ereines Tages Gärtner werden will. «Viel-leicht, weil auch mein Vater Gärtner vonBeruf war.» Unzufrieden mit seiner Wahlfühlte er sich nur kurze Zeit, und zwar

nach der Lehre. Damals hatte es denjungen Mann gereizt, die Landschafts-gärtnerei kennen zu lernen, weshalb erbei der Stadt Zürich eine Stelle alsFriedhofsgärtner annahm. «Es zeigte sichbald, dass mich die Treibhäuser mehrfaszinieren.» Als bei der Sukkulenten-Sammlung eine Stelle frei wurde, meldeteer sich: «Ich habe es nie bereut und michnie nach einer anderen Stelle umge-schaut.» 34 Jahre im selben Betrieb zuarbeiten, hat heute Seltenheitswert. Aller-dings gab es in all den Jahren auch mehr-mals Pläne, die Sukkulenten-Sammlungaufzugeben. «Im Moment sieht es nichtschlecht aus.»

Pastellfarbene BlütenGegründet wurde die umfangreicheSammlung zu Beginn des letzten Jahrhun-derts vom Zürcher Kakteenzüchter JakobGasser. Altershalber verkaufte er sie anden damaligen Warenhausbesitzer JakobBrann, und dieser schenkte sie 1929 derStadt Zürich mit der Auflage, die wertvolleSammlung öffentlich zugänglich zu ma-chen. So wurde beim bestehenden Ge-wächshaus der damaligen Stadtgärtnereiam Mythenquai ein zusätzliches Glashauserrichtet. Derzeit zählt die ständig ge-wachsene Sammlung rund 9000 Varietä-ten in fünf öffentlich zugänglichen Treib-häusern. Die letzte Erweiterung gab es vor16 Jahren, und nun platzt auch hier schonwieder alles aus den Nähten. Teilweisesind die Beete so dicht bepflanzt, dass sichdie Sukkulenten gegenseitig im Wachs-tum behindern. Manchmal, wenn eineSukkulente bis zum Dach hoch geschos-sen ist, wird sie ins grösste, knapp neunMeter hohe Schauhaus verpflanzt. «Ein

Riesenaufwand, der mehrere Tage in An-spruch nimmt. Gelegentlich brauchen wirdann sogar einen Kran, um die Pflanzezu transportieren.» Obschon die Gärtnerbeim Arbeiten Handschuhe tragen,kommt es immer wieder vor, dass sie mitblossen Händen zugreifen. «Besondersmühsam sind die ganz feinen Dörnchen,die man im Moment kaum spürt. Nachtswache ich dann auf, weil es mich überalljuckt.» Die Dörnchen haben zum TeilWiderhäkchen und können sehr hart-näckig sitzen. Jeder, der schon mal eineKaktusfrucht in den Händen gehalten hat,weiss, wovon der Kenner spricht. Den-noch verhält es sich mit den Kakteen-freunden ähnlich wie mit den Rosenfreun-den: Sie nehmen die Dornen in Kauf – undfreuen sich über die prächtigen Blüten.«Die verschiedenen Pastelltöne der Blütensind fantastisch schön», schwärmt KarlWullschleger. Dennoch sind Sukkulentennicht die einzigen Pflanzen, die er mag.Als Kind faszinierte ihn die Vegetation imEngadin, wo er aufgewachsen ist. Wäh-rend der Lehre als Topfpflanzengärtnerbeschäftigte er sich vor allem mit tropi-schen Gewächsen, die üppige, farben-intensive Blumen hervorbringen. «DerReiz der Sukkulenten ist die Exklusivitätder Blüten», erklärt er. «Manche Sukku-lente muss zwanzig bis dreissig Jahre altwerden, bevor sie ein erstes Mal blüht.» ■

Sukkulenten-Sammlung Zürich

Mythenquai 88, 8002 Zürich, Tel. 043 344 34 80,www.sukkulenten.ch; geöffnet jeden Tag 9 bis 11.30 und 13.30 bis 16.30 Uhr; Eintritt frei;zur Ausstellung ist ein umfangreicher Führer für2 Franken erhältlich; Pflanzenberatung Mittwoch14 bis 16 Uhr, Tel. 043 344 34 84. An die Samm-lung angeschlossen ist ein Förderverein, der dieZeitschrift «Sukkulentenwelt» publiziert.

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PorträtGESELLSCHAFT

Mit einem Pinsel bestäubt Karl Wullschleger die blühenden Sukkulenten.