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EUROPARECHT

Nomos VerlagsgesellschaftBaden-Baden

Heft 5 • September – Oktober 2005

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Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

Prof. Dr. Jürgen Schwarze, Freiburg i. Br./Dr. Philipp Hetzel, DüsseldorfDer Sport im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts .............................. 581

Dr. Christian Scharpf, LL.M., MünchenArt. 86 Abs. 2 EG als Ausnahmebestimmung von den Wettbewerbs-vorschriften des EG-Vertrages für kommunale Unternehmen ......................... 605

Prof. Dr. Gerald Mäsch, MünsterEuropäisches Lauterkeitsrecht – von Gesetzen und Würsten .......................... 625

Rechtsprechung

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften/Gericht erster Instanz

Mitgliedstaatliche Pflicht zu Schutzmaßnahmen in Bezug auf Gebiete von nur potentieller gemeinschaftlicher Bedeutung

Urteil des Gerichtshofs vom 13.01.2005 (Vorabentscheidungs-ersuchen des Consiglio di Stato (Italien)), Società Italiana Dragaggi SpA u. a./Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti, Regione Autonoma del Friuli Venezia Giulia, Rs. C-117/03 .......................................... 642

Arten- und Habitatschutz nach der FFH-Richtlinie: Welche Anforderungen gelten für potentielle Schutzgebiete? –Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 13.01.2005, Rs. C-117/03von Alexander Proelß, Tübingen ..................................................................... 649

Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers und seines für ihn sorgenden Elternteils

Urteil des Gerichtshofs vom 19.10.2004 (Vorabentscheidungs-ersuchen der Immigration Appellate Authority (Vereinigtes Königreich)), Kunqian Catherine Zhu und Man Lavette Chen/Secretary of State for the Home Department, Rs. C-200/02. .............................................................. 658

Das grenzüberschreitende Element in der Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft – Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 19.10.2004, Rs. C-200/02von Sibylle Seyr/Hans-Christian Rümke, Göttingen ........................................ 667

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Fortsetzung Inhaltsverzeichnis

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Gott in der Europäischen Verfassung?von Dr. Norbert K. Riedel, Berlin .................................................................... 676

Rezensionen

Alexander Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV(Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Regensburg) ..................................................... 684

Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (Dr. Thomas Groh, Dresden) ............................................................................ 687

Bibliographie

Bücher und Zeitschriften .................................................................................. 689

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EUROPARECHT

In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf,Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff,

Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter:Armin Hatje, Ingo Brinker

40. Jahrgang 2005 Heft 5, September – Oktober

Der Sport im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts

Von Jürgen Schwarze, Freiburg i. Br./Philipp Hetzel, Düsseldorf*

I. Einleitung

Sportliche Betätigung ist seit jeher eng mit dem Phänomen des Wettbewerbs ver-bunden. Sportliche Motivation entspringt sehr oft dem Willen, eine größere sportli-che Leistung zu erbringen als der Konkurrent1. Mannschaftssportarten wären ohne Wettbewerb und Konkurrenz ohnehin nicht denkbar. Sportliche Großereignisse wie die Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaft ziehen erst aufgrund der aus dem Wettbewerb resultierenden Spannung Millionen von Fernsehzuschauern in ihren Bann. Gleichwohl ist evident, dass es sich beim Sport auch um einen bedeu-tenden Wirtschaftsfaktor handelt2. So ist in den letzten Jahren die Zahl der Arbeits-plätze, die direkt oder indirekt durch den Sport geschaffen wurden, um 60% auf nahezu 2 Millionen gestiegen3. Die Gehälter und Ablösesummen für professionelle

* Prof. Dr. Jürgen Schwarze ist Ordinarius an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht, Abt. Europa- und Völkerrecht und des Europa-Instituts Freiburg e.V.; Dr. Philipp Hetzel ist Rechtsreferendar am Landgericht Duisburg. Für die wertvolle Hilfe bei der Vorbereitung dieses Beitrags danken die Verfasser Frau Wiss. Ang. Eva Maria Lammel, Rechtsassessorin.

1 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. (1990), S. 20, der Sport als „geregeltes Kampfspiel“ ansieht.2 Zur wirtschaftlichen Bedeutung des Sports im Allgemeinen Mailänder, in: Württembergischer Fußballverband

e. V. (Hrsg.), Sport, Kommerz und Wettbewerb, 1998, S. 6 ff.; Weber, Die wirtschaftliche Bedeutung des Sports, 1995, Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Bd. 81.

3 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat im Hinblick auf die Erhaltung der derzeitigen Sportstruktu-ren und die Wahrung der sozialen Funktion des Sports im Gemeinschaftsrahmen („Helsinki-Bericht“), KOM (1999) 644 endg., S. 4.

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Sportler sind ebenso wie der Marktwert für Fernsehübertragungsrechte und Werbe-einnahmen enorm angestiegen. Die Kosten für die Fernsehübertragungsrechte der Olympischen Spiele erhöhten sich von € 308 Millionen für die Spiele in Los Ange-les im Jahre 1984 auf € 1,4 Milliarden für die Spiele in Sydney im Jahre 20004. Ein Werbespot von 30 Sekunden Länge, der während der Fernsehübertragung eines For-mel-1-Rennens ausgestrahlt wird, kostet in der Saison 2005 € 30.000-132.0005. Sportvereine werden zunehmend als Kapitalgesellschaften geführt und zum Teil an der Börse notiert. So war etwa der britische Fußballclub Manchester United von 1991 bis 2005 an der Börse platziert und wies im Jahre 2001 einen Jahresumsatz von £ 122 Millionen auf6. Bedürfte es weiterer Beispiele für die ökonomische Rele-vanz des Sports, so ließe sich auf die Fußballweltmeisterschaft 2006 verweisen. Für sie werden nach Schätzungen von Experten ca. € 10 Milliarden an Gesamtinvesti-tionen getätigt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) soll dank der Fußballweltmeister-schaft bis 2010 um ca. € 7,98 Milliarden steigen7. Ein negatives Beispiel am Schluss: Auch der jüngst zu Tage getretene Wettskandal bei Fußballspielen hat schlaglichtartig die ökonomische Relevanz des Sports beleuchtet.Angesichts derartiger Phänomene und Zahlen lässt sich schwerlich bestreiten, dass der Sport neben seiner gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Funktion eine beträchtliche wirtschaftliche Bedeutung besitzt. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit des Sports wird er auch immer mehr – und zwar auf allen Rechtsgebieten – in die rechtliche Betrachtung einbezogen. Dies gilt auch und in besonderem Maße für das Wettbewerbsrecht, denn dem Sport selbst liegt der Gedanke des fairen Wettbewerbs zugrunde. Zu untersuchen ist hierbei, in welchem konkreten Umfang das Wettbe-werbsrecht im Bereich des Sports Anwendung findet. Wegen der häufig anzutref-fenden grenzüberschreitenden Bedeutung der zu beurteilenden Vorgänge ist beson-ders die Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts relevant, auf das sich dieser Beitrag konzentriert. Der Europäische Gerichtshof hatte bereits in den 1970er Jahren in seinen Urteilen Walrave und Koch sowie Dona/Mantero entschie-den, dass sportliche Betätigungen dem Gemeinschaftsrecht unterfallen können, soweit sie einen Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Art. 2 des EWG-Vertra-ges ausmachen8. Während sich der EuGH in der Folgezeit primär mit der Verein-barkeit von sportlicher Betätigung oder den Sport betreffenden Regelwerken mit den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit

Schwarze/Hetzel, Der Sport im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts

4 Schaub, Sports and Competiton: Broadcasting rights of Sports Events, Rede v. 26.02.2002 in Madrid, S. 2, er-hältlich unter: http://www.europa.eu.int/comm/competition/speeches/index_theme_24.html.

5 Pressemitteilung der IP Deutschland GmbH v. 29.11.2004, erhältlich unter: http://www.ip-deutschland.de/ipdeutschland/Presse/aktuelle_Pressemitteilungen/index_1975.jsp.6 Manchester United plc., Financial Report, erhältlich unter: http://www.manutd.co.uk/trafford/investor-relations.

sps. Seit Juni 2005 werden die Aktien von Manchester United nicht mehr gehandelt, vgl. Süddeutsche Zeitung v. 24.06.2005, „Abpfiff für Börsenkarriere“, S. 30.

7 Ergebnisse der „Investitionskonferenz FIFA Fußball-WM 2006“, Leipzig 22.-23.01.2004, vgl. u. a. die Rede von Bundeswirtschaftsminister Clement am 22.01.2004, erhältlich unter: http://www.bmwa.bund.de/Navi ga-tion/Pres se/reden-und-statements,did=28928.html.

8 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale), Slg. 1974, 1405, Rn. 4/10; EuGH, Rs. 13/76 (Dona/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 12/13.

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(Art. 39 ff. EG) sowie die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 28 ff., 49 ff. EG) auseinander setzte9, ließ er die Frage nach der Anwendbarkeit der euro-päischen Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Sports bislang unbeantwortet10. Allerdings hat sich das Gericht erster Instanz jüngst mit der Vereinbarkeit von sportbezogenen Vorschriften mit dem europäischen Wettbewerbsrecht auseinander gesetzt. In der Entscheidung Piau vom 26.01.2005 hatte das EuG das Règlement der Fédération internationale de Football Association (FIFA) für die Qualifikation von Spielervermittlern auch anhand des EG-Wettbewerbsrechts zu überprüfen. Im Ergebnis hat das Gericht das Règlement für zulässig erklärt11. In seiner Entschei-dung Meca-Medina u. Majcen vom 30.09.2004 hat sich das EuG ebenfalls prinzi-piell für die Anwendbarkeit der Art. 81 und 82 EG auf wirtschaftliche Betätigun-gen auf dem Gebiet des Sports ausgesprochen12, aber eine Überprüfung der in Rede stehenden Anti-Doping-Regelung des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) am Maßstab des europäischen Wettbewerbsrechts aufgrund der rein sportli-chen Natur der Regeln für nicht geboten erachtet13.Hieran zeigt sich, dass sportliche Betätigungen und Regelwerke nicht generell un-ter die Vorschriften des Wettbewerbsrechts subsumiert werden können. Dies beruht vor allem auf den Unterschieden sportbezogener wirtschaftlicher Betätigung ge-genüber klassischen Wirtschaftsbereichen. Zum einen hängt das Interesse der Zu-schauer im Bereich des Sports gerade auch von einer gewissen Ausgeglichenheit der „Kräfteverhältnisse“ zwischen den Konkurrenten ab14. Zum anderen hat der Sport, wie bereits erwähnt, zusätzliche spezifische Eigenheiten gesundheitsför-dernder, erzieherischer und sozialer Art15. Obwohl der Sport nicht zu den aus-drücklichen gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzfeldern gehört, hat die Europäi-sche Union die Bedeutung des Sports anerkannt und in einer „Erklärung über die im Rahmen der gemeinsamen Politiken zu berücksichtigenden besonderen Merk-male des Sports und seiner gesellschaftlichen Funktion in Europa“ des Europäi-schen Rats in Nizza (07.-09.12.2000) sowie in der Erklärung Nr. 29 zum Vertrag

Schwarze/Hetzel, Der Sport im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts

9 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 73; EuGH, Rs. C-51/96 (Deliège), Slg. 2000, I-2549, Rn. 41; EuGH, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681, Rn. 60. Siehe auch: Zuleeg, Der Sport im Gemein-schaftsrecht, in: Will (Hrsg.), Sportrecht in Europa, 1993, S. 1 ff.

10 Bell/Turner-Kerr, The place of Sport within the Rules of Community Law, ECLR 2002, S. 256 (257); EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 138; EuGH, Rs. C-51/96 (Deliège), Slg. 2000, I-2549, Rn. 36-40; EuGH, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681, Rn. 28. Im Gegensatz hierzu die Schlussanträge der Generalanwälte, die sich für eine Anwendbarkeit der Art. 81, 82 EG aussprachen, vgl. Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 253-286 sowie Schlussanträge GA Cosmas in der Rs. C-176/96 (Deliège), Slg. 2000, I-2553, Rn. 103-112.

11 EuG, Rs. T-193/02 (Piau), noch nicht in der amtlichen Slg.12 EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Majcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 42.13 EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Majcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 64.14 Schaub (Fn. 4), S. 3. Exemplarisch hierfür ist der Rückgang des Zuschauerinteresses in der Formel 1, bei der

die Dominanz des Rennfahrers Michael Schumacher die Spannung um den Ausgang der Weltmeisterschaft ge-mindert hatte, vgl. F.A.Z. v. 29.04.2002, „Ferrari frustriert die Formel 1“.

15 Zur kulturellen Bedeutung des Sports Stender-Vorwachs, Sport und Kultur, SpuRt 2004, S. 201 ff.

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von Amsterdam betont16. Im Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Eu-ropa ist hinsichtlich des Sports für die Union eine Kompetenz für Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen in Art. I-17 lit. e) vorgesehen. Die Union fördert die europäischen Aspekte des Sports und berücksichtigt dabei u. a. die soziale und pädagogische Funktion des Sports (Art. III-282 VVE). Die Europä-ische Kommission hat in ihrem sog. „Helsinki-Bericht zum Sport“17 ein Aktions-programm zur Erhaltung und Stärkung der gesellschaftspolitischen und sozialen Funktion des Sports auf Gemeinschaftsebene aufgestellt. Aufgrund dieser Beson-derheiten steht die Beurteilung sportlicher Betätigung anhand des europäischen Wettbewerbsrechts stets in einem Spannungsfeld zwischen der Errichtung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs und der Erhaltung der wesentlichen sozialen und gesellschaftspolitischen Vorteile des Sports18. Ob und in welchem Umfang da-her das europäische Wettbewerbsrecht auf den Bereich des Sports Anwendung fin-det, soll im Folgenden geklärt werden.

II. Reichweite des Europäischen Wettbewerbsrechts im Hinblick auf den Sport

Angesichts der soeben erwähnten Mehrdimensionalität des Sports stellt sich zu-nächst die Frage nach der Reichweite des Wettbewerbsrechts und möglichen Aus-nahmen für sportliche Betätigungen.

1. Generelle Ausnahme

Grundsätzlich gelten die EG-Wettbewerbsregeln für alle Wirtschaftsbereiche und -tätigkeiten, soweit nicht der EG-Vertrag das Gegenteil bestimmt19. Lediglich für die Landwirtschaft ist in Art. 36 EG eine Bereichsausnahme vorgesehen. Anders verhält es sich hier im nationalen Wettbewerbsrecht. Im deutschen GWB existierte seit der 6. GWB-Novelle neben anderen Ausnahmebereichen vom Kartellverbot des § 1 GWB auch eine Bereichsausnahme für die zentrale Vermarktung von Rechten an der Fernsehübertragung satzungsgemäß durchgeführter sportlicher Wettbewerbe (vgl. § 31 GWB). Hintergrund der Einführung dieses Ausnahmetat-

16 In der Erklärung Nr. 29 wird besonders „die gesellschaftliche Bedeutung des Sports, insbesondere die Rolle, die dem Sport bei der Identitätsfindung und der Begegnung der Menschen zukommt“ betont. Hierzu: Tettinger, Sport als Verfassungsthema, in: ders. (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, 2001, S. 9 (23 f.).

17 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat im Hinblick auf die Erhaltung der derzeitigen Sportstruktu-ren und die Wahrung der sozialen Funktion des Sports im Gemeinschaftsrahmen, KOM (1999) 644 endg.

18 Monti, Competition and Sport the Rules of the game, Rede v. 26.02.2001, Brüssel, S. 3; Pons, Sport and Euro-pean Competition Policy, Rede v. 14.10.1999, New York, S. 6, beide erhältlich unter: http://www.eu ropa.eu.int/comm/competition/speeches/index_theme_24.html.

19 EuGH, verb. Rs. 209-213/84 (Ministère Public/Asjes), Slg. 1986, 1425, 1465; EuGH, Rs. 45/85 (Verband der Sachversicherer), Slg. 1987, 405, 451; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. (2004), § 1, Rn. 43; Whish, Competition Law, 4. Aufl. (2001), S. 9 f.

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bestands war der Beschluss des BGH zur Kartellrechtswidrigkeit der zentralen Vermarktung der Fernsehrechte für die Heimspiele der am UEFA-Pokal und am Pokal der Pokalsieger teilnehmenden deutschen Fußballvereine20. Der Gesetzge-ber befürchtete hiernach, dass auch die Vermarktung von Fernsehrechten an Bun-desliga-Spielen wegen Verstoßes gegen § 1 GWB untersagt würde und begründete daher die Einführung des § 31 GWB auch ausdrücklich als Prävention gegen die Folgen des BGH-Beschlusses21. Die Vorschrift war jedoch wettbewerbspolitisch höchst umstritten22. Einer der Kritikpunkte war ihre Inkompatibilität mit dem eu-ropäischen Wettbewerbsrecht23, das einen derartigen Ausnahmetatbestand für den Sport gerade nicht kennt. So lehnte die Europäische Kommission in ihrer Stel-lungnahme zur 6. GWB-Novelle die Einführung des § 31 GWB auch strikt ab24. Sie bezog sich insoweit auf die Entscheidung Bosman des Europäischen Gerichts-hofs25. Dort hatte der Gerichtshof zwar die beträchtliche soziale Bedeutung des Sports und insbesondere des Fußballs in der Gemeinschaft anerkannt. Deswegen sind seiner Ansicht nach „die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen“, die „Wahrung einer bestimmten Chancengleichheit und der Unge-wissheit der Ergebnisse“ sowie die Förderung der „Einstellung und die Ausbil-dung der jungen Spieler“ legitime Zwecke für den Sport betreffende Regelun-gen26. Dies bedeutete nach Auffassung der Kommission bei aller Anerkennung dieser Ziele des Sports aber nicht, dass dieser, soweit er eine wirtschaftliche Tätig-keit i. S. d. Art. 2 EG betreffe, völlig außerhalb der europäischen Wettbewerbsvor-schriften stehen könne27. Dem ist zuzustimmen, da die Art. 81, 82 EG grundsätz-lich universelle Geltung beanspruchen und auf alle Wirtschaftszweige anwendbar sind28. Im Übrigen ist eine Berücksichtigung der Besonderheiten des Sports auch innerhalb der Wettbewerbsordnung des Gemeinschaftsrechts, d. h. durch die An-wendung des Art. 81 Abs. 3 EG möglich. Im deutschen Kartellrecht ist daher kon-sequenterweise bei der Umsetzung der Reform des europäischen Wettbewerbs-

20 BGH WuW/E DE-R 17 = BGH NJW 1998, 756 – Europapokalheimspiele. Vgl. hierzu die Anmerkungen von Heermann, Kann der Ligasport die Fesseln des Kartellrechts sprengen?, SpuRt 1999, S. 11 ff.; Jänich, Fußball-übertragungsrechte und Kartellrecht, GRUR 1998, S. 438 ff.

21 BT-Dr. 13/9720 Nr. 8.22 Vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 1997/1998, BT-Dr. 14/1139, S. 42; Hannamann, Kartellverbot und Verhal-

tenskoordination im Sport, 2001, S. 456 f.; Mailänder, Sport als Wirtschaftsgut – Grenzen seiner Vermarktung im Fernsehen, in: FS Geiß, 2000, S. 605 (611); Heermann (Fn. 20), SpuRt 1999, S. 11 (14).

23 So auch: Mailänder (Fn. 22), S. 605 (611).24 Schreiben der EU-Kommission an den Ausschuss für Wirtschaft des Deutschen Bundestages mit Stellungnah-

me der Generaldirektion Wettbewerb zur Anhörung „6. Kartellnovelle“ am 30. März 1998, Wortprotokoll der mündl. Anhörung, vgl. Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 9. Aufl. (2001), § 31 GWB, Rn. 3; Bundeskartellamt, Ausnahmebereiche des Kartellrechts – Stand und Perspektiven der 7. GWB-Novelle, S. 20, erhältlich unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/AKK_03.pdf.

25 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921; Helsinki-Bericht (Fn. 3), KOM (1999) 644 endg., S. 8 f.26 EuGH, Rs. C- 415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 106.27 Helsinki-Bericht (Fn. 3), KOM (1999) 644 endg., S. 8. Vgl. ferner EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Ma-

jcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 42.28 Brinker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2000, Art. 81 EG, Rn. 7.

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rechts in der 7. GWB-Novelle der Ausnahmetatbestand des § 31 GWB aufgrund dessen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht ersatzlos gestrichen wor-den29.Die europäische Wettbewerbsordnung, welche zumindest auf dem Gebiet wirt-schaftlicher Betätigung universelle Geltung beansprucht, lässt daher eine generelle Ausnahme für den gesamten Bereich des Sports nicht zu. Nach der Reform des EG-Wettbewerbsrechts durch die VO (EG) Nr. 1/2003 und der hieraus resultieren-den faktischen Verdrängungswirkung des nationalen Wettbewerbsrechts kommt im Übrigen auch in den nationalen Rechtsordnungen eine generelle Ausnahme von den Wettbewerbsregeln für den Sport nicht mehr in Betracht30.

2. Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechts für rein sportliche Tätigkeiten und Regelungen

Nach der ständigen Rechtsprechung der europäischen Gemeinschaftsgerichte fällt die Ausübung des Sports insoweit unter das Gemeinschaftsrecht, als er dem Wirt-schaftsleben i. S. d. Art. 2 EG zuzurechnen ist31. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass einzelne Bereiche des Sports, nämlich diejenigen, die keine wirtschaftliche Relevanz besitzen, vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und folglich auch des europäischen Wettbewerbsrechts ausgenommen sind32. Insofern haben die europäischen Gerichte betont, dass die Bestimmungen des EG-Vertrags keine rein sportlichen Regeln betreffen, d. h. solche Fragen, die allein von sportlichem Interesse sind und als solche nichts mit einer wirtschaftlichen Betätigung zu tun haben33. Naturgemäß stellt sich dann die weitere Frage nach konkreten Abgren-zungskriterien, zwischen einer rein sportlichen Betätigung und wirtschaftlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Sport, da hiervon letztlich die Anwendbar-keit der Art. 81, 82 EG abhängt.Unter die Kategorie der Praktiken, die rein sportlicher Natur sind und somit nicht den Wettbewerbsvorschriften unterliegen, fallen alle diejenigen Tätigkeiten und Regeln, ohne die eine Sportart bzw. ein sportlicher Wettkampf nicht durchgeführt werden kann oder bei deren Fehlen der eigentliche Wesensgehalt der sportlichen

29 Vgl. Bundeskartellamt (Fn. 24), S. 19-22. Das 7. Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-schränkungen ist am 01.07.2005 in Kraft getreten, BGBl. I v. 12.07.2005, S. 1954, Neubekanntmachung S. 2114.

30 Zur faktischen Verdrängungswirkung Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrens-rechts, 2004, S. 43; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 4, Rn. 26.

31 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale), Slg. 1974, 1405, Rn. 4/10; EuGH, Rs. 13/76 (Dona/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 12/13; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 73; EuGH, Rs. C-51/96 (Deliège), Slg. 2000, I-2549, Rn. 41.

32 Eine solche bereichsspezifische Ausnahme ebenfalls bejahend: van Miert, Sport et concurrence: Dévelope-ments récents et action de la Commission, Rede v. 27.11.1997, Luxemburg, erhältlich unter: http://www.europa.eu.int/comm/competition/speeches/index_theme_24.html; Brinckman/Vollebreght, The Marketing of Sport and its Relation to EC Competition Law, ECLR 1998, S. 281 (282 f.).

33 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale), Slg. 1974, 1405, Rn. 8; EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Majcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 41.

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Betätigung verfälscht würde34. Im Einzelnen rechnen hierzu vor allem die eigentli-chen „Spielregeln“ einer Sportart, die z. B. die Art und Weise des Spielablaufs, die Dauer eines Spiels oder die Anzahl der Spieler festlegen. Daneben unterliegt auch der organisatorische Aufbau eines Sportverbandes sowie die Organisation sportli-cher Wettkämpfe bzw. die dafür nach sportlichen Kriterien vorgenommene Aus-wahl nicht den rechtlichen Vorgaben der Art. 81, 82 EG. So hat der EuGH entschie-den, dass sowohl die Aufstellung von Nationalmannschaften35 als auch die Mitglie-derauswahl für die Teilnahme an hochrangigen internationalen Wettkämpfen rein sportliche Regelungen darstellen und daher vom Gemeinschaftsrecht nicht erfasst werden36. Bei der Einordnung einer Maßnahme ist auf deren primäre Zielrichtung abzustellen. Ist der primäre Zweck die Durchsetzung sportbezogener Ziele, so ist die Maßnahme als rein sportlich zu qualifizieren. Dem steht auch nicht entgegen, dass eine solche Maßnahme eventuell mittelbare wirtschaftliche Auswirkungen hat. So haben Regelwerke, die Beschränkungen hinsichtlich der Teilnahme von Sport-lern an Wettkämpfen beinhalten, stets wirtschaftliche Auswirkungen auf diejenigen Sportler, die durch die Teilnahme an Wettkämpfen ihren Lebensunterhalt finanzie-ren. Im Fall Meca-Medina u. Majcen waren die beiden Kläger, welche Berufssport-ler in der Disziplin des Langstreckenschwimmens sind, aufgrund eines positiven Doping-Befundes nach den Doping Control Rules des Internationalen Schwimm-verbandes (FINA) vier Jahre lang für die Teilnahme an Schwimmwettkämpfen ge-sperrt worden. Eine solche Sperre hat ersichtlich beträchtliche wirtschaftliche Kon-sequenzen für Berufssportler. Trotzdem blieben sowohl die Beschwerde bei der Europäischen Kommission, mit der ein Verstoß gegen Art. 81, 82 EG gerügt wur-de, als auch die anschließende Klage gegen das sportliche Regelwerk beim Gericht erster Instanz erfolglos. Nach Ansicht des Gerichts verfolgen die Anti-Doping-Re-geln nämlich nicht primär einen wirtschaftlichen Zweck, sondern zielen darauf ab, den Sportsgeist zu bewahren und die Gesundheit der Athleten zu schützen37. Ohne die Sicherung des Fairplay könne der Sport, ob auf Amateur- oder Profiebene be-trieben, nicht existieren. Die mittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen einer Do-pingsperre für Berufssportler geben keinen Anlass, den rein sportlichen Charakter einer Dopingregelung in Zweifel zu ziehen. Freilich bestehen aber auch für die An-wendung und Durchsetzung sportlicher Regelwerke rechtliche Grenzen. Als ein-schränkendes Korrektiv bei der Einordnung einer Maßnahme als rein sportlich und damit als gemeinschaftsrechtlich nicht justiziabel gilt, dass eine Maßnahme ge-

34 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat im Hinblick auf die Erhaltung der derzeitigen Sportstruktu-ren und die Wahrung der sozialen Funktion des Sports im Gemeinschaftsrahmen, KOM (1999) 644 endg. S. 8; Europäische Kommission, XXIX. Bericht über die Wettbewerbspolitik (1999), Rn. 140; EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Majcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 41.

35 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale), Slg. 1974, 1405, Rn. 8; EuGH, Rs. 13/76 (Dona/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 14.

36 EuGH, Rs. C-51/96 (Deliège), Slg. 2000, I-2549, Rn. 64.37 EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Majcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 44. Zu diesem Urteil: Weatherhill, Anti-

Doping Rules and EC law, ECLR 2005, S. 416 ff.

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meinschaftsrechtlicher Kontrolle nur soweit entzogen werden darf, als es der sport-liche Zweck erfordert38.Abgesehen von den genannten Ausnahmebereichen unterfallen alle Praktiken im Rahmen der mit dem Sport zusammenhängenden Wirtschaftstätigkeit den Rege-lungen des Gemeinschaftsrechts und damit ggf. auch den Vorschriften des europä-ischen Wettbewerbsrechts. Unter welchen Voraussetzungen hier ein Verstoß gegen die europäischen Wettbewerbsregeln anzunehmen ist, wird im Folgenden näher dargelegt.

III. Wettbewerbsrechtliche Beurteilung sportbezogener Wirtschaftstätigkeit

Nachdem prinzipiell festgestellt ist, dass auch sportbezogene Wirtschaftstätigkei-ten in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fallen, gilt es zu klären, unter welchen näheren Voraussetzungen eine solche Tätigkeit dem EG-Wettbewerbsrecht unterfällt.

1. Persönlicher Anwendungsbereich

Die europäischen Wettbewerbsregeln richten ihre Ver- und Gebote an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen. Auf dem Gebiet des Sports können Normadres-saten der Art. 81, 82 EG Sportvereine, Sportverbände oder gar einzelne Berufs-sportler sein, falls diese Unternehmens- bzw. Unternehmensvereinigungseigen-schaft besitzen. Das maßgebliche Kriterium für die Qualifikation einer Organisati-on als Unternehmen ist ihre wirtschaftliche Betätigung. Der Begriff des Unterneh-mens im EG-Wettbewerbsrecht umfasst daher jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und ihrer Finanzierung39. Nach dem in der Rechtsprechung entwickelten „funktionalen Unternehmensbegriff“ ist jede natürliche und juristische Person in ihrer selbstständigen, auf den Austausch von Waren und Dienstleistungen bezogenen erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit um-fasst40.

38 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale), Slg. 1974, 1405, Rn. 9; EuGH, Rs. 13/76 (Dona/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 15; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 76; EuGH, Rs. C-51/96 (Deliège), Slg. 2000, I-2549, Rn. 43; EuGH, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681, Rn. 34; EuG, Rs. T-313/02 (Meca-Medina u. Majcen), Slg. 2004, I-9483, Rn. 41.

39 Brinker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2000, Art. 81 EG, Rn. 24; EuGH, Rs. C-41/90 (Höfner u. Elser), Slg. 1991, I-1979, Rn. 21; EuGH, Rs. C-364/92 (Eurocontrol), Slg. 1994, I-43, Rn. 18.

40 EuGH, Rs. C-41/90 (Höfner u. Elser), Slg. 1991, I-1979, Rn. 21; EuGH, Rs. C-244/94 (Fédération Française des Sociétés D´Assurance u. a.), Slg. 1995, I-4013, Rn. 14; Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 8, Rn. 5; Whish (Fn. 19), S. 68. Eine restriktivere Auslegung des Unternehmensbegriffs nahm der EuGH in seiner Entscheidung „AOK-Bundesverband“ vom 16.03.2004, verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01, C-355/01 = EuZW 2004, 241 ff. vor. Kritisch hierzu: Schenke, Die AOK-Bundesverband-Entscheidung des EuGH und die Reform der gesetzlichen Krankenkassen, VersR 2004, S. 1360 ff.; Gundel, Europarechtliche Probleme der Bürgerversiche-rung, EuR 2004, S. 575 (581 ff.); Reysen/Bauer, Health Insurance and European Competition Law, ZWeR 2004, S. 568 ff.

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Ein Indiz für die Unternehmenseigenschaft von Sportvereinen ist deren Finanzie-rung. Während sich Sportvereine früher zumeist über ihre Mitgliedsbeiträge finan-zierten, wird der Finanzbedarf vieler moderner Sportvereine – vor allem von Fuß-ballvereinen – über die Vermarktung von Werbeartikeln und Fernsehübertragungs-rechten sowie über Sponsoring gedeckt. Eine Vielzahl von Sportvereinen sind heut-zutage – wie bereits erwähnt – als Kapitalgesellschaften organisiert und mehr oder weniger erfolgreich an der Börse notiert41. In ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit sind Sportvereine daher durchaus als Unternehmen i. S. d. Art. 81 ff. EG anzusehen42. Die Tatsache, dass Sportvereine neben ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit andere Ziele verfolgen, ändert nichts an ihrer Einordnung als Unternehmen i. S. d. europäischen Wettbewerbsrechts. Nach der Rechtsprechung der europäischen Gerichte kann eine Organisation sogar dann unternehmerisch handeln, wenn sie primär soziale Zwecke verfolgt43, wie im Falle von Sportvereinen, die vor allem eine gesellschaftspoliti-sche Funktion ausüben.Nationale oder internationale Sportverbände sind aufgrund ihrer Mitglieder – den wirtschaftlich tätigen Sportvereinen – als Unternehmensvereinigungen anzuse-hen44. Darüber hinaus können nationale oder internationale Sportverbände – z. B. das Internationale Olympische Komitee (IOK), die Fédération internationale de Football Association (FIFA) oder die Union des Associations européennes de Foot-ball (UEFA) – selbst Unternehmen i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG sein, wenn sie als solche wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, etwa bei der Vermarktung von sportli-chen Großereignissen durch den Abschluss von Werbeverträgen oder von Verträgen über Fernsehübertragungsrechte45.Da nach ständiger Rechtsprechung auch natürliche Personen dem Unternehmens-begriff des Art. 81 Abs. 1 EG unterfallen können, sind auch die Aktivitäten des einzelnen Berufssportlers, der seinen sportlichen Erfolg vermarktet, in den persön-lichen Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts einzuordnen46.Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass alle typischerweise auf dem Gebiet des Sports tätigen Akteure – Sportvereine, Sportverbände und einzelne Sportler – prin-

41 Vgl. oben (Fn. 6), Franck/Müller, Kapitalgesellschaften im bezahlten Fußball, ZfB 1998, S. 121 ff.; Egger/Stix-Hackl, Sports and Competition Law: A never ending Story, ECLR 2002, S. 81 (84).

42 So auch: Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 8, Rn. 22; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV-/EGV-Kommentar, 6. Aufl. (2004), Vorb. Art. 81-85 EG, Rn. 26; Egger/Stix-Hackl (Fn. 41), ECLR 2002, S. 81 (84); Fleischer, Absprachen im Profisport und Art. 85 EGV, WuW 1996, S. 473 (474).

43 EuGH, verb. Rs. 209-215/78 (Ambulanz Glöckner), Slg. 1980, 3125, Rn. 20; Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 8, Rn. 16; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I, 1997, Art. 85 Abs. 1, Rn. 19.

44 Egger/Stix-Hackl (Fn. 41), ECLR 2002, S. 81 (85); FK-Roth/Ackermann, EG-Kartellrecht, Grundfragen Art. 81 Abs. 1 EG, Stand: Mai 2000, Rn. 30; Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 8, Rn. 22.

45 Entscheidung der Kommission v. 27.10.1992 (Fußballweltmeisterschaft 1990), ABl. Nr. L 326 v. 12.11.1992, S. 31 ff., Rn. 44-49 zur Unternehmenseigenschaft der FIFA; Entscheidung der Kommission v. 11.06.1993 (EBU/Eurovisions-System), ABl. Nr. L 179 v. 22.07.1993, S. 23 ff., Rn. 45-46; Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 255; Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 8, Rn. 22.

46 So auch: Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EUV-/EGV-Kommentar, Vorb. Art. 81-85 EG, Rn. 26; EuGH, Rs. 36/76 (Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale), Slg. 1974, 1405, Rn. 16; Zinger, Diskriminierungsverbote und Sportautonomie, 2003, S. 72 ff.

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zipiell vom persönlichen Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts umfasst sein können.

2. Sachlicher Anwendungsbereich

Der sachliche Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts umfasst sowohl das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG als auch das Missbrauchsverbot des Art. 82 EG. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten sportbezogener wirt-schaftlicher Betätigung ist es nicht möglich, eine abschließende Klärung der wett-bewerbsrechtlichen Relevanz aller Verhaltensweisen auf dem Sportmarkt herbeizu-führen. Stattdessen sollen im Folgenden einzelne typische Verhaltensweisen her-ausgegriffen werden, die bislang wettbewerbsrechtliche Fragen auf dem Gebiet des Sports aufgeworfen haben. Anhand der beispielhaften Betrachtung dieser Frage-stellungen sollen insgesamt Lösungsmodelle für den Sport betreffende Wettbe-werbsfragen erarbeitet werden.

a) Zentrale Vermarktung von Fernsehübertragungsrechten

Ein Gebiet, welches immer wieder zu wettbewerbsrechtlichen Auseinandersetzun-gen geführt hat, ist die zentrale Vermarktung von Fernsehübertragungsrechten an sportlichen Ereignissen – vor allem die Übertragung von Fußballspielen in nationa-len oder internationalen Wettbewerben. Von einer zentralen Vermarktung spricht man, wenn den einzelnen Vereinen das Recht, Verträge über die Erlaubnis zur Auf-nahme und Ausstrahlung von Spielen der Sportvereine auszuhandeln und abzu-schließen, entzogen und einem übergeordneten Sportverband übertragen wurde47. Demgegenüber liegt eine dezentrale Vermarktung vor, wenn die einzelnen Sport-vereine die ihnen zustehenden Rechte selbst wahrnehmen.Der Markt für Fernsehübertragungsrechte hat eine erhebliche wirtschaftliche Rele-vanz. So zahlte der Sender „Premiere“ etwa für die Übertragungsrechte an der deutschen Fußball-Bundesliga 2002-2004 € 148 Millionen, der Sender „RTL“ für die Übertragungsrechte der UEFA Champions League 1999-2003 € 60 Millio-nen48. Nach deutschem Recht hatte der BGH im Jahre 1998, wie bereits erwähnt, die Zentralvermarktung der Fernsehrechte an der Fußballbundesliga durch den Deutschen Fußballbund (DFB) für kartellrechtswidrig erklärt, woraufhin der deut-sche Gesetzgeber den Ausnahmetatbestand des § 31 GWB einführte, der mit der aktuellen Reform des deutschen Kartellrechts wieder abgeschafft wurde49.

47 Zu dieser Begriffsdefinition: BGH, WuW/E DE-R 17 (19) = BGH NJW 1998, 756 (757) – Europapokalheim-spiele; Sauer, Kartellrechtliche Fragen der Zentralvermarktung von Fernsehrechten an der Fußball-Bundesliga, SpuRt 2004, S. 93; Jänich (Fn. 20), GRUR 1998, S. 438.

48 Aders/Elter, in: KPMG, Der Sportrechtemarkt in Deutschland, 2003, erhältlich unter: http://www.kpmg.de/li-brary/brochures_surveys/pdf/Der_Sport rechtemarkt_in_Deutschland.pdf.

49 Vgl. oben (Fn. 20-21, 29).

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Fraglich ist, ob die Zentralvermarktung von Fernsehübertragungsrechten auch ei-nen Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht darstellt, was im Folgenden näher untersucht werden soll.

aa) Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG

Nach dem allgemeinen Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG sind alle Vereinbarun-gen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und auf-einander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen den Mit-gliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Beschränkung des Wettbe-werbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, verboten. Bei der Zentralvermarktung von Fernsehübertragungsrechten haben die Sportver-eine, welchen prinzipiell das Vermarktungsrecht an ihren Veranstaltungen zusteht50, ihr Recht auf einen übergeordneten Sportverband übertragen51. Hierbei handelt es sich um einen wettbewerbsbeschränkenden Beschluss einer Unternehmensvereini-gung. Denn die Sportvereine als einzelne Unternehmen haben den Beschluss zur Zentralvermarktung in ihrem Zusammenschluss zu einem übergeordneten Sport-verband getroffen52. Die Zentralvermarktung beschränkt den Wettbewerb zwischen den einzelnen Sportvereinen, die bei einer individuellen Vermarktung ihrer Rechte unter Umständen einen höheren Erlös erzielen könnten53.Dieser Beschluss müsste ferner geeignet sein, den Handel zwischen den Mitglied-staaten zu beeinträchtigen (sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel). Bei der Vermark-tung von Fernsehübertragungsrechten europaweiter oder gar weltweiter Sportwett-bewerbe ist dieses Kriterium unzweifelhaft erfüllt. Aber auch bei der Vermarktung von Fernsehrechten an nationalen Sportwettbewerben, etwa der deutschen Fußball-bundesliga, wird man einen derartigen zwischenstaatlichen Effekt nicht ausschlie-ßen können. Da insbesondere die „Spitzenspiele“ der europäischen Fußballligen auch bei Zuschauern im europäischen Ausland Interesse finden, stellen sie damit einen tauglichen Vermarktungsgegenstand dar.Ferner erfordert der Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeeinträchtigung54. Die Europäische Kommission hat das Merkmal

50 Das unmittelbare und originäre Vermarktungsrecht an einer Veranstaltung folgt aus dem Hausrecht des Veran-stalters, vgl. Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93; Stopper, Ligasport und Kartellrecht, 1997, S. 79 ff.; Körber/Za-gouras, Übertragungsrechte und Kartellrecht, WuW 2004, S. 1144 (1147 f.); BGH, WuW/E DE-R 17 (18) = BGH NJW 1998, 756 (757) – Europapokalheimspiele. A. A.: Jänich (Fn. 20), GRUR 1998, S. 438 (441).

51 Innerhalb der deutschen Fußballbundesliga ist das Vermarktungsrecht von den Fußballvereinen gem. § 16a Nr. 2 der Satzung des DFB diesem exklusiv übertragen worden; die Aufgabe übernimmt die Deutsche Fußball Liga GmbH; erhältlich unter: http://www.dfb.de/dfb-info/interna/index.html. Die zentrale Vermarktung der Übertragung von Fußballspielen der UEFA Champions League folgt aus Annex III Abs. 1 des Statuts der UEFA Champions League, welcher durch die teilnehmenden Vereine angenommen wurde und diese bindet; erhältlich unter: http://www.uefa.com/newsfiles/19071.pdf.

52 Vgl. Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93 (94).53 So auch: Schaub (Fn. 4), S. 5; Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93 (94); Fleischer (Fn. 42), WuW 1996, S. 473

(480).54 EuGH, Rs. 56/65 (Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm), Slg. 1966, 282 (303 f.); Brinker, in: Schwar-

ze, EU-Kommentar, 2000, Art. 81 EG, Rn. 39.

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der Spürbarkeit in der sog. NAAT-Regelung55 konkretisiert. Hiernach fallen Ver-einbarungen dann nicht unter Art. 81 Abs. 1 EG, wenn der gemeinsame Marktan-teil der Parteien auf keinem von der Vereinbarung betroffenen sachlich und räum-lich relevanten Markt innerhalb der Gemeinschaft 5% überschreitet und der Jahres-umsatz, der mit den von der Vereinbarung erfassten Produkten erzielt wird, unter-halb des Betrages von € 40 Millionen bleibt56. Im Falle horizontaler Vereinbarungen gilt dies für den gesamten Jahresumsatz der beteiligten Unternehmen. Diese Baga-tellgrenze wirkt sich dahingehend aus, dass große Bereiche des Amateursports auf-grund der geringeren wirtschaftlichen Relevanz vom Anwendungsbereich des eu-ropäischen Wettbewerbsrechts ausgenommen sind. Bei der Zentralvermarktung der Fernsehübertragungsrechte der geschilderten Art57 geht es aber gerade um die Zu-sammenführung aller an dem sportlichen Wettbewerb beteiligten Vereine bzw. Un-ternehmen. Denn ein erfolgreiches Zentralvermarktungskonzept für Fernsehüber-tragungsrechte setzt voraus, dass alle Spiele erfasst werden. Weiterhin geht es bei der Zentralvermarktung vor allem um Sportarten wie Fußball, die auf dem Fern-sehübertragungsmarkt aufgrund ihrer Popularität eine hohe Einschaltquote garan-tieren. Im Bereich des Profifußballs haben Vereine häufig einen weitaus höheren Jahresumsatz als € 40 Millionen. Im Profibereich stellt die Zentralvermarktung von Fernsehübertragungsrechten somit auch eine spürbare Wettbewerbsbeschrän-kung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG dar.

bb) Wettbewerbsrechtliche Ausnahme

Im Zusammenhang mit der Zentralvermarktung von Fernsehübertragungsrechten werden aufgrund der Sonderstellung des Sports verschiedene Ansätze für eine Aus-nahme von den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften angeführt, die im Ergebnis jedoch die Wettbewerbsbeschränkung des Art. 81 Abs. 1 EG schwerlich zu recht-fertigen vermögen.Eine solche Ausnahme wird zum einen mit den Grundsätzen der Immanenztheorie zu begründen versucht, wonach sich eine Wettbewerbsbeschränkung notwendig aus einem ansonsten kartellrechtsneutralen Rechtsverhältnis ergebe58, wobei die Recht-fertigung dann nicht greift, wenn es andere Möglichkeiten gibt, die den Wettbewerb weniger belasten59. Argumentiert wird hier, dass über die Finanzeinnahmen aus der Zentralvermarktung der Fernsehübertragungsrechte auch die wichtigen sozial- und

55 Die Abkürzung steht für „no appreciable affectation of trade“, vgl. Bekanntmachung der Kommission – Leitli-nien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Art. 81 und 82 des Vertra-ges, ABl. Nr. C 101 v. 27.04.2004, S. 81 ff., Rn. 44 ff. Hierzu: Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), S. 46; Mestmä-cker/Schweitzer (Fn. 19), § 4, Rn. 37 ff; Klees (Fn. 30), § 7, Rn. 29 ff.

56 Rn. 52 der Leitlinie.57 Schaub (Fn. 4), S. 5. Zur Frage der Wettbewerbsbeschränkung auf vertikaler Ebene durch die Einräumung über-

langer Exklusivrechte vgl. Schaub (Fn. 4), S. 6 f.; Körber/Zagouras (Fn. 50), WuW 2004, S. 1144 (1149); Os-mann, Das Europäische Sportmodell, SpuRt 2000, S. 58 (60).

58 Zur Immanenztheorie: EuGH, Rs. 42/84 (Remia), Slg. 1985, 3545, Rn. 19 ff.; Whish (Fn. 19), S. 101; Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93 (95).

59 Entscheidung der Kommission (Assurpol), ABl. Nr. L 37 v. 14.02.1992, S. 16 ff., Rn. 30.

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gesellschaftspolitischen Funktionen des Sports, etwa im Bereich des Amateur- und Breitensports, finanziert würden60. Wie bereits dargetan wurde, kann sich aus den – neben den wirtschaftlichen Zielen – verfolgten sozialen Zwecken jedoch keine generelle Ausnahme von den europäischen Wettbewerbsregeln ergeben. Vielmehr können solche Erwägungen lediglich im Rahmen der Legalausnahme des Art. 81 Abs. 3 EG Berücksichtigung finden.Zum anderen wird die Befürwortung einer Ausnahme für den Bereich des Sports auch auf die Grundsätze der im US-amerikanischen Kartellrecht entwickelten Theo-rien der Single-Entity und Rule of Reason gestützt. Nach der Single-Entity-Theorie stellt die Zentralvermarktung keine Beschränkung, sondern vielmehr eine Verstär-kung des Wettbewerbs dar. Die Vermarktungsfähigkeit des Ligabetriebs über das Fernsehen sei nur aufgrund der Zusammenarbeit aller beteiligten Vereine möglich, d. h. die Liga an sich wird als einzelnes Unternehmen betrachtet61. Dieser Ansatz verkennt aber, dass die an den Sportligen beteiligten Vereine – neben der Vermark-tung ihrer Fernsehübertragungsrechte – selbstständig weitere wirtschaftliche Aktivi-täten wahrnehmen. Nur wenn das Gegenteil der Fall wäre, könnte die Single-Entity-Theorie hier legitimierend eingreifen62. Unter dem Stichwort der Rule of Reason wird in Anlehnung an das US-amerikanische Kartellrecht diskutiert, ob eine Verein-barung nach einer Abwägung zwischen den wettbewerbsfördernden und wettbe-werbsbeschränkenden Aspekten dann vom Kartellverbot ausgenommen werden kann, wenn sinnvolle Gründe hierfür sprechen63. Im europäischen Kartellrecht ist dieser Gedanke dagegen in die Norm des Art. 81 Abs. 3 EG eingeflossen, sodass die euro-päischen Gerichte bislang eine über die in Art. 81 Abs. 3 EG normierten Ausnahme-grundsätze hinausgehende Befreiung vom Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG stets zurückgewiesen haben bzw. Grundsätze, die denen der Rule of Reason ent-sprachen, nur im Zusammenhang mit Art. 81 Abs. 3 EG angewandt haben64.

60 Wertenbach, Die zentrale Vermarktung von Fußball-Fernsehrechten als Kartell nach § 1 GWB und Art. 85 EGV, ZIP 1996, S. 1417 (1424); vgl. auch die entsprechende Argumentation bei der Einführung des § 31 GWB in der 6. GWB-Novelle, Bericht, Wirtschaftsausschuss des Bundestages, BT-Dr. 13/10633, S. 2 = WuW-Sonderheft 1998, S. 138 (139).

61 Vgl. zu diesem Ansatz: Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93 (95); Fleischer (Fn. 42), WuW 1996, S. 473 (477 f.); Heermann, Der deutsche Fußballbund (DFB) im Spannungsfeld von Kartell- und Konzernrecht, ZHR 161 (1997), S. 665 (670); Stopper, Ligasport und Kartellrecht, 1997, S. 71.

62 So auch: Fleischer (Fn. 42), WuW 1996, S. 473 (477); Jänich (Fn. 19), GRUR 1998, S. 438 (442).63 Die Rule of Reason ist im US-amerikanischen Recht anerkannt seit der Supreme Court-Entscheidung Standard

Oil of New Jersey v. United States, 221 U.S. 1 (1911). Vgl. ferner Carrier, The Real Rule of Reason: Bridging the Disconnect, 1999 B.Y.U.L.Rev. S. 1265; Areeda/Hovenkamp, Antitrust Law – An Analysis of Antitrust Prin-ciples and Their Application, Bd. VII, 2. Aufl., 2003. Dazu neuestens Mayer, Ziele und Grenzen des Kartellver-bots im Recht der EG und der USA – Zur Rechtfertigung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen unter Berufung auf wettbewerbsfremde Gesichtspunkte (Diss. Freiburg), Baden-Baden, 2005, S. 70 ff.

64 Die UEFA hatte im Fall Bosman auf die Grundsätze der Rule of Reason verwiesen. GA Lenz argumentierte in seinen Schlussanträgen, dass diese Grundsätze nicht auf das europäische Recht übertragbar seien. Vielmehr erfolge eine Berücksichtigung dieser Grundsätze im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG, vgl. Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 266 ff. Zur Frage der Rule of Reason im europäi-schen Wettbewerbsrecht siehe auch: Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 7, Rn. 57; Whish (Fn. 19), S. 209; Man-zini, The European Rule of Reason – Crossing the sea of doubt, ECLR 2002, S. S. 392 (394 ff.); Fritzsche, „Notwendige“ Wettbewerbsbeschränkungen im Spannungsfeld zwischen Verbot und Freistellung nach Art. 85 EGV, ZHR 160 (1996), S. 31 (49 f.).

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cc) Legalausnahme nach Art. 81 Abs. 3 EG

Nach der Reform des europäischen Wettbewerbsrechts durch die VO (EG) Nr. 1/2003 ist die Möglichkeit einer speziellen Freistellungsentscheidung gem. Art. 81 Abs. 3 EG entfallen. Stattdessen wird die Norm unmittelbar in Form einer Legal-ausnahme angewandt. Auch wenn sich damit verfahrensrechtlich das System ent-scheidend verändert hat65 sind die materiellen Voraussetzungen in Art. 81 Abs. 3 EG, die eine Ausnahme vom Kartellverbot begründen, erhalten geblieben. Zu den dort erwähnten Kriterien der Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts, der ange-messenen Beteiligung der Verbraucher und der Unerlässlichkeit der Wettbewerbs-beschränkung sind in der Vergangenheit im Hinblick auf die Zentralvermarktung von Fernsehübertragungsrechten verschiedene Interpretationsansätze vertreten worden66. Das Argument der gerechten Verteilung der Finanzeinnahmen zwischen den Vereinen und der zusätzlichen Finanzierung des Amateur- und Breitensports über die Einnahmen aus der Zentralvermarktung stellt durchaus einen wichtigen Aspekt für die Erhaltung der bestehenden Sportstrukturen dar. Es kann aber schwerlich die Unerlässlichkeit dieser Wettbewerbsbeschränkung begründen. So werden etwa die Schaffung eines Solidarfonds67 oder ein System von Pauschalab-gaben für Sportvereine68 als Alternativen zur existierenden Zentralvermarktung vorgeschlagen.Weiterhin ist zu beachten, dass nach der Reform des europäischen Wettbewerbs-rechts Erwägungen außerhalb der Wettbewerbspolitik nur noch in beschränktem Maße Einfluss auf die Beurteilung des Art. 81 Abs. 3 EG haben können. Wenn Art. 81 Abs. 3 EG für jede nationale Behörde, jedes nationale Gericht und jedes Unter-nehmen unmittelbar anwendbar wird, ist damit indirekt auch entschieden worden, dass bei der Auslegung dieser Vorschrift prinzipiell nur noch ökonomische Kriteri-en Anwendung finden können69. Insbesondere die Aufstellung beachtenswerter po-litischer Gesichtspunkte kann nicht zur Disposition dieser Vielfalt von Gesetzesa-dressaten stehen, die jeweils für sich über die Interpretation der Bestimmung im konkreten Fall entscheiden müssen. Diese Konsequenz liegt auch der Bekanntma-chung der Europäischen Kommission zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG70 zu Grunde. Eine Ausnahme vom Kartellverbot für die Zentralvermarktung von Fern-sehübertragungsrechten ist daher auch über Art. 81 Abs. 3 EG nicht zu erreichen.

65 Zur Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit des neuen Systems vgl. Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), S. 2, Rn. 8 ff. m.w.N.; Klees (Fn. 30), § 2, Rn. 6 ff.

66 Vgl. die verschiedenen Ansätze: Wertenbruch (Fn. 60), ZIP 1996, S. 1417 (1424); Heermann (Fn. 20), SpuRt 1999, S. 11 (16); Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93 (96 ff.).

67 Heermann (Fn. 20), SpuRt 1999, S. 11 (16).68 Sauer (Fn. 47), SpuRt 2004, S. 93 (97).69 Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), S. 33; Kjolbye, The new Commission guidelines on the Application of Article 81

(3): An Economic approach to Article 81, ECLR 2004, S. 566 ff. Kritisch hierzu: Lugard, Honey, I shrunk the Article! A critical assessment of the Commission’s Notice on the Application of Article 81 (3) of the EC Treaty, ECLR 2004, S. 410 ff.

70 Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien der Kommission zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Ver-trag, ABl. C 101 v. 27.04.2004, S. 97 ff., insb. Rn. 13 ff.

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dd) Lösungsmöglichkeit

Als Lösungsmöglichkeit bietet sich der Einsatz eines durch die VO (EG) Nr. 1/2003 neu eingeführten Instruments an: der Verpflichtungszusage gem. Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003. Nach dieser Vorschrift ist vorgesehen, dass Unternehmen, denen von der Kommission nach vorläufiger Beurteilung ein wettbewerbswidriges Verhalten zur Last gelegt wird, eine Entscheidung zur Abstellung dieser Zuwiderhandlung verhindern können, indem sie Verpflichtungen eingehen, welche die Kommission zu der Feststellung bewegen, dass kein Anlass zum Tätigwerden mehr besteht71. Die Kommission hat dieses Instrument tatsächlich erstmals im Bereich der Zentral-vermarktung von Fernsehübertragungsrechten an der deutschen Fußball-Bundesli-ga eingesetzt72. Wesentliche Kernpunkte der Verpflichtung der Deutschen Fußball-liga (DFL), die bislang die Zentralvermarktung der Bundesligaspiele organisiert hat, sind:

– Ab der Saison 2006/2007 wird die Liga pro Spieltag mindestens 90 Minuten Live-Berichterstattung mit allen wichtigen Szenen über das Internet anbieten. Ab 2006/2007 können Klubs neben dem Ligaangebot ihre Heimspiele unmittel-bar nach Spielende individuell vermarkten.

– Die Vereine können ihre Heimspiele vollumfänglich live im Mobilfunk anbie-ten.

Hieraus resultiert eine weitgehende Liberalisierung im Hinblick auf neue Medien, die auch zu einer Entzerrung des Wettbewerbs im Bereich der Fernsehübertra-gungsrechte führt. Durch die einvernehmliche Lösung im Rahmen des Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003 wird damit ermöglicht, die Wettbewerbsbeschränkung auf ein not-wendiges Mindestmaß zu reduzieren. Im Rahmen der Verhandlungen73 zwischen der Kommission und dem jeweiligen Sportverband können dann insbesondere die für die Erhaltung der Sportstrukturen notwendigen Besonderheiten des Sports im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen zur Geltung gebracht werden. Den Sportvereinen und Sportverbänden ist daher anzuraten, bei der Ausgestaltung eines Zentralvermarktungssystems auch stets die wettbewerbsrechtliche Komponente zu beachten und möglichst frühzeitig eine Abstimmung mit der Europäischen Kom-mission bzw. den nationalen Kartellbehörden vorzunehmen, um mittels einer prä-

71 Zur Verpflichtungszusage gem. Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003: Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), S. 113 ff.; Klees (Fn. 30), § 6, Rn. 108 ff.; Hirsbrunner/Rhomberg, Verpflichtungszusagen im EG-Kartellrechtsverfahren, EWS 2005, S. 61 ff.; Busse/Leopold, Entscheidungen über Verpflichtungszusagen nach Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003, WuW 2005, S. 146 ff.

72 Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 17.09.2004, IP/04/1110.73 Verpflichtungszusagen i. S. d. Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003 werden zwar von der Kommission in Form einer Ent-

scheidung für rechtlich bindend erklärt. Über den Inhalt der Verpflichtungszusage werden zuvor jedoch Gesprä-che zwischen der Kommission und dem betreffenden Unternehmen geführt, die man als Verhandlungen be-zeichnen kann, vgl. Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), § 6, Rn. 72, Klees (Fn. 30), S. 167 f.; Busse/Leopold (Fn. 71), WuW 2005, S. 146 (147 f.).

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ventiven Berücksichtigung wettbewerbsrechtlicher Aspekte ein nachträgliches Ein-schreiten der Wettbewerbsbehörden und eine eventuelle Beanstandung des Zentral-vermarktungssystems zu verhindern.

b) Transferregeln bei Berufssportlern

Die Transferregeln bei Berufssportlern waren Gegenstand des bislang wohl be-kanntesten Urteils des Europäischen Gerichtshofs auf dem Gebiet des Sports. In der Entscheidung Bosman aus dem Jahre 1995 hatte der EuGH die Regeln der UEFA und der ihr angehörenden nationalen Fußballverbände, soweit sie den Trans-fer von Berufsspielern zwischen Vereinen in verschiedenen Mitgliedstaaten nur ge-gen Zahlung einer Ablösesumme zuließen und soweit sie bei Vereinswettkämpfen den Einsatz von aus anderen Mitgliedstaaten stammenden Berufsspielern lediglich in begrenztem Umfang erlaubten (sog. Ausländerklauseln), als nicht mit Art. 39 EG vereinbar angesehen74. Neben der Bedeutung für den Berufssport75 hatte das Urteil in der Sache Bosman auch für die Dogmatik der europarechtlichen Grund-freiheiten grundlegende Bedeutung: Der EuGH hat hier erstmals festgestellt, dass nach der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EG) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EG) auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 ff. EG) nicht nur ein Diskriminierungs-, sondern auch ein Beschränkungsverbot enthält76. Ferner hat der EuGH hier erstmals entschieden, dass sich die an die Grundfreiheiten gebunde-nen Privatpersonen ebenso wie die Mitgliedstaaten auf die Rechtfertigungsgründe der „öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ (Art. 39 Abs. 3 EG) beru-fen können77. Ob und inwieweit der Berufsfußball auch dem europäischen Wettbe-werbsrecht unterliegt, ist in dem Urteil selbst unerörtert geblieben.Der Gerichtshof ist in der Entscheidung nicht auf die von Generalanwalt Lenz in seinen Schlussanträgen aufgeworfene Frage nach der kartellrechtlichen Beurtei-lung von Transferregeln im Berufsport eingegangen. Nach Auffassung von GA Lenz stellen Transferregeln von Vereinen und ihren Verbänden Vereinbarungen

74 EuGH, Rs. C- 415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 73. In einem Urteil vom 12.04.2005 hat der EuGH zu-dem entschieden, dass nach dem Partnerschaftsabkommen EG-Russische Föderation bei einem nationalen Wettbewerb eine zahlenmäßige Begrenzung der Berufsspieler aus Drittstaaten auf einen Berufssportler russi-scher Staatsangehörigkeit, der bei einem Verein mit Sitz in der EG ordnungsgemäß beschäftigt ist, nicht ange-wandt werden darf, vgl. EuGH, Urt. v. 12.04.2005, Rs. C-265/03 (Igor Simutenkow), noch nicht in der amtli-chen Slg., = EuZW 2005, S. 337 mit Anm. Fischer/Groß.

75 Das Urteil führte in der Praxis dazu, dass aufgrund des Wegfalls der Ausländerklauseln heute einige nationale Fußballvereine überwiegend mit „ausländischen“ Spielern antreten und dass aufgrund des Wegfalls der Trans-fersummen nach Ablauf der vereinbarten Laufzeit der Verträge die Spielergehälter sowie die Ablösesummen für den Ausstieg aus einem laufendem Vertrag um ein Vielfaches stiegen, vgl. Streinz, Die Rechtsprechung des EuGH nach dem Bosman-Urteil, in: Tettinger (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschafts-recht und nationalem Recht, 2001, S. 27 f. So erhöhten sich etwa zwischen 1993 und 1997 die durchschnittli-chen Spielergehälter der deutschen Bundesliga-Spieler von ca. DM 300.000,- auf nahezu DM 2 Millionen, vgl. Büch/Frick, Sportökonomie, BFuP 1999, S. 109 (110).

76 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 96.77 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 86.

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i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG dar, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beein-trächtigen. Durch die Ausländerklauseln und Transferregeln werde der Wettbewerb in den Vereinen beschränkt, weshalb der Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG eröffnet sei78. Dem wurde von der UEFA entgegengehalten, dass die fraglichen Beschränkungen im Grunde der Förderung des Wettbewerbs im Bereich des Pro-fifußballs dienten und daher mit Art. 81 Abs. 1 EG vereinbar seien. Außerdem han-dele es sich um eine arbeitsrechtliche Frage, auf deren Beurteilung Art. 81 Abs. 1 EG keinen Einfluss habe79. Zum Argument der Nichtanwendbarkeit des europäi-schen Wettbewerbsrechts im Arbeitsrecht wandte GA Lenz zu Recht ein, dass Ab-sprachen, die Arbeitsverhältnisse betreffen, nicht generell und vollständig dem An-wendungsbereich der Art. 81 ff. EG entzogen seien. Vielmehr sollten vorwiegend vor allem Tarifverträge von der Anwendung des Kartellrechts ausgenommen wer-den, um die Tarifautonomie von Arbeitgebern und Gewerkschaften sicherzustellen. Bei den in Rede stehenden Transferregeln handele es sich aber nicht um Tarifver-träge, sondern um horizontale Absprachen zwischen den Vereinen als individuellen ökonomischen Akteuren80. Zum Argument der Förderung des Wettbewerbs durch die Transferregeln erklärte GA Lenz, dass es grundsätzlich berechtigt sei, eine Re-gel, die zwar eine Wettbewerbsbeschränkung enthalte, aber notwendig sei, um ge-rade diesen Wettbewerb zu ermöglichen, nicht als Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG anzusehen81. Dies könne aber nur für solche Beschränkungen gelten, die für das ordnungsgemäße Funktionieren der betreffenden Organisation und die Erreichung der von ihr verfolgten legitimen Ziele unentbehrlich seien82. Auch wenn der Be-reich des Profifußballs sich durch den Umstand, dass die Vereine gegenseitig auf-einander angewiesen seien, beträchtlich von anderen Märkten unterscheide und da-her gewisse Besonderheiten beachtet werden müssten, hielt GA Lenz die in Rede stehenden Transferregeln und Ausländerklauseln in diesem Bereich nicht für un-entbehrlich.83 Diese Argumentation entspricht im Wesentlichen den bereits oben aufgestellten Grundsätzen, wonach im Bereich des Sports keine generelle Ausnah-me vom Anwendungsbereich der europäischen Wettbewerbsregeln allein aufgrund der Besonderheiten des Sports anzuerkennen ist, aber die Legalausnahme des Art. 81 Abs. 3 EG eingreift, soweit die dort aufgestellten Kriterien erfüllt sind.Das Urteil in Sachen Bosman hatte dementsprechend zur Folge, dass aufgrund von Verhandlungen zwischen der Europäischen Kommission und der FIFA/UEFA am 01.09.2001 von der FIFA ein neues „Reglement bezüglich Status und Transfer von

78 Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 253 ff.79 Zum Vortrag der UEFA: Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 264.80 Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 274-276. Zum Verhältnis von

Kartell- und Arbeitsrecht unter Berücksichtigung des Sports: Fischer, Europäischer Profi-Mannschaftssport oder: Arbeits(kampf)-recht gegen Wettbewerbsrecht – Eine Konferenzschaltung, SpuRt 2004, S. 251 (252); Pröpper, Die Vereinigung der Vertragsspieler als Gewerkschaft? NZA 2001, S. 1346 ff.

81 Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 265.82 Schlussanträge GA Lenz in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 266-269.83 Schlussanträge GA Lenz in der Rs C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4939, Rn. 270.

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Spielern“ erlassen wurde, dass den neuen rechtlichen Anforderungen genügen soll-te84. So sieht das neue Reglement Bestimmungen zum Schutz minderjähriger Spie-ler, Aufwandsentschädigungen für die Ausbildung junger Spieler sowie Mechanis-men zur Vertragsstabilität und Solidarität zwischen den Vereinen vor. Diese Verein-barungen, die sich als Beschluss einer Unternehmensvereinigung i. S. d. Art. 81 Abs. 1 EG darstellen, sind zwar auch geeignet, den Wettbewerb zwischen den Ver-einen zu beschränken, da sie für Vereine Regeln aufstellen, welche Spieler sie für sich rekrutieren können. Durch die Aufstellung und Kontrolle von strikten Trans-ferregeln, die an den Wechsel von Spielern trotz Ablauf eines Vertrags Bedingun-gen etwa in Gestalt der Zahlung von Ausbildungs-, Förderungs- oder Ablöseent-schädigungen knüpfen, wird der Nachfragewettbewerb der Klubs um die begehrten Akteure berührt. Allerdings gelten hier nunmehr die Grundsätze, die bereits von GA Lenz in der Rechtssache Bosman entwickelt und im Helsinki-Bericht der Euro-päischen Kommission aus dem Jahre 1999 dann näher konkretisiert wurden. Da-nach sind Transferregeln dann vom Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 EG ausgenommen, wenn sie die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG erfüllen. Durch die nun geltenden Transferregeln soll zum einen den Interessen der Spieler und Vereine an einer reglementierten Transferpolitik Rechnung getragen werden, um die Chancengleichheit sowie die Stabilität der sportlichen Wettbewerbe zu ge-währleisten. Zum anderen sind immerhin anhand der Ausbildungskosten objektive Kriterien zur Bestimmung kalkulierbarer Ablösesummen aufgestellt worden, die einem beliebigen Verfahren seitens der Vereine Grenzen setzen.Gleichwohl stellt sich die Frage, ob diese Transferregeln tatsächlich so ausgestaltet sind, dass man sie als unerlässlich i. S. d. Art. 81 Abs. 3 EG ansehen kann. Der EuGH hatte in der Entscheidung Bosman auch zu der Frage Stellung genommen, ob die Transferregeln dadurch gerechtfertigt seien, dass sie das finanzielle und sportliche Gleichgewicht zwischen den Vereinen aufrechterhalten und die Suche nach Talenten sowie die Ausbildung der jungen Spieler unterstützen85. Obwohl der Gerichtshof diese Frage streng genommen allein im Rahmen der eventuellen Recht-fertigung eines Verstoßes gegen Art. 39 EG geprüft hatte, kann man dessen Erwä-gungen angesichts der Vergleichbarkeit in gewissem Umfang auch auf die Frage übertragen, ob es sich hier um eine unerlässliche Wettbewerbsbeschränkung i. S. d. Art. 81 Abs. 3 EG handelt. Der EuGH hat bei seiner konkreten Prüfung die Trans-ferregeln im Ergebnis nicht für erforderlich gehalten. Nach Auffassung des EuGH ist die Anwendung der Transferregeln kein geeignetes Mittel, um die Aufrechter-haltung des finanziellen und sportlichen Gleichgewichts in der Welt des Fußballs

84 Erhältlich unter: http://www.fifa.com/documents/static/regulations/Status_Transfer_DE.pdf. Hierzu: Egger/Stix-Hackl (Fn. 41), ECLR 2002, S. 81 (82). Siehe auch: Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 06.03.2001 „Ergebnis der Verhandlungen zwischen Kommission und FIFA/UEFA über die Transferregelungen der FIFA“, IP/02/314. Zum Urteil Bosman und weiteren Entwicklungen im Bereich des Sports vgl. Barani, The Role of The European Court of Justice as a Political Actor in the Integration Process: The Case of Sport Regu-lation after the Bosman Ruling, JCER 2005, S. 42 (48 ff.).

85 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 105.

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zu gewährleisten. Diese Regeln verhinderten weder, dass sich die reichsten Vereine die Dienste der besten Spieler sicherten, noch, dass die verfügbaren finanziellen Mittel ein entscheidender Faktor beim sportlichen Wettkampf sind und dass das Gleichgewicht zwischen den Vereinen dadurch erheblich gestört würde. Zwar sei einzuräumen, dass die Aussicht auf die Erlangung von Transfer-, Förderungs- oder Ausbildungsentschädigungen tatsächlich geeignet ist, die Fußballvereine zu ermu-tigen, nach Talenten zu suchen und für die Ausbildung der jungen Spieler zu sor-gen. Da jedoch die sportliche Zukunft der jungen Spieler unmöglich mit Sicherheit vorhergesehen werden könne und sich nur eine begrenzte Anzahl dieser Spieler später dem Profifußball widme, seien diese Entschädigungen durch ihren Eventua-litäts- und Zufallscharakter gekennzeichnet und auf jeden Fall unabhängig von den tatsächlichen Kosten, die den Vereinen bei der Ausbildung sowohl der künftigen Berufsspieler als auch derjenigen, die nie Berufsspieler würden, entstehen86.Vergleicht man nun die alten Transferregelungen mit den im September 2001 neu formulierten Vorschriften, so muss man feststellen, dass zentrale Elemente des Transfersystems – etwa die Vorschriften zur Vertragsstabilität und über die Trans-fergebühren – sowohl dem alten als auch dem neuen System zugrunde liegen87. Es bleiben also wettbewerbsrechtliche Bedenken bestehen, wenn man die Rechtspre-chung des EuGH und die Schlussanträge von GA Lenz berücksichtigt. Dies gilt nun umso mehr als im neuen System der Legalausnahme die Regelung des Art. 81 Abs. 3 EG mehr oder minder rein ökonomisch ausgelegt werden muss und für eine mehr (sport-) politisch orientierte Interpretation wenig Raum lässt88. Allerdings muss man bedenken, dass die heute vorliegenden Transferregelungen das Ergebnis von Verhandlungen zwischen der FIFA und der Europäischen Kommission sind89 und dass die Billigung durch die Kommission – auch wenn hier keine formelle Freistellungsentscheidung gem. Art. 81 Abs. 3 EG ergangen ist – gegenüber der FIFA einen bestimmten Vertrauensschutz begründet. Die Kommission hat hier For-derungen an die Ausgestaltung des neuen Transfersystems aufgestellt, die bei einer entsprechenden Umsetzung seitens des Fußballverbandes die Kommission dazu be-wegen wird, ein wettbewerbsrechtliches Einschreiten für nicht mehr notwendig zu erachten. Eine derartige Praxis des negotiated settlement, die unter dem Regime der alten VO (EWG) 17/62 einen informellen Verfahrensabschluss darstellte,90 ist insofern unbefriedigend, als sie zum einen den betroffenen Sportverbänden keine verlässliche Rechtssicherheit bietet und zum anderen von der Europäischen Kom-mission nur schwer überwacht werden kann. Hier könnten andere Gestaltungsfor-

86 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 106-109. Das OLG Oldenburg hat in einem Urteil v. 10.05.2005 (Az.: 9 U 94/04) die Ausbildungsentschädigung im bezahlten Fußball für verfassungswidrig er-klärt.

87 So auch: Egger/Stix-Hackl (Fn. 41), ECLR 2002, S. 81 (89).88 Vgl. oben (Fn. 69).89 Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 06.03.2001 „Ergebnis der Verhandlungen zwischen Kommission

und FIFA/UEFA über die Transferregelungen der FIFA“, IP/02/314.90 Vgl. Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), S. 98.

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men Abhilfe schaffen. Die VO (EG) Nr. 1/2003 enthält hierfür auch geeignete In-strumente. Ein geeigneter Weg würde darin bestehen, dass die von der FIFA/UEFA und der Europäischen Kommission getroffenen Vereinbarungen über die neuen Transferbestimmungen mit Hilfe einer Verpflichtungszusage gem. Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003 erneuert würden.91 Damit böte die Vereinbarung für die FIFA/UEFA die nötige Rechtssicherheit und der Kommission sowie eventuell betroffenen Dritten stünden Überwachungsbefugnisse bzw. Antragsrechte zu, welche eine wettbewerbs-rechtliche Kontrolle des geltenden Transfersystems ermöglichen würden. Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass einerseits Transferregelungen im Berufs-sport aufgrund ihrer wettbewerbsbeschränkenden Wirkung in ein System wettbe-werbsrechtlicher Kontrolle eingebunden werden müssen. Andererseits darf die An-wendbarkeit des Wettbewerbsrechts nicht dazu führen, dass eine Reglementierung des Transfersystems unmöglich gemacht wird. Die wettbewerbsrechtliche Kontrol-le sollte daher darauf beschränkt sein, mittels eines präventiven Abstimmens zwi-schen den beteiligten Verbänden und den Wettbewerbsbehörden eine Minimierung von Wettbewerbsbeschränkungen zu erreichen. Ein nachträgliches Einschreiten durch die Wettbewerbsbehörden sollte dann nur noch bei einer Verletzung der zu-vor aufgestellten wettbewerbsrechtlichen Standards erforderlich sein.

c) Sponsoring bei sportlichen Großveranstaltungen

Ein weiteres zentrales Element der wirtschaftlichen Vermarktung des Sports ist das Sponsoring bei Großveranstaltungen. Unter dem Begriff Sponsoring versteht man die Bereitstellung von Geld, Sachmitteln oder Dienstleistungen durch Unterneh-men zur Förderung von Personen, Gruppen und/oder Organisationen im sportli-chen, kulturellen und/oder sozialen Bereich, um damit gleichzeitig Ziele der Wer-bung für das eigene Unternehmen zu erreichen92. Unter dem Blickwinkel des euro-päischen Wettbewerbsrechts ist das Sponsoring sportlicher Großveranstaltungen insbesondere dann relevant, wenn – wie es mittlerweile gängige Praxis ist – Sport-ereignisse einen oder mehrere Hauptsponsoren haben, denen durch den jeweiligen Veranstalter weitgehende Exklusivrechte bei der Vermarktung des in Rede stehen-den Sportereignisses eingeräumt werden. Hier kann vor allem das Verbot des Miss-brauchs einer marktbeherrschenden Stellung gem. Art. 82 EG eine Rolle spielen. Zur Veranschaulichung dieser Problematik lässt sich auf die Vermarktung der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland verweisen. Die FIFA, die sowohl Veranstalterin als auch Inhaberin des markenrechtlich geschützten Ereignisses „FIFA World Cup“ ist, vermarktet diese Meisterschaft auf verschiedenen Ebenen.

91 Vgl. oben (unter III. 2. a) dd)).92 Lange, Sponsoring und Europarecht, EWS 1998, S. 189; Mehlinger, Sportsponsoring – einführende rechtliche

Aspekte, SpuRt 1996, S. 54 (55). Zum Sponsoring auf kommunaler Ebene: Folek, Finanzielle Unterstützung des Profisports im Lichte der Gemeindeordnung Baden-Württemberg, VwBlBW 2004, S. 297 ff.

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So gibt es drei Kategorien von Sponsoring-Partnern: Offizielle Partner, Nationale Förderer und Lizenznehmer. Die Offiziellen Partner besitzen weltweite Marketing-rechte, die Nationalen Förderer haben solche Rechte demgegenüber nur im Gastge-berland der Veranstaltung. Lizenznehmer wiederum dürfen ihre unternehmenseige-nen Markennamen nicht mit den lizenzierten Produkten und somit mit dem Turnier in Verbindung bringen93. Erste Konflikte aufgrund dieser Reglementierung traten bei der Vorbereitung auf, als deutsche Gemeinden planten, die Übertragung von Spielen der Fußballweltmeisterschaft auf öffentlichen Großleinwänden anzubieten (sog. „public viewing“) und für die Finanzierung lokale Sponsoren als Förderer suchten. Dies gestaltete sich insofern schwierig, als die Städte zwar „lokale Unter-nehmen als Sponsoren gewinnen dürfen“, allerdings nur, „sofern diese keine Wett-bewerber“ der offiziellen WM-Sponsoren sind94. So kommt etwa eine Förderung durch deutsche Bierbrauereien nicht in Betracht, da der offizielle FIFA Sponsor Anheuser Busch das Exklusivrecht für die Bierwerbung besitzt95. Ein weiteres Bei-spiel für die Vorzugsbehandlung der offiziellen Sponsoren ist, dass Eintrittskarten, die über das Internet bestellt werden, nur mit einer Kreditkarte des FIFA-Sponsors Mastercard bezahlt werden können96. Im Zusammenhang mit sportlichen Großer-eignissen ist zudem auf den derzeit anhängigen Rechtsstreit zwischen dem Sport-artikelhersteller Puma und der FIFA hinzuweisen. Puma hat die FIFA auf € 1,57 Millionen Schadensersatz verklagt, weil der Nationalmannschaft von Kamerun beim Afrika-Cup 2004 das Tragen des eigens entwickelten einteiligen Trikots vom Fußball-Weltverband untersagt worden war. Zum Auftakt des Schadensersatz-Pro-zesses hat das Landgericht Nürnberg dem Fußball-Weltverband kartellrechtswidri-ges Verhalten vorgeworfen97.Es stellt sich hier durchaus die Frage, ob in den soeben beschriebenen Verhaltens-weisen ein Verstoß gegen das Missbrauchsverbot des Art. 82 EG vorliegt. Dies setzt naturgemäß voraus, dass überhaupt ein Markt in sachlicher und räumlicher Hinsicht existiert, der gegebenenfalls beherrscht wird. Die Ermittlung des relevan-ten Markts bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nach der Mög-lichkeit wirksamen Wettbewerbs zwischen den Waren und Dienstleistungen, die immer dann besteht, wenn ein hinreichender Grad an Austauschbarkeit zwischen den zum gleichen Markt gehörenden Erzeugnissen oder Dienstleistungen im Hin-

93 Allgemein: Ruijsenaars, Merchandising und Sponsoring bei Sportveranstaltungen, SpuRt 1998, S. 133 (135). Sponsoring Konzept der FIFA, erhältlich unter: http://www.fifa.com/de/marke ting/partners/in dex/0,1355,1,00.html.

94 Vgl. Pressemitteilung der Infront Sports & Media v. 20.01.2005, welche für die Vermarktung der Rechte der FIFA tätig wird sowie die Pressemitteilung des Organisationskomitees FIFA WM 2006 Deutschland vom 20.01.2005. Erhältlich unter: http://fifaworldcup.yahoo.com/06/de/050120/1/1klx.html.

95 Vgl. Tagesspiegel v. 01.02.2005 „Fans, die keine Karte für die WM 2006 bekommen, sollen sich zu Fußballfes-ten in den Städten treffen – doch es gibt viele Regeln“.

96 Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 23.02.2005 „Marketing nach Art der Heckenschützen“; vgl. auch: FIFA WM 2006 Deutschland, FAQ Nr. 27, http://fifaworldcup.yahoo.com/06/de/tickets/faq.html.

97 Siehe Handelsblatt v. 07.04.2005, S. 14 „FIFA droht Niederlage im Trikotstreit mit Puma“. Allgemein zur kar-tellrechtlichen Beurteilung von Sportausrüsterverträgen: Buch, Kartellrechtliche Aspekte von Ausrüsterverträ-gen für den Wettkampfsport zwischen Herstellern und Sportverbänden, WuW 2005, S. 266 ff.

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blick auf ein und dieselbe Verwendbarkeit besteht98. Eine beherrschende Stellung liegt dabei vor, wenn ein Unternehmen eine wirtschaftliche Machtstellung besitzt, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern99. Der Nachweis einer solchen Marktstel-lung erfolgt in der Praxis von EuGH und Kommission anhand einer Gesamtbewer-tung aller relevanten Faktoren, wobei dem Marktanteil des beherrschenden Unter-nehmens eine besondere Bedeutung zukommt100. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung und konkreten Abgrenzbarkeit sportlicher Großereignisse kann man da-von ausgehen, dass besonders herausragende Sportveranstaltungen wie etwa die Olympischen Spiele oder eben die Fußballweltmeisterschaft eigene Märkte darstel-len101. Der jeweilige Veranstalter, Olympisches Komitee oder FIFA, hat aufgrund der Exklusivität der Vermarktungsrechte auch eine marktbeherrschende Stellung inne. Fraglich ist jedoch, ob in der Exklusivbehandlung einzelner Sponsoren ein Missbrauch dieser marktbeherrschenden Stellung zu sehen ist. Hiergegen lässt sich einwenden, dass die offiziellen Sponsoren für die jeweiligen Veranstaltungen be-trächtliche Summen investieren und insofern auch einen gewissen Schutz in Form einer Vorzugsbehandlung in Anspruch nehmen können102. Die ausschließliche Vor-zugsbehandlung bestimmter Sponsoren, wie sie etwa im Zusammenhang mit der FIFA Fußballweltmeisterschaft betrieben wird, bedeutet indes einen vollständigen Ausschluss aller übrigen potentiellen Sponsoren in dem jeweiligen Bereich. Ob eine solch weitgehende Diskriminierung potentieller Interessenten auf dem Markt der sportlichen Großveranstaltungen noch mit dem Schutz der offiziellen Sponso-ren gerechtfertigt werden kann, erscheint zumindest zweifelhaft103. Auch wenn die Missbrauchskontrolle gem. Art. 82 EG beim Sponsoring sportlicher Großereignis-se bislang in der Praxis kaum eine Rolle gespielt hat, so hat die Diskussion um das „public viewing“ bei der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland doch gezeigt, dass hier ein wachsendes Konfliktpotential besteht, dem ggf. auch mit den Mitteln des Kartellrechts begegnet werden muss.

IV. Schlussbemerkungen

Sport ist heutzutage nicht bloß eine Freizeitaktivität, sondern stellt daneben einen stetig wachsenden Wirtschaftsbereich dar, dessen Relevanz keinesfalls zu unter-schätzen ist. Die Vermarktung von Fernsehübertragungsrechten an sportlichen Er-

98 EuGH, Rs. 6/72 (Continental Can), Slg. 1973, 215, Rn. 32; EuGH, Rs. 62/86 (AKZO), Slg. 1991, I-3359, Rn. 51; Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 16, Rn. 12.

99 EuGH, Rs. 231 /78 (Hoffman-La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 38 f.; Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 16, Rn. 24.

100 Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 19), § 16, Rn. 30; Bellamy/Child, EC Law of Competiton, 4. Aufl., 1993, Rn. 9-21 ff.

101 So auch: Lange (Fn. 92), SpuRt 1998, S. 189 (192); Berrisch, Europäische Union und Sportsponsoring, SpuRt 1997, S. 153 (155).

102 Lange (Fn. 92), SpuRt 1998, S. 189 (192).103 So auch: Lange (Fn. 92), SpuRt 1998, S. 189 (192).

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eignissen oder die Werbung mit oder für Sportartikel sind nur kleine Ausschnitte aus dem wirtschaftlich relevanten sportbezogenen Tätigkeitsfeld. Die aktuellen Diskussionen um Sportwetten104 und den Verkauf von Eintrittskarten für die FIFA-Fußballweltmeisterschaft105 haben gezeigt, dass im Sport sowohl ökonomisch als auch juristisch noch weitere Entwicklungen zu erwarten sind.Sportverbände, Sportvereine und auch einzelne Sportler agieren auf dem Sport-markt als konkurrierende Unternehmen. Um den freien Wettbewerb zwischen die-sen Akteuren zu sichern, finden deshalb innerhalb des europäischen Wirtschafts-raums auch die Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechts im Bereich des Sports Anwendung. Allein der Umstand, dass der Sport auch eine anerkannt wich-tige gesellschaftspolitische Rolle erfüllt, rechtfertigt keine generelle Ausnahme vom Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts. Zwar sind rein sportliche Tätigkeiten und Regeln, ohne die eine Sportart bzw. ein sportlicher Wett-kampf nicht durchgeführt werden kann oder bei deren Fehlen der eigentliche We-sensgehalt der sportlichen Betätigung verfälscht würde, aufgrund ihrer Eigenart dem Wettbewerbsrecht entzogen. Alle übrigen Verhaltensweisen und Vereinbarun-gen, die nicht allein der Durchsetzung sportbezogener Zwecke dienen, sondern zum Wirtschaftsleben gehören, sind an den Verboten und Geboten der Art. 81, 82 EG zu messen. Hieraus folgt für die Akteure im Bereich des Sports, dass sie jegli-ches Handeln, welches eine wirtschaftliche Vermarktung zum Ziel hat, auch an den Vorgaben des Wettbewerbsrechts zu überprüfen haben. Da es sich beim Sport indes nicht um einen klassischen Wirtschaftsbereich handelt, wenngleich dessen ökono-mische Dimension zunimmt, fällt die rechtliche Beurteilung sportbezogener Tätig-keiten nicht immer leicht. So hat die hier vorgenommene Überprüfung einzelner Tätigkeiten auf dem Sportmarkt gezeigt, dass die Subsumtion unter die Vorschrif-ten der Art. 81, 82 EG nicht ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Sports erfolgen kann. Sowohl für die auf dem Sportmarkt tätigen Unternehmen als auch für die Kartellbehörden ist es daher nicht einfach, die Grenze zwischen rechtlich zulässigem und kartellrechtswidrigem Verhalten zu bestimmen. Dennoch sollten die Unternehmen (Vereine, Verbände und Sportler) eine kartellrechtliche Sensibili-tät entwickeln und bei der Ausarbeitung ihrer wirtschaftlichen Vermarktungskon-zepte auch eine präventive Abstimmung mit den Kartellbehörden suchen. Obwohl im System der Legalausnahme nach der VO (EG) Nr. 1/2003 keine formellen Frei-stellungsentscheidungen mehr ergehen, so bestehen auch im neuen System eine Reihe von Instrumenten, die eine präventive Kontrolle wettbewerbsrelevanten Ver-

104 F.A.Z. v. 30.03.2005, S. 23 „Das Wettmonopol des Staates wackelt“; Süddeutsche Zeitung v. 17.03.2005, S. 1 „DFB will eigene Sportwette anbieten“; Fischer, Über den galoppierenden Unschuldsverlust des Sports oder: Die Welt will betrogen sein, NJW 2005, S. 1028 ff. Für den Winter 2005 wird ein Grundsatzurteil des BVerfG erwartet, das möglicherweise das staatliche Wettmonopol in Deutschland abschaffen könnte: vgl. Welt am Sonntag v. 08.05.2005, S. 25 „Wetten, das wird ein Riesengeschäft“; siehe ferner: VGH Kassel, NVwZ 2005, S. 99 zur Untersagung von Sportwetten. Die mündliche Verhandlung des Ersten Senats in Sachen „Sportwetten“ findet am 08.11.2005 statt.

105 Weller, Das Übertragungsverbot der Fußball-WM-Tickets – eine angreifbare Vinkulierung durch den DFB?, NJW 2005, S. 934 ff.

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haltens ermöglichen. Zu nennen sind hier zum einen die Beratungsschreiben nach der „Bekanntmachung der Kommission über informelle Beratung bei neuartigen Fällen zu den Artikeln 81 und 82 EG, die in Einzelfällen auftreten“106 und zum anderen die Verpflichtungszusagen gem. Art. 9 VO (EG) Nr. 1/2003. Während ein Beratungsschreiben oder eine sonstige informelle Beratung durch die Kartellbehör-den darauf abzielt, den Unternehmen eine sachkundige Beurteilung ihrer Vereinba-rung/Verhaltensweise zukommen zu lassen, ermöglichen die Verpflichtungszusa-gen auch eine Gestaltung des jeweiligen Vermarktungskonzepts im Wege einer ein-vernehmlichen Übereinkunft. Die Kartellbehörden sollten beim Aushandeln einer solchen Verpflichtungszusage die Besonderheiten des Sportmarkts bedenken und auf eine möglichst umfassende Begrenzung der wettbewerbsbeschränkenden Wir-kung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der für den Sport notwendigen Struktu-ren hinarbeiten. Kartellrechtliche Sensibilität durch die Unternehmen auf der einen Seite und Berücksichtigung der für den Sportmarkt geltenden Besonderheiten durch die Kartellbehörden auf der anderen Seite sind daher die Grundvorausset-zungen für eine präventive, wettbewerbsrechtlich orientierte Ausgestaltung des Sportmarktes. Die hieran anschließendende wettbewerbsrechtliche Kontrolle dieses Marktes dürfte bei Einhaltung dieser Grundsätze auf eine nachträgliche Miss-brauchsaufsicht beschränkt sein.Im Ergebnis ist festzuhalten, dass eine wettbewerbsrechtliche Kontrolle der wirt-schaftlichen Tätigkeiten auf dem Sportmarkt erforderlich ist, um einen freien Wett-bewerb auf diesem ökonomisch wachsenden Markt zu gewährleisten. Die Europä-ische Kommission als Wettbewerbsbehörde ist aufgerufen, im Rahmen der Anwen-dung der Art. 81, 82 EG die Besonderheiten des Sports zu berücksichtigen. Eine derartige Berücksichtigung kann im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG sowie durch Abstimmung mit den auf dem Sportmarkt tätigen Unternehmen mittels der Instru-mente der VO (EG) Nr. 1/2003 erfolgen.

106 ABl. Nr. C 101 v. 27.04.2004, S. 78 ff. Hierzu: Schwarze/Weitbrecht (Fn. 30), § 6, Rn. 127 ff.; Klees (Fn. 30), § 2, Rn. 38 ff.

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Art. 86 Abs. 2 EG als Ausnahmebestimmung von den Wettbewerbsvor-schriften des EG-Vertrages für kommunale Unternehmen

Von Christian Scharpf, München*

Art. 86 Abs. 2 EG ist zentraler normativer Ansatzpunkt, um einen Ausgleich im Sinne einer Abwägung zwischen der Durchsetzung einer Politik des freien Wettbe-werbs zur Wahrung der Einheit des Gemeinsamen Marktes einerseits und den wirt-schafts- und sozialpolitischen Zielen und Gemeinwohlinteressen der Mitgliedstaa-ten andererseits zu schaffen.1 Von seiner Grundannahme her geht der EG-Vertrag davon aus, dass offene und vollständig wettbewerbliche Märkte Daseinsvorsorge-leistungen am besten erbringen können, weshalb Art. 86 Abs. 2 EG eine grundsätz-lich eng auszulegende Ausnahme von der Anwendung der Wettbewerbs- und Bin-nenmarktregeln darstellt.2 Allerdings hat sich die Rechtsentwicklung in jüngerer Zeit, eingeleitet durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Corbeau im Jahre 1993, hin zu einer viel großzügigeren Interpretation des Art. 86 Abs. 2 EG bewegt, worauf in diesem Beitrag einzugehen sein wird.3 Insbesondere im Hinblick auf die Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen durch die Kommunen hat Art. 86 Abs. 2 EG große Bedeutung.3a

I. Die Interpretationslinien zu Art. 86 Abs. 2 EG

In der Literatur hat die Formulierung des Art. 86 Abs. 2 EG zu zwei grundsätzlich entgegengesetzten Auslegungsansätzen geführt. Auf der einen Seite steht die Auf-fassung, die Art. 86 Abs. 2 EG als Kompetenzverteilungsnorm und damit als Sou-veränitätsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten sieht, so dass die Mitgliedstaaten die Ziele ihrer Infrastruktur- und Universaldienstpolitiken selbst bestimmen könn-ten. Auf der anderen Seite steht die Ansicht, die in Art. 86 Abs. 2 EG eine Vor-schrift sieht, die nur zugunsten einer bestimmten, näher zu bestimmenden Katego-rie von Interessen, zu denen jedenfalls eine flächendeckende Grundversorgung zählt, eng begrenzte Ausnahmen erlaubt, die am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen sind.4 Während es also im Kern um die Frage geht, wie auf gemeinschafts-

* Der Autor ist Jurist im Direktorium der Landeshauptstadt München und Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maxi-milians-Universität München.

1 Europäische Kommission, 27. Wettbewerbsbericht, 1997, Erster Teil, Ziffer 4, 7, 97, 100. Ausführlich zu Art. 86 Abs. 2 EG zuletzt die Arbeit von Schweitzer, Daseinsvorsorge, „service public“, Universaldienst – Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag und die Liberalisierung in den Sektoren Telekommunikation, Energie und Post, 2001/2002, S. 83 ff.

2 Dohms, in: Schwarze (Hrsg.), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001, S. 57.3 EuGH, Slg. 1993, I-2533, Rs. C-320/91 – Corbeau. Zum Wandel in der Rechtsprechung des EuGH sehr in-

struktiv Alber, in: Schwarze (Hrsg.), (Fn. 2) S. 73ff. sowie Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeind-liche Selbstverwaltung, 2000, S. 109 ff. und Schmidt, Der Staat, 2003, 225, 234 ff.

3a Scharpf, EuZW 2005, 295 ff.4 Schweitzer, (Fn. 1) S. 89.

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rechtlicher Ebene mit den mitgliedstaatlichen Souveränitätsansprüchen, die den mitgliedstaatlichen Daseinsvorsorgekonzepten und ihren praktischen Ausprägun-gen in den einzelnen Sektoren zugrunde liegen, umgegangen werden soll, stellt sich auf Art. 86 Abs. 2 EG und dessen Auslegung bezogen die Frage, welche Er-messensspielräume den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung der einzelnen Tatbe-standmerkmale und im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugestanden wer-den.5 Eine weite Auslegung des Art. 86 Abs. 2 EG hätte zur Folge, dass zugunsten der Mitgliedstaaten der Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts zurückgenom-men wird und die maßgeblichen Gestaltungsentscheidungen betreffend die in den Anwendungsradius dieser Vorschrift fallenden Sektoren in den Bereich der Politik verlagert werden. Eine enge Auslegung des Art. 86 Abs. 2 EG, die die privilegie-rungsfähigen Interessen klar eingrenzt, würde hingegen unter empfindlicher Be-schneidung des Souveränitätsanspruchs der Mitgliedstaaten möglicherweise zu mehr ökonomischer Rationalität beitragen.6 Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Auslegungspraxis sich für die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 86 Abs. 2 EG vor allem aufgrund der Rechtsprechung des EuGH sowie der Haltung der Kommission entwickelt hat. Hierbei wird deutlich werden, dass sich die Tendenz der Spruchpraxis deutlich zu der erst genannten Interpretationslinie hin bewegt.

II. Der Unternehmensbegriff

Der Unternehmensbegriff des Art. 86 EG ist gemeinschaftsrechtlich zu definieren.7 Der EuGH hat einen funktionalen Unternehmensbegriff entwickelt, der jede Ein-heit umfasst, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.8 Ob eine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt oder ob tatsächlich Gewinne erzielt werden, ist unerheblich, so dass auch defizitäre Einheiten, die Tätigkeiten wirtschaftlicher Natur ausüben, Unternehmen im Sinne des EG-Rechts sind.9 Die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit muss auf die Erzeugung oder den Austausch von Waren und Dienstleistungen gerichtet sein, so dass hoheitliches Handeln und nichtwirtschaftliche Tätigkeiten, bei denen der Austausch von erbrachter Dienstleistung und Gegenleistung nicht einmal Ne-benzweck, sondern bloße Äußerlichkeit ist, nicht unter diesen Unternehmensbe-griff fallen.10 Gleichwohl können nach dem Gesagten auch Stellen der Verwaltung als öffentliche Unternehmen anzusehen sein, wie die Entscheidung des Europäi-

5 Mestmäcker, in: Rulard/von Maydell/Papier (Hrsg.), FS für Hans Zacher, 1998, S. 635, 638.6 Schweitzer, (Fn. 1), S. 90.7 Burgi, Europarecht 1997, S. 261, 265.8 EuGH Slg. 1991, I-1979, 2016, Rs. C-41/90 – Klaus Höfner und Fritz Elsner/Macrotron GmbH; Slg. 1995, I-

4013, 4028, Rs. C-244/94 – Fédération Française des Sociétés d´Assurance u.a./Ministère de l´Agriculture et de la Pêche; Slg. 1997, I-7119, Rs. C-55/96 – Job Centre coop. arl.

9 Hochbaum, in: von der Groeben (Hrsg.), Kommentar zur EWG-Vertrag, 1991, Art. 90 EWGV, Rn. 16; Schmidt, Die Verwaltung 1995, S. 281, 298 f.

10 Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996, S. 75 ff.

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schen Gerichtshofes zur Bundesanstalt für Arbeit zeigt, da es, so der EuGH, keiner rechtlichen Trennung des „Unternehmens“ vom „Staat“ bedürfe.11 Für die Kom-munen bedeutet dies, dass nicht nur kommunale Unternehmen in Privatrechtsform, sondern auch Eigenbetriebe sowie Hilfs- und Regiebetriebe unter den öffentlichen Unternehmensbegriff des Art. 86 EG fallen.12

III. „... mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut ...“

Während der Begriff der „Dienstleistungen“ weitgehend unumstritten ist, wirft die Bestimmung des Begriffs „allgemeines wirtschaftliches Interesse“ einige Fragen auf. Im Schrifttum wird „allgemeines wirtschaftliches Interesse“ und der in Deutschland gebräuchliche Begriff „Daseinsvorsorge“ oftmals synonym verwen-det, was zumindest dann nicht falsch ist, wenn man Daseinsvorsorge auf marktbe-zogene Tätigkeiten beschränkt. Erklären lässt sich der europarechtliche Terminus „allgemeines wirtschaftliches Interesse“ durch den Begriff der Daseinsvorsorge al-lerdings, wie zu zeigen sein wird, nicht. Eine Annäherung kann aber aufgrund der Definitionshoheit der Mitgliedstaaten gelingen durch zu Hilfenahme des kommu-nalrechtlichen Begriffs des öffentlichen Zwecks, der auch bei der Präzisierung des materiellen Inhalts der Betrauung aktiviert werden kann bzw. muss.

1. Der Begriff der Dienstleistungen

Der Begriff der Dienstleistung ist sehr weit zu verstehen und geht deutlich über die Dienstleistungskonzeption des Art. 50 Abs. 1 EG hinaus, die im Gegensatz zu Art. 86 Abs. 2 EG Warenleistungen – in Abgrenzung zu Art. 28 EG – ausdrücklich aus-klammert. Letztlich umfasst der Begriff jegliches marktbezogene Tätigwerden von Unternehmen und damit alle wirtschaftlichen Aktivitäten zur Sicherung von Infra-struktur und Daseinsvorsorge.13 In diesem weiten Sinne wird er auch von der Kom-mission verstanden.14

2. Der Begriff des allgemeinen wirtschaftlichen Interesse

Der Begriff des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses ist nicht nur in Art. 86 Abs. 2 EG enthalten, sondern ist in jüngerer Zeit auch in andere Vorschriften aufgenom-men worden. Zum einen in den durch die Beschlüsse von Amsterdam mit Wirkung

11 EuGH, Slg. 1991, I-1979, 2016, Rs. C-41/90 – Klaus Höfner und Fritz Elsner/Macrotron GmbH; Slg. 1987, 2599, 2622, Rs. 118/85 – AAMS; Slg. 1993, I-5335, 5379, Rs. C-69/91 – Decoster.

12 Zum Ganzen ausführlich Beck, Kommunale Unternehmen zwischen Selbstverwaltungsrecht und Europarecht, 2001, S. 250 ff., insbesondere S. 256 ff.

13 Hochbaum, in: von der Groeben (Hrsg.), (Fn. 9) Art. 90 EG, Rd. 6; Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommen-tar des EUV und des EGV, 2. A., 2002, Art. 86, Rn. 36.

14 Mitteilung vom 20.09.2000, KOM (2000) 580 endg., Anhang II.

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vom 1.5.1999 in den EG-Vertrag aufgenommenen Art. 16 EG, der die Erfüllung öffentlicher Versorgungsaufträge bei der Einhaltung der Wettbewerbsregeln stärken soll. Zum anderen hat der Begriff auch Eingang in die am 7.12.2000 in Nizza fei-erlich unterzeichnete Charta der Grundrechte der Europäischen Union gefunden. Deren Art. 36 konstituiert, dass die Union den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anerkennt und achtet, wie er durch die ein-zelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit der Verfas-sung geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern.

a) Die Rechtsprechung des EuGH und die Praxis der Kommission

Eine exakte Definition dieses Begriffs gibt es auf europarechtlicher Ebene indes noch nicht. Auch die Verwendung in den genannten anderen Vorschriften hat bis-lang nicht dazu beigetragen, dem Begriff schärfere Konturen zu verleihen.In der Rechtsprechung des EuGH fehlt eine generelle und abstrakte Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine Dienstleistung von „allgemeinem wirt-schaftlichen Interesse“ ist. Vielmehr schwankte der EuGH zunächst zwischen Ver-suchen, den Kreis der privilegierungsfähigen Dienstleistungen anhand objektiver, d.h. durch die Mitgliedstaaten nicht beliebig beeinflussbarer Kriterien einzuschrän-ken, und der Position, dass alle Dienste, die die Mitgliedstaaten aus Gründen des öffentlichen Interesses mit der Verpflichtung zur Beständigkeit, Allgemeinheit und mit der Beachtung weiterer besonderer Interessen verknüpften, „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ i.S.d. Art. 86 Abs. 2 EG seien. So interpretierte der EuGH den Begriff in seinen Entscheidungen „Hafen von Mertert“15 und „Sac-chi“16 sehr weit, rückte davon später jedoch in seinen Urteilen zu „British Tele-com“17, „Porto di Genova“18 und „RTT“19 wieder ab mit der Feststellung, die Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EG sei nicht dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen, weshalb er bestimmten Dienstleistungen die Qualifikation als „Dienst-leistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ versagte.Mit der Entscheidung in der Rechtssache „Corbeau“ aus dem Jahre 199320 leitete der EuGH eine Trendwende in seiner Rechtsprechung ein, die in den darauf folgen-den Urteilen „Almelo“ (1994)21 und zu den „Energiemonopolen“ (1997)22 ver-stärkt wurde. Mit diesen Urteilen hat sich der EuGH offensichtlich von dem Grund-

15 EuGH, Slg. 1971, 723, 730, Rn. 8, 12 – Hafen von Mertert.16 EuGH, Slg. 1974, 409, 431, Rn. 15 – Sacchi.17 EuGH, Slg. 1985, 873, 888, Rn. 30 – British Telecom.18 EuGH, Slg. 1991, I-5889, 5930, Rn. 25 – Porto di Genova.19 EuGH, Slg. 1991, I-5941, 5980, Rn. 22 – RTT.20 EuGH, Slg. 1993, I-2533, Rs. C-320/91 – Corbeau.21 EuGH Slg. 1994, I-1477, Rs. C-393/92 – Almelo.22 EuGH, Rs. C-157/94, Slg. 1997, I-5768 – Kommission/Niederlande; C-158/94, Slg. 1997, I-5789 – Kommissi-

on/Italien; C-159/94, Slg. 1997, I-5815, Kommission/Frankreich; C-160/94 – Kommission/Spanien.

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satz verabschiedet, dass Art. 86 Abs. 2 EG eine konkret ausgestaltete Aufgabe und nicht ein allgemeines öffentliches Interesse privilegiert.23 Er erkennt insbesondere die Bestimmungsfreiheit der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Schutzbereichs des Art. 86 Abs. 2 S. 1 EG und damit der mitgliedstaatlichen Ausgestaltung der Da-seinsvorsorge an. So formuliert der EuGH wörtlich: „... [den] Mitgliedstaaten [...] kann es nicht verboten sein, bei der Umschreibung der Dienstleistungen von allge-meinem wirtschaftlichem Interesse, mit denen sie bestimmte Unternehmen betrau-en, die eigenen Ziele ihrer staatlichen Politik zu berücksichtigen und diese vermit-tels von Verpflichtungen und Beschränkungen zu verwirklichen zu suchen, die sie den fraglichen Unternehmen auferlegen“.24

Die Kommission bleibt mit ihren Ausführungen im Anhang II ihrer Mitteilung zu Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa ebenfalls nur allgemein und beispiel-haft. Sie definiert Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse als „marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden. Gemeint sind insbesondere Verkehrs-, Energieversorgungs- und Telekom-munikationsdienste.“25 Mit ihrer Bezugnahme in der Mitteilung auf mitgliedstaat-liche Begriffe wie den der „Daseinsvorsorge“ beabsichtigt die Kommission offen-bar ebenfalls nicht, das „Interesse der Allgemeinheit“ als Anknüpfungspunkt für eine eigene objektive Eingrenzung des Art. 86 Abs. 2 S. 1 EG zu nehmen.Am 15. Juli 2005 hat die Europäische Kommission ein Maßnahmenpaket verab-schiedet, das größere Rechtssicherheit bei der staatlichen Finanzierung von sog. „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ schaffen soll.25a Der darin enthaltene Gemeinschaftsrahmen wiederholt indes ebenfalls lediglich die bisherige Rechtsprechungslinie, dass „die Mitgliedstaaten in der Frage, welche Ar-ten von Leistungen als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Inter-esse angesehen werden, über einen großen Ermessensspielraum verfügen“.25b Bei der Definition der Gemeinwohlverpflichtungen und der Prüfung der Frage, ob die Verpflichtungen von diesen Unternehmen erfüllt werden, sollten sich die Mitglied-staaten, so der Gemeinschaftsrahmen, auf ein möglichst breit gestreutes Meinungs-spektrum unter besonderer Berücksichtigung der Nutzer dieser Dienstleistungen stützen.

23 Koenig/Kühling, ZHR 2002, 656, 671.24 EuGH, Rs. C-157/94, Slg. 1997, I-5779 – Kommission/Niederlande.25 Mitteilung vom 20.09.2000, KOM (2000) 580 endg., ABlEG 2001 Nr. C 17.25a http://europa.eu.int/comm/competition/state_aid/others/action_plan/. Das Maßnahmenpaket besteht aus einer

Kommissionsentscheidung, einem Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen, sowie einer Änderung zur Kommissionsrichtlinie über die Transparenz der finanziellen Beziehungen. Es handelt sich dabei um die ersten Durchführungsmaßnahmen zum Aktionsplan „Staatliche Beihilfen“. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass Unternehmen für die Ausführung genau umrissener öffentlicher Versorgungsaufträge in Höhe der angefal-lenen Kosten öffentliche Gelder erhalten dürfen, solange keine wettbewerbsschädigende Überkompensierung stattfindet. Die Mitgliedstaaten werden in der Lage sein, Ausgleichszahlungen an öffentliche Dienstleistungen von kleiner Dimension, an Krankenhäuser und sozialen Wohnungsbau zu gewähren, ohne diese zuvor der Kom-mission notifizieren zu müssen.

25b GD COMP/I1//D(2005) 179.

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b) Der weite Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten

Somit wird deutlich, dass für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Dienstleis-tungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ klare gemeinschaftsrechtliche Kriterien fehlen. Die Kommission und der EuGH haben in ihrer Spruchpraxis stets nur mit Blick auf konkrete Einzelfälle entschieden, jedoch keine abstrakte Defini-tion des Begriffs zugrunde gelegt.26 Abgegrenzt wird lediglich allgemein zum ei-nen gegenüber Individual- oder Gruppeninteressen. Allgemein sollen wirtschaftli-che Interessen nur dann sein, wenn sie nicht nur im Interesse einzelner Personen oder Personengruppen wahrgenommen werden, sondern der Allgemeinheit zugute kommen, wobei sie sich vom Interesse anderer Tätigkeiten des Wirtschaftslebens besonders unterscheiden müssen.27 Werden Unternehmen in Bereichen tätig, wo dies ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen widerspricht, so ist dies ein starkes Indiz für ein Handeln zugunsten der Allgemeinheit.28 Zum anderen ist gegenüber öffentlichen Interessen nicht-wirtschaftlicher Art abzugrenzen, also etwa kulturel-ler, sozialer oder karitativer Belange.29

Den Mitgliedstaaten helfen Kriterien in dieser Allgemeinheit nicht weiter, sondern eröffnen ihnen statt dessen einen weiten Raum für ein eigenes Verständnis des Schutzbereichs von Art. 86 Abs. 2 EG. Die EG-vertraglich vorgesehene Kontroll-kompetenz von Kommission und EuGH bleibt zwar unberührt von dem Entschei-dungs- und Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten, Unternehmen mit Dienstleis-tungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu betrauen und im Rahmen mitgliedstaatlicher Politikverwirklichung einzusetzen30. Die Gemeinschaftsorgane überprüfen diese Entscheidungen jedoch nur auf offenkundige Fehler.31 Die Mit-gliedstaaten können damit weitgehend den Vorgaben des eigenen nationalen Regu-lierungssystems im Bereich der Daseinsvorsorge folgen. Bei dem Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse handelt es sich somit zwar um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff, dessen Definitionskriterien sich an sich nach dem Gemeinschaftsrecht bestimmen.32 Welche Aufgaben konkret dar-unter fallen, legen indes die Mitgliedstaaten fest, denen bei der Bestimmung des „allgemeinen Interesses“ ausdrücklich eine Definitionshoheit zuerkannt wird, so dass den Mitgliedstaaten ein sehr weiter Gestaltungsspielraum bleibt.

26 Schweitzer, (Fn. 1) S. 182.27 EuGH Slg. 1994, I-1477, 1521 – Almelo; EuGH Slg. 1991, I-5889, 5931 – Porto di Genova.28 Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), (Fn. 13) Art. 86, Rn. 38.29 Mitteilung vom 20.09.2000, KOM (2000) 580 endg., Tz. 28.30 EuGH, Slg. 1997, I-5815, 5834, Tz. 55f. – Kommission/Frankreich, sowie Mitteilung der Kommission, KOM

(2000) 580 endg., Tz. 22.31 Mitteilung der Kommission, KOM (2000) 580 endg., Tz. 22; Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), (Fn. 13) Art. 86,

Rn. 37 sowie Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 2001, S.80 ff.32 Pernice, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Art. 90, Rn. 35. Ausführlich zu diesem

Tatbestandsmerkmal Koenig/Kühling, (Fn. 23) 656, 669 ff.

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c) Der nationalrechtliche Begriff der Daseinsvorsorge

Nationalrechtlich spielt hierbei der Begriff der Daseinsvorsorge eine gewisse Rol-le. Dieser ist indes mit dem Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirt-schaftlichen Interesse, wie er in Art. 86 Abs. 2 EG gebraucht wird, nicht identisch. Nach der nur allgemeinen Definition der Kommission sollen unter Leistungen der Daseinsvorsorge „marktbezogene oder nichtmarktbezogene Tätigkeiten, die im In-teresse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden“, zu verstehen sein.33 Hieraus wird deutlich, dass der Begriff der Daseinsvorsorge weiter ist als der der Dienstleistun-gen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – Letzterer stellt eine Subkatego-rie von Ersterem dar.34 Daseinsvorsorge kann daher als Interpretationshilfe für die Aufgaben von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nur marktbezogen verstan-den werden.Der Begriff Daseinsvorsorge geht auf E. Forsthoff zurück, der ihn mit seiner Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ von 1938 in die Rechtswissenschaft einge-führt hat. Er verstand unter Daseinsvorsorge zunächst die Darbringung von Leis-tungen der öffentlichen Hand, auf welche der in die modernen massentümlichen Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen sei.35 Später er-weiterte er den Begriff auf „alles, was von Seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuss nützlicher Leistungen zu versetzen“.36 Die Daseinsverantwortung hat Forsthoff jedoch nie dogmatisch, sondern allenfalls soziologisch gerechtfertigt.37 Die Lehre von der Daseinsvorsorge hat sich zwar seitdem in der deutschen Verwal-tungsrechtslehre und in der Rechtspraxis etabliert und wird herkömmlich als allge-mein akzeptierte Kurzformel für die Erscheinungen der leistenden Verwaltung ge-braucht.38 Gleichzeitig hat sie sich aber als äußerst unscharf und irreführend erwie-sen.39 Der Begriff der Daseinsvorsorge wird vor allem im Zusammenhang mit den Bereichen der Versorgung, Entsorgung, des Verkehrs sowie der Einrichtungen der Gesundheits- und Wohlfahrtspflege40 mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verwendet, ohne dass die Relevanz des Begriffs klar werden würde.41 Dies wird um so deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Begriff neuerdings auch in der Bayerischen Gemeindeordnung auftaucht (vgl. Art. 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Bay-

33 Mitteilung der Kommission, KOM (2000) 580 endg., Anhang II.34 Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), (Fn. 13) Art. 16, Rn. 2.35 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 6 f.36 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, 1973, S. 370 f.37 Storr, DÖV 2002, 357.38 Mombaur, in: Von Mutius (Hrsg.), FS von Unruh, 1983, S. 503, 504; Pielow, (Fn. 31) S. 710.39 So Püttner, Öffentliche Unternehmen, 1985, 2. A., S. 31, mit Verweis auf das sehr umstrittene Urteil des Bay-

VerfGH vom 23.12.1957, in: DÖV 1958, S. 216 ff. Kritisch auch Schmidt, (Fn. 3) 225, 228 ff.40 Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbDStR, Band III, 1988, S. 1037, 1044.41 Püttner, in: Hrbek/Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002,

S. 32, 35.

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GO), ohne dass der Gesetzgeber erklärt, welche Bereiche darunter zu subsumieren seien.42 Das Daseinsvorsorgeprinzip ist Ausfluss des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG).43 Die Gemeinden haben aus ihm den verfassungsrechtlichen Auftrag, die tatsächlichen grundrechtlichen Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Bürgers zu schaffen und zu erhalten.44 Welche Aufgaben konkret unter Daseinsvorsorge zu subsumieren sind, vermag dieser Begriff jedoch ebenso wenig zu erklären, wie der genauso unbestimmte Begriff des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses. Die Er-klärung der Aufgaben von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse mit dem ebenso unscharfen Begriff der Daseinsvorsorge bringt also keinen Erkenntnisgewinn.

3. Der Betrauungsakt

a) Das Wesen der Betrauung

Im nationalen deutschen Recht hat der Begriff der Betrauung keine Entsprechung. Dies im Gegensatz zum französischen Recht, das so etwas wie eine Betrauung in Form einer Delegation (délégation) von services publics kennt. Mit der Betrauung (entreprises chargées de la gestion) werden bestimmten Unternehmen in einem Übertragungsakt präzise definierte Aufgaben einschließlich der einzelnen Modali-täten ihrer Aus- und Durchführung auferlegt.45 Ein deutsches Äquivalent hierzu existiert in der kommunalen Praxis nicht.Der Betrauungsakt verkörpert die politische Entscheidung eines Mitgliedstaats, die Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung mit einer bestimmten Dienst-leistung zu übernehmen. Dies hat in einer Weise zu geschehen, dass das im Betrau-ungsakt bezeichnete Unternehmen verpflichtet wird, eine konkrete, auf Dienstleis-tungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bezogene Aufgabe selbst dann zu erbringen, wenn dies im Einzelfall wirtschaftlich nicht mehr rentabel ist, so dass das unternehmerische, am Gewinnziel ausgerichtete Eigeninteresse im Einzelfall einer Erbringung der Dienstleistung entgegenstehen würde.46 Entscheidend ist, dass das Eigeninteresse des Unternehmens in rechtlich durchsetzbarer Weise der Verpflichtung zur Aufgabenerfüllung untergeordnet wird.47 Welche Anforderungen konkret an den Betrauungsakt zu stellen sind, ist zwar bislang noch nicht eindeutig entschieden, aber in jüngerer Zeit hat vor allem der Gemeinschaftsrahmen für staat-

42 Die amtliche Begründung, LT-Drs. 13/10828, sub. 7.2, S. 19, spricht lediglich davon, dass eine „Grauzone“ abgedeckt werden soll, „die zwischen der kommunalen Daseinsvorsorge und solchen Tätigkeiten [gemeint sind Tätigkeiten, mit denen die Kommunen an dem vom Wettbewerb beherrschten Wirtschaftsleben teilnehmen und deren Hauptzweck es ist, Gewinn zu erzielen] bestehen kann“.

43 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, EL 1980, Art. 20 VIII, Rn. 12.44 Brohm, NJW 1994, S. 281 f.45 Vgl. hierzu Götz, in: Lorenz/Geis (Hrsg.), FS Maurer, 2001, S. 921ff. sowie Pielow, (Fn. 31) S. 158 ff.46 V. Wilmowsky, ZHR 155 (1991), 545, 552; Wilms, Das Europäische Gemeinschaftsrecht und die öffentlichen

Unternehmen – Die Kompetenz der Kommission aus Art. 90 Abs. 3 EG-Vertrag und ihre Anwendung auf die Elektrizitätswirtschaft, 1996, S. 137; EuGH, Slg. 1989, 803, 853, Rs. 66/86 – Ahmed Saeed.

47 Badura, ZGR 1997, 291, 300.

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liche Beihilfen, den die Europäische Kommission am 15. Juli 2005 im Rahmen eines Maßnahmenpakets verabschiedet hatte, für Konkretisierung gesorgt. Hier-nach muss der öffentliche Versorgungsauftrag im Wege eines öffentlichen Rechts-aktes übertragen werden, wobei sich die Art des Rechtsaktes – Gesetz, Verordnung oder Vertrag – nach der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaates richtet. Aus den Rechts- bzw. Betrauungsakten sollte u.a. hervorgehen (1) die genaue Art und die Dauer der Gemeinwohlverpflichtungen, (2) die beauftragten Unternehmen und der geografische Geltungsbereich, (3) Art und Dauer der dem Unternehmen gegebenenfalls gewährten ausschließlichen oder besonderen Rechte sowie (4) die Parameter für die Berechnung, Überwachung und etwaige Änderung der Aus-gleichszahlungen.48

Vom EuGH sind zunächst strengere Anforderungen an den Betrauungsakt gestellt worden. So ging er davon aus, dass das bloße Tätigwerden eines Unternehmens im Interesse der Allgemeinheit nicht als hinreichend angesehen werden könne, selbst wenn das Unternehmen von öffentlichen Instanzen bei seiner Tätigkeit überwacht werde.49 Sogenannte „faktische Betrauungen“, also der Umstand, dass ein Unter-nehmen rein faktisch Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringt, sind damit nicht ausreichend. Erforderlich ist eine Betrauung durch staat-lichen Hoheitsakt, durch welchen ein Mitgliedstaat ein bestimmtes Unternehmen für eine bestimmte besondere Aufgabe in Dienst nimmt.50 Ursprünglich hat der EuGH die Erteilung einer bloßen Erlaubnis, bestimmte Tätigkeiten ausüben zu dür-fen, nicht ausreichen lassen, da eine solche allein der Reglementierung privater Initiativen diene und dabei Handlungsmöglichkeiten eröffne, ohne zugleich Ver-pflichtungen aufzuerlegen.51 Diese strengen Anforderungen hat der EuGH in sei-nen jüngeren Entscheidungen gelockert. In den oben bereits angesprochenen Ent-scheidungen „Almelo“52 und „Energiemonopole“53 betont er, dass der Betrau-ungsakt nicht in einer Rechtsvorschrift niedergelegt sein muss, so dass eine Betrau-ung durch öffentlich-rechtliche Konzession insbesondere dann genügt, wenn die dem Unternehmen durch Gesetz auferlegten Verpflichtungen konkretisiert werden sollen.54

Somit gilt, dass erst die Indienstnahme eines konkreten Unternehmens und die Konkretisierung der Aufgaben in einem Hoheitsakt gewährleisten, dass die eine gemeinschaftsrechtliche Privilegierung beanspruchende Tätigkeit eines Unterneh-mens nicht auf eine unternehmerische Entscheidung, sondern auf den dem allge-

48 GD COMP/I1//D(2005) 179; http://europa.eu.int/comm/competition/state_aid/others/action_plan/.49 EuGH, Slg. 1981, 2021, Rn. 7, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank; Slg. 1983, 483, Rn. 29 ff.,

Rs. 7/82 – GVL.50 EuGH, Slg. 1981, 2021, Rn. 7, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank.51 EuGH, Slg. 1983, 483, Rn. 31f., Rs. 7/82 – GVL; Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), (Fn. 13) Art. 86, Rn. 39.52 EuGH Slg. 1994, I-1477, Tz. 47, Rs. C-393/92 – Almelo.53 EuGH, Rs. C-157/94, Slg. 1997, I-5768 – Kommission/Niederlande; C-158/94, Slg. 1997, I-5789 – Kommissi-

on/Italien; C-159/94, Slg. 1997, I-5815 – Kommission/Frankreich; C-160/94 – Kommission/Spanien.54 EuGH Slg. 1994, I-1477, 1520f., Tz. 47 – Almelo.

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meinen Interesse verpflichteten Mitgliedstaat zurückgeht.55 Die formelle Betrau-ung erfüllt damit eine politische Legitimationsfunktion. So wird verhindert, dass ein Unternehmen über die Reichweite seiner Aufgaben und damit mittelbar zu-gleich über die Reichweite seiner Freistellung von gemeinschaftsrechtlichen Bin-dungen selbst entscheidet. Erst das Erfordernis eines Hoheitsakts gewährleistet auch dasjenige Maß an Transparenz, welches für eine wirksame gemeinschafts-rechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung (Art. 86 Abs. 2 S. 1 EG) erforderlich ist, so dass das Betrauungserfordernis auch eine Transparenzfunktion erfüllt.56

b) Die Betrauung kommunaler Unternehmen

Im Hinblick auf die genauen Anforderungen an den Betrauungsakt herrscht hin-sichtlich konkreter Form und Detailliertheit des Inhalts des Betrauungsaktes gleich-wohl noch manche Unklarheit. In Deutschland gibt es eine Vielzahl unterschiedli-cher Gestaltungsformen, in denen der öffentliche Auftrag zur Erfüllung gemein-wohlorientierter Leistungsaufgaben erteilt und wahrgenommen wird. Vom mit ver-fassungsrechtlicher Autonomie ausgestatten öffentlich-rechtlichen Rundfunk (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) über die Sparkassen hin zu Sektoren wie Post oder Telekommu-nikation, die einer Regulierung unterworfen sind oder der Energiewirtschaft, deren Unternehmen gesetzlich vorgegebene Versorgungspflichten zu erfüllen haben, die der Überwachung durch die Energieaufsichtsbehörden unterliegen.57 Tettinger spricht aufgrund der Unklarheit, die für Deutschland über das Tatbestandsmerkmal der Betrauung besteht, von einer „Betrauungs-Problematik“.58

Für die Ebene der kommunalen Unternehmen dürfte sich diese Problematik trotz der vielfach noch bestehenden Unklarheiten nicht in dieser Schärfe stellen. Der Instrumentalisierung kommunaler Unternehmen für Aufgaben der sog. Daseinsvor-sorge geht ein Beschluss des Gemeinderates voraus, indem ein konkretes Unter-nehmen, im häufigsten Fall die Stadtwerke, mit einer besonderen im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe beauftragt oder, wenn man so will, „betraut“ wird. Der Inhalt der Satzung oder des Gesellschaftervertrags für das Unternehmen basiert auf den Beschlüssen des Gemeinderates. Auf die Rechtsform des betrauten Unterneh-mens (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) oder die Handlungsform (etwa Ge-setz, Verwaltungsakt, Gemeinderatsbeschluss) kann es für das Vorliegen eines Be-trauungsaktes nicht ankommen, da es nach dem Sinn und Zweck der Regelung weniger auf die Einhaltung rein formaler Kriterien ankommt.59 Vielmehr ist ent-scheidend, dass feststeht, welches Unternehmen konkret mit welcher Aufgabe be-traut worden ist, um feststellen zu können, ob die Anwendung der Vertragsvor-schriften die Erfüllung der besonderen Aufgabenstellung verhindert, so dass die

55 Burgi, (Fn. 7) 261, 275.56 Mitteilung vom 20.09.2000, KOM (2000) 580 endg., ABlEG 2001 Nr. C 17., Rn. 22.57 Götz, in: Lorenz/Geis (Hrsg.), (Fn. 45) S. 921, 931.58 Tettinger, DVBl. 1994, 88, 89 f.59 Frenz, Europarecht 2000, 906 f.

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Betrauung zumindest in jedem Fall ausdrücklich, bestimmt, verbindlich und unter-nehmensbezogen sein muss.60 Dies vermag eine Aufgabenübertragung auf kom-munale Unternehmen in der geschilderten Weise auch sicherzustellen. In Bezug auf den Betrauungsakt liegt das Problem der Betrauung von kommunalen Unternehmen somit nicht so sehr auf der Ebene des formalen Aktes, sondern haupt-sächlich auf der Ebene des materiellen Inhalts des Betrauungsaktes, also hinsicht-lich der Anforderungen an die Präzision und die Detailliertheit der Betrauung. Sinn und Zweck der Betrauung, nämlich Rechtssicherheit und Transparenz, erfordern es, dass die konkreten Aufgaben präzise benannt und klar formuliert sein müssen. Das Erfordernis einer Betrauung ist strikt dahingehend auszulegen, dass sowohl die besonderen Verpflichtungen der Daseinsvorsorge als auch die kompensatorisch verliehenen Sonderrechte gesetzlich verbindlich und hinreichend bestimmt festge-legt werden müssen. Denn nur so lässt sich nachweisen, dass keine Bevorzugung der kommunal beherrschten Unternehmen erfolgt.

IV. Schlussfolgerungen für die Kommunalwirtschaft: Der öffentliche Zweck als kommunalrechtliche Implikation für die Anwendung von Europarecht

Nachfolgend soll untersucht werden, inwieweit kommunalunternehmerischer Wirt-schaftsbetätigung eine Berufung darauf, mit der Erfüllung einer Aufgabe von allge-meinem wirtschaftlichen Interesse i.S.d. Art. 86 Abs. 2 EG betraut worden zu sein, gelingen kann. Den Gemeinden kommt zwar für die Auslegung der Tatbestandsvo-raussetzungen des Art. 86 Abs. 2 EG ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Gleich-wohl müssen die Tatbestandsmerkmale gemeinschaftsrechtskonform interpretiert werden. Hierfür kann das Kriterium des öffentlichen Zwecks im Sinne der kommu-nalen Wirtschaftsklauseln fruchtbar gemacht werden. Mit dem Terminus des öf-fentlichen Zwecks vermögen die Gemeinden zum einen eine Antwort auf die Frage geben, welche Aufgaben zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen In-teresse zu zählen sind. Zum anderen kann er – bei entsprechender Interpretation und konsequenter Anwendung – der Kommunalwirtschaft helfen, die gemein-schaftsrechtlichen Anforderungen an den materiellen Inhalt des Betrauungsaktes im Hinblick auf Präzision und Detailliertheit zu erfüllen.

1. Der öffentliche Zweck in den Gemeindeordnungen der Länder

Das Kriterium des öffentlichen Zwecks ist als Zulässigkeitsvoraussetzung kommu-nalunternehmerischer Betätigung im kommunalen Wirtschaftsrecht aller deutscher Gemeindeordnungen enthalten (seinen Ursprung hat dieses Erfordernis in der Vor-

60 vgl. hierzu ausführlich Götz, in: Lorenz/Geis (Hrsg.), (Fn. 45) S. 921, 931 f.; Schwarze, EuZW 2000, 613, 624; Storr, Der Staat als Unternehmer, S. 226 f. m.w.N.

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gängervorschrift des § 67 Abs. 1 Nr. 1 DGO von 1935, dem die entsprechenden Ländervorschriften nach dem Krieg nachgebildet wurden. Für z.B. Bayern vgl. heute Art. 87 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BayGO). Das Erfordernis eines „öffentlichen Zwecks“ drückt ebenso wie das „allgemeine wirtschaftliche Interesse“ i.S.d. Art. 86 Abs. 2 EG die Bindung kommunaler Unternehmenstätigkeit an das Gemeinwohl aus. Aufgrund des weiten Verständnisses der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse schließt dieser Terminus alle Aufgaben ein, mit denen ein öffentlicher Zweck im Sinne des deutschen Kommunalrechts verfolgt wird. Da-rin zeigt sich, dass die Bindung an einen öffentlichen Zweck nicht nur landesrecht-lich Zulässigkeitsvoraussetzung kommunalunternehmerischer Betätigung ist, son-dern auch gemeinschaftsrechtlich eine Bedeutung erlangt, um von der Ausnahme-regelung des Art. 86 Abs. 2 EG profitieren zu können.Der öffentliche Zweck ist aber nicht mit dem Begriff der Daseinsvorsorge gleich zu setzen. Die Gemeinden haben zwar für die Sicherstellung der Bedürfnisbefriedi-gung zu sorgen. Dies bedeutet hingegen nicht, dass die Güter und Dienstleistungen auch von der Gemeinde selbst erbracht werden müssen. Es ist also längst nichts darüber ausgesagt, ob die Daseinsvorsorgeaufgaben auch gleichzeitig einem öf-fentlichen Zweck dienen, nur weil sie dem Begriff der Daseinsvorsorge unterfal-len.61 Daseinsvorsorge ist nämlich, wie Rüfner richtig feststellt, in einer freiheitli-chen Ordnung nicht primär Aufgabe des Staates, sondern vorrangig Aufgabe der Bürger62, die die notwendigen Güter und Dienstleistungen tatsächlich auch selbst erbringen (siehe Grundnahrungsmittelversorgung, Kleidung, Arzneimittel, Wohn-raum).63 Die Zuordnung einer Aufgabe zur Daseinsvorsorge alleine legitimiert da-her das Tätigwerden eines kommunalen Unternehmens nicht. Aus der Zugehörig-keit der Aufgaben des eigenen Wirkungskreises einer Gemeinde zum Bereich der Daseinsvorsorge lässt sich damit nicht ohne weiteres ein öffentlicher Zweck ablei-ten.

2. Die Konkretisierung des Begriffs des öffentlichen Zwecks zur Erfüllung gemeinschaftsrechtlicher Anforderungen

Problematisch ist indes, dass auch der Terminus öffentlicher Zweck ein unbestimm-ter Rechtsbegriff ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes ist die Bestimmung eines öffentlichen Zwecks eine von Zweckmäßigkeitsüberlegun-gen bestimmte Frage sachgerechter Kommunalpolitik. Die Bestimmung, welche Aufgabenerfüllung einem öffentlichen Zweck diene, sei deshalb der Gemeinde vor-behalten, der in dieser Frage eine Einschätzungsprärogative zukomme.64 Dieser

61 In diesem Sinne Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 280; Ruffert, VerwArch 2001, 27, 41.

62 Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbDStR, Band III, 1988, S. 1037, 1040. Hierzu auch Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 336 ff.

63 Stern/Püttner, Die Gemeindewirtschaft, 1965, S. 56 f.64 BVerwGE 39, 329, 334.

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Beurteilungsspielraum kann und darf allerdings nicht so interpretiert werden, dass er im Ergebnis eine quasi schrankenlose Einschätzungsprärogative bedeutet, die einer rechtlich ungebundenen kommunalpolitischen Zweckmäßigkeit überlassen wäre.65 Mit der gemeindlichen Einschätzungsprärogative ist nämlich nicht, um es plastisch mit Pielow auszudrücken, „das Tor zu kreativer Beliebigkeit aufgesto-ßen“.66 Im Hinblick auf die – von einer sich im Vordringen befindlichen Auffas-sung – vertretene Grundrechtsrelevanz kommunalunternehmerischer Betätigung muss sehr sorgfältig abgewogen werden, ob die Aufgabenerfüllung aufgrund eines besonderen und vorrangigen öffentlichen Zwecks vernünftigerweise geboten und notwendig ist, um die widerstreitenden Zielsetzungen auszugleichen.67 Würde man als Maßstab für den Beurteilungsspielraum nur auf die bloße Begrifflichkeit „öf-fentlicher Zweck“ in der allgemeinen Bedeutung eines wie auch immer gearteten Gemeinwohlinteresses abstellen, tendierte die Begrenzungswirkung dieses Begriffs gegen Null. Durch eine solche Auffassung würde für die Gemeindevertreter der Handlungsspielraum in einer Weise ausgeweitet, die den öffentlichen Zweck letzt-lich seiner Funktion beraubte, da das Wohl der Gemeindebewohner in einer Viel-zahl denkbarer öffentlicher Zwecke68 gefördert werden kann, wie etwa sozialpoli-tische, wettbewerbspolitische, umweltpolitische, wirtschaftsfördernde und arbeits-platzsichernde Aktivitäten.69 Das eigentlich als Begrenzung gedachte Kriterium des öffentlichen Zwecks würde weitgehend leer laufen, da der Kommunalpolitik damit gleichsam ein Freibrief ausgestellt werden würde.70 Der öffentliche Zweck muss deshalb ein besonderer, konkreter und unmittelbarer sein.Die Betrauung mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interes-se gemäß Art. 86 Abs. 2 EG muss substantiiert dargetan und bewiesen werden kön-nen, so dass an das Vorliegen eines öffentlichen Zwecks die gleichen Anforderun-gen gestellt werden müssen wie an den materiellen Inhalt des Betrauungsakts. Durch die Kontrollkompetenz von Kommission und EuGH wird deutlich, dass auch für das Vorliegen einer Betrauung mit Aufgaben von allgemeinem wirtschaft-lichen Interesse i.S.d. Art. 86 Abs. 2 EG von Seiten des kommunalen Unternehmen nicht die bloße Behauptung genügt, die Betätigung diene einem allgemeinen Ge-meinwohlinteresse. Die Kommission betont hierzu in ihrer Mitteilung zur Daseins-vorsorge: „[...] Damit die Ausnahme nach Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag auch greifen kann, muss der Versorgungsauftrag in jedem Fall klar definiert und ausdrücklich durch Hoheitsakt (Verträge eingeschlossen) aufgetragen sein. Dies ist aus Gründen

65 Ruffert, (Fn. 61) 27, 40.66 Pielow, (Fn. 31) S. 708; ders., NWVBl. 1999, 369, 376.67 Schmidt, in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band I, 2000, S. 92, spricht von „uner-

lässlich“. Ausführlich Scharpf, GewArch 2005, 1 – 8.68 Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1995, Rd. 120; Hidien, Die

positive Konkretisierung der öffentlichen Zweckbindung kommunaler Wirtschaftsunternehmen, 1984, 103 ff.69 Schink, NVwZ 2002, 132; für Schmidt, (Fn. 67) S. 92, vermag dieses Kriterium aus diesem Grund kaum als

verfassungsrechtliches Korrektiv für eine staatliche Marktteilnahme zu wirken.70 Schink, (Fn. 69) 132.

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der Rechtssicherheit und der Transparenz gegenüber den Bürgern unerlässlich und zudem notwendig, damit die Kommission die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme bewerten kann“.71

Um diese Anforderungen zu erfüllen, genügt es nicht, dass die Erfüllung eines öf-fentlichen Zwecks inneres Motiv der Verwaltung bleibt. Erforderlich ist vielmehr die Statuierung einer expliziten Pflicht der Gemeindevertreter, das Vorliegen eines öffentlichen Zwecks sorgfältig abzuwägen, zu präzisieren und darzulegen sowie das Ergebnis unter Angabe eventueller Alternativen und aller ausschlaggebenden Entscheidungsaspekte detailliert zu begründen. Der gemeindliche Beurteilungs-spielraum ist durch diese prozedurale Verpflichtung zu ergänzen und auszufüllen.72 Der öffentliche Zweck ist dabei so detailliert, präzise und bestimmt zu fassen, dass der Begriff für den weiteren Geschäftsbetrieb anwendungs-, überwachungs- und kontrolltauglich wird.73

Je konkreter und deutlicher die Gemeinwohltätigkeit kommunaler Unternehmen nach außen gerechtfertigt wird, desto höher stehen die Chancen, von den Vorteilen der Ausnahmeregelung in Art. 86 Abs. 2 EG zu profitieren, und desto größer wird die Akzeptanz für deren wirtschaftliche Betätigung. Mit einer nachhaltigen und klaren Festlegung eines besonderen öffentlichen Zwecks wird auch die Berufung auf Art. 86 Abs. 2 EG gelingen können.74 Dieser gemeinschaftsrechtliche Aspekt ist übrigens auch ein Hinweis darauf, dass die Verwirklichung der immer wieder zu hörenden Forderung mancher Autoren75 nach nationalrechtlicher Gleichstellung kommunaler und privater Unternehmen im Wettbewerb sich letztlich als Pyrrhus-sieg erweisen würde. Die Bindung an einen besonderen und konkreten Gemein-wohlzweck und die Möglichkeiten, kommunale Unternehmen auch als Mittel poli-tischer Steuerung einzusetzen, machen im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtli-chen Vorteilsgewährungen im Gegensatz zu den rein gewinnorientierten Privatun-ternehmen gerade die Stärke der kommunalen Unternehmen aus.76

Ein bereits nach Landesrecht erforderlicher öffentlicher Zweck, der hinreichend präzisiert und mit einer Zielkonzeption kommunaler Unternehmenstätigkeit ver-bunden ist, vermag somit dauerhafte Sonderrechte zu legitimieren und europa-rechtlich die Akzeptanz zu erhöhen, wenn die durch die Erfüllung eines öffentli-chen Zwecks auferlegten Nachteile durch Vorteilsgewährungen kompensiert wer-den.

71 Mitteilung vom 20.09.2000, KOM (2000) 580 endg., ABlEG 2001 Nr. C 17., Rn. 11 und 22.72 Held, WiVerw 1998, 264, 285; Hill, BB 1997, 425, 430; Pielow, a.a.O., S. 378; Storr, (Fn. 60) S. 441.73 Meyer, WiVerw 2003, 57, 64 m.w.N.; Selmer, in: Stober/Vogel (Hrsg.), Wirtschaftliche Betätigung der öffentli-

chen Hand, 2000, S. 75, 86, der dieses Gebot ebenfalls aus dem Eingriffscharakter herleitet; für Püttner, (Fn. 39) S. 129, folgt ein Zwang zu hinreichender Begründung mit Abwägung von Alternativen bereits aus dem Ge-meinwohlgebot. Für eine möglichst präzise Festlegung des öffentlichen Zwecks auch Mann, JZ 2002, 819, 822, Schulz, BayVBl. 1996, 97f. sowie Scharpf, Kommunales Unternehmensrecht in Bayern, 2004, S. 128 ff.

74 Nettesheim, in: Hrbek/ders. (Hrsg.), (Fn. 41) S. 39, 53.75 Vgl. anstatt vieler Moraing, in: Püttner (Hrsg.), Zur Reform des Gemeindewirtschaftsrechts, 2002, S. 41, 63f.76 Burgi, VerwArch 2002, 255, 276. In Bezug auf die Diskussion auf dem Deutschen Juristentag 2002 Püttner,

DÖV 2002, 731, 732f. Ausführlich zum Ganzen Scharpf, VerwArch 2005, Heft 4.

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V. Das Merkmal der Verhinderung

In Art. 86 Abs. 2 EG ist zunächst lediglich der Grundsatz statuiert, dass alle unter-nehmensbezogenen Vertragsbestimmungen, insbesondere die Art. 81, 82 EG, auch für die in diesem Absatz genannten Unternehmen gelten. Durchbrechungen von diesem Grundsatz sind erst in zweiter Linie mit Rücksicht auf die besondere Pflich-tenstellung mancher Unternehmen gegenüber der Allgemeinheit gestattet.

1. Verhinderungsmaßstab

Damit derartige Durchbrechungen der Vorschriften des EG-Vertrages gestattet sind, verlangt Art. 86 Abs. 2 S. 1 EG eine „Verhinderung“ der Erfüllung der übertrage-nen Aufgabe. Auf dieses Tatbestandsmerkmal kommt es für die Befreiung kommu-naler Unternehmen von den Wettbewerbsvorschriften entscheidend an. An das Merkmal der Verhinderung wurden bis zum Ende der 1980er Jahre äußerst strenge Anforderungen gestellt.77 Auch hier zeichnete sich indes vor allem durch die Rechtsprechung des EuGH im „Corbeau“-Urteil eine Lockerung des Verhinde-rungsmaßstabs ab, indem dieser zu einem bloßen Gefährdungsmaßstab abge-schwächt wurde. Ausgehend von der Formulierung, dass die Befreiung von den allgemeinen Vertragsvorschriften notwendig sein müsse, um die Dienstleistung überhaupt erbringen zu können, nahm der EuGH an, dass die Verpflichtung auf eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen zu ein-heitlichen Tarifen (Universaldienst) die Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen den rentablen und den nicht rentablen Tätigkeitsbereichen erlaube und daher eine Ein-schränkung des Wettbewerbs mit anderen Unternehmen in wirtschaftlich rentablen Bereichen rechtfertige, d.h. Quersubventionierungen mithin zulässig seien.78 Ein-zelne Unternehmen könnten sich nach Auffassung des EuGH anderenfalls nach der Methode des „Rosinenpickens“ auf rentable Bereiche konzentrieren und dort güns-tiger als das betraute Unternehmen anbieten, da sie nicht auf die Erwirtschaftung von Monopolrenditen zur Quersubventionierung der nicht rentablen Bereiche ange-wiesen seien. Kein Konflikt trete hingegen ein, wenn der nicht betraute Wettbewer-ber eine von der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ab-trennbare Dienstleistung anbieten möchte, die das betraute Unternehmen nicht an-bietet und die das Erbringen der vom betrauten Unternehmen übernommenen Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht verhindert.79 Ein Abweichen von den Wettbewerbsvorschriften sei in dieser Konstellation daher aus-geschlossen.

77 Pernice, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), (Fn. 32) Art. 90, Rn. 53; v. Wilmowsky, (Fn. 46) 545, 553 f.78 EuGH, Slg. 1993, I-2533, Rn. 14, 17, Rs. C-320/91 – Corbeau.79 EuGH, Slg. 1993, I-2533, Rn. 19, Rs. C-320/91 – Corbeau.

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Voraussetzung ist darüber hinaus ein konkreter Konflikt zwischen der Aufgabener-füllung des im öffentlichen Interesse handelnden Unternehmens und der Einhal-tung seiner gemeinschaftsrechtlichen Vertragspflichten. Eine bloße Erschwerung oder Behinderung der Aufgabenerfüllung durch die Vorschriften des EG-Vertrages genügt nicht80 – diese muss vielmehr gefährdet erscheinen bzw. unmöglich im Sin-ne einer Unzumutbarkeit sein.81 Dies bedeutet nach Auffassung des EuGH, der Kommission und der herrschenden Literatur, dass darauf abzustellen ist, ob es ei-nen anderen technisch möglichen und wirtschaftlich wie rechtlich zumutbaren Weg gibt, um die übertragene Aufgabe ohne Vertragsverletzung zu erfüllen, wobei eine Existenzgefährdung nicht vorliegen muss, damit die Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EG greift.82 Insgesamt dürfen Intensität und Umfang der Freistellung von den Vorschriften des EG-Vertrages unter Beachtung des Verhältnismäßigkeits-grundsatzes nicht weiter gehen, als dies unbedingt erforderlich ist zur Sicherstel-lung der im nicht-wirtschaftlichen Allgemeininteresse liegenden Aufgabenerfül-lung (ultima ratio).83

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 86 Abs. 2 S. 1 EG liegt nach dem Wortlaut der Regelung bei dem Unter-nehmen, das sich auf die Ausnahme beruft, bzw. dem Mitgliedstaat, der das Unter-nehmen betraut hat. Der EuGH lehnt es aber ab, dem Mitgliedstaat den positiven Beleg aufzuerlegen, dass keine andere vorstellbare, der Natur der Sache nach hypo-thetische Maßnahme es erlaube, die Erfüllung dieser Aufgabe unter den Bedingun-gen der Vertragseinhaltung sicherzustellen.84 Sobald eine Gefährdung der Aufga-benerfüllung handgreiflich ist und sich eine Alternative nicht unmittelbar auf-drängt, ist es an der Gemeinschaft, Vorstellungen zu entwickeln, die die öffentliche Aufgabenerfüllung auch ohne besondere oder ausschließliche Rechte ermöglicht.85 Diese jüngere Rechtsprechung bedeutet somit eine Erleichterung der Darlegungs-last.

2. Kritik der Literatur

In der Literatur stößt diese neuere Rechtsprechungslinie auf zum Teil heftigen Wi-derspruch. So wird insbesondere kritisiert, dass die neueren Tendenzen des EuGH bereits vom Wortlaut der Vorschrift nicht mehr gedeckt seien. Eine Gefährdung für die Erfüllung der Aufgabe sei nicht ausreichend, um das Merkmal der Verhinde-rung zu erfüllen; verfehlt sei es auch, auf die subjektive, individuelle Zumutbarkeit für Unternehmen abzustellen – maßgeblich könne allein die objektive Möglichkeit

80 EuG I Slg. 1997, II-997, Rs. T-260/94 – Air Inter.81 EuGH EuZW 2001, 408, 412 – TNT Traco.82 EuGH Slg. 1997, I-5699, Rs. C-157/94, I-5789, Rs. C-158/94 und I-5815, Rs. C-159/94; vgl. Jung, in: Calliess/

Ruffert (Hrsg.), (Fn. 13) Art. 86, Rn. 45.83 Badura, ZGR 1997, 291, 300 f.84 EuGH, Slg. 1997, I-5815, Rn. 101 – Kommission/Frankreich.85 Schneider, DVBl. 2000, 1250, 1254; Pielow, (Fn. 31) S. 89ff.; Storr, (Fn. 60) S. 330 ff.

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zur Aufgabenerfüllung sein. Auch in teleologischer Hinsicht ergebe sich ein Wider-spruch zu dem Sinn und Zweck der Regelung. Es gehe um die Sicherung der Auf-gabenerfüllung und nicht um den Bestandsschutz der mit den Sonderaufgaben be-fassten Unternehmen.86

Dieser Kritik ist entgegenzuhalten, dass mit ihrer engen Auslegung dem Stellen-wert der Dienstleitungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht hinrei-chend Rechnung getragen wird. Aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ist für eine Sonderstellung kommunaler Unternehmen nur noch dort Raum, wo es sich um rein innerstaatliche Sachverhalte handelt. Dies ist indes immer seltener der Fall, denn selbst um regional begrenzte Märkte, man denke etwa an den Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs, können Unternehmen aus verschiedenen Mitgliedstaaten miteinander konkurrieren. Wird nämlich, wie hier vertreten, an der Verpflichtung kommunaler Unternehmen auf einen besonderen öffentlichen Zweck festgehalten, ohne dass das Europarecht die Einräumung von Sonderrechten gestat-tet, so können sich auf besonders lukrativen Teilmärkte beschränkende private Kon-kurrenten kaum mehr behaupten, was im Widerspruch zu Art. 295 EG auf eine Privatisierungspflicht hinauslaufen könnte.87

Darüber hinaus ist auch auf die veränderte rechtliche Situation durch die Einfüh-rung des Art. 16 EG sowie durch die Mitteilungen der Kommission zu den Leistun-gen der Daseinsvorsorge aus dem Jahren 1996 und 2000 hinzuweisen. Die Dienst-leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wurden von Art. 86 Abs. 2 EG ursprünglich noch als Gegenstand rein nationalen Interesses an ihrer Erhaltung behandelt, das nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen gegen das in der Vorschrift ausdrücklich angesprochene „Interesse der Gemeinschaft“ durchge-setzt werden darf. Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass das „Inter-esse der Gemeinschaft“ das Interesse an der Durchsetzung der Grundfreiheiten des Wirtschaftsverkehrs und der Wettbewerbsregeln ist. Die Leistungen der sog. Da-seinsvorsorge sind im Gemeinschaftsrecht heute aber selbst Gegenstand eines Ge-meinschaftsinteresses, das auf ihre Einführung sowie ihren Bestand und ihr Funk-tionieren gerichtet ist. In Art. 16 EG beanspruchen die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ einen Rang unter den höchsten Grundwerten des EG-Vertrages. Die Kommission bezeichnet den „gleichberechtigten Zugang der Bürger zu Universaldiensten sowie zu Versorgungs- und Dienstleistungen, die der solidari-schen Daseinsvorsorge dienen“, als Grundwert des europäischen Einigungswer-kes.88 Im Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse werden diese gar als „unverzichtbarer Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells“ be-zeichnet.89 Insofern kann die Auslegung des Art. 86 Abs. 2 EG nur in einer vermit-

86 in diese Richtung Koenig/Kühling, (Fn. 23) 656, 677 f. sowie Schweitzer, (Fn. 1) S. 89 ff., 207 ff. et passim.87 In diese Richtung auch Hellermann, (Fn. 3) S. 9, 353 f.88 Mitteilung vom 28.2.1996, KOM (96) 90 endg., Abl. C 281/3.89 Grünbuch vom 21.5.2003, KOM (2003) 270, endg., S. 3, abgedruckt unter http://europa.eu.int/eur-lex/de/com/

gpr/2003/com2003_0270de01.pdf.

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telnden Lösung bestehen, die sowohl einem diskriminierungsfreien Wettbewerb si-chert als auch nach nationalem Recht eine begrenzte Sonderstellung kommunaler Unternehmen ermöglicht. Die Schaffung identischer Wettbewerbsbedingungen für kommunale und private Unternehmen mit Art. 86 Abs. 2 EG als eng auszulegender Ausnahme ist insoweit in der Praxis nicht völlig stringent durchsetzbar, so dass die sachgerechte Lösung eher in einer saldierenden Betrachtung von strukturell oder politisch herbeigeführten Wettbewerbsvor- und -nachteilen liegt. Die Kritik von Teilen der Literatur an der in die richtige Richtung weisende Rechtsprechung des EuGH ist deshalb unberechtigt.

VI. Die Schranken-Schranke des Art. 86 Abs. 2 S. 2 EG

Gemäß Art. 86 Abs. 2 S. 2 EG darf durch die Beschränkung der Wirtschaftsfreihei-ten die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Art. 86 Abs. 2 S. 2 EG greift erst bei einer globalen Beeinträchtigung des freien Wirtschaftsverkehrs als Integrationsfaktors ein. Dies bedeutet, dass der freie Wirtschaftsverkehr innerhalb der Gemeinschaft insgesamt und nicht nur hinsichtlich einzelner Produkte nachtei-lig beeinflusst wird.90 Der freie Wirtschaftsverkehr als Gesamtprozess kann selbst bei schwerwiegenden Eingriffen in den zwischenstaatlichen Handel nur marginal betroffen sein. Da die Anforderungen für das Vorliegen dieser Schranken-Schranke hoch sind, dürften sie auf kommunaler Ebene in der Regel nicht erfüllt sein.91

VII. Auswirkungen des Art. 16 EG auf die Auslegung des Art. 86 Abs. 2 EG

Die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse haben durch den mit dem Vertrag von Amsterdam mit Wirkung zum 1.5.1999 eingeführten Art. 16 EG eine Aufwertung erfahren, indem er deren Stellenwert besonders betont.92 Art. 16 EG will die Funktionsfähigkeit der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ sichern und verpflichtet erstmals die Mitgliedstaaten positiv auf die Ver-wirklichung dieses Ziels.93 Art. 16 EG unterstreicht so den eigenständigen Wert dieser Dienste innerhalb einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft.In der Literatur besteht Uneinigkeit darüber, wie sich der durch den neu eingefügte Art. 16 EG auf die Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EG auswirkt. Teilweise wird an-genommen, dass der Bedeutungsgehalt des Art. 16 EG zu einer grundlegenden Verschiebung zugunsten gemeinwohlorientierter Dienstleistungen geführt hat.94 Im

90 Pernice, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), (Fn. 32) Art. 90, Rn. 55.91 V. Burchard, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 86, Rn. 75 f.; Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.),

(Fn. 13) Art. 86, Rn. 51; Heinemann, (Fn. 10) S. 182 ff.92 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), (Fn. 91) Art. 16, Rn. 1.93 Grundlegend zu Art. 16 EG Frenz, (Fn. 59) 901 ff. sowie Schweitzer, (Fn. 1) S. 377 ff.; Harms, in: Brede

(Hrsg.) Wettbewerb in Europa und die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, 2000/2001, S. 25 ff.94 Schwarze, EuZW 2001, 334, 336 f.

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Kollisionsfall zwischen Art. 86 Abs. 2 EG und Art. 16 EG sei ein verhältnismäßi-ger Ausgleich im Sinne einer praktischen Konkordanz herzustellen.95 Diese Inter-pretation des Art. 16 EG geht indes zu weit und verkennt Sinn und Zweck der Re-gelung. Die Dienstleistungen des allgemeinem wirtschaftlichen Interesses haben zwar einen enormen Bedeutungszuwachs erhalten und nehmen als Grundwert des europäischen Gemeinschaftsrechts einen deutlich erhöhten Stellenwert ein. Gleich-wohl kann die unmittelbare Wirkung von Art. 16 EG nur eine begrenzte sein. Zum einen gilt Art. 16 EG nur „unbeschadet“ des Art. 86 Abs. 2 EG, und zum anderen dient diese Vorschrift nur der Optimierung des Prinzips der Daseinsvorsorge im Sinne eines Handlungsauftrages an die Mitgliedstaaten und ist keine mit einer kon-ditionierten Rechtsfolge verknüpfte Norm.96 Daseinsvorsorge und Durchsetzung des Wettbewerbsrechts können daher, auch wenn die Daseinsvorsorge nunmehr selbst Gegenstand des Gemeinschaftsinteresses ist, nicht als gleichwertige Ver-tragsprinzipien einander gegenübergestellt werden. Art. 16 EG vermag Art. 86 Abs. 2 EG deshalb nur im Sinne einer weniger strikten Anwendung des Wettbewerbs-rechts zu beeinflussen97 und dient zugunsten der Dienstleistungen von allgemei-nem wirtschaftlichen Interesse als besonders zu berücksichtigendes Auslegungs-kriterium bei der Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EG.98

Daran ändert auch Art. 36 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – als Teil II soll die Charta künftig Bestandteil einer Europäischen Verfassung wer-den – nichts, der als Programmsatz lediglich die Formulierung enthält, dass die Union den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interes-se anerkennt und achtet.99

VIII. Zusammenfassung

1. Art. 86 Abs. 2 EG dient als Ausgleich zwischen Wettbewerbsfreiheit und Ge-meinwohlinteressen und verschafft den Kommunalunternehmen Spielräume im Falle der Einräumung einer Vorzugsstellung. Die Interpretationslinien zu ihm verlaufen sehr konträr: Die einen sehen in Art. 86 Abs. 2 EG eine Kompetenz-verteilungsnorm und damit einen Souveränitätsvorbehalt zugunsten der Mit-gliedstaaten, die anderen eine Vorschrift, die nur zugunsten einer näher zu be-stimmenden Kategorie von Interessen wie etwa einer flächendeckenden Grund-versorgung, eng begrenzte Ausnahmen erlaubt.

95 Schwarze, a.a.O., S. 339.96 Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), (Fn. 13) Art. 16, Rn. 12; Koenig, EuZW 2001, 481; Schmidt, (Fn. 3) 225,

237 f., 239.97 Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), a.a.O., Rn. 13; Nettesheim, in: Hrbek/ders. (Hrsg.), (Fn. 41) S. 39, 50. Zur

Frage, inwieweit dadurch eine Wendung zu einer primär „sozialstaatlich“ gefärbten Gemeinschaftspolitik ein-getreten ist Kämmerer, NVwZ 2002, 1041 ff.

98 Badura, in: Classen/Dittmann/Fechner u.a. (Hrsg.), FS Oppermann, 2001, S. 571, 578.99 Hierzu allgemein Burgi, in: Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und

Europäischer Union, 2001, S. 97 ff.; Scholz, in: Lorenz/Geis (Hrsg.), (Fn. 45) S. 993 ff.

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2. Die Rechtsprechung des EuGH entwickelte sich von einer eher strengen hin zu einer in jüngerer Zeit zunehmend lockereren Interpretation der Tatbestandsmerk-male des Art. 86 Abs. 2 EG. Der Grundsatz, dass konkret ausgestaltete Aufga-ben privilegiert werden und nicht ein allgemeines Interesse, weicht auf.

3. Der Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ist weiter als der deutsche Begriff der Daseinsvorsorge, der als soziologischer Be-griff nicht zu erklären vermag, welche Aufgaben konkret solche von allgemei-nem wirtschaftlichen Interesse sind. Die Mitgliedstaaten definieren, welche Aufgaben zu ihnen zu zählen sind; ihnen kommt ein weiter Gestaltungsspiel-raum zu.

4. Die Betrauungs-Problematik stellt sich in formeller Hinsicht für die Ebene kom-munaler Unternehmen nicht in der Schärfe wie bei anderen Unternehmen, da in einem Gemeinderatsbeschluss ein konkretes Unternehmen mit einer besonderen Aufgabe beauftragt wird und das Erfordernis eines hoheitlichen Aktes damit er-füllt ist, wobei es dabei auf die Rechtsform des betrauten Kommunalunterneh-mens nicht ankommt. Problematisch ist die Ebene des materiellen Inhalts des Betrauungsaktes hinsichtlich Präzision und Detailliertheit. Hierfür kann das kommunalrechtliche Kriterium des öffentlichen Zwecks fruchtbar gemacht wer-den. Es gibt sowohl eine Antwort darauf, welche Aufgaben zu den Dienstleistun-gen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu zählen sind, als auch darauf, welche Anforderungen an den materiellen Inhalt des Betrauungsaktes im Hin-blick auf Präzision und Detailliertheit zu stellen sind. Hierfür müssen die kom-munalen Wirtschaftsklauseln (vgl. etwa Art. 87 BayGO) gemeinschaftsrechts-konform bzw. „europafest“ interpretiert werden.

5. Das Merkmal der Verhinderung wurde durch die Rechtsprechung des EuGH zu einem bloßen Gefährdungsmaßstab abgeschwächt. Diese Rechtsprechung ist im Hinblick auf den Stellenwert der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaft-lichen Interesse zu begrüßen. Die Leistungen der Daseinsvorsorge sind heute selbst Gegenstand des Gemeinschaftsinteresses, so dass die Auslegung nur in einer vermittelnden Lösung bestehen kann, die sowohl einen diskriminierungs-freien Wettbewerb, als auch nach nationalem Recht eine begrenzte Sonderstel-lung kommunaler Unternehmen ermöglicht.

6. Art. 16 EG hat unmittelbar zugunsten der kommunalen Unternehmen keine Aus-wirkungen, erkennt aber als Auslegungskriterium bei der Prüfung des Art. 86 Abs. 2 EG den hohen Stellenwert einer funktionierenden Daseinsvorsorge an.

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Europäisches Lauterkeitsrecht – von Gesetzen und Würsten

Von Gerald Mäsch, Münster*

Das europäische Kartellrecht steht in voller Blüte. Gerade in jüngster Zeit hat es viel des Terrains erobert, das früher für die nationalen Kartellrechte reserviert war – so viel, dass sich die Frage nach dem Spielraum stellt, der überhaupt noch dem nationalen Gesetzgeber verbleibt. Im europäischen Lauterkeitsrecht steht die Ent-wicklung demgegenüber noch ganz am Anfang: Vorgaben aus Brüssel sind bis heu-te eher spärlich gesät und schlecht aufeinander abgestimmt. Zwei Projekte, der Vorschlag für eine Verordnung zur Regelung der Verkaufsförderung im Binnen-markt1 und der Vorschlag zu einer Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern2, sollen aber auch in diesem Bereich einen deutlichen Entwicklungsschub bringen. Der Beitrag analy-siert den gegenwärtigen deplorablen Stand des europäischen Lauterkeitsrechts so-wie die mehr Schatten als Licht aufweisenden Reformbestrebungen und erläutert, was sich in Brüssel ändern muss, soll das Lauterkeitsrecht zum großen Bruder des Kartellrechts aufschließen.

I. Begriffsbestimmung

Wofür steht der im Deutschen eher unübliche Begriff „Lauterkeitsrecht“? Es geht um die Rechtsregeln, die einen fairen Wettbewerb sichern, oder, negativ gefasst, einen unfairen Wettbewerb bei der Jagd nach den Abnehmern für Waren und Dienstleistungen verhindern sollen. Ein altmodisches Synonym für „unfair“ ist un-lauter – unfairer Wettbewerb ist damit unlauterer Wettbewerb. Das einschlägige deutsche Gesetz, das von 1909 stammt, aber im letzten Jahr komplett überholt wur-de3, heißt deshalb „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ (UWG). Wenn man dieses Gesetz und einige Zusatzregeln meint, spricht man in der deutschen Praxis kurz vom Wettbewerbsrecht4.

* Der Autor ist Direktor des Instituts für Internationales Wirtschaftsrecht, Abt. I, an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Um Fußnoten ergänzter und für den Druck leicht überarbeiteter Text meiner Antrittsvorle-sung am 21. Januar 2005. Der Vortragsstil und der inhaltliche Stand von Januar 2005 sind unverändert. Mein Dank gilt Frau stud. iur. Andrea Srol und Herrn stud. iur. Christian Volmer für ihre wertvolle und unermüdliche Unterstützung bei der Vorbereitung des Vortrags.

1 KOM (2002) 585 endg.2 KOM (2003) 356 endg. Der Vorschlag ist inzwischen als Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments

und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richt-linien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) verabschiedet und veröffentlicht (ABl. EG Nr. I-149 vom 11.06.2005 S. 22). Inhaltlich ergeben sich gegenüber dem hier kritisierten Entwurf keine Änderungen. Zum Umsetzungsbedarf im deutschen Recht vgl. Köhler, Zur Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, GRUR 2005, S. 793.

3 BGBl. 2004 I, S. 1414.4 Vgl. statt aller den führenden Kommentar zum UWG von Baumbach/Hefermehl (seit der 23. Aufl. 2004 bear-

beitet von Köhler/Bornkamm), der schlicht „Wettbewerbsrecht“ betitelt ist.

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Im europäischen Kontext verbietet sich allerdings eine so verstandene Verwendung des Begriffs. Auf europäischer Ebene ist die Bezeichnung Wettbewerbsrecht – oder competition law, droit de la concurrence – anders belegt: Wettbewerbsrecht deckt sich hier mit dem, was im deutschen Recht „Kartellrecht“ genannt wird und meint die Normen, die sich nicht mit unfairem Handeln im Wettbewerb, sondern mit dem Ausschalten oder der Behinderung des Wettbewerbs beschäftigen.Dass es diese begrifflichen Schwierigkeiten gibt, liegt an den sehr unterschiedlichen Auffassungen in den Mitgliedstaaten darüber, welcher Regeln es überhaupt zum Schutz des fairen Wettbewerbs bedarf5. So existiert ein tiefer Graben zwischen der kontinentaleuropäischen, in sich allerdings sehr differenzierten Präferenz für wohl geordnete Märkte und der britischen Vorliebe für ungehinderten Wettbewerb6 – Letztere ist so groß, dass schon der Begriff „unfair competition“ den Engländern suspekt ist7. Folgerichtig enthält der britische Competition Act 1998 fast nur kartell-rechtliche Regeln, folgerichtig ist competition law in England zum Synonym für Kartellrecht geworden – und wenn auch nicht unbedingt folgerichtig, so doch wenig überraschend, hat sich diese Begriffsbestimmung auch in Europa durchgesetzt.Deshalb muss man als deutschsprachiger Jurist, wenn es um Regeln zum Schutz des fairen Wettbewerbs auf europäischer Ebene geht, auf einen anderen Begriff als den des Wettbewerbsrechts ausweichen – und so ist man dann auf das im internen deutschen Recht (anders als etwa in der Schweiz8) bislang wenig verwandte „Lau-terkeitsrecht“ verfallen9.

II. Gegenwärtiger Stand des europäischen Lauterkeitsrechts

1. Nationales Lauterkeitsrecht und die Grundfreiheiten

In der EU, die sich einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt auf die Fahnen geschrieben hat, sind solche Unterschiede natürlich nicht unproblematisch. Wenn im Wettbewerb in Großbritannien Maßnahmen erlaubt sind, die man in Deutsch-

5 Vgl. zum Wettbewerbsrecht in den EU-Mitgliedstaaten und anderen Rechtsordnungen Ulmer (Hrsg.), Das Recht des unlauteren Wettbewerbs in den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Bände 1 bis 7 (1965 – 1994, teilweise veraltet); Schulze/Schulte-Nölke, Analysis of National Fairness Laws Aimed at Protec-ting Consumers in Relation to Precontractual Commercial Practices and the Handling of Consumer Complaints by Business, 2003, (im Internet abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/consumers/cons_int/safe_shop/fair_bus_pract/green_pap_comm/studies/unfair_practices_en.pdf); rechtsvergleichend Kamperman/Sanders, Unfair Competition Law (1997); speziell zum Recht der Werbung Schricker (Hrsg.), Recht der Werbung in Europa (Losebl., Stand Januar 2004).

6 Ohly/Spence, Vergleichende Werbung: Die Auslegung der Richtlinie 97/55/EG in Deutschland und Großbritan-nien, GRUR Int. 1999, S. 681.

7 Ohly, Das neue UWG – mehr Freiheit für den Wettbewerb?, GRUR 2004, S. 889 (890). Einen Überblick zum englischen Recht des unlauteren Wettbewerbs gibt Bodewig, Das Recht des unlauteren Wettbewerbs in Großbri-tannien: Ein Dreiklang von Fallrecht, Gesetzesrecht und Selbstkontrolle, GRUR Int. 2004, S. 543. Rechtsver-gleichend zum deutschen und englischen Recht Ohly, Richterrecht und Generalklausel im Recht des unlauteren Wettbewerbs – ein Methodenvergleich des englischen und des deutschen Rechts (1997).

8 Vgl. statt aller Lautenbacher, Lauterkeitsrecht, Kommentar zum (Schweizer) Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), 2001.

9 Vielleicht ist es diese europäische Perspektive, die Fezer veranlasst hat, den von ihm herausgegebenen brandneu-en Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (2005) mit „Lauterkeitsrecht“ zu überschreiben.

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land untersagt und in Frankreich unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt für zulässig hält, so verursacht der Versuch der Durchdringung der Märkte mehre-rer EU-Mitgliedsländer hohe Anpassungskosten. Folge: Die Wettbewerbsfähigkeit ausländischer Unternehmen sinkt, nationale Marktabschottung wird gefördert. Um nur ein berühmtes Beispiel zu nennen: Die Firma Estée Lauder vertreibt seit 1968 eine Serie von Kosmetikartikeln unter der Marke „Clinique“. Sie nutzte diese Mar-ke von Beginn an welt- und damit auch europaweit – mit einer Ausnahme: In Deutschland herrschte die Sorge, dass die beim Begriff „Clinique“ mitschwingen-den Assoziationen an ein Medikament den deutschen Verbraucher an eine tatsäch-lich nicht vorhandene heilende Wirkung der beworbenen Artikeln glauben lassen könnte. Er würde damit in die Irre geführt und Opfer einer unlauteren Wettbe-werbshandlung. Estée Lauder musste folglich nur für Deutschland das Marketing umstellen: Eine neue Bezeichnung nur für Deutschland musste her, Verpackung und Werbung nur in Deutschland entsprechend angepasst werden. Einige werden sich erinnern: Lauders Lösung hieß „Linique“. Solche erzwungenen länderspezifi-schen Insellösungen verteuern die Produkte. Im Falle eines erzwungenen Marken-wechsels kommt hinzu, dass sie auf dem „isolierten“ nationalen Markt nicht von dem mühsam aufgebauten weltweiten Markenimage profitieren. Wer würde – Preis hin, Qualität her – in Deutschland Coca-Cola trinken, wenn auf der Flasche nicht Coca-Cola stünde?Die Europäische Kommission hat die Konsequenzen in ihrem Grünbuch zum Ver-braucherschutz in folgende düstere Worte gefasst:„Die Wirtschaft, speziell die kleinen und mittleren Unternehmen, sieht sich auf Grund der unterschiedlichen Handhabung identischer Geschäftspraktiken in den einzelnen Mitgliedstaaten auf erschreckende Weise davon abgehalten, ihren grenz-übergreifenden Handel auszubauen und vom Binnenmarkt zu profitieren.“10

Bis zu einem gewissen Grad kann man Marktdistorsionen aufgrund unterschiedli-cher nationaler lauterkeitsrechtlicher Regeln mit den Grundfreiheiten des EG-Ver-trages beikommen. Art. 28 EG verbietet die Abschottung nationaler Warenmärkte durch Zölle, aber auch durch Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie Zölle ha-ben, also wie diese die Einfuhr ausländischer Waren und deren Absatz im Inland behindern. Gleiche Wirkung wie Zölle können auch scheinbar unschuldige Regeln haben, die – wie gerade die hier interessierenden Regeln zur Wahrung des lauteren Wettbewerbs – unterschiedslos auf einheimische und ausländische Marktteilnehmer Anwendung finden, Letztere also nicht direkt diskriminieren. Denn wenn die frag-liche inländische Norm auf dem Heimatmarkt des ausländischen Wettbewerbers keine Entsprechung hat, muss er u.U. spezielle kostentreibende und damit seine Wettbewerbsfähigkeit herabsetzende Maßnahmen ergreifen, um seinen Marktauf-tritt im Inland wettbewerbsrechtskonform zu gestalten – der geschilderte Clinique-Fall ist ein Paradebeispiel dafür. Der EuGH hat denn auch auf der Basis seines be-

10 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch zum Verbraucherschutz in der Europäischen Union, KOM(2001) 531 endg., S. 11.

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rühmten Cassis de Dijon-Urteils11 nationale Lauterkeitsnormen einer strikten Kon-trolle unterworfen: Sie dürfen gegenüber EU-Ausländern nur angewendet werden, wenn sie durch „zwingende Erfordernisse des Schutzes der öffentlichen Gesund-heit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs [oder] des Verbraucherschutzes“ gerecht-fertigt sind12. Der EuGH zeigt sich hier meist streng: Im „Clinique“-Fall etwa hatte das Gericht wenig Verständnis für ein Verbot der Marke „Clinique“ in Deutschland – schon weil die fraglichen Produkte als kosmetische Erzeugnisse aufgemacht sind und nicht in Apotheken vertrieben werden, sei eine auf der medizinischen Konnota-tion der Marke basierende irreführende Wirkung nicht zu erkennen13.Der Firma Estée Lauder konnte also im Kampf mit dem restriktiven deutschen Wettbewerbsrecht geholfen werden. Ein Allheilmittel sind die Grundfreiheiten al-lerdings nicht. Drei Defizite bleiben:Zum einen schaffen sie nicht überall einheitliche Regeln, sondern verhindern nur handelshemmende nationale „Spitzen“, für die keiner der vom EuGH zugelassenen Rechtfertigungsgründe ersichtlich ist14.Zweitens hat der EuGH selber in der Keck-Entscheidung die Reichweite der Grund-freiheiten im Lauterkeitsrecht eingeschränkt: Nationale Normen, die „nur“ Ver-kaufsmodalitäten regeln, liegen außerhalb der Reichweite des Gemeinschafts-rechts15. An den Gemeinschaftsgrundfreiheiten messen kann man damit allein pro-duktbezogene lauterkeitsrechtliche Regeln16. Und schließlich entsteht ein neues Problem, das unter dem Stichwort „Inländerdis-kriminierung“17 bekannt geworden ist. Die (vermeintliche) deutsche Norm, die im

11 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649.12 EuGH, aaO (Fn. 11), Rn. 8. Folgeentscheidungen zum Lauterkeitsrecht auf dieser Basis etwa EuGH Rs. 6/81

(Beele), Slg. 1982, 707 = GRUR. Int. 1982, S. 439 – Multi Cable Transit; EuGH, Rs. 286/81 (Oosthoek), Slg. 1982, 4575 = GRUR. Int. 1983, S. 648 – Zugabeverbot = NJW 1983, S. 1256; EuGH, Rs. 382/87 (Buet), Slg. 1989, 1235 = GRUR. Int. 1990, S. 459 ; EuGH, Rs. C-362/88 (GB-INNO –BM/confédération du commerce luxembourgeois), Slg. 1990, I-667 = GRUR. Int. 1990, S. 955; EuGH, Rs. C-126/91 (Yves Rocher) Slg. 1993, I-2361 = GRUR. Int. 1993, S. 747.

13 EuGH, Rs. C-315/92 (Verband Sozialer Wettbewerb e. V. – Clinique Laboratories SNC u. Estée Lauder Cosme-tics GmbH), Slg. 1994, I-317 Rn. 21 = NJW 1994, S. 1207. EuGH, Rs. C-220/98 (Estée Lauder Cosmetics GmbH & Co. KG/Lancaster Group GmbH), Slg. 2000, I-117 Rn. 29 = NJW 2000, S. 1173 (1174).

14 In den Urteilen Beele, Oosthoek und Buet (oben Fn. 12) hat der EuGH etwa ein (niederländisches) Verbot der sklavischen Nachahmung und von Zugaben und ein (französisches) Verbot des Verkaufs von pädagogischem Material im Rahmen von Haustürgeschäften als gerechtfertigt angesehen.

15 EuGH, verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91, (Keck und Mithouard) Slg. 1993, I-6097 = GRUR Int. 1994, S. 297. Folgeentscheidung etwa EuGH, Rs. C-71/02 (Herbert Karner Industrie-Auktionen GmbH/Troostwijk GmbH), (abzurufen unter http://europa.eu.int/eur-lex/lex/de/index.htm) = EuZW 2004, S. 439 m. Anm. Weyer S. 455.

16 Zur (nicht immer einfachen) Abgrenzung von Verkaufsmodalitäten und produktbezogenen Maßnahmen etwa Heermann, Artikel 30 EGV im Lichte der „Keck“-Rechtsprechung: Anerkennung sonstiger Verkaufsmodalitä-ten und Einführung eines einheitlichen Rechtfertigungstatbestands? GRUR Int. 1999, S. 579; Meyer, Europäi-scher Binnenmarkt und produktspezifisches Werberecht, GRUR Int. 1996, S. 697; Sack, Auswirkungen der Art. 30, 36 und 59 ff. EG-Vertrag auf das Recht gegen den unlauteren Wettbewerb, GRUR 1998, S. 871.

17 Dazu etwa Bleckmann, Zur Problematik der Cassis de Dijon-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs GRUR Int. 1986, S. 172; Fezer, Europäisierung des Wettbewerbsrechts. Gemeinschaftsrechtliche Grenzen im Recht des unlauteren Wettbewerbs – Kommentar zur jüngsten Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH zum Wahrenverkehrsrecht, JZ 1994, S. 317; Nicolaysen, Inländerdiskriminierung im Warenverkehr, EuR 1991, S. 95; Spätgens, Zum Problem der sogenannten Inländerdiskriminierung nach dem EWG-Vertrag, FS v. Gamm (1990), S. 201; Weis, Inländerdiskriminierung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht, NJW 1983, S. 2721.

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genannten Beispiel verhinderte, dass Estée Lauder die Marke „Clinique“ in Deutschland verwendet, wird durch die Grundfreiheiten des EG-Vertrages nicht etwa unwirksam. Das EG-Recht hat nach herrschender Auffassung lediglich einen Anwendungsvorrang18 vor entgegenstehendem nationalen Recht, der dafür sorgt, dass Letzteres dann – und nur dann – verdrängt wird, wenn ein ausländischer Marktteilnehmer betroffen ist. In einem reinen Inlandsfall bleibt die nationale Re-gel anwendbar. Ein deutsches Kosmetik-Unternehmen, das wie Estée Lauder auf dem deutschen Markt eine an ein Medikament erinnernde Marke verwenden will, könnte also von einem deutschen Gericht unter Berufung auf die vom EuGH „ver-worfene“ Regel daran gehindert werden. Ein reales Beispiel für dieses Phänomen ist das Reinheitsgebot für Bier. Während die elsässische Brasserie du pêcheur stell-vertretend für alle ausländischen Bierbrauer vor dem EuGH das Recht erstritten hat, Bier auch dann als Bier auf dem deutschen Markt zu verkaufen, wenn dieses nicht nur Hopfen, Malz, Wasser und Hefe enthält19, sind alle deutschen Brauer weiterhin an § 9 des im „Vorläufigen Biergesetz“20 von 1993 aufgegangenen Bier-steuergesetzes gebunden, das andere Inhaltstoffe für Bier untersagt21. Wenn die Grundfreiheiten also nicht die Lösung sind, erreicht man einen wirklich ungehinderten, unverfälschten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt nur mit verein-heitlichten oder zumindest harmonisierten lauterkeitsrechtlichen Regeln.

2. Europäische Harmonisierung des Lauterkeitsrechts

a) Geltendes Sekundärrecht

Die Harmonisierung des Lauterkeitsrechts gehört aus diesem Grund seit den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft zu den Anliegen der Kommission22. Aber die großen Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen, die die Verein-heitlichung notwendig machen, haben zugleich dazu geführt, dass diese Absicht lange als „aussichtsloses Unterfangen“23 angesehen wurde – wie soll man das eng-

18 Statt aller Streinz, Europarecht, 6. Aufl. 2003, Rn. 200.19 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 (Brasserie du Pêcheur) Slg. 1996 , I-1029 = NJW 1996, S. 1267, den

Vorlagebeschluss des BGH (EuZW 1993, S. 226) und die Folgeentscheidung BGH NJW 1997, S. 123. Die Feststellung, dass die Vorschriften der §§ 9, 10 BiersteuerG in der damaligen Fassung gegen Art. 28 (ex-30) EGV verstießen, hat der EuGH allerdings bereits in einem früheren, von der Kommission angestrengten Ver-tragsverletzungsverfahren getroffen (EuGH Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland) Slg. 1987, 1227 = NJW 1997, S. 1133).

20 BGBl. 1993 I, S. 1399.21 Wenig bekannte Ausnahmen gelten für obergäriges Bier, etwa Kölsch und Alt: Hier ist auch die „Verwendung

von technisch reinem Rohr- Rüben- oder Invertzucker sowie von Stärkezucker und aus Zucker der bezeichneten Art hergestellten Farbmitteln zulässig“.

22 Ohly/Spence (Fn. 6), S. 681.23 So der (mit einem Fragezeichen versehene) Titel eines Aufsatzes von Schricker, Die europäische Angleichung

des Rechts des unlauteren Wettbewerbs – ein aussichtsloses Unterfangen?, GRUR Int. 1990, S. 771, der ein wenig Optimismus verbreiten sollte.

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lische Vorgehen mit den kontinentaleuropäischen Ansätzen unter einen Hut brin-gen24?Ein erster zaghafter Beginn wurde denn auch erst 1984 mit der Richtlinie zur irre-führenden Werbung25 gemacht – zaghaft deshalb, weil die Richtlinie zwar einen Mindeststandard festlegen soll, ihr materiellrechtlicher Regelungsgehalt sich tat-sächlich aber neben einer generalklauselartigen und deshalb wenig präzisen Um-schreibung der irreführenden Werbung im Wesentlichen auf die Anordnung be-schränkt, dass bei der Beurteilung der Täuschungseignung „alle ihre Bestandteile“ zu berücksichtigen sind, wobei dies dann mit einzelnen, nicht abschließenden Bei-spielen erläutert wird. Die umfassende Berücksichtigung aller Umstände zur Ent-scheidung eines Einzelfalls ist nun wahrlich kein besonders origineller Ansatz, für den es eine Richtlinie aus Brüssel bedarf. Hier wurde m.E. gesetzgeberische Akti-vität nur vorgegaukelt26.Vielleicht hat der europäische Gesetzgeber deshalb, als er 13 Jahre später daran ging, Regeln zur vergleichenden Werbung zu erlassen, diese nicht in eine eigene Richtlinie gegossen, sondern in die Richtlinie zu irreführenden Werbung aufge-nommen und diese in „Richtlinie über irreführende und unzulässig vergleichende Werbung“ umbenannt27. Einen anderen Grund kann er kaum gehabt haben, denn inhaltlich verfolgt er für die vergleichende Werbung einen ganz anderen Ansatz als für die irreführende. Es werden trotz des Titelzusatzes „unzulässig vergleichende Werbung“ keine Negativ-Kriterien aufgestellt, die, wenn sie erfüllt sind, die fragli-che Werbemaßnahme zu einer unlauteren Wettbewerbshandlung machen, sondern „positive“ Kriterien aufgeführt, deren Einhaltung die vergleichende Werbung zu einer erlaubten Wettbewerbshandlung adeln. Zudem hat der Gesetzeber hier von dem für die irreführende Werbung verfochtenen Ansatz der Mindestharmonisie-

24 Vgl. zu den Bemühungen um eine Angleichung des Wettbewerbsrechts in der EU aus deutscher Sicht insbeson-dere Schricker/Henning-Bodewig (Hrsg.), Neuordnung des Wettbewerbsrechts, 1998; Schricker/Henning-Bod-ewig, Elemente einer Harmonisierung des Rechts des unlauteren Wettbewerbs in der Europäischen Union, WRP 2001, S. 1367; Apostolopoulos, Neuere Entwicklungen im europäischen Lauterkeitsrecht: Problematische As-pekte und Vorschläge, WRP 2004, S. 841; Beater, Europäisches Recht gegen unlauteren Wettbewerb – Ansatz-punkte, Grundlagen, Entwicklung, Erforderlichkeit, ZEuP 2003, S. 11; Glöckner, Richtlinienvorschlag über unlautere Geschäftspraktiken, deutsches UWG oder die schwierige Umsetzung von europarechtlichen General-klauseln, WRP 2004, S. 936; Henning-Bodewig, Das Europäische Wettbewerbsrecht; Eine Zwischenbilanz, GRUR Int. 2002, S. 389; Köhler/Lettl, Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWG-Reform, WRP 2003, S. 1019; Lettl, Gemeinschafts-recht und neues UWG, WRP 2004, S. 1079.

25 Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom 10. September 1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvor-schriften der Mitgliedsstaaten über irreführende Werbung, ABl. EG Nr. L 250 vom 19/09/1984, S. 17.

26 Zur Ehrenrettung des europäischen Gesetzgebers muss allerdings gesagt werden, dass die Richtlinie darüber hinaus auch Mindestanforderungen in Bezug auf den verfahrensrechtlichen Schutz gegen eine solche Werbung enthält. Dennoch ist die Einschätzung, dass die harmonisierende Wirkung dieses Rechtsakts „gering“ blieb (Ohly (Fn. 7), S. 889 (890)) fast noch eine höfliche Untertreibung, denn auch diese Regelungen sind so vage formuliert, dass spürbarer Anpassungsdruck in den Rechten der Mitgliedstaaten nicht entstand. Ein wenig posi-tiver zu den Auswirkungen der Richtlinie Schricker, GRUR Int. 1990, S. 771.

27 Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 zur Änderung der Richt-linie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung,ABl. EG Nr. L 290 vom 23/10/1997, S. 18.

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rung Abstand genommen und sich für eine abschließende Harmonisierung ent-schieden, weshalb es unzulässig ist, etwaige strengere nationale Vorschriften zum Schutze vor Irreführung auf vergleichende Werbung anzuwenden28. Mit diesen zwei disparaten, aber im Gesamtzusammenhang des Lauterkeitsrechts eher kleinen Regelungsbereichen hat man schon alle derzeit geltenden rein lauter-keitsrechtlichen Normen auf europäischer Ebene erfasst.Die Betonung liegt auf „rein“ – der europäische Gesetzgeber hat es sich nämlich nicht nehmen lassen, in einige Rechtsakte, die primär ganz anderen Fragen gewid-met sind, auch lauterkeitsrechtliche Normen aufzunehmen. Die wichtigsten, aber bei weitem nicht alle dieser Rechtsakte29 sind in zeitlicher Reihenfolge: Erstens eine später mehrfach geänderte Richtlinie von 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel30, die u.A. täu-schende Angaben über Produktmerkmale bei der Werbung für Kosmetika verbietet.Zweitens enthält die Richtlinie über die Ausübung der Fernsehtätigkeit von 198931 einige Artikel, die den Umfang von Werbung im Fernsehen, aber auch den zulässi-gen Inhalt regeln.Drittens gibt es aus dem Jahr 2000 eine Richtlinie über Lebensmittelwerbung32 so-wie viertens mit der gleichen Jahreszahl die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, neudeutsch die E-commerce-Richtlinie33. Die Letztere enthält einen Abschnitt mit dem Etikett „kommerzielle Kommunikation“. Hinter dieser schönen Alliteration verbergen sich elektronisch abgewickelte Maßnahmen der Werbung und des Marketing34, für die – leicht vergröbert – die Richtlinie aller-dings heute35 im Wesentlichen nur eine Mindesttransparenz fordert.

28 EuGH, Urteil vom 8. 4. 2003 – Rs. C-44/01, (Pippig Augenoptik/Hartlauer) Slg. 2003, I-3095 Rn. 43, 44 = GRUR 2003, S. 533 (536).

29 Eine Übersicht über diese Normen findet sich etwa bei Micklitz/Keßler, Europäisches Lauterkeitsrecht. Dogma-tische und ökonomische Aspekte einer Harmonisierung des Wettbewerbsverhaltensrechts im europäischen Bin-nenmarkt, GRUR Int. 2002, S. 885 (887).

30 Richtlinie 76/768/EWG des Rates vom 27. Juli 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaa-ten über kosmetische Mittel, ABl. EG Nr. L 262, v. 27/09/1976, S. 169 in ihrer durch die Richtlinie 88/667/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur vierten Änderung der Richtlinie 76/768/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über kosmetische Mittel, ABl. EG Nr. L 382 vom 31/12/1988, S. 46) und die Richtlinie 93/35/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur sechsten Änderung der Richtlinie 76/768/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über kosmetische Mittel, ABl. EG Nr. L 151 vom 23/06/1993, S. 32 geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 76/768).

31 Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 03.Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwal-tungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EG Nr. L 298 vom 17/10/1989, S. 23 in der durch die Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Ver-waltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EG Nr. L 202 vom 30/07/1997, S. 60 geänderten Fassung.

32 Richtlinie 2000/13/EG [ex Richtlinie 79/112/EWG] des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür, ABl. EG L 109, vom 6/5/2000, S. 29.

33 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 08. Juni 2000 über bestimmte rechtli-che Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EG Nr. L 178, 17/7/2000, S. 1.

34 Zum Begriff der kommerziellen Kommunikation Bodewig, Elektronischer Geschäftsverkehr und Unlauterer Wettbewerb, GRUR Int. 2000, S. 475 (476).

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Fünftens ist der Gemeinschaftskodex der EG von 2001 für Humanarzneimittel36 zu nennen. Dabei handelt es sich um eine Richtlinie, die vor allem Vorschriften für die Herstellung und den Vertrieb von Humanarzneimittel enthält. Es findet sich dort aber auch ein Abschnitt (Art. 86 – 100), der sich mit der Werbung für Humanarz-neimittel beschäftigt.Schließlich wurde im Jahr 2002 die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kom-munikation37 erlassen. Wie der Name sagt, geht es in erster Linie darum, die Ver-traulichkeit elektronischer Kommunikation zu wahren und die in diesem Zusam-menhang anfallenden persönlichen Daten der Nutzer zu schützen. Die Richtlinie enthält aber auch eine Vorschrift zu „unerbetenen Nachrichten“ (Art. 13). Diese reguliert die Direktwerbung per SMS, E-Mail, Fax und Telefon (und ersetzt teilwei-se entsprechende Vorschriften aus der E-commerce-Richtlinie). SMS, E-Mail- und Fax-Werbung sind mit wenigen Ausnahmen unzulässig, wenn der Verbraucher nicht zuvor eingewilligt hat (so genannte Opt-in-Lösung); bei der an Verbraucher gerich-teten Telefonwerbung lässt die Richtlinie den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen der Opting-in- und der Opting-out-Lösung. Das heißt sie können vorsehen, dass Telefonwerbung nur dann unzulässig ist, wenn sich der Verbraucher auf eine so ge-nannte Robinson-Liste hat setzen lassen und damit zu erkennen gegeben hat, dass er keine Telefonwerbung wünscht.

b) Mängel

Schon die bloße Aufzählung dieser disparaten Regelungen zeigt: Dahinter steckt kein einheitliches Konzept. Die relative Vielzahl der mittlerweile den Bereich des unlauteren Wettbewerbs berührenden, aber nur spezifische Fragen regelnden Nor-men führt zu einer unübersichtlichen, einem „Flickenteppich“ vergleichbaren rechtlichen Lage. Die mangelhafte Transparenz der Rechtslage ist nicht nur ein Handicap für die marktbeteiligten Unternehmen und Verbraucher, sondern er-schwert auch die Durchsetzbarkeit der Regelungen im Binnenmarkt selbst. Manche gehen so weit, die durch die EU selbst geschaffene Rechtszersplitterung als einen eigenständigen Hemmnisfaktor für den gemeinsamen Markt anzusehen38. Das mag ein wenig übertrieben sein. Gewichtig aber sind drei andere Aspekte:

35 Für „nicht angeforderte kommerzielle Kommunikation mittels elektronischer Post“ (= unerbetene E-Mail-Wer-bung) stellt Art. 7 der Richtlinie weitere Anforderungen auf. Jedoch ist diese Regelung durch Art. 13 der Daten-schutzrichtlinie für elektronische Kommunikation überholt.

36 Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel , ABl. EG L 311, 28/11/2001, S. 67.

37 Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutz-richtlinie für elektronische Kommunikation), ABl. EG Nr L 201, vom 31/7/2002, S. 37.

38 Kunz-Hallstein/Loschelder, Stellungnahme der Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urhe-berrecht zu dem Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über Verkaufsförderung im Binnenmarkt vom 10.1.2002, unter I.1.c) (http://www.grur.de).

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aa) Fehlende inhaltliche Abstimmung

Erstens sind die Regeln inhaltlich nicht kohärent. Der europäische Gesetzgeber hat keine klare Vorstellung über die Abgrenzung von erwünschten und nicht erwünsch-ten Wettbewerbshandlungen. Einige der genannten Normen sind stark restriktiv (das betrifft etwa Humanarzneimittel und den elektronischen Datenschutz), andere wollen Werbemaßnahmen durch einen liberalen Ansatz fördern (das gilt für die vergleichende Werbung) oder durch Leerformeln Aktivität nur vorgaukeln (Stich-wort: irreführende Werbung), wieder andere schließlich sind in sich unstimmig: Warum lässt die EU für die Telefonwerbung die Wahl zwischen Opt-in- und Opt-out-Lösungen, während für die wesentlich weniger störende Werbung per SMS zwingend das Opting-in gilt?

bb) Beschränkung auf Werbemaßnahmen

Zweitens: Ganze Bereiche des unlauteren Wettbewerbs fehlen, denn in allen ge-nannten Normen geht es um Werbung. Unfaire Wettbewerbsmethoden gibt es aber auch noch in ganz anderer Form: So kann man Kunden nicht nur durch unlautere Werbung fangen, sondern auch durch die Ausübung von psychologischem Druck oder mit verlockenden Zugaben und Gewinnspielen. Man kann Wettbewerber durch den Einbruch in Vertriebsbindungssysteme, die Abwerbung von Kunden oder von Arbeitnehmern gezielt behindern; andere versuchen, sich einen Vorsprung im Wett-bewerb dadurch zu verschaffen, dass sie als Ballast empfundene außerwettbewerb-liche Rechtsnormen missachten; wieder andere kopieren schlicht Produkte der Konkurrenz, um von deren Vorleistungen und Wertschätzung zu profitieren. Das Bild des Flickenteppichs passt also bei näherem Hinsehen nicht – es handelt sich allenfalls um einige kleinere gemeinschaftsrechtliche Inseln im großen Meer der nationalen lauterkeitsrechtlichen Regeln, Inseln, die zudem aufgrund eines feh-lenden Masterplans keine sicheren Häfen bieten.

cc) Das Herkunftslandprinzip

Diese Diagnose stützt sich auch auf eine besondere Regelungstechnik, die der eu-ropäische Gesetzgeber bei seinen Richtlinien zunehmend verwendet. Gemeint ist – als dritter Mangel des geltenden europäischen Lauterkeitsrechts – das Herkunfts-landprinzip. Was es mit diesem genau auf sich hat, ist Gegenstand einer lebhaften und kontroversen Diskussion39. Man kann sich ihm wie folgt nähern: Die Grund-

39 Aus der reichhaltigen deutschen Literatur zu diesem Thema: Blasi, Das Herkunftslandprinzip in der Fernseh- und E-Commerce-Richtlinie (2004); Bodewig (Fn. 34), S. 475; Fezer/Koos, Das gemeinschaftsrechtliche Her-kunftslandprinzip und die e-commerce-Richtlinie. Zur dringenden Notwendigkeit einer Harmonisierung des Wettbewerbsrechts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union als einer gemeinschaftsrechtlichen Aufgabe, IPrax 2000, S. 349; Grundmann, Das Internationale Privatrecht der E-Commerce-Richtlinie – was ist kategori-

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freiheiten des EG-Vertrages wehren, wie soeben dargelegt, einzelne produktbezo-gene nationale Lauterkeitsregeln ab, die den Marktzutritt eines EU-Ausländers be-hindern und keine besondere Rechtfertigung haben. Im Übrigen aber, also im Be-reich von gerechtfertigten oder auf reine Verkaufsmodalitäten bezogenen Regeln, bleibt das auf dem nationalen Markt geltende Recht unverändert auch für den EU-Ausländer maßgeblich, selbst wenn es für ihn beschwerlich ist.Das europäische Sekundärrecht ist für sich genommen in dieser Situation keine große Hilfe: Es gibt, was speziell das Lauterkeitsrecht angeht, Richtlinien zwar in beachtlicher Zahl, aber, wie gesehen, doch nur mit bescheidener Regelungstiefe und -dichte. Sie verhindern also nicht, dass die weit überwiegende Zahl von Rechts-fragen, die mit einem Marktauftritt in einem fremden Land verbunden sind, nach dem in diesem Land geltenden unvereinheitlichten nationalen Recht zu entscheiden sind. Abhilfe zugunsten des ausländischen Wettbewerbers kann man in dieser Lage nur schaffen, indem man ihm erlaubt, dieses ihm fremde nationale Recht zu ignorieren. Wenn man nicht zu seinen Gunsten einen rechtsfreien Raum schaffen will – und das will niemand – dann muss man aber ein ihm vertrautes Ersatzrecht heranzie-hen. Und das ist das Recht seiner Herkunft, seines Heimatmarktes. Mit diesem Ziel fordert die E-commerce-Richtlinie einerseits in ihrem Art. 3 Abs. 1 jeden Mitglied-staat auf, dafür Sorge zu tragen, dass die in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen Unternehmer im E-commerce-Bereich die diesem Mitgliedstaat geltenden inner-staatlichen Vorschriften auch bei ihrer grenzüberschreitenden Tätigkeit einhalten, während nach Absätzen 2 bis 4 derselben Vorschrift den Mitgliedstaaten anderer-seits mit wenigen Ausnahmen untersagt ist, den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat durch die Anwendung eigener nationaler Normen für den E-commerce einzuschränken. Verankert man in einer Richtlinie, die das Lauterkeitsrecht tangiert, das Herkunftslandprinzip, so heißt das also leicht vergröbert: Im thematischen Bereich der Richtlinie – die EU nennt ihn zumeist den „koordinierten Bereich“ – dürfen die Aktivitäten des EU-Ausländers außer an der Richtlinie grundsätzlich selbst nur an den auf seinem hei-matlichen Markt geltenden Regeln gemessen werden – die für die einheimischen Wettbewerber geltenden nationalen Normen interessieren ihn nicht, jedenfalls dann nicht, wenn sie seine Aktivitäten stärker regulieren als sein Heimatrecht.

al anders im Kollisionsrecht des Binnenmarktes und warum?, RabelsZ 2003, S. 246; Höder, Die kollisions-rechtliche Behandlung unteilbarer Multistate-Verstöße: das internationale Wettbewerbsrecht im Spannungsfeld von Marktort-, Auswirkungs- und Herkunftslandprinzip (2002); Köhler/Lettl (Fn. 24), S. 1019 (1030); Kur, Das Herkunftslandprinzip der E-Commerce-Richtlinie: Chancen und Risiken, FS Erdmann (2002), S. 629; Man-kowski, Das Herkunftslandprinzip als Internationales Privatrecht der e-commerce-Richtlinie, ZVglRWiss 100 (2001), S. 137; ders., Wider ein Herkunftslandprinzip für Dienstleistungen im Binnenmarkt, IPRax 2004, S. 385; Micklitz/Kessler (Fn. 29), S. 885 (888 f.); Ohly, Herkunftslandprinzip und Kollisionsrecht, GRUR 2001, S. 899; Spindler, Herkunftslandprinzip und Kollisionsrecht – Binnenmarktintegration ohne Harmonisierung? Die Folgen der Richtlinie im elektronischen Geschäftsverkehr für das Kollisionsrecht, RabelsZ 2002, S. 633.

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Zu finden ist das Herkunftslandprinzip in Bezug auf das Lauterkeitsrecht nicht nur in der E-commerce-Richtlinie, sondern u.A. auch in der Fernseh-Richtlinie (Art. 2, 2a, 3).Zu welchen Problemen das Prinzip führen kann, lässt sich an einer neueren Ent-scheidung des OLG Hamburg demonstrieren40. Das Gericht hatte auf Antrag eines deutschen Konkurrenten über die im Internet geschaltete Werbung eines in den Niederlanden ansässigen Unternehmens für ein medizinisches Gerätesystem zu entscheiden. Der deutsche Wettbewerber begründete seinen Antrag, die weitere Verbreitung dieser Werbung für Deutschland zu untersagen, damit, dass dem be-worbenen Gerät das so genannte CE-Zertifikat fehlte. Dieses dient dem Nachweis, dass die gesetzlichen Anforderungen für einen Einsatz in der Praxis erfüllt sind. Nach herkömmlichen kollisionsrechtlichen Grundsätzen41 hätte das Gericht deut-sches Wettbewerbsrecht anwenden und in diesem Rahmen prüfen müssen, ob die Werbung wegen des fehlenden Zertifikats als irreführend i.S. von (jetzt) § 5 UWG einzustufen war oder ob sich ein Unterlassungsanspruch aus dem Gesichtspunkt des Vorsprungs durch Rechtsbruch (jetzt § 4 Nr. 11 UWG) stützen ließ. Weil sich die Werbung aber im Internet fand und damit der koordinierte Bereich der E-com-merce-Richtlinie berührt war, war das dort verankerte und im deutschen Recht in § 4 Abs. 2 des Gesetzes über die Nutzung von Telediensten umgesetzte Herkunfts-landprinzip zu berücksichtigen. Folge: Nicht das deutsche Wettbewerbsrecht war anzuwenden, sondern das Gericht musste im Heimatland des Geräteanbieters, also im niederländischen Recht forschen, wie es um die Lauterkeit dieser Werbung be-stellt ist. Im konkreten Fall war das nun nicht allzu schwer. Zum einen ist das niederländi-sche Lauterkeitsrecht auch in deutscher Sprache vergleichsweise gut dokumen-tiert42, zum anderen ging es in der Sache, also im Streit um die Bedeutung des fehlenden CE-Zeichens, um eine sowohl im niederländischen als auch im deut-schen Recht seit langem umgesetzte EU-Richtlinie über Medizinprodukte43. Was aber, wenn es um einen in Estland oder auf Zypern ansässigen Wettbewerber geht? Oder auch um ein zwar sprachlich und rechtskulturell näher liegendes Recht, in dem das Lauterkeitsrecht aber Richterrecht ist, das nicht durch einen Kommentar à

40 OLG Hamburg GRUR 2004, S. 880 m. Anm. Henning-Bodewig S. 822.41 Für die Beurteilung von Wettbewerbsverstößen ist nach dem Marktortprinzip grds. das Recht des Landes maß-

geblich, in dem die wettbewerblichen Interessen der Konkurrenten aufeinander stoßen, vgl. Heldrich, in: Pa-landt, BGB, 64. Aufl. (2005) Art. 40 EGBGB Rn. 11 m.w.N.; Spickhoff, in: Bamberger/Roth, BGB Bd. 3, 1. Aufl. (2003) Art. 40 Rn. 44, was bei Werbemaßnahmen im Internet zum Recht eines jeden Ortes führt, an dem die Webseite bestimmungsgemäß abgerufen werden kann, Heldrich, aaO. Deutsches Recht wäre hier demnach nur dann nicht anwendbar gewesen, wenn das niederländische Unternehmen etwa durch einen Disclaimer auf der Webseite klar gestellt hätte, dass es nicht auf den deutschen Markt abzielt, vgl. KG GRUR Int. 2002, S. 448.

42 Vgl. etwa den Länderbericht „Niederlande“ von Henning-Bodewig/Verkade/Quaedvlieg, in: Schricker (Hrsg.), (Fn. 5).

43 Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte, ABl. EG Nr. L 169 vom 12/07/1993, S. 1.

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la Baumbach/Hefermehl erschlossen ist? Da die meisten Wettbewerbssachen im Rahmen von Eilverfahren und damit unter hohem Zeitdruck entschieden zu werden pflegen, steht das Gericht in solchen Fällen vor einer fast unlösbaren Aufgabe.Aber nicht allein die fehlende Praktikabilität44 stellt das Herkunftslandprinzip in Frage: Auch in der Grundidee ist es äußerst zweifelhaft, denn es führt zu einer Überbetonung der Anbieterinteressen. Wenn die Anbieter auf der Basis ihres Hei-matrechts agieren können, wo auch immer in der EU sie Geschäfte treiben, und sie sich dadurch Rechtsermittlungs- und Anpassungskosten hinsichtlich fremder Rechtsordnungen ersparen, so werden die Interessen der Marktgegenseite und der Wettbewerber des Anbieters schlicht ausgeblendet. Das obige Beispiel zeigt es: Der holländische Anbieter des Medizingeräts braucht sich um das deutsche Wettbe-werbsrecht nicht zu kümmern – stattdessen ist es Sache des deutschen Konkurren-ten, sich mit den Feinheiten des niederländischen Rechts vertraut zu machen, ge-nauer mit dem hier einschlägigen Besluit Medische Hulpmiddelen45.Hinzu kommt: Unternehmen, die ihren Sitz in einem Staat mit großem Lauterkeits-schutz haben, werden gegenüber solchen Unternehmen benachteiligt, die in einem Staat mit geringeren Anforderungen ansässig sind. Man muss nicht gleich ein Ab-wandern von Unternehmen in die „Lauterkeitsoasen“ befürchten46; Standortfragen werden nicht vorrangig und schon gar nicht allein vom lauterkeitsrechtlichen Rah-men abhängig gemacht, zumal man ja auch zum Leidtragenden von fehlendem Schutz werden kann. Das Herkunftslandprinzip kann aber einen politischen Druck auf einzelne EU-Mitgliedstaaten ausüben, ihr Schutzniveau abzusenken, was zu einem unerwünschten „race to the bottom“ führt47.

III. Reformbestrebungen

Das bis hierher gezeichnete negative Bild zum derzeitigen Stand des europäischen Lauterkeitsrechts – es existieren erstens zu wenige und zweitens zu wenig abge-stimmte europäische Regeln, deren Lücken man drittens teilweise mit dem un-glückseligen Herkunftslandprinzip zu stopfen versucht – , dieses negative Bild ist nicht neu und schon gar nicht die Entdeckung des Verfassers48. Es ist aber nützlich, sich den aktuellen Stand der Dinge vor Augen zu führen, weil das europäische Lau-terkeitsrecht aufs Neue in Bewegung gekommen ist. Zwei lauterkeitsrechtliche Projekte befinden sich derzeit im Vorbereitungsstadium, die es gerade im Hinblick auf die Defizite des geltenden Rechts zu bewerten gilt.

44 Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität auch bei Henning-Bodewig, Herkunftslandprinzip im Wettbewerbsrecht: Erste Erfahrungen. Anmerkung zu OLG Hamburg, B. v. 09.02.2004 – 3 W 1/04 – („Active Two“), GRUR 2004, S. 822 (824).

45 Stb. 1995, S. 243.46 So Mankowski, Internet und Internationales Wettbewerbsrecht, GRUR Int. 1999, S. 909 (914: place of business

shopping); vgl. auch Schricker/Henning-Bodewig (Fn. 24) S. 1367 (1370).47 Statt aller Micklitz/Keßler (Fn. 29), S. 885 (886).48 Vgl. etwa bereits Henning-Bodewig, (Fn. 24), S. 389.

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1. Verordnung zur Regelung der Verkaufsförderung im Binnenmarkt

Das erste ist der Vorschlag für eine Verordnung zur Regelung der Verkaufsförde-rung im Binnenmarkt49. Gemeint sind damit Wettbewerbsmaßnahmen wie Rabatte, unentgeltliche Zugaben und Gewinnspiele. Maßnahmen dieser Art dürfen die Mit-gliedstaaten, geht es nach dem Entwurf, nicht untersagen. Der Verbraucher soll al-lein durch weit reichende Informationspflichten geschützt werden.Der Vorschlag wird derzeit im Rat diskutiert, sieht sich dort aber scharfer Kritik aus den Mitgliedstaaten ausgesetzt. Die Kritik beginnt bei der Rechtsform – muss es wirklich eine Verordnung sein, wenn man alle anderen lauterkeitsrechtlichen Fragen per Richtlinie angeht? Sie geht über zur Rolle des bisher im Verordnungs-vorschlag vorgesehenen Herkunftslandprinzips und endet bei diversen Einzel-fragen50. Ob in einem überschaubaren Zeitraum eine gemeinsame Position gefun-den werden kann und vor allem wie diese aussieht, ist derzeit noch nicht abzu-sehen.

2. Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken

Die Verabschiedung des zweiten Projekts, des Vorschlags zu einer Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern51, steht demgegenüber unmittelbar bevor. Der Rat hat sich mit Da-tum vom 15.11.2004 auf einen Gemeinsamen Standpunkt geeinigt52, womit der Ball jetzt im Spielfeld des Parlaments liegt53.In Anlehnung an den Sprachgebrauch im Grünbuch der Kommission zum Verbrau-cherschutz in der Europäischen Union54, in dem verschiedene Optionen für gesetz-geberisches Handeln der Union in diesem Bereich zur Diskussion gestellt wurden, wird die nunmehr vorgeschlagene Richtlinie auch als „Rahmenrichtlinie“ bezeich-net – nicht weil sie den Mitgliedstaaten großen Spielraum bei der Regelung von Detailfragen lässt, sondern weil sie im Gegensatz zu den hergebrachten punktuel-len Ansätzen eine umfassende Lösung für unlautere Geschäftspraktiken anstrebt, also gleichsam den Rahmen vorgeben soll, innerhalb dessen sich lauteres Ge-schäftsgebaren zu bewegen hat. Die Richtlinie enthält – wie auch das neue deut-sche UWG – eine Generalklausel zum Verbot unlauterer Praktiken, kombiniert mit einem gestuften Beispielskatalog. Angesichts der bisher vorgebrachten Kritik an den Partikularlösungen ist ein solcher umfassender Ansatz grundsätzlich zu begrü-ßen. Auch inhaltlich gibt es aus deutscher Sicht nicht allzu viel zu mäkeln: Zwar

49 KOM (2002) S. 585 endg.50 Vgl. zu den Kritikpunkten statt aller Kunz-Hallstein/Loschelder (Fn. 38).51 KOM (2003) 356 endg.52 11630/2/04 REV 2 ADD 1.53 Zur mittlerwile erfolgten Verabschiedung der Richtlinie ohne inhaltliche Änderung zur letzten Fassung des

Vorschlags s.o. Fn. 2.54 KOM (2001) 351 endg.

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lässt sich über den Gehalt der Regelungen im Einzelnen – wie immer – streiten55; dabei handelt es sich aber eher um Marginalien.Der erste Pferdefuß ist allerdings bereits aus dem Titel ersichtlich: Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern. Erfasst wird nur verbrauchergerichtetes Marktverhalten der Unter-nehmen, oder neudeutsch, der „B2C“-Bereich, Business to Consumer. Unlauteres Geschäftsgebaren, das sich gegen Wettbewerber richtet, also etwa die Nachahmung von Konkurrenzprodukten, wird nicht geregelt. Dieser Ansatz ist verfehlt56. Ers-tens sind Verbraucher- und Konkurrenteninteressen im Wettbewerb wesensmäßig miteinander verknüpft. Bannt man bestimmte Wettbewerbshandlungen, weil sie In-teressen des Verbrauchers schädigen, so eröffnet man den Wettbewerbern neue Chancen. Das Verbot irreführender Werbung gegenüber dem Verbraucher etwa er-höht die Absatzchancen für Konkurrenzprodukte, die die fraglichen Qualitäten wirklich besitzen. Unterbindet man bestimmte Wettbewerbshandlungen, weil sie Konkurrenten schädigen, so dient man damit umgekehrt zugleich den Interessen des Verbrauchers. Der Schutz des Unternehmers vor der sklavischen Nachahmung seines Produkts durch einen Wettbewerber wahrt etwa die Renditechancen von In-vestitionen in Innovationen, die letztlich dem Verbraucher zugute kommen. Wer das Lauterkeitsrecht europaweit normieren will, darf sich deshalb nicht mit der Re-gelung nur eines Teilaspekts begnügen – ein Rahmen, um den Begriff der „Rah-menrichtlinie“ aufzugreifen, der das Bild nur links und unten, nicht aber oben und rechts einfasst, ist nicht viel wert57. Werden die Vorschriften des lauterkeitsrechtli-chen Verbraucher- und Unternehmerschutzes nicht gleichgezogen, so kann es vor-kommen, dass Verbraucher eines bestimmten Landes einen lauterkeitsrechtlichen Anspruch durchsetzen können, während der auf dem gleichen Umstand beruhende, aber nicht harmonisierte Anspruch der betroffenen Unternehmer dem „Herkunfts-landprinzip“ zum Opfer fällt58.Das führt zum zweiten Kritikpunkt: Die Richtlinie verfehlt ihr erklärtes Regelungs-ziel der „Vereinfachung der bestehenden Vorschriften“ dadurch, dass sie Bereiche, für die bereits sektorspezifische Lauterkeitsregeln existieren, ausklammert. Mit an-

55 Vgl. zu Detailkritik etwa Henning-Bodewig, Stellungnahme des Max-Planck-Instituts zum Vorschlag einer Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vom 18.6. 2003 und einer Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz vom 18.7. 2003, GRUR Int. 2003, S. 926; Kunz-Hallstein/Loschelder, Stellungnahme der Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht zum Vorschlag der Europäischen Kom-mission für eine Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwi-schen Unternehmen und Verbrauchern – KOM (2003) 356 endg., GRUR 2004, S. 215.

56 Ebenso etwa Ohly (Fn. 7) S. 889 (890); Henning-Bodewig (Fn. 54), S. 926; Kunz-Hallstein/Loschelder (Fn. 54), S. 215; Glöckner (Fn. 24), S. 936 (938); Henning-Bodewig, Das Europäische Lauterkeitsrecht: B2C, B2B oder doch besser beides?, FS Tilmann (2003), S. 149 (157); Köhler/Lettl (Fn. 24) S. 1019 (1033).

57 Nur am Rande sei deshalb vermerkt, dass die Richtlinie auch den B2C-Bereich nicht vollständig harmonisiert: Da sie nur die „wirtschaftlichen Interessen“ der Verbraucher schützen will, das Verbot von Absatzpraktiken aus anderen Gründen – etwa Schutz vor Belästigung oder Schutz „von Geschmack und Anstand“ (Präambel) – also nicht erfasst wird, bleibt es dem Mitgliedstaaten vorbehalten, hier eigene Vorschriften zu erlassen oder beizube-halten, was der weiteren Rechtszersplitterung Vorschub leistet.

58 Gamerith, Neue Herausforderungen für ein europäisches Lauterkeitsrecht, 2. Aufl. (2003), S. 53, im Internet abzurufen über http://www.bmwa.gv.at/BMWA/Service/Publikationen_Archiv/Wirtschaftspolitik/.

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deren Worten: Die bestehenden punktuellen Lösungen mit all ihren Schwächen und unterschiedlichen Standards werden nicht integriert oder ersetzt, sondern gelten unverändert fort und gehen der neuen Rahmenrichtlinie vor. Selbst das Zusammen-spiel zwischen der sich gleichzeitig in der Ausarbeitung befindlichen Rahmenricht-linie und dem Vorschlag zu einer Verordnung über die Verkaufsförderung funktio-niert nicht: Zahlreiche Formen der Wertreklame, die nach den Bestimmungen der Richtlinie eine unzulässige Beeinflussung des Verbrauchers darstellen, sind nach der Verordnung ohne weiteres zulässig59. Erfreulicher scheint zunächst, dass das Herkunftslandprinzip, das in den ersten Fas-sungen des Vorschlags noch in Art. 4 Abs. 1 enthalten war, inzwischen gestrichen worden ist. Nicht gestrichen wurde bislang aber Art. 4 Abs. 2, nach dem die Mit-gliedstaaten den freien Dienstleistungsmarkt und den freien Warenverkehr nicht aus Gründen einschränken dürfen, die mit dem durch diese Richtlinie angegliche-nen Bereich zusammenhängen. Das macht das Chaos komplett. Bannt der europä-ische Gesetzgeber durch diese Regelung mitgliedstaatliches Lauterkeitsrecht mit handelshemmender Wirkung ohne jede Rechtfertigungsmöglichkeit für den natio-nalen Gesetzgeber, dann ist das in der Sache nichts anderes als das Herkunftsland-prinzip in anderem Gewand, im Vergleich zur E-commerce-Richtlinie, die einige wenige Rechtfertigungsgründe zulässt, sogar in verschärfter Form. Gerade ange-sichts der weiter geltenden Partikularrichtlinien ist das problematisch: Wenn, wie kurz erwähnt, die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation den Mit-gliedstaaten für Telefonwerbung die Wahl zwischen Opting-in- und Opting-out-Lö-sungen lässt, kann es zu der Situation kommen, dass ein Unternehmer aus einem EU-Land, in dem die Opting-out-Lösung gilt, in einem anderen Mitgliedstaat, der dem Opting-in den Vorzug gegeben hat, mit Hinweis auf seine ausländische Nie-derlassung unerbetene Telefonwerbung betreiben kann60.

IV. Fazit

Traurige Schlussfolgerung: Das Zwischenfazit zum geltenden Gemeinschafts-Lau-terkeitsrecht – noch einmal: Es existieren zu wenige und zu wenig abgestimmte europäische Regeln, die zugleich zu viel Spielraum für das Herkunftslandprinzip lassen – , dieses Zwischenfazit ändert sich unter Einbeziehung der sich in Vorberei-tung befindlichen Projekte nicht wirklich zum Besseren. Was sind die Gründe für diese gesetzgeberischen Fehlleistungen auf europäischer Ebene?Meines Erachtens spielt ein Umstand eine gewichtige Rolle, der schon Bismarck zu einem berühmten Vergleich animiert haben soll: Gesetze sind wie Würste, sagte er – man sollte bei ihrer Entstehung besser nicht zuschauen61. Bismarck wird dabei

59 Kritisch zum fehlenden Zusammenspiel zwischen beiden Projekten etwa auch Henning-Bodewig (Fn. 54), S. 926 (927).

60 Beispiel von Ohly, (Fn. 7) S. 889 (892).61 Vgl. http://de.wikiquote.org/wiki/Otto_von_Bismarck.

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wohl nicht vorausschauend an die Europäische Union im Allgemeinen und das eu-ropäische Lauterkeitsrecht im Speziellen gedacht haben. Der Ausspruch passt im heutigen Europa aber schon deshalb noch besser als zu Preußens Zeiten, weil sich die Europäer nicht einmal über den Urheber einig sind: Glaubt man den Angaben im Internet, so setzen die Angelsachsen statt auf Bismarck auf den Franzosen Mi-rabeau62; die Franzosen ihrerseits weigern sich mit beharrlichem Schweigen, einen der Ihrigen mit einem bon mot über Würste in Verbindung zu bringen, und in Bay-ern weicht man dem Ganzen dadurch aus, dass man als Quelle ein „chinesisches Sprichwort“ angibt63.In Europa hat die Europäische Kommission das Initiativrecht für neue gesetzliche Regelungen (Art. 251 f. EG). Deshalb müssen sich am Ende zwar Rat und Parla-ment im Verfahren der Mitentscheidung (Art. 251 EG) oder der Zusammenarbeit (Art. 252 EG) über die Regelung einigen. Sie sind aber in ihren Beratungen daran gebunden, dass die europäische Kommission entsprechende Vorschläge macht. Die praktische Vorarbeit für Gesetzesentwürfe wird in den einzelnen Generaldirektio-nen geleistet, und hier liegt das Problem: Es gibt keine Generaldirektion, die für ein Gesamtkonzept zum europäischen Lauterkeitsrecht zuständig ist. Federführend ist mal die Generaldirektion „Binnenmarkt“, die vor allem nationalen Protektionismus bekämpft und deshalb etwa ein Faible für das Herkunftslandprinzip64 hat, mal die Generaldirektion „SANCO“ (das steht für „Santé et Protection des Consomma-teurs“), die nach Maßgabe des Art. 153 EG weniger nationale Hürden für den Bin-nenmarkt abbauen als ein über die nationalen Rechte hinausgehendes hohes Niveau des Verbraucherschutzes erreichen will – aber eben nur des Verbraucherschutzes, nicht des Lauterkeitsrechts insgesamt. Die Arbeit beider Generaldirektionen ist nicht koordiniert65. Am Projekt der Ver-ordnung zur Verkaufsförderung im Binnenmarkt werkelt die Generaldirektion Bin-nenmarkt, am Projekt der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken die Gene-raldirektion SANCO. Die daraus folgende kleinkrämerische Kirchturmpolitik fin-det einen bezeichnenden Ausweis darin, dass sich auf der Webseite der Generaldi-rektion Binnenmarkt unter der Rubrik „unlauterer Wettbewerb“ zwar das Projekt der Verordnung zur Regelung der Verkaufsförderung im Binnenmarkt findet, aber kein Hinweis auf den Richtlinienvorschlag über unlautere Geschäftspraktiken, denn der stammt ja von den Kollegen vom Verbraucherschutz. Und diese wiederum sind sich natürlich ebenso zu fein, auf ihrer Webseite unter der Rubrik „lautere Ge-schäftspraktiken“ das Projekt der Generaldirektion Binnenmarkt auch nur zu er-wähnen.

62 Vgl. http://www.mcginnactuaries.com/forums/1996/sep96.html. 63 C. Hesse, Zeitung „Bayerischer Gemeindetag“ 12/2002, S. 438 (im Internet abzurufen über http://www.bay-

gemeindetag.de/).64 Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Glöckner, UWG (2004), Einl. B 151.65 Ähnliche Kritik schon bei Hennig-Bodewig, (Fn. 24), S. 389 (398): Widersprüche im europäischen Lauterkeits-

recht „dürften in nicht unerheblichem Maße auf die Kompetenzprobleme der jeweils federführenden Generaldi-rektionen der Kommission zurückzuführen sein“.

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66 Limbach (Hrsg.), Das schönste deutsche Wort (2004), S. 58.

Im kürzlich durchgeführten Wettbewerb um das schönste deutsche Wort hat der Begriff „Zeitlupe“ einen Ehrenplatz errungen66. Die Vorstellung, man könne die Zeit durch eine Lupe betrachten, hat in der Tat etwas Anrührendes. Doch wenn wir etwas dafür tun wollen, dass sich im europäischen Lauterkeitsrecht die Dinge schneller als im Zeitlupentempo zum Besseren wenden, dann muss die Forderung vor aller Kritik in Detailfragen lauten, dass eine einheitliche Zuständigkeit für lau-terkeitsrechtliche Fragen innerhalb der Kommission zu schaffen ist. Mein Vor-schlag: Statt der beiden Streithähne Generaldirektion Binnenmarkt und Generaldi-rektion SANCO sollte die Generaldirektion „Wettbewerb“ sich endlich ihres Na-mens als würdig erweisen und sich nicht nur des Kartellrechts annehmen, sondern auch des Rechts des unlauteren Wettbewerbs.

Mäsch, Europäisches Lauterkeitsrecht – von Gesetzen und Würsten,

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RECHTSPRECHUNG

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften/Gericht erster Instanz/Mitgliedstaatliche Gerichte

Mitgliedstaatliche Pflicht zu Schutzmaßnahmen in Bezug auf Gebiete von nur potentieller gemeinschaftlicher Bedeutung

Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhal-tung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass die in Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen nur für die Gebiete getroffen werden müssen, die nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften nach dem Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegte Liste der Gebiete aufgenommen worden sind, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeu-tung ausgewählt wurden.Die Mitgliedstaaten sind in Bezug auf die Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaft-licher Bedeutung bestimmt werden könnten und die in den der Kommission zugelei-teten nationalen Listen aufgeführt sind, insbesondere solche, die prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten beherbergen, nach der Richtlinie 92/43 ver-pflichtet, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die im Hinblick auf das mit der Richtlinie verfolgte Erhaltungsziel geeignet sind, die erhebliche ökologische Bedeutung, die die-sen Gebieten auf nationaler Ebene zukommt, zu wahren.

Urteil des Gerichtshofs vom 13.01.2005 (Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato (Italien)), So-cietà Italiana Dragaggi SpA u. a./Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti, Regione Autonoma del Friuli Venezia Giulia, Rs. C-117/03

Urteil

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 4 Absatz 5, 6 Ab-satz 3 und 21 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7, im Folgenden: Richtlinie).

2. Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit u. a. der Società Italiana Dragaggi SpA (im Folgenden: Dragaggi) gegen das Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Mi-nisterium für Infrastruktur und Verkehr) und die Regione autonoma Friuli Venezia Giulia (Autonome Region Friaul-Julisch Venetien) über die von der Vergabebehörde erklärte Aufhebung einer Ausschreibung über Ausbaggerungsarbeiten und die Ablage-rung des Aushubs auf einer Aufschüttung im Hafen von Monfalcone.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. In der sechsten Begründungserwägung der Richtlinie heißt es: „Zur Wiederherstellung oder Wahrung eines günstigen Erhaltungszustandes der natürlichen Lebensräume und der Arten von gemeinschaftlichem Interesse sind besondere Schutzgebiete auszuweisen,

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um nach einem genau festgelegten Zeitplan ein zusammenhängendes europäisches öko-logisches Netz zu schaffen.“

4. Nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie „wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhangs II umfassen, und muss den Fortbestand oder gege-benenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürli-chen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.“

5. Artikel 4 der Richtlinie bestimmt: (1) „Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wis-

senschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. ...

Binnen drei Jahren nach der Bekanntgabe dieser Richtlinie wird der Kommission diese Liste gleichzeitig mit den Informationen über die einzelnen Gebiete zugeleitet. ...

(2) Auf der Grundlage der in Anhang III (Phase 2) festgelegten Kriterien und im Rah-men der fünf in Artikel 1 Buchstabe c) Ziffer iii) erwähnten biogeografischen Regionen sowie des in Artikel 2 Absatz 1 genannten Gesamtgebietes erstellt die Kommission je-weils im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung, in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind.

Die Mitgliedstaaten, bei denen Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) und einer oder mehreren prioritären Art(en) flächenmäßig mehr als 5 v. H. des Hoheitsgebiets ausmachen, können im Einvernehmen mit der Kommission beantragen, dass die in Anhang III (Phase 2) angeführten Kriterien bei der Auswahl al-ler in ihrem Hoheitsgebiet liegenden Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung flexib-ler angewandt werden.

Die Liste der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden und in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind, wird von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 festgelegt.

(3) Die in Absatz 2 erwähnte Liste wird binnen sechs Jahren nach Bekanntgabe dieser Richtlinie erstellt.

(4) Ist ein Gebiet aufgrund des in Absatz 2 genannten Verfahrens als Gebiet von ge-meinschaftlicher Bedeutung bezeichnet worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet so schnell wie möglich – spätestens aber binnen sechs Jahren – als beson-deres Schutzgebiet aus ...

(5) Sobald ein Gebiet in die Liste des Absatzes 2 Unterabsatz 3 aufgenommen ist, un-terliegt es den Bestimmungen des Artikels 6 Absätze 2, 3 und 4.“

6. Nach Anhang III Phase 2 Nummer 1 der Richtlinie werden „[a]lle von den Mitglied-staaten in Phase I ermittelten Gebiete, die prioritäre natürliche Lebensraumtypen bzw. Arten beherbergen, … als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung betrachtet“.

7. Artikel 6 der Richtlinie bestimmt: „… (2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen

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Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu ver-meiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheb-lich auswirken könnten.

(3) Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Ver-bindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgeleg-ten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprü-fung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Be-hörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4) Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirt-schaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitglied-staat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammen-hang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellung-nahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen In-teresses geltend gemacht werden.“

8. Artikel 21 der Richtlinie sieht vor, dass die beabsichtigten Maßnahmen in einem Aus-schussverfahren getroffen werden.

[...]

Nationale Vorschriften

10. Die Richtlinie wurde mit dem Dekret Nr. 357 des Präsidenten der Republik vom 8. Sep-tember 1997 mit dem Titel „Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen“ (GURI Nr. 248, supplemento ordinario Nr. 219/L vom 23. Oktober 1997, im Folgenden: Dekret Nr. 357/97) in die italienische Rechtsordnung umgesetzt.

11. Nach Artikel 4 des Dekrets Nr. 357/97 sind die Maßnahmen zur Erhaltung von Gebie-ten von der Erstellung der Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung durch die Kommission abhängig.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12. Dragaggi erhielt am 14. Mai 2001 den Zuschlag für einen Auftrag über Ausbaggerungs-arbeiten und die Ablagerung des Aushubs auf einer Aufschüttung im Hafen von Mon-falcone.

13. Vier Monate später hob die Vergabebehörde das gesamte Vergabeverfahren auf, da die Aufschüttung, auf der Aushub, der bei den Arbeiten anfiel, abgelagert werden sollte, als

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Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung einzustufen sei, für das eine Verträglichkeits-prüfung nach der einschlägigen nationalen Regelung vorzunehmen sei. Diese Prüfung könne aber nach Ansicht der zuständigen Behörde nicht positiv ausfallen.

14. Dragaggi stellte die Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Aufhebung der Vergabe vor dem Tribunale amministrativo regionale del Friuli Venezia Giulia (Italien) in Frage. Sie machte insbesondere geltend, dass das Verfahren zur Einreihung des Gebietes der „Mündung des Timavo“, in dem die von den Baggerarbeiten betroffene Aufschüttung liege, unter die Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung noch nicht abgeschlossen sei. Denn die Kommission habe, obgleich ihr die italienischen Behörden eine Liste von Gebieten, darunter das der Mündung des Timavo, vorgeschlagen hätten, noch nicht die Gemeinschaftsliste nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie festgelegt. Des-halb habe die Verpflichtung zur vorherigen Prüfung der Projekte, die sich erheblich auf das Gebiet auswirkten, noch nicht gegolten.

15. Das Tribunale amministrativo regionale del Friuli Venezia Giulia wies in seinem Urteil das Argument der fehlenden Anwendbarkeit des Verfahrens der Verträglichkeitsprüfung auf das fragliche Projekt zurück. Nach seiner Ansicht ist ein wie im vorliegenden Fall von einem Mitgliedstaat ermitteltes Gebiet, das einen prioritären Lebensraum beherber-ge und von dem Mitgliedstaat in die der Kommission vorgeschlagene Liste aufgenom-men worden sei, nach Anhang III Phase 2 Nummer 1 der Richtlinie als von gemein-schaftlicher Bedeutung zu betrachten. Daher seien für dieses Gebiet nach Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie die Schutzmaßnahmen nach Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Richt-linie und insbesondere die in Absatz 3 vorgesehene Verträglichkeitsprüfung vorzuneh-men.

16. Nach Ansicht des Gerichts kann nur diese Betrachtungsweise der Richtlinie einen logi-schen Sinn verleihen, die, da mit ihr der Schutz von Lebensräumen oder Arten bezweckt werde, die vom Verschwinden oder Aussterben bedroht seien, sich unmittelbar anwen-den lassen müsse, und wenn auch nur als Sicherungsmaßnahme. Im Übrigen seien die Maßnahmen, mit denen die Einreihung der Mündung des Timavo unter die prioritären Gebiete vorgeschlagen worden sei, insbesondere das Dekret des Umweltministers vom 3. April 2000, nicht angefochten worden.

[...]18. Dragaggi legte gegen das Urteil des Tribunale amministrativo regionale del Friuli Vene-

zia Giulia ein Rechtsmittel beim Consiglio di Stato ein. Vor diesem wiederholte sie insbesondere ihr Vorbringen, dass Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie die Anwendung von Schutzmaßnahmen nach Artikel 6 der Richtlinie erst von der Erstellung der Gemein-schaftsliste an vorschreibe. Diese Ansicht werde durch Artikel 4 des Dekrets Nr. 357/97 bestätigt, wonach die Schutzmaßnahmen binnen drei Monaten nach der Aufnahme ei-nes Gebietes in die von der Kommission erstellte Liste zu erlassen seien.

19. Der Consiglio di Stato führt aus, dass die Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 der Richt-linie durch das Tribunale amministrativo regionale del Friuli Venezia Giulia nicht als offensichtlich unbegründet anzusehen sei, da die Aufnahme der Gebiete von gemein-schaftlicher Bedeutung, die prioritäre Lebensräume beherbergten, offenbar eine rein deklaratorische Maßnahme sei, die seitens des Gemeinschaftsorgans keine Ermessen-sausübung erfordere.

20. Der Consiglio di Stato hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Ge-richtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie 92/43/EWG vom 21. Mai 1992 dahin auszulegen,

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dass die Maßnahmen des Artikels 6, insbesondere des Artikels 6 Absatz 3, der Richtli-nie die Mitgliedstaaten erst nach der endgültigen Billigung der Liste der Gebiete im Sinne von Artikel 21 durch die Gemeinschaft binden, oder ist vielmehr über die Festle-gung des Zeitpunkts des gewöhnlichen Beginns der Anwendung der Schutzmaßnahmen hinaus zwischen deklaratorischen und konstitutiven Eintragungen zu unterscheiden (wobei zu den Ersteren die Eintragungen für prioritäre Gebiete gehören), und muss zum Zweck der Wahrung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie über den Schutz der Lebensräume nicht angenommen werden, dass bereits die Ermittlung eines Gebietes von gemeinschaftlicher Bedeutung, das prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder pri-oritäre Arten beherbergt, durch einen Mitgliedstaat die Verpflichtung entstehen lässt, Pläne und Projekte, die das Gebiet erheblich beeinträchtigen können, auch vor der Auf-stellung des Entwurfs der Liste der Gebiete durch die Kommission oder der endgültigen Aufstellung dieser Liste im Sinne von Artikel 21 der Richtlinie und im Wesentlichen von der Aufstellung der nationalen Liste an einer Verträglichkeitsprüfung zu unterzie-hen?

Zur Vorlagefrage

21. Nach Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie finden die in Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Richt-linie vorgesehenen Maßnahmen zur Erhaltung der besonderen Schutzgebiete auf ein Gebiet Anwendung, sobald es nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegte Liste der als von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählten Gebiete aufgenommen worden ist.

22. Die Tatsache, dass nach Anhang III Phase 2 Nummer 1 der Richtlinie alle von den Mit-gliedstaaten in Phase 1 dieses Anhangs ermittelten Gebiete, die prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten beherbergen, als Gebiete von gemeinschaftli-cher Bedeutung betrachtet werden, führt nicht dazu, dass auf sie die in Artikel 6 Absät-ze 2 bis 4 der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen anzuwenden sind, bevor sie nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommission festge-legte Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen wurden.

23. Keinen Erfolg haben kann die vom vorlegenden Gericht erwähnte gegenteilige These, wonach ein wie im vorliegenden Fall von einem Mitgliedstaat ermitteltes Gebiet, das einen prioritären Lebensraum beherberge und von dem Mitgliedstaat in die der Kom-mission nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie vorgeschlagene Liste aufgenommen wor-den sei, angesichts des Anhangs III Phase 2 Nummer 1 der Richtlinie als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung zu betrachten sei und daher gemäß Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie den in Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaß-nahmen unterliege.

24. Zum einen verstößt diese These gegen den Wortlaut des Artikels 4 Absatz 5 der Richtli-nie, der die Anwendung der genannten Schutzmaßnahmen ausdrücklich davon abhängig macht, dass das betreffende Gebiet nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommission festgelegte Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Be-deutung aufgenommen worden ist. Zum anderen setzt diese These voraus, dass, wenn ein Mitgliedstaat ein Gebiet als ein solches, das prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten beherbergt, ermittelt und in der der Kommission nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie vorgeschlagenen Liste aufgeführt hat, die Kommission ver-

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pflichtet ist, das Gebiet in die von ihr nach dem Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegte Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufzunehmen, die in Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie erwähnt ist. Wäre das der Fall, so wäre die Kommission, wenn sie im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie erstellt, daran gehindert, die Nichtaufnahme eines Gebie-tes, das ein Mitgliedstaat als Gebiet vorgeschlagen hat, das prioritäre natürliche Lebens-raumtypen oder prioritäre Arten beherbergt, in den Entwurf in Betracht zu ziehen, auch wenn sie der Ansicht wäre, dass es entgegen der Auffassung des betreffenden Mitglied-staats keine prioritären natürlichen Lebensraumtypen oder prioritären Arten im Sinne von Anhang III Phase 2 Nummer 1 der Richtlinie beherbergt. Eine solche Situation würde aber insbesondere gegen Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie in Ver-bindung mit Anhang III Phase 2 Nummer 1 verstoßen.

25. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie dahin auszu-legen ist, dass die in Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaß-nahmen nur für die Gebiete getroffen werden müssen, die nach Artikel 4 Absatz 2 Un-terabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegte Liste der Gebiete aufgenommen worden sind, die als Ge-biete von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden.

26. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten die Gebiete nicht von dem Moment an schützen müssen, in dem sie sie nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie auf der der Kommission zugeleiteten nationalen Liste als Gebiete vorschlagen, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten.

27. Ohne einen angemessenen Schutz dieser Gebiete von diesem Moment an könnte näm-lich die Verwirklichung der u. a. in der sechsten Begründungserwägung und in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie genannten Ziele der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen gefährdet sein. Eine solche Situation wäre umso gravierender, als prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten be-troffen wären, die wegen der Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind, von einer zügigen Durchführung von Maßnahmen zu ihrer Erhaltung profitieren sollten, wie es in der fünften Begründungserwägung der Richtlinie empfohlen wird.

28. Im vorliegenden Fall ist daran zu erinnern, dass in den nationalen Listen von Gebieten, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten, Gebiete aufgeführt werden müssen, denen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeu-tung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie zukommt (Urteil vom 7. November 2000 in der Rechtssache C-371/98, First Corporate Shipping, Slg. 2000, I-9235, Randnr. 22).

29. Somit zeigt sich, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten und die in den der Kommissi-on zugeleiteten nationalen Listen aufgeführt sind, zu denen insbesondere auch Gebiete gehören können, die prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten beher-bergen, nach der Richtlinie verpflichtet sind, geeignete Schutzmaßnahmen zur Wahrung der genannten ökologischen Bedeutung zu ergreifen.

30. Auf die vorgelegte Frage ist folglich zu antworten, dass– Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die in Artikel 6 Absätze 2

bis 4 der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen nur für die Gebiete getroffen werden müssen, die nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von

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der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegte Liste der Gebiete aufgenommen worden sind, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Be-deutung ausgewählt wurden;

– die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten und die in den der Kommission zugeleiteten nationalen Listen aufgeführt sind, insbesondere solche, die prioritäre natürliche Le-bensraumtypen oder prioritäre Arten beherbergen, nach der Richtlinie verpflichtet sind, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die im Hinblick auf das mit der Richtlinie ver-folgte Erhaltungsziel geeignet sind, die erhebliche ökologische Bedeutung, die diesen Gebieten auf nationaler Ebene zukommt, zu wahren.

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Arten- und Habitatschutz nach der FFH-Richtlinie: Welche Anforderungen gelten für potentielle Schutzgebiete?

– Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 13.1.2005, Società Italiana Dragaggi SpA u.a., Rs. C-117/03 –

Von Alexander Proelß, Tübingen

I. Verfahren zur Errichtung des Schutzgebietsnetzes „Natura 2000“

Mag die Europäische Gemeinschaft (EG) ihr umweltpolitisches Potential in der Praxis bis-lang auch nicht ausgeschöpft haben, gehört die gemeinschaftliche Umweltpolitik de lege lata gleichwohl zu den am weitesten integrierten Gebieten des Gemeinschaftshandelns. Ne-ben Titel XIX des EG-Vertrags belegt dies das weit verzweigte, wenn auch unsystematische und kaum mehr überschaubare umweltpolitische Sekundärrecht der Gemeinschaft. Wesent-liches Instrument zur Erhaltung der biologischen Vielfalt ist die kompetenzrechtlich auf Art. 175 Abs. 1 EG gestützte, dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräu-me sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen („Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie“),1 deren Auslegung den Gegenstand des zu besprechenden Urteils bildet. Die EG-Mitgliedstaaten werden von dieser Richtlinie u.a. verpflichtet, gemeinschaftsweit ein Netz ökologisch wert-voller Schutzgebiete („Natura 2000“) zu errichten.2 Das Schutzgebietsnetz soll gemäß Art. 3 Abs. 1 der FFH-Richtlinie nicht nur die Habitate bestimmter, in Anhang II der Richt-linie aufgelisteter Arten erfassen, sondern auch sog. natürliche Lebensraumtypen, die in Art. 1 lit. b der FFH-Richtlinie als durch „geographische, abiotische und biotische Merkma-le gekennzeichnete völlig natürliche oder naturnahe terrestrische oder aquatische Gebiete“ definiert werden. Die FFH-Richtlinie ist damit sowohl dem Arten- wie dem Naturschutz verpflichtet; sie beruht auf einem holistischen Schutzansatz.3

Dieser an sich begrüßenswerte Paradigmenwechsel von selektiv ansetzender Umweltpolitik zu ganzheitlicher Betrachtungsweise führt in der Praxis zu erheblichen Problemen. So hat die Kommission bereits mehr als zwanzig Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226 Abs. 2 EG wegen Verstoßes gegen die Bestimmungen der FFH-Richtlinie bzw. die Umset-zungspflicht eingeleitet.4 Gemäß Art. 4 Abs. 1 der FFH-Richtlinie waren die Mitgliedstaa-

1 ABl. EG 1992, Nr. L 206, 7 ff. (im Folgenden: FFH-Richtlinie). Die Richtlinie verkörpert teilweise eine vorweg genommene Vergemeinschaftung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt vom 22.5.1992 (BGBl. 1993 II, 1742 ff.).

2 Dazu etwa M. Gellermann, Natura 2000, 2. Aufl. 2001.3 Zum Ganzen M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 11, Rn. 161 ff.4 Überblick bei B. Becker, Umweltschutzrecht der Europäischen Union (EU), 25. Aufl. 2004, Nr. 606. Zum Aus-

weisungsverfahren A. Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 339 ff.

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ten verpflichtet, der Kommission bis zum 10.6.19955 eine nationale Liste mit möglichen Schutzgebieten vorzulegen. Diese Pflicht wurde von mehreren Mitgliedstaaten, u.a. auch von Deutschland,6 verletzt, weshalb die Kommission die nationalen Listen nicht, wie von Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1, Abs. 3 der FFH-Richtlinie gefordert, innerhalb von weiteren drei Jahren – spätestens also bis zum 10.6.1998 – zu einer Liste der Gebiete von gemeinschaft-licher Bedeutung zusammenstellen konnte. Damit lief auch die nach Art. 4 Abs. 4 der FFH-Richtlinie bestehende Pflicht der Mitgliedstaaten, die aufgelisteten Gebiete von gemein-schaftlicher Bedeutung so schnell wie möglich, spätestens aber binnen sechs Jahren (bis zum 10.6.2004) als besondere Schutzgebiete auszuweisen, ins Leere. Vor diesem Hinter-grund droht der mit der FFH-Richtlinie verfolgte Ansatz, durch Errichtung des Schutzge-bietsnetzes „Natura 2000“ die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu fördern, infolge der Säumnis der Mitgliedstaaten und – damit einhergehend – der Gefahr fortschreitender Besie-delung und Industrialisierung zuvor unberührter Gebiete zu scheitern. Eine Meinung im Schrifttum vertritt deshalb in Anlehnung an eine Judikatur des EuGH7 zur Vogelschutzricht-linie8 die Auffassung, die in Art. 6 der FFH-Richtlinie niedergelegten Schutzbestimmungen seien auf alle Gebiete anzuwenden, die faktisch und/oder potentiell als Gebiete von gemein-schaftlicher Bedeutung in Betracht kämen, dies jedenfalls insoweit, als die Gebiete prioritä-re, d.h. als besonders schützenswert eingestufte Lebensraumtypen oder Arten (vgl. Art. 1 lit. d, h der FFH-Richtlinie), aufwiesen.9 Der Gerichtshof hat, was das Ergebnis anbelangt, dieser Ansicht in dem zu besprechenden Urteil eine Absage erteilt.

II. Zum Hintergrund der Dragaggi-Entscheidung

Dem Urteil des EuGH vom 13.1.200510 liegt ein Vorabentscheidungsersuchen des italieni-schen Consiglio di Stato hinsichtlich der Auslegung von Art. 4 Abs. 5 der FFH-Richtlinie, wonach ein Gebiet den Schutzbestimmungen des Art. 6 Abs. 2-4 unterliegt, „[s]obald [es] in

5 Chr. Freytag/K. Iven, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für den nationalen Habitatschutz, NuR 1995, S. 109 (110) meinen, die Meldefrist sei am 5.6.1992 abgelaufen. Maßgeblich war nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 der FFH-Richtlinie indes der Zeitpunkt der Bekanntgabe, die am 10.6.1992 erfolgte; vgl. EuGH, Rs. C-117/03, Schluss-anträge von GAin Kokott, Rz. 4 (noch nicht in der Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs veröffent-licht). In Rs. C-329/96, Slg. 1997, I-3749, Rz. 2 Kommission/Griechenland ging der EuGH ebenso wie in Rs. C-83/97, Slg. 1997, I-7191, Rz. 2 Kommission/Deutschland fälschlicher Weise von einer Bekanntgabe am 5.6.1992 aus. Die Frage des Fristbeginns ist auch deshalb von rechtlicher Bedeutung, weil Art. 4 Abs. 3 der FFH-Richtlinie mit Blick auf die von der Kommission zu erstellende Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung ebenfalls auf die Bekanntgabe abstellt. Zum Ganzen vgl. A. Proelß, Meeresschutz im Völker- und Europarecht, 2004, S. 359 f. mit Fn. 409.

6 Deutschland war bereits für die nicht fristgerecht erfolgte Umsetzung der FFH-Richtlinie in nationales Recht verurteilt worden (EuGH, Rs. C-83/97, Slg. 1997, I-7191 ff. Kommission/Deutschland). Im Jahre 2001 geschah dies erneut wegen unvollständiger und überdies fehlerhafter Übermittlung der Liste von potentiellen Schutzge-bieten; vgl. EuGH, Rs. C-71/99, Slg. 2001, I-5811 ff. Kommission/Deutschland.

7 Vgl. EuGH, Rs. C-355/90, Slg. 1993, I-4221 ff. Santoña; Rs. C-44/95, Slg. 1996, I-3805 ff. Regina; Rs. C-3/96, Slg. 1998, I-3031 ff. Kommission/Niederlande; Rs. 166/97, Slg. 1999, I-1719 ff. Seine. Siehe auch BVerwG, DVBl 2002, S. 990 (993).

8 ABl. EG 1979, Nr. L 103, 1 ff.9 Etwa V. Wirths, Naturschutz durch europäisches Gemeinschaftsrecht, 2001, S. 133; F. Kirchhof, Welches Schutz-

regime gilt in potenziellen FFH-Gebieten?, NuR 2001, S. 666 (668 f.); M. Gellermann, Rechtsfragen des euro-päischen Habitatschutzes, NuR 1996, S. 548 (556).

10 EuGH, Urteil vom 13.1.2005, Rs. C-117/03 Dragaggi, noch nicht in der Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs veröffentlicht; nachstehend in den wichtigsten Passagen abgedruckt. Das Urteil und die Schluss-anträge von GAin Kokott vom 8.7.2004 sind im Internet unter der Adresse <http://curia.eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de> abrufbar.

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die Liste des Absatzes 2 Unterabsatz 3 aufgenommen ist“, zugrunde. Italien hatte der Kom-mission das Mündungsgebiet des Flusses Timavo als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeu-tung vorgeschlagen, da es u.a. Lebensräume beherbergt, die in Anhang I der FFH-Richtlinie als prioritäre natürliche Lebensraumtypen ausgewiesen sind. Über die Aufnahme dieses Ge-bietes in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nach Art. 4 Abs. 2 der FFH-Richtlinie hat die Kommission bislang ebenso wenig wie über die anderen von den Mitgliedstaaten genannten Gebiete entschieden.Die im Ausgangsfall klagenden Unternehmen hatten zunächst erfolgreich an einer Aus-schreibung für Baggerarbeiten im Hafen von Montefalcone teilgenommen. Die ausgehobe-nen Sedimente sollten im Mündungsgebiet des Timavo abgelagert werden. Das italienische Umweltministerium versagte daraufhin die Genehmigung des Zuschlags und hob die Aus-schreibung nachträglich auf. Da es sich bei dem betreffenden Gebiet um ein Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung handele, sei vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 3 der FFH-Richtlinie erforderlich gewesen, das Vorhaben einer Verträglichkeitsprüfung zu unterziehen. Von der Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens könne jedoch nicht ausgegangen werden.Gegen diese Entscheidung wandten sich die Unternehmen erfolglos mit der Begründung, dass das Schutzregime des Art. 6 der FFH-Richtlinie erst dann anwendbar sei, wenn die Kommission das betroffene Gebiet nach Art. 4 Abs. 2 UAbs. 3 der FFH-Richtlinie in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen habe. Der zur Entschei-dung über das daraufhin eingelegte Rechtsmittel berufene Consiglio di Stato setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage nach der Auslegung von Art. 4 Abs. 5 der FFH-Richtlinie zur Vorabentscheidung vor.11 Die Region Friaul-Julisch Venetien vertrat im Verfahren vor dem Gerichtshof die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten die von ihnen vor-geschlagenen Gebiete bereits vor Aufnahme in die Gemeinschaftsliste den Schutzbestim-mungen des Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie zu unterwerfen hätten, soweit die betreffen-den Gebiete prioritäre Elemente enthielten. Während sich die schwedische Regierung darü-ber hinaus für die Anwendbarkeit des Schutzregimes auf alle mitgliedstaatlichen Gebiets-vorschläge aussprach, erklärte die Kommission, Art. 6 Abs. 2-4 FFH-Richtlinie müsse unabhängig von der Meldung durch einen Mitgliedstaat auf alle Gebiete, die nach ihren Eigenschaften in die Gemeinschaftsliste aufzunehmen seien, angewendet werden.12 Der Ge-richtshof folgte diesen Stellungnahmen nicht, sondern entschied, dass „Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die in Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Richtlinie vor-gesehenen Schutzmaßnahmen nur für Gebiete getroffen werden müssen, die nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegte Liste der Gebiete aufgenommen worden sind, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden.“13 Dies gelte unabhängig davon, ob das in Rede stehende Gebiet prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritä-re Arten beherberge oder nicht.14

11 Daneben stellte der Consiglio di Stato die Frage nach den Vorwirkungen der Schutzbestimmungen der FFH-Richtlinie. Vgl. EuGH, Rs. C-117/03, Rz. 20 Dragaggi.

12 Inhalt der Erklärungen wiedergegeben bei EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 15. – Nach Art. 23 Abs. 2 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes (ABl. EG 2003, Nr. L 188, 1 ff.) können „die Parteien, die Mitgliedstaaten, die Kommission und gegebenenfalls das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Zentralbank beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abge-ben.“.

13 EuGH, Rs. C-117/03, Rz. 25 Dragaggi.14 Ebd., Rz. 22.

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III. Unmittelbare Wirkung versus Durchführung der FFH-Richtlinie

Ungeachtet des Umstands, dass der EuGH die Anwendbarkeit der Schutzbestimmungen des Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie letztlich zu Recht verneint, stützt er sein Urteil in dog-matischer Hinsicht auf die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, die bekanntlich nicht nur den Fall der nicht fristgemäßen Umsetzung von Richtlinien erfasst, sondern gerade auch den der fehlerhaften und/oder unvollständigen Umsetzung.15 Der Ge-richtshof erwähnt die Rechtsfigur der unmittelbaren Wirkung zwar nicht ausdrücklich, erör-tert in Rz. 24 seines Urteils aber ausführlich, ob die in Rede stehenden Schutzbestimmun-gen der FFH-Richtlinie – konkret: Art. 6 Abs. 2-4 – inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt sind. In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in der Literatur16 nimmt er damit Bezug auf die sog. objektive unmittelbare Wirkung von Richtlinien.17

Die Überzeugungskraft dieser dogmatischen Herleitung wurde in der Vergangenheit gele-gentlich bestritten. So ist die Rechtsprechung des EuGH zu den Möglichkeiten und Grenzen der unmittelbaren Wirksamkeit nicht richtig oder nicht rechtzeitig umgesetzter Richtlinien-bestimmungen nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung nicht einschlägig, weil es sich bei der Frage nach möglichen Vorwirkungen von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie nicht um ein Umsetzungsproblem, sondern um ein Durchführungsproblem handele.18 Es stehe außer Frage, dass Art. 4 der FFH-Richtlinie die Mitgliedstaaten auch ohne nationale Umsetzung zur Ausweisung und Meldung von Schutzgebieten verpflichte; gleiches gelte für die Schutzbestimmungen des Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie. Deshalb müsse teleolo-gisch erörtert werden, „welche Gründe für die Erstreckung des Schutzes auf potentielle Gebiete sprechen und welche dagegen.“19

Ob tatsächlich randscharf zwischen „Umsetzung“ und „Durchführung“ unterschieden wer-den kann, erscheint freilich zweifelhaft. Abgesehen davon, dass es insoweit an einer einheit-lichen Begriffszuordnung fehlt,20 ist in sachlicher Hinsicht kein qualitativer Unterschied

15 EuGH, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rz. 20 Becker; Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Rz. 25 Marks & Spencer.16 Siehe nur P. Schütte, Der Schutz des Wattenmeeres, 2001, S. 173 f.; D. Czybulka, Rechtspflichten des Bundes

und der Länder zur Ausweisung und Erhaltung von Schutzgebieten nach nationalem, europäischem und inter-nationalem Recht, JbUTR 1996, S. 235 (259 f.); Proelß (Fn. 5), S. 361 ff.; Kirchhof (Fn. 9), S. 668 f. – Die Terminologie ist uneinheitlich. Zum Teil wird von unmittelbarer Anwendung, zum Teil von Direktwirkung bzw. unmittelbarer Wirkung gesprochen. Gemeint ist i.d.R. dasselbe, nämlich ob die mitgliedstaatlichen Behörden die Bestimmungen einer nicht oder unzulänglich umgesetzten Richtlinie von Amts wegen anzuwenden haben. Den Terminus „unmittelbare Anwendbarkeit“ verwendet der EuGH demgegenüber zumeist nicht mit Blick auf die hier in Rede stehende Wirkung von Rechtsakten der Gemeinschaft, sondern im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gedanken, dass eine völkerrechtliche Norm zu ihrer tatsächlichen Anwendbarkeit durch die Orga-ne eines Trägers von Hoheitsmacht vollzugsfähig („self-executing“) sein muss; vgl. E. Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 11.

17 Vgl. EuGH, Rs. C-431/92, Slg. I-2189, Rz. 37 ff. Großkrotzenburg. – Eine den Bürger begünstigende Wirkung der betreffenden Normen ist demgegenüber nur insoweit erforderlich, als die unmittelbare Wirkung einer Richt-linienbestimmung zugunsten Privater in Frage steht. Vgl. EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, Rz. 7 ff. Kol-pinghuis Nijmegen.

18 So M. Nettesheim, NATURA 2000 – Grundprobleme des europäischen Habitatschutzrechts, Gutachten 2001, ms. S. 136.

19 Ebd., ms. S. 137.20 So spricht der EuGH im Becker-Urteil (Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rz. 24) im Kontext der unmittelbaren Wirkung

von Richtlinien von „Durchführungsmaßnahmen“, die nicht fristgerecht erlassen worden seien. Vgl. auch M. Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, 1999, S. 79; W. Brechmann, Die richtli-nienkonforme Auslegung, 1994, S. 9 ff.; differenzierend W. Schroeder, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 249 EGV, Rn. 104.

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zwischen Situationen, in denen die Mitgliedstaaten das Programm einer Richtlinie nicht rechtzeitig erfüllen („durchführen“), und solchen, in denen sie die Bestimmungen nicht rechtzeitig oder fehlerhaft umgesetzt haben, erkennbar. Die Relativierung des Umsetzungs-erfordernisses bedeutete letztlich einen Verstoß gegen Art. 249 Abs. 3 EG, wonach die Handlungsform der Richtlinie nicht selbst unmittelbares Recht in den Mitgliedstaaten schafft, sondern von diesen auszuführen ist.21 Zwar ist anerkannt, dass die Bestimmungen einer Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Rechtswirkungen entfalten, als es den Mitgliedstaaten untersagt ist, die Verwirklichung der Ziele der Richtlinie durch den Erlass nationaler Vorschriften ernstlich zu gefährden (Vorwirkung).22 Diese aus dem Verbindlichkeitsanspruch der Richtlinie selbst abzuleitende, zumeist auf ein Unterlassen der Mitgliedstaaten23 gerichtete Wirkung bleibt qualitativ in aller Regel indes hinter der ob-jektiven unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie zurück. Letztere hat die Pflicht zur (positi-ven) Anwendung der betreffenden Normen seitens der mitgliedstaatlichen Behörden zur Folge und kann daher nur unter den zusätzlichen Kriterien der EuGH-Rechtsprechung zum Zuge kommen. Im Kontext des zu besprechenden Urteils diskutiert GAin Kokott in ihren Schlussanträgen die Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie auf potentielle Schutzgebiete denn auch unter der Überschrift „unmittelbare Anwendung“ und hebt zu Recht ausdrücklich auf die Kriterien der EuGH-Judikatur zur unmittelbaren Wir-kung von Richtlinien ab.24

IV. Keine unmittelbare Wirkung von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie

Das vom Gerichtshof gefundene Ergebnis – keine unmittelbare Wirkung von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie – überzeugt.25 Denn die Anwendbarkeit der Schutzbestimmungen wird von Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie ausdrücklich davon abhängig gemacht, dass das betreffende Gebiet in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nach Art. 4 Abs. 2 UAbs. 3 aufgenommen wurde (Bedingung!). Mit Blick auf Gebiete, die prioritäre Lebens-raumtypen und/oder prioritäre Arten aufweisen, spricht Anhang III Phase 2 Nr. 1 der FFH-Richtlinie zwar davon, dass „[a]lle von den Mitgliedstaaten in Phase 1 ermittelten Gebiete, die prioritäre natürliche Lebensraumtypen bzw. Arten beherbergen, […] als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung betrachtet [werden].“ Daraus folgt indes nicht, dass die Auf-nahme solcher Gebiete in die Gemeinschaftsliste lediglich deklaratorischer Natur wäre. Art. 4 Abs. 5 der FFH-Richtlinie differenziert im Rahmen der Bezugnahme auf die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nicht zwischen Gebieten, die prioritäre Lebens-räume und/oder Arten beherbergen, einerseits und sonstigen Schutzgebieten andererseits. Den ausdrücklichen Verweis der Norm auf „die Liste des Absatzes 2 Unterabsatz 3“ zu ignorieren bedeutete daher nicht nur eine unzulässige Auslegung über den Wortlaut hin-

21 EuGH, Rs. C-298/98, Slg. 1993, I-3605, Rz. 16 Gibraltar/Rat.22 EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411, Rz. 40 ff. Inter-Environnement.23 Ebd., Rz. 45: „Die Mitgliedstaaten sind zwar nicht verpflichtet, diese Maßnahmen vor Ablauf der Umsetzungs-

frist zu erlassen, doch ergibt sich aus Artikel 5 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages und aus der Richtlinie selbst, dass sie während dieser Frist den Erlass von Vorschriften unterlassen müssen, die geeignet sind, das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen.“

24 EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 17 ff.25 Zur Begründung bereits Proelß (Fn. 5), S. 362 ff. m.w.N. Unmittelbare Wirkung entfaltet alleine Art. 11 der

FFH-Richtlinie.

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aus,26 sondern auch eine europarechtswidrige Überdehnung der EuGH-Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinienbestimmungen.Hinzu tritt, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich der in Anhang III Phase 1 der FFH-Richt-linie enthaltenen Kriterien, die über die Aufnahme in die mitgliedstaatlichen Gebietslisten entscheiden (vgl. Art. 4 Abs. 1 der FFH-Richtlinie), und auf die Anhang III Phase 2 Nr. 1 ausdrücklich verweist, über einen naturschutzfachlichen Beurteilungsspielraum verfügen.27 Da im Falle einer unmittelbaren Wirkung von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie ferner das nach Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 der FFH-Richtlinie bestehende Einvernehmenserfordernis der Mitgliedstaaten unterlaufen würde,28 ist der Vorwurf, das nunmehr auch vom EuGH zu-grunde gelegte Verständnis von Art. 4 Abs. 5 der FFH-Richtlinie sei „bloßer Formalis-mus“,29 haltlos. Im Übrigen würde die gemäß Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 der FFH-Richtlinie gegebene Zuständigkeit der Kommission missachtet, wenn von einer Verpflichtung der Kommission ausgegangen würde, die von den Mitgliedstaaten in den nationalen Listen auf-geführten Gebiete in die Gemeinschaftsliste aufzunehmen.30 Eben dies wäre indes, wie der EuGH zu Recht betont,31 die Folge, wenn jedes von einem Mitgliedstaat vorgeschlagene Gebiet, das prioritäre natürliche Lebensraumtypen und/oder Arten beherbergt, wegen An-hang III Phase 2 Nr. 1 der FFH-Richtlinie automatisch als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung betrachtet würde.32 Auf den Umstand, ob ein Gebiet prioritäre natürliche Le-bensraumtypen und/oder Arten beherbergt oder nicht, kommt es deshalb nicht an.33

Wie Generalanwältin Kokott zutreffend ausführt (Rz. 21), lässt sich auch die Rechtspre-chung des EuGH zu den potentiellen Vogelschutzgebieten nicht für eine unmittelbare Wir-kung von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie fruchtbar machen. Zwar geht der EuGH in der Tat von der unmittelbaren Wirkung von Art. 4 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie34 aus,35 wes-halb Schutzmaßnahmen bereits ab dem Zeitpunkt zu treffen sind, ab welchem ein Gebiet potentiell als Vogelschutzgebiet hätte ausgewiesen werden können. Eine analoge Anwen-dung dieser Rechtsprechung auf die in vorliegendem Kontext relevante Frage scheitert je-doch am Fehlen einer vergleichbaren Interessenlage.36 So werden Vogelschutzgebiete – an-ders als die hier interessierenden FFH-Gebiete – allein von den Mitgliedstaaten, d.h. ohne

26 Auch die effet utile-Auslegung ist nicht grenzenlos. Der Grundsatz der größtmöglichen praktischen Wirksam-keit des Gemeinschaftsrechts verlangt lediglich, dass die zu deutende Vorschrift nach Möglichkeit – also unter Wahrung der übrigen Auslegungsgrundsätze – so auszulegen ist, dass ihr Zweck vollständig erreicht wird.

27 EuGH, Rs. C-371/98, Slg. 2000, I-9235, Rz. 13 ff. First Corporate Shipping; BVerwG, DVBl 2002, S. 990 (993). Allein der Umstand, dass ein Beurteilungsspielraum im Einzelfall auf Null reduziert sein kann, ändert nichts am grundsätzlichen Bestand des Spielraums. Siehe B. Stüer, Habitat- und Vogelschutz, DVBl 2002, S. 940 (942).

28 W. Erbguth/F. Stollmann, Die Bindung der Verwaltung an die FFH-Richtlinie, DVBl 1997, S. 453 (454); W. Ewer, Rechtsschutz gegenüber der Auswahl und Festsetzung von FFH-Gebieten, NuR 2000, S. 361 (365); Schütte (Fn. 16), S. 362.

29 Gellermann (Fn. 2), S. 94.30 Proelß (Fn. 5), S. 363.31 EuGH, Rs. C-117/03, Rz. 24 Dragaggi.32 Das übersieht Wirths (Fn. 9), S. 167.33 A.A. BVerwG, NVwZ 2002, S. 1243 (1244); VGH München, NuR 2003, S. 425 (426).34 Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten: ABl. EG

1979, Nr. L 103, 1 ff.35 EuGH, Rs. C-355/90, Slg. 1993, I-4221, Rz. 22 Santoña.36 Vgl. EuGH, Rs. C-374/98, Schlussanträge von GA Alber, Slg. 2000, I-10801, Rz. 120: „Zunächst soll im Hin-

blick auf die in Artikel 6 Absatz 2 formulierten Bedingungen zum Eingreifen der Vorschrift darauf hingewiesen werden, dass trotz weitgehender Übereinstimmung in den Formulierungen des Artikels 4 Absatz 4 der Vogel-schutzrichtlinie und Artikel 6 Absatz 2 der Habitat-Richtlinie sich die Inhalte nicht decken.“

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Mitwirkung der Kommission, ausgewiesen. Die einschlägigen Normen der Vogelschutz-richtlinie (Art. 4 Abs. 1, 2) sehen kein Art. 4 der FFH-Richtlinie entsprechendes Auswahl-verfahren vor und gelten daher unbedingt. Hinzu tritt, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Auswahl und Abgrenzung der Vogelschutzgebiete zwar über einen „gewissen Ermes-sensspielraum“37 verfügen, dieser jedoch von den in der Richtlinie festgelegten ornithologi-schen Belange derartig determiniert wird, dass sich das Ermessen der Mitgliedstaaten grund-sätzlich „nicht darauf [bezieht], diejenigen Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklä-ren, die nach ornithologischen Kriterien am geeignetsten erscheinen, sondern nur auf die Anwendung dieser Kriterien für die Bestimmung der Gebiete, die für die Erhaltung der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten am geeignetsten sind.“38 Im Übrigen differen-ziert die Vogelschutzrichtlinie nicht zwischen Schutzgebieten mit prioritären Elementen und/oder Arten einerseits und Gebieten ohne solche Elemente andererseits. Von daher ist der EuGH zwar zu Recht von der unmittelbaren Wirksamkeit der Schutzbestimmungen der Vo-gelschutzrichtlinie ausgegangen,39 konnte diese Judikatur jedoch nicht hinsichtlich der Fra-ge der unmittelbaren Wirkung von Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie in Ansatz bringen.Die für eine Analogie erforderliche Vergleichbarkeit mit der Vogelschutzrichtlinie ergibt sich schließlich auch nicht aus Art. 7 der FFH-Richtlinie, wonach für bereits ausgewiesene Vogelschutzgebiete ab dem Zeitpunkt der Anwendung der FFH-Richtlinie die Verpflichtun-gen nach Art. 6 Abs. 2-4 der FFH-Richtlinie an die Stelle der Pflichten treten, die sich aus Art. 4 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie ergeben.40 Bei dieser Regelung handelt es sich um eine bloße Rechtsfolgenverweisung,41 durch die zwar die Schutzdimension der gemein-schaftlichen Arten- und Naturschutzpolitik einheitlich ausgerichtet wird; die Ausweisung von Schutzgebieten und die daran gekoppelte (vgl. Art. 4 Abs. 5 der FFH-Richtlinie) Frage der unmittelbaren Wirkung der Schutzbestimmungen bleibt hiervon jedoch unberührt. Für pflichtwidrig nicht ausgewiesene bzw. potentielle Schutzgebiete gilt damit nach wie vor das Schutzregime des Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Vogelschutzrichtlinie.42 Auf die hier zu klärende Frage hat Art. 7 der FFH-Richtlinie mithin keinen Einfluss.

V. Keine unmittelbare Wirkung, aber Vorwirkung der FFH-Richtlinie

Im Anschluss an die Beantwortung des ersten Teiles der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage zieht der EuGH aus den angestellten Überlegungen den auf den ersten Blick überra-schenden Schluss, dass sich aus der fehlenden unmittelbaren Wirkung von Art. 6 Abs. 2-4

37 EuGH, Rs. C-355/90, Slg. 1993, I-4221, Rz. 26 Santoña.38 EuGH, Rs. C-3/96, Slg. 1998, I-3031, Rz. 61 Kommission/Niederlande. Zu den strengeren Anforderungen der

Vogelschutzrichtlinie siehe auch EuGH, Rs. C-371/98, Schlussanträge von GA Léger, Slg. 2000, I-9237, Rz. 29 f.

39 So auch BVerwGE 107, 1, 18; A. Epiney, Vogel- und Habitatschutz in der EU, UPR 1997, S. 303 (304); Kirch-hof (Fn. 9), S. 666; Schütte (Fn. 16), S. 168; Wirths (Fn. 9), S. 132.

40 A.A. (die Anwendbarkeit von Art. 7 der FFH-Richtlinie auf potentielle Vogelschutzgebiete bejahend) Wirths (Fn. 9), S. 170 ff.; Nettesheim (Fn. 18), ms. S. 132 ff.; Freytag/Iven (Fn. 5), S. 116 f. Zu Art. 7 der FFH-Richt-linie vgl. auch EuGH, Rs. 117/00, Slg. 2002, I-5335, Rz. 25 ff. Kommission/Irland; Rs. C-324/01, Slg. 2002, I-11197, Rz. 23 ff. Kommission/Belgien.

41 Epiney (Fn. 4), S. 340 f.42 EuGH, Rs. C-374/98, Slg. 2000, I-10799, Rz. 47 Basses Corbières: „Die Gebiete, die nicht zu besonderen

Schutzgebieten erklärt wurden, obwohl dies erforderlich gewesen wäre, unterliegen somit offenkundig weiter-hin der Regelung des Artikels 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie.“ Zum Ganzen auch H.D. Jarass, EG-rechtliche Vorgaben zur Ausweisung und Änderung von Vogelschutzgebieten, NuR 1999, S. 481 (487); K. Füßner, „Faktische Vogelschutzgebiete“ und der Übergang auf die FFH-Verträglichkeitsprüfung gem. Art. 7 FFH, NVwZ 2005, S. 144 ff.; Schütte (Fn. 16), S. 170 ff.; Proelß (Fn. 5), S. 371, jeweils m.w.N.

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der FFH-Richtlinie nicht ergebe, „dass die Mitgliedstaaten die Gebiete nicht von dem Mo-ment an schützen müssen, in dem sie sie nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie auf der der Kommission zugeleiteten nationalen Liste als Gebiete vorschlagen, die als Gebiete von ge-meinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten“ (Rz. 26). Vielmehr seien die Mit-gliedstaaten „nach der Richtlinie verpflichtet […], geeignete Schutzmaßnahmen zur Wah-rung der genannten ökologischen Bedeutung zu ergreifen“ (Rz. 29). Zur Begründung nimmt der Gerichtshof Bezug auf die in der sechsten Begründungserwägung und in Art. 3 Abs. 1 formulierten Ziele der FFH-Richtlinie (Rz. 27).43 Diese Ansicht des EuGH vermag zwar im Ergebnis, nicht aber in der Herleitung zu überzeugen. So liefert der Gerichtshof keine Be-gründung dafür, warum die Mitgliedstaaten nach der – an sich ja nicht unmittelbar wirken-den – Richtlinie zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen verpflichtet sein sollen. Dabei hätte nahe gelegen, auf die bereits erwähnte, auf Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 249 Abs. 3 EG basie-rende Rechtsprechung zur Vorwirkung von Richtlinien44 zu rekurrieren, wonach es den Mit-gliedstaaten bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist untersagt ist, die Verwirklichung der Ziele einer in Kraft getretenen Richtlinie durch nationale Maßnahmen ernstlich in Frage zu stellen.45 Diese Rechtsprechung ist auf vorliegenden Fall anwendbar, weil kein sachlicher Grund für eine Differenzierung zwischen der „Durchführung“ und der „Umsetzung“ einer Richtlinie besteht.46

Gemäß Art. 2 Abs. 1 hat die FFH-Richtlinie zum Ziel, „zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflan-zen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutra-gen“. Dieses Ziel soll nach Art. 3 Abs. 1 der FFH-Richtlinie primär durch Errichtung des Schutzgebietsnetzes „Natura 2000“ erreicht werden. Da dies wiederum nur dann gelingen kann, wenn die Kommission über ein umfassendes Verzeichnis der Gebiete verfügt, denen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der na-türlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen zukommt,47 muss sich jene Vorwirkung im Falle der FFH-Richtlinie in Gestalt eines Verschlechterungsverbotes hinsichtlich der Gebiete, die von den Mitgliedstaaten in die nationalen Listen aufgenommen und der Kommission bereits nach Art. 4 Abs. 1 der FFH-Richtlinie gemeldet wurden, mani-festieren. Würde eine Vorwirkung i.d.S. abgelehnt, stünde, wie GAin Kokott in ihren Schlussanträgen hervorhebt, in der Tat „zu befürchten, dass bis zur Festlegung der Gemein-schaftslisten vollendete Tatsachen geschaffen würden und unersetzliche Teile des gemeinsa-men europäischen Naturerbes unwiederbringlich verloren gingen.“48 Das Ziel der FFH-Richtlinie wäre ernstlich in Frage gestellt. Der Sache nach (nicht jedoch dogmatisch) entfal-tet das Verschlechterungsverbot des Art. 6 Abs. 2 der FFH-Richtlinie damit bereits vor voll-

43 Der EuGH unterstreicht zwar, dass eine Gefährdung der mit der FFH-Richtlinie verfolgten Ziele „umso gravie-render [ist], als prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten betroffen wären“ (Rz. 27). Mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten zu treffenden Schutzmaßnahmen erfolgt jedoch keine weitere Unterschei-dung nach Gebietstypen.

44 EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411, Rz. 45 Inter-Environnement. In Übereinstimmung mit Art. 10 Abs. 2 EG, der die Ziele des Sekundärrechts und also auch die der FFH-Richtlinie mit umfasst (EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 26), ist der vom EuGH in jenem Urteil vorgenommene Verweis auf den „Erlass von Vorschriften” (a.a.O.) nicht technisch, sondern im Sinne „nationaler Maßnahmen“ zu verstehen.

45 Kritisch Nettesheim (Fn. 18), ms. S. 121 ff. In EuGH, Rs. C-355/90, Slg. 1993, I-4221 ff. Santoña musste der Gerichtshof nicht auf Art. 10 Abs. 2 EG zurückgreifen, weil er zu Recht von der unmittelbaren Wirkung von Art. 4 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie ausging.

46 S. o. III.47 So EuGH, Rs. C-371/98, Slg. 2000, I-9235, Rz. 22 f. First Corporate Shipping.48 EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 27.

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ständiger Durchführung der Richtlinie – und bis zur Aufstellung der Gemeinschaftsliste durch die Kommission49 – Wirkung.50 Der Unterschied zur unmittelbaren Wirkung besteht darin, dass sich die Vorwirkung ausschließlich als Art. 6 Abs. 2 der FFH-Richtlinie inhalt-lich entsprechendes Verschlechterungsverbot darstellt. Die Mitgliedstaaten sind hiernach aufgefordert, alle Maßnahmen zu unterlassen, die geeignet sind, das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen. Die speziellen Regelungen des Art. 6 Abs. 3 - 4 der FFH-Richtlinie werden von der Vorwirkung hingegen nicht erfasst; als Grund-lage des Verschlechterungsverbotes ist Art. 10 Abs. 2 EG insoweit zu unspezifisch.51 Keine Vorwirkung besteht des Weiteren bezüglich von Gebieten, die nicht von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen wurden, aufgrund ihrer Eigenschaften aber hätten vorgeschlagen werden müssen.52 Andernfalls würde der hinsichtlich der Aufnahme in die nationalen Gebietslisten bestehende naturschutzfachliche Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten missachtet; die Vorwirkung der Richtlinie drohte in eine Vorwegnahme der endgültigen Schutzgebietsaus-weisung umzuschlagen. Art. 4 der FFH-Richtlinie gibt zu erkennen, dass die ökologischen Zielsetzungen der Richtlinie unter dem Vorbehalt der mitgliedstaatlichen Auswahlentschei-dung stehen.

49 GAin Kokott meint, das von Italien im Fall Dragaggi vorgeschlagene Gebiet sei vor Verschlechterungen zu schützen, „wenn die Frist von drei Jahren seit Übermittlung hinreichender italienischer Vorschläge an die Kom-mission noch nicht abgelaufen ist“ (EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 32). Nach Art. 4 Abs. 2 der FFH-Richtlinie erstellt die Kommission den Entwurf der Gemeinschaftsliste indes erst nach Eingang aller nationalen Gebietslisten.

50 I.E. ebenso BVerwGE 107, 1, 22; E 110, 302, 308. Vgl. auch EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 23 ff. (31), die das Verschlechterungsverbot kumulativ auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz des venire contra factum proprium, das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit, das Frustrationsverbot des Art. 10 Abs. 2 EG sowie die Überlegung, dass Versäumnisse von Mitgliedstaaten und Kommission nicht dazu führen dürften, dass der von der FFH-Richtlinie angestrebte Schutz verfehlt werde, stützt.

51 Mit Blick auf Art. 6 Abs. 4 der FFH-Richtlinie a.A. EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 31. Unzutreffend BVerwG, NVwZ 2002, S. 1243 (1244); OVG Koblenz, NuR 2003, S. 438 (440).

52 Offen gelassen von EuGH, Rs. C-117/03, Schlussanträge von GAin Kokott, Rz. 28.

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Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers und seines für ihn sorgenden Elternteils

Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht verleihen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem minderjährigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Kleinkindalter, der ange-messen krankenversichert ist und dem Unterhalt von einem Elternteil gewährt wird, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist und dessen Mittel ausreichen, um eine Be-lastung der öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats durch den Minderjäh-rigen zu verhindern, das Recht, sich für unbestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Auf-nahmemitgliedstaats aufzuhalten. In einem solchen Fall erlauben dieselben Vorschrif-ten es dem Elternteil, der für diesen Staatsangehörigen tatsächlich sorgt, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten.

Urteil des Gerichtshofs vom 19.10.2004 (Vorabentscheidungsersuchen der Immigration Appellate Authority (Vereinigtes Königreich)), Kunqian Catherine Zhu und Man Lavette Chen/Secretary of State for the Home Department, Rs. C-200/02.

Urteil

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14), der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180, S. 26) und des Artikels 18 EG.

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage des Kindes Kunqian Catherine Zhu (im Folgenden: Catherine), das die irische Staatsangehörigkeit besitzt, und seiner Mutter, Man Lavette Chen (im Folgenden: Frau Chen), einer chinesischen Staatsangehörigen, gegen den Secretary of State for the Home Department wegen dessen ablehnender Ent-scheidung über die Anträge von Catherine und Frau Chen auf Erteilung einer dauerhaf-ten Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich.

Rechtlicher Rahmen

Die Gemeinschaftsregelung

3. Artikel 1 der Richtlinie 73/148 lautet: „(1) Die Mitgliedstaaten heben nach Maßgabe dieser Richtlinie die Reise- und Aufent-

haltsbeschränkungen auf:a) für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich in einem anderen Mitgliedstaat

niedergelassen haben oder niederlassen wollen, um eine selbständige Tätigkeit aus-zuüben, oder die dort eine Dienstleistung erbringen wollen;

b) für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben wollen;

c) ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für den Ehegatten und die noch nicht 21 Jahre alten Kinder dieser Staatsangehörigen;

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d) ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für Verwandte in aufsteigender und ab-steigender Linie dieser Staatsangehörigen und ihrer Ehegatten, denen diese Unterhalt gewähren.

(2) Die Mitgliedstaaten begünstigen den Zugang aller übrigen Familienangehörigen der in Absatz 1 Buchstaben a) und b) genannten Staatsangehörigen oder ihres Ehegatten, denen diese Unterhalt gewähren oder mit denen sie im Herkunftsland in häuslicher Ge-meinschaft leben.“

4. Artikel 4 Absatz 2 dieser Richtlinie bestimmt: „Für Leistungserbringer und Leistungsempfänger entspricht das Aufenthaltsrecht der

Dauer der Leistung. Übersteigt diese Dauer drei Monate, so stellt der Mitgliedstaat, in dem die Leistung erbracht wird, zum Nachweis dieses Rechts eine Aufenthaltserlaubnis aus. Beträgt diese Dauer drei Monate oder weniger, so genügt der Personalausweis oder Reisepass, mit dem der Betroffene in das Hoheitsgebiet eingereist ist, für seinen Auf-enthalt. Der Mitgliedstaat kann allerdings von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet anzeigt.“

5. Artikel 1 der Richtlinie 90/364 lautet: (1) „Die Mitgliedstaaten gewähren den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das

Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zuer-kannt ist, sowie deren Familienangehörigen nach der Definition von Absatz 2 unter der Bedingung das Aufenthaltsrecht, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie wäh-rend ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.

Die Existenzmittel nach Unterabsatz 1 gelten als ausreichend, wenn sie den Betrag übersteigen, unterhalb dessen der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen auf-grund der persönlichen Situation des Antragstellers und gegebenenfalls der Situation der nach Absatz 2 aufgenommenen Personen Sozialhilfe gewähren kann.

Ist Unterabsatz 2 nicht anwendbar, so gelten die Existenzmittel des Antragstellers als ausreichend, wenn sie die Mindestrente der Sozialversicherung des Aufnahmemitglied-staats übersteigen.

(2) Bei dem Aufenthaltsberechtigten dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staats-angehörigkeit in einem anderen Mitgliedstaat Wohnung nehmen:a) sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, denen Unterhalt gewährt

wird;b) seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen

er Unterhalt gewährt.

Die Regelung des Vereinigten Königreichs

6. In Regulation 5 der Immigration (European Economic Area) Regulations 2000 (Verord-nung von 2000 zur Einwanderung aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, im Folgen-den: EEA-Regulations) heißt es:

1. „Im Sinne dieser Regulations bezeichnet der Begriff ‚Person, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt‘ jeden EWR-Staatsangehörigen, der sich im Vereinigten König-reich aufhält als a) Arbeitnehmer, b) Selbständiger, c) Erbringer von Dienstleistungen, d) Empfänger von Dienstleistungen, e) wirtschaftlich unabhängige Person, f) Ruhe-

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ständler, g) Student oder h) Selbständiger, der nicht mehr berufstätig ist, oder für eine Person, für die Absatz 4 gilt.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Frau Chen und ihr Ehemann, der die chi-nesische Staatsangehörigkeit besitzt, für ein chinesisches Unternehmen mit Sitz in Chi-na arbeiten. Der Ehemann von Frau Chen ist einer der Direktoren dieses Unternehmens, an dem er eine Mehrheitsbeteiligung hält. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit reist er häufig geschäftlich in verschiedene Mitgliedstaaten, u. a. in das Vereinigte König-reich.

8. Das erste Kind des Ehepaars wurde 1998 in China geboren. Frau Chen wollte ein zwei-tes Kind zur Welt bringen und reiste, als sie ungefähr im sechsten Monat schwanger war, im Mai 2000 in das Vereinigte Königreich ein. Im Juli desselben Jahres begab sie sich nach Belfast, wo am 16. September 2000 Catherine geboren wurde. Mutter und Kind leben zurzeit in Cardiff, Wales (Vereinigtes Königreich).

9. Nach Section 6 (1) des Irish Nationality and Citizenship Act 1956 (Gesetz über die iri-sche Staatsangehörigkeit und -bürgerschaft) in der 2001 geänderten Fassung, die rück-wirkend ab 2. Dezember 1999 anwendbar ist, gestattet Irland jedem, der auf der Insel Irland geboren wird, den Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit. Nach Section 6 (3) ist jeder, der auf der Insel Irland geboren wird, von Geburt an irischer Staatsbürger, wenn er nicht die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes beanspruchen kann.

10. In Anwendung dieser Regelung wurde Catherine im September 2000 ein irischer Pass ausgestellt. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Catherine kein Recht auf Er-werb der britischen Staatsangehörigkeit hat, da das Vereinigte Königreich mit dem Bri-tish Nationality Act 1981 (Gesetz von 1981 über die britische Staatsangehörigkeit) das jus soli aufgegeben hat, so dass die britische Staatsangehörigkeit nicht mehr automa-tisch mit der Geburt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats erworben wird.

11. Es ist unstreitig, dass der Aufenthalt auf der Insel Irland dazu bestimmt war, dem Kind mit der Geburt den Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit und infolgedessen der Mut-ter den Erwerb des Rechts zu ermöglichen, gegebenenfalls mit ihrem Kind im Vereinig-ten Königreich zu bleiben.

12. Das vorlegende Gericht führt außerdem aus, dass Irland zur Common Travel Area (Ge-meinsames Reisegebiet) im Sinne der Immigration Acts (Zuwanderungsgesetze) gehö-re, so dass sich Catherine, anders als Frau Chen, frei im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs und dem Irlands bewegen könne, da irische Staatsangehörige grundsätzlich keiner Erlaubnis für die Einreise und den Aufenthalt im Vereinigten Königreich bedürf-ten. Über das Catherine zustehende auf die beiden Mitgliedstaaten begrenzte Recht auf Freizügigkeit hinaus habe keine der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens nach der na-tionalen Regelung ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.

13. In der Vorlageentscheidung heißt es weiter, dass Catherine sowohl emotional als auch finanziell von ihrer Mutter abhängig sei, dass die Mutter ihre Hauptbetreuungsperson sei, dass Catherine im Vereinigten Königreich privat bezahlte medizinische Dienstleis-tungen und entgeltliche Dienstleistungen im Bereich der Kinderbetreuung erhalte, dass sie den Anspruch auf Erwerb der chinesischen Staatsangehörigkeit durch ihre Geburt in Nordirland und den daran anschließenden Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit ver-

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loren habe und dass sie deshalb ein Recht zur Einreise in das chinesische Hoheitsgebiet nur aufgrund eines Visums für eine Aufenthaltsdauer von maximal 30 Tagen pro Auf-enthalt habe, dass die beiden Klägerinnen des Ausgangsverfahrens wegen der Berufstä-tigkeit von Frau Chen wirtschaftlich unabhängig seien, dass sie im Vereinigten König-reich keine öffentlichen Gelder in Anspruch nähmen und solches bei vernünftiger Be-trachtung auch nicht zu befürchten sei und dass die Klägerinnen krankenversichert sei-en.

14. Die Weigerung des Secretary of State for the Home Department, den beiden Klägerin-nen des Ausgangsverfahrens eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wird da-mit begründet, dass die acht Monate alte Catherine keines der Rechte aus dem EG-Ver-trag, wie sie in Regulation 5 (1) der EEA-Regulations vorgesehen seien, ausübe und Frau Chen nicht die gesetzlichen Voraussetzungen erfülle, um sich im Vereinigten Kö-nigreich zu den in dieser Regelung vorgesehenen Zwecken aufzuhalten.

15. Die Immigration Appellate Aythority, die gegen diese ablehnende Entscheidung angeru-fen wurde, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vor-abentscheidung vorgelegt:1. Verleiht Artikel 1 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates oder Artikel 1 der Richtlinie

90/364/EWG des Rates unter den Umständen des vorliegenden Fallesa) der Klägerin zu 1, die minderjährig und Unionsbürgerin ist, das Recht, in den Auf-

nahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten?b) Wenn dies der Fall ist, verleiht dies dann der Klägerin zu 2, die Staatsangehörige

eines Drittstaats und die Mutter und Hauptverantwortliche für die Personensorge der Klägerin zu 1 ist, das Recht auf gemeinsamen Aufenthalt mit der Klägerin zu 1 i) als deren Verwandte, der Unterhalt gewährt wird („as her dependent relative“), oder ii) weil sie mit der Klägerin zu 1 in ihrem Herkunftsland zusammenlebte, oder iii) aus einem anderen besonderen Grund?

2. Wenn die Klägerin zu 1 für die Zwecke der Ausübung der gemeinschaftlichen Rech-te nach der Richtlinie 73/148 des Rates oder Artikel 1 der Richtlinie 90/364 des Ra-tes keine „Staatsangehörige eines Mitgliedstaats“ ist, nach welchen Kriterien ist dann zu entscheiden, ob ein Kind, das Unionsbürger ist, für die Zwecke der Ausübung ge-meinschaftlicher Rechte Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist?

3. Stellt es unter den Umständen des vorliegenden Falles eine Dienstleistung im Sinne der Richtlinie 73/148 des Rates dar, dass die Klägerin zu 1 Kinderbetreuung erhält?

4. Ist es unter den Umständen des vorliegenden Falles der Klägerin zu 1 verwehrt, sich nach Artikel 1 der Richtlinie 90/364 des Rates im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhal-ten, weil ihre Existenzmittel ausschließlich von dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil herrühren, der sie begleitet?

5. Gibt unter den besonderen Umständen dieses Falles Artikel 18 Absatz 1 EG der Klä-gerin zu 1 das Recht, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzu-halten, auch wenn sie im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach einer anderen Bestimmung des EU-Rechts hat?

6. Wenn dies bejaht wird, hat dann die Klägerin zu 2 das Recht, sich für diese Zeit mit der Klägerin zu 1 im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten?

7. Wie wirkt sich in diesem Zusammenhang der von den Klägerinnen geltend gemachte Grundsatz aus, dass das Gemeinschaftsrecht die Menschenrechte achtet, insbesonde-re soweit sich die Klägerinnen auf Artikel 8 EMRK, wonach jeder Anspruch auf Ach-tung seines Privat- und Familienlebens und seiner Wohnung hat, in Verbindung mit

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Artikel 14 EMRK stützen, wenn die Klägerin zu 1 nicht mit der Klägerin zu 2, ihrem Vater und ihrem Bruder in China leben kann?

Zu den Vorlagefragen

16. Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 73/148, die Richtlinie 90/364 oder Artikel 18 EG gegebenenfalls in Verbin-dung mit den Artikeln 8 und 14 der Europäischen Konvention zum Schutze der Men-schenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) unter Umständen wie denen des Ausgangs-verfahrens dem minderjährigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Kleinkindal-ter, dem von einem Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, Unterhalt ge-währt wird, das Recht verleihen, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, in dem er Empfänger von Kinderbetreuungsleistungen ist. Falls dies zu bejahen ist, möch-te das vorlegende Gericht wissen, ob dieselben Vorschriften dann dem betreffenden El-ternteil ein Aufenthaltsrecht verleihen.

17. Es sind daher die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zunächst im Hinblick auf die Situation eines minderjährigen Staatsangehörigen wie Catherine und sodann im Hinblick auf die Situation des Elternteils des unterhaltsberechtigten Kin-des, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, zu prüfen.

Zum Aufenthaltsrecht einer Person in der Situation von Catherine

Vorüberlegungen

18. Zunächst ist die von der irischen Regierung und der Regierung des Vereinigten König-reichs vertretene Auffassung zurückzuweisen, dass sich eine Person in der Situation von Catherine schon deshalb nicht auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und den Aufenthalt berufen könne, weil sie nie von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat gereist sei.

19. Die Situation des Angehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat ge-boren wurde und von dem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, kann nicht allein aufgrund dieser Tatsache einer rein internen Situation gleichgestellt werden, in der dieser Staatsangehörige im Aufnahmemitgliedstaat die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und den Aufenthalt nicht geltend machen kann (in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 2. Oktober 2003 in der Rechtssache C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613, Randnrn. 13 und 27).

20. Außerdem kann sich entgegen dem Vorbringen der irischen Regierung ein Kind im Kleinkindalter auf die gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Rechte auf Freizügigkeit und auf Aufenthalt berufen. Die Fähigkeit des Angehörigen eines Mitgliedstaats, Inha-ber der durch den Vertrag und das abgeleitete Recht auf dem Gebiet der Freizügigkeit gewährleisteten Rechte zu sein, kann nicht von der Bedingung abhängen, dass der Be-treffende das Alter erreicht hat, ab dem er rechtlich in der Lage ist, diese Rechte selbst auszuüben (in diesem Sinne insbesondere, im Zusammenhang mit der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeit-nehmer innerhalb der Gemeinschaft [ABl. L 257, S. 2], Urteile vom 15. März 1989 in den Rechtssachen 389/87 und 390/87, Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723, Randnr. 21, und vom 17. September 2002 in der Rechtssache C-413/99, Baumbast und R, Slg.

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2002, I-7091, Randnrn. 52 bis 63, und, zu Artikel 17 EG, Garcia Avello, Randnr. 21). Außerdem ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nummern 47 bis 52 seiner Schluss-anträge ausgeführt hat, weder aus dem Wortlaut noch aus den Zielen, die mit den Arti-keln 18 EG und 49 EG sowie den Richtlinien 73/148 und 90/364 verfolgt werden, dass der Genuss der in diesen Vorschriften geregelten Rechte von einer Bedingung in Bezug auf ein Mindestalter abhängig wäre.

21. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob sich eine Person in der Situation von Cathe-rine auf die Vorschriften der Richtlinie 73/148 berufen kann, um sich als Empfänger entgeltlicher Kinderbetreuungsleistungen dauerhaft im Vereinigten Königreich aufzu-halten.

22. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes gelten die Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr nicht für den Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Hauptaufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nimmt, um dort für un-bestimmte Dauer Dienstleistungen zu empfangen (in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 15. Oktober 1988 in der Rechtssache 196/87, Steymann, Slg. 1988, 6159). Gerade dies ist aber im Ausgangsverfahren im Hinblick auf die vom vorlegenden Gericht er-wähnten Kinderbetreuungsleistungen der Fall.

23. Zu den medizinischen Leistungen, die Catherine zeitweilig erbracht werden, ist darauf hinzuweisen, dass nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie 73/148 das Auf-enthaltsrecht des Leistungsempfängers im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs der Dauer der betreffenden Leistung entspricht. Demzufolge kann diese Richtlinie je-denfalls kein Aufenthaltsrecht für unbestimmte Dauer begründen wie dasjenige, um das es im Ausgangsverfahren geht.

24. Da sich Catherine nicht auf die Richtlinie 73/148 stützen kann, um sich dauerhaft im Vereinigten Königreich aufzuhalten, ist weiter die vom vorlegenden Gericht aufgewor-fene Frage zu prüfen, ob ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht von Catherine auf Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364 gestützt werden kann, die den Angehörigen der Mitglied-staaten, denen ein Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des Gemein-schaftsrechts zusteht, sowie ihren Familienangehörigen unter bestimmten Bedingungen ein Aufenthaltsrecht garantiert.

25. Nach Artikel 17 Absatz 1 EG ist Unionsbürger jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft ist dazu bestimmt, der grundlegen-de Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (insbesondere Urteil Baumbast und R, Randnr. 82).

26. Das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nach Artikel 18 Absatz 1 EG wird jedem Unionsbürger durch eine klare und präzise Vorschrift des Vertrages unmittelbar zuerkannt. Allein deshalb, weil sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und damit Unionsbürgerin ist, ist Catherine daher berechtigt, sich auf Artikel 18 Absatz 1 EG zu berufen. Dieses Recht der Unionsbürger zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet ei-nes anderen Mitgliedstaats besteht vorbehaltlich der im Vertrag und in seinen Durchfüh-rungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen (insbesondere Ur-teil Baumbast und R, Randnrn. 84 und 85).

27. Was diese Beschränkungen und Bedingungen angeht, so bestimmt Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 90/364, dass die Mitgliedstaaten von den Angehörigen eines Mitglied-staats, die in ihrem Hoheitsgebiet das Aufenthaltsrecht genießen wollen, verlangen kön-nen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmit-

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tel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.

28. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Catherine sowohl über eine Krankenver-sicherung als auch über ausreichende Existenzmittel verfügt, die sie von ihrer Mutter erhält; dadurch ist gewährleistet, dass sie nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitglied-staats in Anspruch nehmen muss.

29. Der Einwand der irischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs, wonach das Erfordernis ausreichender Existenzmittel bedeute, dass der Betreffende, anders als dies bei Catherine der Fall sei, selbst über solche Mittel verfügen müsse und sich insoweit nicht auf Mittel eines Familienangehörigen berufen könne, der ihn, wie Frau Chen, begleite, ist nicht begründet.

30. Nach dem Wortlaut von Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 90/364 genügt es, dass die Angehörigen der Mitgliedstaaten über die erforderlichen Mittel „verfügen“; irgendwel-che Anforderungen in Bezug auf die Herkunft dieser Mittel enthält diese Bestimmung nicht.

31. Diese Auslegung ist umso mehr geboten, als Bestimmungen, in denen ein fundamenta-ler Grundsatz wie der der Freizügigkeit verankert ist, weit auszulegen sind.

32. Zudem beruhen die in Artikel 18 EG genannten und in der Richtlinie 90/364 festgeleg-ten Beschränkungen und Bedingungen auf dem Gedanken, dass die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger von der Wahrung der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden kann. So ergibt sich zwar aus der vierten Begründungserwägung dieser Richtlinie, dass die Aufenthaltsberechtigten die öffentli-chen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht „über Gebühr“ belasten dürfen, doch hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden sind (insbesondere Urteil Baumbast und R, Randnrn. 90 und 91).

33. Würde die Bedingung der ausreichenden Existenzmittel im Sinne der Richtlinie 90/364 so ausgelegt, wie es die irische Regierung und die Regierung des Vereinigten König-reichs vorschlagen, so würde dieser Bedingung, wie sie in dieser Richtlinie formuliert ist, ein Erfordernis in Bezug auf die Herkunft der Mittel hinzugefügt, das einen unver-hältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des durch Artikel 18 EG gewährleisteten Grundrechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt darstellen würde, da es für die Errei-chung des verfolgten Zieles – Schutz der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten – nicht erforderlich ist.

34. Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt schließlich vor, dass sich die Klägerin-nen des Ausgangsverfahrens nicht auf die fraglichen Gemeinschaftsvorschriften beru-fen könnten, da die Reise von Frau Chen nach Nordirland, die erfolgt sei, um ihrem Kind den Erwerb der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats zu ermöglichen, einen Versuch darstelle, missbräuchlich gemeinschaftsrechtliche Normen geltend zu machen. Die mit diesen Gemeinschaftsvorschriften verfolgten Ziele würden dann nicht erreicht, wenn eine Staatsangehörige eines Drittstaats, die sich in einem Mitgliedstaat aufhalten wolle, ohne von einem Mitgliedstaat in den anderen zu reisen oder reisen zu wollen, es so einrichte, dass sie ein Kind in einem Teil des Hoheitsgebiets des Aufnah-memitgliedstaats zur Welt bringe, auf das ein anderer Mitgliedstaat seine auf dem jus soli beruhenden Vorschriften über den Erwerb der Staatsangehörigkeit anwende. Nach ständiger Rechtsprechung seien die Mitgliedstaaten berechtigt, Maßnahmen zu treffen,

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die verhindern sollten, dass Einzelne missbräuchlich Vorteil aus gemeinschaftsrechtli-chen Vorschriften zögen oder versuchten, sich unter dem Schutz der durch den EG-Ver-trag geschaffenen Möglichkeiten rechtswidrig der Anwendung des nationalen Rechts zu entziehen. Diese Regel, die mit dem Grundsatz in Einklang stehe, dass ein Recht nicht missbraucht werden dürfe, sei vom Gerichtshof im Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg. 1999, I-1459) bekräftigt worden.

35. Dieses Vorbringen ist ebenfalls zurückzuweisen.36. Frau Chen räumt zwar ein, dass sie mit ihrem Aufenthalt im Vereinigten Königreich die

Voraussetzungen dafür schaffen wollte, dass das Kind, das sie erwartete, die Staatsange-hörigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwerben konnte, um sodann für das Kind und sich selbst ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich zu erhalten.

37. Die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehö-rigkeit unterliegt jedoch nach Völkerrecht der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaa-ten; von dieser Zuständigkeit ist unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen (insbesondere Urteile vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-369/90, Michelet-ti u. a., Slg. 1992, I-4239, Randnr. 10, und vom 20. Februar 2001 in der Rechtssache C-192/99, Kaur, Slg. 2001, I-1237, Randnr. 19).

38. Keiner der Beteiligten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, hat die Rechtmäßigkeit des Erwerbs der irischen Staatsangehörigkeit durch Catherine oder des-sen Wirksamkeit in Frage gestellt.

39. Außerdem ist es nicht Sache eines Mitgliedstaats, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass er eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt (insbesondere Urteile Micheletti u. a., Randnr. 10, und Garcia Avello, Randnr. 28).

40. Eben dies wäre aber der Fall, wenn das Vereinigte Königreich berechtigt wäre, Angehö-rigen anderer Mitgliedstaaten wie Catherine die Inanspruchnahme einer gemeinschafts-rechtlich gewährleisteten Grundfreiheit allein mit der Begründung zu verweigern, dass der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats in Wirklichkeit darauf abziele, einem Staatsangehörigen eines Drittstaats ein Aufenthaltsrecht aufgrund Gemein-schaftsrechts zu verschaffen.

41. Daher ist zu antworten, dass Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem minderjährigen Staatsangehörigen eines Mit-gliedstaats im Kleinkindalter, der angemessen krankenversichert ist und dem Unterhalt von einem Elternteil gewährt wird, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist und des-sen Mittel ausreichen, um eine Belastung der öffentlichen Finanzen des Aufnahmemit-gliedstaats durch den Minderjährigen zu verhindern, das Recht verleihen, sich für unbe-stimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten.

Zum Aufenthaltsrecht einer Person in der Situation von Frau Chen

42. Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 90/364, die den Verwandten des Aufent-haltsberechtigten in aufsteigender Linie, denen „er Unterhalt gewährt“, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit das Recht gewährleistet, bei dem Aufenthaltsberechtigten Wohnung zu nehmen, kann dem Staatsangehörigen eines Drittstaats, der sich in der Situation von Frau Chen befindet, weder aufgrund der emotionalen Bindungen der Mutter zu ihrem Kind noch aus dem Grund, dass das Recht der Mutter auf Einreise und Aufenthalt im

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Vereinigten Königreich vom Aufenthaltsrecht dieses Kindes abhängen würde, ein Auf-enthaltsrecht verleihen.

43. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich nämlich, dass sich die Eigen-schaft des Familienangehörigen, dem der Aufenthaltsberechtigte „Unterhalt gewährt“, aus einer tatsächlichen Situation ergibt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Fami-lienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird (in diesem Sin-ne, zu Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68, Urteil vom 18. Juni 1987 in der Rechts-sache 316/85, Lebon, Slg. 1987, 2811, Randnrn. 20 bis 22).

44. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens liegt genau die umgekehrte Situation vor, da dem Aufenthaltsberechtigten vom Staatsangehörigen eines Drittstaats Unterhalt gewährt wird, der für ihn tatsächlich sorgt und ihn begleiten will. Unter diesen Umstän-den kann sich Frau Chen nicht auf die Eigenschaft eines Verwandten in aufsteigender Linie, dem Catherine „Unterhalt gewährt“, im Sinne der Richtlinie 90/364 berufen, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts im Vereinigten Königreich zu gelangen.

45. Würde aber dem Elternteil mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats, der für ein Kind, dem Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364 ein Aufent-haltsrecht zuerkennen, tatsächlich sorgt, nicht erlaubt, sich mit diesem Kind im Aufnah-memitgliedstaat aufzuhalten, so würde dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirksamkeit genommen. Offenkundig setzt nämlich der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter voraus, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgen-de Person bei diesem aufhalten darf und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (sinngemäß, zu Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68, Urteil Baumbast und R, Randnrn. 71 bis 75).

46. Aus diesem Grund allein ist zu antworten, dass dann, wenn, wie im Ausgangsverfahren, Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364 dem minderjährigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Kleinkindalter für unbestimmte Zeit ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleihen, dieselben Vorschriften es dem Elternteil, der für die-sen Staatsangehörigen tatsächlich sorgt, erlauben, sich mit ihm im Aufnahmemitglied-staat aufzuhalten.

47. Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, dass Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem minderjährigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Kleinkindalter, der angemessen krankenver-sichert ist und dem Unterhalt von einem Elternteil gewährt wird, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist und dessen Mittel ausreichen, um eine Belastung der öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats durch den Minderjährigen zu verhindern, das Recht verleihen, sich für unbestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitglied-staats aufzuhalten. In einem solchen Fall erlauben dieselben Vorschriften es dem Eltern-teil, der die Personensorge für diesen Staatsangehörigen tatsächlich wahrnimmt, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten.

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Das grenzüberschreitende Element in der Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft

Von Sibylle Seyr/Hans-Christian Rümke, Göttingen*

- zugleich eine Anmerkung zum Urteil in der Rechtssache Chen1

A. Einleitung

Die Unionsbürgerschaft ist ein Rechtsinstitut, das mit dem Vertrag von Maastricht in die Gemeinschaftsverträge eingeführt wurde und ursprünglich vor allem als politisches Instru-ment gedacht war, um die Identifikation der Bürger mit der Union zu erleichtern und zu verstärken. Auf diese Weise sollte die europäische Integration über die wirtschaftliche Inte-gration hinaus auch auf den politischen Bereich ausgedehnt werden2. Die Unionsbürger-schaft ist somit Ausdruck des mit dem EU-Vertrag angestrebten integrationspolitischen Fortschritts3. In der Rechtsprechung des EuGH kam ihr nach und nach mehr Bedeutung zu. Sie hat sich zusehends als eine Art „Wunderwaffe“4 entpuppt, um in Einzelfällen, die sonst wenige oder keine Berührungspunkte mit dem Gemeinschaftsrecht hätten, billige Lösungen zu finden. Das Kernstück der Unionsbürgerschaft stellt das von Art. 18 EG vorgesehene Freizügig-keitsrecht dar, das aber nach wie vor mit zahlreichen Unklarheiten bezüglich der Vorausset-zungen für seine Anwendbarkeit und seiner Rechtsfolgen behaftet ist, unter anderem dem hier aufgeworfenen Problem des Grenzübertritts.

B. Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Frau Chen und ihr Ehemann, beide chinesische Staatsangehörige, sind für ein chinesisches Unternehmen tätig. In seiner Funktion als einer der Direktoren des Unternehmens reist Herr Chen häufig in das Vereinigte Königreich und andere EU-Mitgliedstaaten. Als das zweite Kind des Paares geboren werden sollte, reiste Frau Chen, als sie ungefähr im sechsten Mo-nat schwanger war, in das Vereinigte Königreich ein. Kurz darauf begab sie sich nach Bel-fast, wo ihre Tochter Catherine zur Welt kam. Den Entbindungsort Nordirland hatte Frau Chen bewusst gewählt5, um eine Besonderheit des irischen Rechts zu nutzen, die vorsieht, dass jeder, der auf der irischen Insel – also auch außerhalb der Republik Irland – geboren wird, die irische Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern er keine andere beanspruchen kann6.

* Mag. Sibylle Seyr, LL.M. Eur, und Hans-Christian Rümke, Dipl.-Jur., sind Mitarbeiter am Institut für Völker-recht, Abteilung Europarecht (Lehrstuhl Prof. Dr. Christian Calliess) der Universität Göttingen.

1 EuGH, Urteil vom 19.10.2004, Rs. C-200/02 (Chen), noch nicht in Slg., abrufbar auf der Homepage des EuGH unter www.curia.eu.int (im Folgenden Rechtssache Chen).

2 Haag, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, 6. Auflage, 2003, Art. 17, Rn. 5.3 Fischer, Die Unionsbürgerschaft, in: Ress/Stein, Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der

Universität des Saarlandes, Nr. 269, S. 1.4 Hakenberg/Seyr, Gemeinschaftsrecht und Privatrecht – Zur Rechtsprechung des EuGH im Jahre 2003, ZEuP

2004, S. 986 (987). 5 Vgl. Urteil Chen, Rn. 36.6 Die irische Regierung erwägt, diese Regelung zu ändern.

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Die Tochter Catherine wurde also – obwohl sie das Vereinigte Königreich nie verlassen hat-te – Irin und damit auch Unionsbürgerin i. S. d. Art. 17 EG. Mutter und Kind begaben sich anschließend nach Großbritannien, wo Frau Chen für sich und ihre Tochter die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt beantragte. Da die britischen Behörden diesen Antrag ablehnten, entstand zwischen den Beteiligten ein Rechtsstreit, der letzten Endes dem EuGH vorgelegt wurde. Im Ausgangsverfahren stellte sich im Wesentlichen die Frage, ob unter den gegebenen Um-ständen für Catherine und auch für ihre Mutter aus Artikel 18 EG ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich abgeleitet werden könne7. Die Regierung des Vereinigten König-reichs hatte nämlich eingewendet, es liege kein grenzüberschreitender Sachverhalt vor, son-dern eine rein inlandsbezogene Situation, da weder die Mutter noch das Kind das Vereinigte Königreich verlassen hatten.8 Folgte man dieser Argumentation, wäre der Anwendungsbe-reich des Gemeinschaftsrechts nicht eröffnet und deshalb eine Berufung auf das Freizügig-keitsrecht nicht möglich, wenn man davon ausgeht, dass das Freizügigkeitsrecht aus Art. 18 EG einen grenzüberschreitenden Bezug voraussetzt. Dieser Frage soll im Folgenden nach-gegangen werden. Der Gerichtshof kam im Chen-Urteil zu dem Schluss, dass die Situation eines Unionsbür-gers, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, nicht einem rein innerstaatlichen Sachverhalt gleichgestellt werden könne9. Diese Argumentationsweise erinnert an das Urteil des EuGH in der Rechtssache Garcia Avello10. Dort hatte der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich ein Unionsbürger auf das Gemein-schaftsrecht berufen könne, wenn er die Staatangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitze und sich in einem anderen rechtmäßig aufhalte. Die Tatsache, dass der Unionsbürger zusätz-lich die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates besitze, stehe dem nicht entgegen11. Das Verfahren betraf im Kern die Frage, ob die Kinder eines Spaniers und einer Belgierin, die mit ihren Eltern in Belgien leben, ihren Nachnamen gemäß der spanischen Tradition aus dem ersten Nachnamen des Vaters und dem ersten Nachnamen der Mutter zusammensetzen können. Der EuGH entschied, dass der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröff-net sei12; bei Personen, wie den Kindern von Herrn Garcia Avello, bestehe nämlich ein aus-reichender Bezug zum Gemeinschaftsrecht, da sie Angehörige eines Mitgliedstaats seien und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhielten.13

Mit diesen etwas knappen Feststellungen stellt der Gerichtshof in beiden Verfahren eine entscheidende Weiche für die Lösung der Fälle. Diese betreffen zwar unterschiedliche Kon-stellationen, das Problem des nicht offenkundigen Grenzübertritts ist ihnen aber gemein-sam.

7 Für die vorliegenden Betrachtungen soll lediglich auf die Situation des Kindes eingegangen werden. 8 Schlussantrag des GA Tizzano, vom 18.05.2004, Rn. 28 ff.9 Vgl. Urteil Chen, Rn. 19. 10 EuGH, Urteil v. 02.10.2003, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, (im Folgenden Rechtssache

Garcia Avello). 11 Vgl. Urteil Garcia Avello, Rn. 27 f.12 Vgl. Urteil Garcia Avello, Rn. 20 f. 13 Der EuGH betonte, dass das Namensrecht grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle, dass

diese jedoch bei dessen Ausübung das Gemeinschaftsrecht beachten müssten (vgl. Urteil Garcia Avello Rn. 25).

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Im Zentrum der Rechtssache Chen steht das sich aus der Unionsbürgerschaft ergebende Aufenthaltsrecht, somit der originäre Gehalt des Art. 18 EG. Der EuGH stellte der eigentli-chen Antwort auf die Vorlagefrage an eher ungewöhnlicher Stelle14 einige allgemeine Ge-danken voran, die er „Vorüberlegungen“ nannte und die den eigentlichen Sprengstoff des Urteils beinhalten. Der Gerichtshof weist die Auffassung der irischen Regierung und derje-nigen des Vereinigten Königreichs zurück, dass sich eine Person schon deshalb nicht auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und den Aufenthalt berufen könne, weil sie nie von einem Mitgliedstaat in einen anderen gereist sei. Eher umständlich formulierend kommt der EuGH zu dem Schluss, dass „[d]ie Situation des Angehörigen ei-nes Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde und von dem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, [...] nicht allein aufgrund dieser Tatsache einer rein internen Situation gleichgestellt werden [kann], in der dieser Staatsangehörige im Auf-nahmemitgliedstaat die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und den Aufenthalt nicht geltend machen kann [...].“15 Darunter ist wohl zu verstehen, dass der Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates als des Aufenthaltsstaates ein ausreichendes Kriterium für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist, auch wenn derje-nige, der sich auf diese Vorschriften beruft, nie die Grenzen seines Aufenthaltsstaates ver-lassen hat. Außerdem stellt der EuGH in seinen Vorüberlegungen noch klar, dass die Ausübung des Freizügigkeitsrechts gemäß Art. 18 EG nicht von einem bestimmten Mindestalter abhängig gemacht werden könne oder von der Tatsache, dass der Betroffene rechtlich in der Lage sei, dieses Recht selbst auszuüben16.Bei der Beantwortung der Vorlagefrage wendet der EuGH die in den Vorüberlegungen auf-gestellten Kriterien an und gelangt daher zu dem Ergebnis, dass Catherine allein deshalb, weil sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und damit Unionsbürgerin ist, berechtigt sei, sich auf die Freizügigkeit aus Artikel 18 Absatz 1 EG zu berufen. Dieses Recht werde näm-lich jedem Unionsbürger durch eine klare und präzise Vorschrift des Vertrages unmittelbar zuerkannt17.

C. Würdigung

Im Zentrum der folgenden Überlegungen soll angesichts der dargestellten Urteile des EuGH die Frage stehen, ob als Anwendungsvoraussetzung für das Freizügigkeitsrecht aus Art. 18 EG ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen muss bzw. sollte. Ein Grenzübertritt ist beispielsweise immer dann notwendig, wenn der Anwendungsbereich einer Grundfreiheit eröffnet werden soll. Entscheidend ist deshalb, wo man das Freizügigkeitsrecht systema-tisch verortet. Vorstellbar ist grundsätzlich seine Konzeption als Grundrecht18, als Grund-

14 Von der Vorlagefrage losgelöste Erläuterungen sind im Urteilsaufbau des EuGH sonst nicht üblich.15 Urteil Chen, Rn. 19; vgl. auch Schlussantrag des GA Tizzano, vom 18.05.2004, Rn. 32.16 Vgl. Urteil Chen, Rn. 20.17 Vgl. Urteil Chen, Rn. 26. Catherine verfügt sowohl über eine Krankenversicherung als über ausreichende

Existenzmittel, sodass gewährleistet ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnah-memitgliedstaats in Anspruch nehmen muss.

18 So Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 EGV, Rn. 1, 12; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Auflage, 2002, Art. 18 EG-Vertrag, Rn. 9; Magiera, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 18 Rn. 10; wohl auch Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 8a EGV, Rn. 1.

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freiheit19, vielleicht gar als Institut sui generis. Die Entscheidung für eine dieser Konstella-tionen beeinflusst grundlegend die Frage nach dem grenzüberschreitenden Bezug, da für die genannten Rechtsinstitute unterschiedliche Anwendungsvoraussetzungen gelten. Ein kurzer Überblick über das grenzüberschreitende Element im Gemeinschaftsrecht soll deshalb die Grundlage für die anschließende rechtliche Einordnung des Freizügigkeitsrechts liefern.

I. Das grenzüberschreitende Element im Gemeinschaftsrecht

Das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts ist Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Allgemeinen, sowie des Diskriminierungsverbots nach Art. 12 EG und der Grundfreiheiten im Besonderen20. Der EuGH verneint in ständiger Rechtsprechung die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen auf Sachverhalte, die keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen21, denn es ist gerade deren Ziel, eine Schlechter-stellung grenzüberschreitender Vorgänge zu verhindern22. Reine Inlandssachverhalte sind solche, „die ausschließlich im Inneren eines Mitgliedstaats spielen und keine Berührungs-punkte mit Sachverhalten aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt“23, bei denen somit „alle Elemente der fraglichen Betätigung nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaa-tes hinausweisen.“24 Wie der EuGH in den Rechtssachen Moser25 und Kremzow26 ausge-führt hat, reicht die hypothetische Möglichkeit eines Grenzübertritts nicht aus, jedoch auch rein potentielle Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel genügen, um das Vorlie-gen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zu bejahen27. Beim freien Warenverkehr knüpft der grenzüberschreitende Bezug an den Übertritt der Wa-re über eine innergemeinschaftliche Grenze an, bei den Personenverkehrsfreiheiten hinge-gen an die Person des Arbeitnehmers28, des Dienstleistungserbringers bzw. -empfängers oder des Niederlassungswilligen29. Bei der Dienstleistungsfreiheit ist das grenzüberschrei-tende Element auch gegeben, wenn nur die Dienstleistung die Grenze überschreitet30. Inlän-der können sich ihrem eigenen Staat gegenüber auf die Grundfreiheiten berufen, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist, sie sich also z.B. zur Erbringung einer

19 Haag, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 18 Rn. 6 „vertraglich garantierte politische Grundfreiheit“; Streinz, An-merkung zur Rs. C-184/99 (Grzelczyk), JuS 2002, S. 387 (389); Obwexer, Anmerkung zur Rs. C-184/99 (Grzelczyk), EuZW 2002, S. 56 (57), der von einer Gleichstellung des Freizügigkeitsrechts mit den Grundfrei-heiten ausgeht, aber keine nähere Begründung für diesen Schluss anführt.

20 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 49, 50, Rn. 8, Streinz, in: ders., Art. 12 EGV, Rn. 6.21 So auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EG-Vertrag, Rn. 29 m. w. N. 22 Jarass, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: Everling-FS (1995), S. 593 (599).23 Rs. 44/84 (Hurd), Slg. 1986, S. 29, Rn. 55.24 Rs. 52/79 (Debauve), Slg. 1980, S. 833, Rn. 9.25 Rs. 180/83, Slg. 1984, S. 2539, Rn. 18.26 Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 16.27 Schroeder, in: Streinz, Art. 28, Rn. 21; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12, Rn. 30, vgl. aus der Rspr. z. B.

Rs. 60/00 (Carpenter), Slg. 2002, I-6279, Rn. 28 f., Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst), Slg. 2000, I-151, Rn. 22 f.; der Sachverhalt betraf eigentlich nur eine innerstaatliche Situation, der EuGH nahm aber an, dass die Regelung auch ausländische Waren betreffen könnte.

28 EuGH, Urteil v. 05.06.1997, verb. Rs C-64/96 und C-65/96 (Uecker und Jacquet), Slg. 1997, I-3171, Rn. 16; Brechmann, in: Calliess/Ruffert Art. 39 Rn. 41, Franzen, in: Streinz, Art. 39, Rn. 35.

29 Siehe dazu auch Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43, Rn. 6, Müller-Graff, in: Streinz, Art. 39, Rn. 2, 20. 30 Dies unterstreicht den doppelten Charakter der Dienstleistungsfreiheit als Personenverkehrsfreiheit und Pro-

duktverkehrsfreiheit vgl. auch Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, S. 705 (707); zu den Formen der Grenzüberschreitung bei der Dienstleistungsfreiheit Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49, Rn. 33 f.

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Dienstleistung ins Ausland begeben31 oder ihre beruflichen Qualifikation in einem anderen als dem Heimatmitgliedstaat erworben haben.32 Aus den dargestellten Konstellationen lässt sich wohl schließen, dass der EuGH das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs eher großzügig auslegt33 und deshalb in vielen Fällen bejaht hat.Grundsätzlich wird in der Literatur der Ansatz des EuGH geteilt, bei der Anwendung von Art. 12 EG und den Grundfreiheiten zwischen grenzüberschreitenden und rein innerstaatli-chen Sachverhalten zu unterscheiden34. Es gibt jedoch auch Stimmen35, die davon ausge-hen, dass aufgrund des hohen Integrationsniveaus, das in der Gemeinschaft mittlerweile erreicht wurde, das Gemeinschaftsrecht unabhängig von einem grenzüberschreitenden Be-zug auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar sei. Nur so ließe sich die – jeden-falls nach wohl überwiegender Auffassung36 zulässige – Inländerdiskriminierung vermei-den37. Vereinzelt wird die Anwendbarkeit auf rein innerstaatliche Sachverhalte unter Beru-fung auf die Unionsbürgerschaft auch nur bei den Personenfreizügigkeiten gefordert38.In einem Urteil aus dem Jahre 1997, in dem sich der EuGH erstmalig zur Unionsbürgerschaft äußerte, stellte er fest, dass die Unionsbürgerschaft nicht dazu bestimmt sei, den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages auf rein interne Sachverhalte auszudehnen39. In seinem Garcia Avello Urteil40 betonte der Gerichtshof unter Verweis auf das soeben genannte Urteil aus dem Jahre 1997 eben jenen Aspekt sehr deutlich. Diese Aussagen legen die Vermutung nahe, dass der EuGH davon ausgeht, dass auch für die Anwendbarkeit der Freizügigkeit des Art. 18 EG ein grenzüberschreitendes Element erforderlich ist. Dafür spricht wohl auch die Tatsache, dass er in den Urteilen zur Unionsbürgerschaft häufig auf die grenzüberschreitende Qualität des betreffenden Sachverhalts hinweist, bevor er auf Art. 18 EG zurückgreift. Das gilt ausdrücklich auch für die Urteile Garcia Avello und Chen41. Trotzdem setzt sich der EuGH nicht tief greifend mit dem Problem der Grenzüberschreitung auseinander, sondern stellt in den besagten Vorüberlegungen der Chen-Entscheidung nur kurz fest, dass die gege-bene Konstellation jedenfalls einen grenzüberschreitenden Bezug nicht ausschließe42.Diese Aussage des EuGH führt also zu der Frage, wie er die Freizügigkeit aus der Unions-bürgerschaft rechtlich einordnet.

31 Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, I-2517. 32 Vgl. aus der Rechtssprechung C-115/78 (Knoors), Slg. 1979, 399, Rn. 24; C-19/92 (Kraus), Slg. 1993, I-1663;

vgl. zu Art. 39 EG Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39, Rn. 43, Franzen, in: Streinz, Art. 39, Rn. 35. 33 Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst), Slg. 2000, I-151, Rn. 22 f.; siehe zur Verneinung des grenzüberschreitenden

Bezugs die Urteile Rs. C-332/90 (Steen I), Slg. 1992, I-341und C-132/93 (Steen II), Slg. 1994 , I-2715. 34 Holoubek, in: Schwarze, Art. 12, Rn. 33 f., Graser, Eine Wende im Bereich der Inländerdiskriminierung? – Zur

Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Lancry, EuR 1998, S. 570 (579), Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12, Rn. 31 m. w. N.

35 Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1992, S. 145 (160 f.), Reich, Binnenmarkt als Rechtsbegriff, EuZW 1991, S. 203 (204 f.), Nicolaysen, Inländerdiskri-minierung im Warenverkehr, EuR 1991, S. 95 (100 f.)

36 Streinz, Europarecht, 6. Aufl., Rn. 682 f.; Koenig/Haratsch, Europarecht, 3. Aufl., Rn. 643; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 34; Lenz, in: ders., 3. Aufl., Art. 12 EGV, Rn. 2; Geiger, 4. Aufl., Art. 12 EGV, Rn. 12 f.

37 So Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12, Rn. 32; gegen Inländerdiskriminierung durch Gemeinschaftsrecht auch Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12, Rn. 14; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EGV, EL 7, Rn. 53 f.; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995.

38 Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, 1997, S. 82 f.39 EuGH, Urteil v. 05.06.1997, verb. Rs C-64/96 und C-65/96 (Uecker und Jacquet), Slg. 1997, I-3171,

Rn. 23 (3190).40 Rn. 26 des Urteils. 41 EuGH, Urteil v. 02.10.2003, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 20 ff.; Urteil v. 19.10.2003,

Rs. C-200/02 (Chen), noch nicht in Slg., Rn. 18 ff.42 Rn. 18 f. des Urteils.

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II. Das grundrechtliche Konzept

Für die Einordnung als Grundrecht spricht sich ein Großteil der Literatur aus43. Diese Auf-fassung wird jedoch – soweit ersichtlich – nicht umfassend begründet. Untermauern ließe sich diese Idee möglicherweise damit, dass auch die Grundrechte-Charta bzw. Teil 2 der Eu-ropäischen Verfassung in Art. II-105 die Freizügigkeit der Unionsbürger zusätzlich zur Be-stimmung in Art. I-10 aufgreift. Jedoch dürfte die bloße Stellung im ohnehin systematisch nicht gänzlich überzeugenden 2. Teil der Europäischen Verfassung kaum ausreichen, die Freizügigkeit der Unionsbürger als Grundrecht einzustufen. Schließlich stellt nicht jede Norm des 2. Teils der Verfassung ein Grundrecht dar, weshalb dieser Schluss zu kurz greift.Eine andere Möglichkeit, die Unionsbürgerschaft als Grundrecht zu deuten, besteht viel-leicht in der Annahme, dass sich die Gemeinschaft mit der Unionsbürgerschaft selbst Ver-pflichtungen auferlegt hat, dieses Institut zu bewahren. Es wären jedoch letztendlich ohne-hin die Mitgliedstaaten und nicht die Gemeinschaft selbst, die durch Vertragsänderung die Unionsbürgerschaft jederzeit wieder abschaffen könnten. Insofern lässt sich darin ebenfalls kein überzeugender Anhaltspunkt für ein Grundrecht finden.Versteht man die Freizügigkeit der Unionsbürger dennoch als Grundrecht, stellt sich als weiteres Problem, wie überhaupt der Anwendungsbereich eines solchen Grundrechts in den vorliegenden Fällen eröffnet werden könnte. Üblicherweise können die Gemeinschafts-grundrechte nur dazu dienen, einen Akt der Gemeinschaft – jedoch nicht der Mitgliedstaa-ten bei Ausführung ihres eigenen Rechts – abzuwehren. In den Rechtssachen Garcia Avello und Chen haben sich die Parteien aber jeweils gegen einen Mitgliedstaat und gerade nicht gegen die Gemeinschaft gewandt, so dass für die Anwendung eines Gemeinschaftsgrund-rechts an sich kein Raum ist. Weitere Anwendungsfälle sind in der gemeinschaftlichen Grundrechtsdogmatik noch nicht entwickelt. Hieraus ergibt sich, dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Grundrechten ist. Deren Anwendungsfälle sind eben gerade auf die Konstellationen zwischen Gemeinschaft und Einzelnen beschränkt44. Ginge man davon aus, dass die Freizügigkeit der Unionsbürger ein Grundrecht wäre, bräuchte der EuGH also die Frage nach dem Grenzübertritt gar nicht aufzuwerfen.

III. Das grundfreiheitliche Konzept

Für eine Einordnung des Freizügigkeitsrechts als Grundfreiheit spricht die Schutzrichtung, also der Adressatengedanke. Die Vorschrift richtet sich, wie auch die Grundfreiheiten, in erster Linie an die Mitgliedstaaten, nicht an die Gemeinschaft45. Unstreitig ist dabei, dass ein Unionsbürger das Freizügigkeitsrecht gegenüber den anderen Mitgliedstaaten geltend machen kann. Ob dies auch gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat möglich ist, ist umstritten und betrifft genau das hier angesprochene und dargestellte Problem des Grenzübertritts46.

43 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 EG-Vertrag, Rn. 9; Hatje, in: Schwarze, Art. 18 EGV, Rn. 1, der Art. 18 Abs. 1 „zu den wenigen ausdrücklich normierten Grundrechten der EG“ zählt; Magiera, in: Streinz, Art. 18 Rn. 10; wohl auch Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäi-schen Recht, 2002, S. 478 f. und Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 18 EGV, Rn. 1.

44 Beziehungsweise auch zwischen Einzelnen und Mitgliedstaaten, wenn diese Gemeinschaftsrecht ausführen.45 So übrigens auch Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 17, Rn. 50; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18, Rn. 8.46 Dagegen Hilf, in: Grabitz/Hilf, Art. 17, Rn. 50; Magiera, in: Streinz, Art. 18, Rn. 14 unter Berufung auf die

Rspr. des EuGH, der sich gegen eine Erweiterung des Anwendungsbereichs ausspricht; dafür Hatje, in: Schwar-ze, Art. 18, Rn. 6; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 18, Rn. 8.

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Gleichwohl scheint allein das Abstellen auf den Adressaten der Norm nicht vollkommen ausreichend, um eine Norm als Grundfreiheit einzustufen, dies ist lediglich ein Indiz dafür. Entscheidend kommt es darauf an, welchen Zweck die Norm verfolgt47.Die Grundfreiheiten dienen dazu, die Ziele des EG-Vertrages zu erfüllen, während die Grundrechte hier eher als „Gegenpol“ zu sehen sind. Der EuGH hat das Europa der Bürger – aus diesem Konzept folgte die Unionsbürgerschaft – ausdrücklich als allgemeines Ver-tragsziel anerkannt48. Mithin dient also auch die Unionsbürgerschaft, ebenso wie die Grund-freiheiten, der Verwirklichung der Ziele des EG-Vertrages. Dies spricht auch für eine Ein-ordnung des Freizügigkeitsrechts bei den Grundfreiheiten.Schließlich kann für die Nähe zu den Grundfreiheiten auch angeführt werden, dass das Frei-zügigkeitsrecht des Art. 18 EG Ausdruck der allgemeinen Bewegungsfreiheit des Bürgers im Binnenmarkt ist49, der Binnenmarkt insoweit also unterstützt und weiter ausgeformt wird. Die Grundfreiheiten zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie zur Realisierung des Binnenmarktes beitragen. Der Gerichtshof scheint in der Freizügigkeit ebenfalls eine Grundfreiheit oder zumindest ein grundfreiheitsähnliches Recht zu sehen, da er in verschiedenen Urteilen50 Formulierun-gen verwendet, wie „die Grundfreiheiten, namentlich [die] in Art. 8a EG-Vertrag verliehene[n] Freiheit […], sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und auf-zuhalten“. Ein Vergleich mit den anderen Sprachfassungen, insbesondere der französi-schen51, führt zu derselben Annahme. Auch erste Stimmen in der Literatur52 scheinen in Art. 18 EG eine Grundfreiheit zu sehen, was den Schluss nahelegt, dass es nicht mehr ent-scheidend darauf ankommt, ob eine Norm (unmittelbar) ein wirtschaftliches Element ent-hält, um als Grundfreiheit qualifiziert werden zu können. Die Freizügigkeit gemäß Art. 18 EG gewährleistet nämlich gerade ein Einreise- und Aufenthaltsrecht unabhängig von jegli-cher wirtschaftlichen Betätigung53. Zugleich fördert sie dadurch jedoch die Bewegung der Menschen in der Union und trägt so ebenfalls zur Verwirklichung des Binnenmarktes bei. Insofern dient auch Art. 18 EG, wie die „klassischen“ Grundfreiheiten, den Gemeinschafts-zielen aus Art. 3 Abs. 1 lit. c) und Art. 14 EG. Bei einer Einstufung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 EG als Grundfreiheit wäre das Abstellen auf den grenzüberschreitenden Bezug konsequent, sofern jedenfalls von einer in grundsätzlichen Fragen einheitlichen Grundfreiheitsdogmatik ausgegangen werden kann54.

47 Vgl. zur Bedeutung der systematischen im Verhältnis zur teleologischen Auslegung in der Grundfreiheitsdog-matik Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 89.

48 EuGH, Urt. vom 30.05.1989, Rs. 242/87 (Erasmus), Slg. 1989, S. 1425, Rn. 29.49 Hatje, in: Schwarze, Art. 18, Rn. 1.50 EuGH, Urt. v. 24.11. 1994, Rs. C-274/98 (Bickel und Franz), Slg. 1994, I-7637, Rn. 15, 16; Urt. v. 20.09.2001,

Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, I-6193, Rn. 33; Urt. v. 11.07.2002, Rs. C-224/98 (D’Hoop), Slg. 2002, I-6191, Rn. 29; Urt. v. 02.10.2003, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 24.

51 Zur Bedeutung der französischen Sprache für die Arbeit des Gerichtshofs vgl. Seyr, Der verfahrensrechtliche Ablauf vor dem EuGH am Beispiel der Rechtssache „Prosciutto di Parma“, JuS 2005, S. 315 (318).

52 Andeutend Kingreen, Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, S. 570 (572); ähnlich Niemann, Von der Unionsbürgerschaft zur Sozialunion?, EuR 2004, S. 946 (950).

53 Hatje, in: Schwarze, Art. 18 EGV, Rn. 1.54 Vgl. hierzu: Schleper, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten? in: Göttinger Online-

Beiträge zum Europarecht, Nr. 16, abzurufen unter www.europarecht.uni-goettingen.de/papers.html; Schroeder, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 28 EGV, Rn. 11 m.w.N.

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D. Lösungen

Wie dargelegt wurde, geht der EuGH grundsätzlich auch im Bereich des Freizügigkeits-rechts von der Notwendigkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts aus. Allerdings ist die Rechtsprechung teilweise unklar. So vertrat der Gerichtshof in der Rechtssache Baum-bast und R55 die Auffassung, dass einzige Bedingung zur Anwendung des Art. 18 EG die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates – mithin die Unionsbürgerschaft – sei. Einen grenzüberschreitenden Bezug erwähnte er nicht. Diese Aussage ist jedoch in den Urteilen zur Unionsbürgerschaft die Einzige dieser Art geblieben, was die Vermutung nahelegt, dass der EuGH mittlerweile von dieser Ansicht abgerückt ist. Wegen der gezeigten strukturellen Ähnlichkeit des Art. 18 EG mit den Grundfreiheiten ist dem Gerichtshof zuzustimmen, dass im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen muss. Die erläuterten Gründe sprechen dafür, das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EG als Grundfreiheit oder zumindest als grundfreiheits-ähnliches Recht anzusehen. Gleichwohl scheint es anhand der untersuchten Urteile, als ob der Gerichtshof insgesamt im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger an einen Grenzübertritt geringere Anforderun-gen stellt als bei den klassischen Grundfreiheiten. Problematisch ist wohl die Aussage des EuGH in der Rechtssache Chen, dass die Situation eines Unionsbürgers, der nie vom sei-nem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, nicht einer rein innerstaatlichen Situ-ation gleichgestellt werden könne56. Diese Annahme scheint zu konturlos, um eine klare Abgrenzung zu rein innerstaatlichen Sachverhalten zu ermöglichen. Ob freilich ein „konventioneller“ Grenzübertritt wie bei den anderen Grundfreiheiten im Bereich des Art. 18 EG sinnvoll ist, ist fraglich. So wäre es gerade in der Konstellation, die der Chen-Entscheidung zugrunde lag, wohl kaum ernsthaft zu fordern, dass das Kind kurz in die irische Republik einreist, um sogleich wieder in das Vereinigte Königreich zurückzu-kehren, damit es auch körperlich eine innergemeinschaftliche Grenze überschritten hat. Das Abstellen auf den grenzüberschreitenden Bezug entspricht im Übrigen auch der Kom-petenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, da dadurch verhin-dert wird, dass das Gemeinschaftsrecht in Fällen zur Anwendung kommt, die in die aus-schließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Dass ein Aufweichen der Kriterien, die an den Grenzübertritt zu stellen sind, leicht zu Verschiebungen im Kompetenzgefüge führen kann, zeigt die Rechtssache Garcia Avello57, in der das Gemeinschaftsrecht über die Unionsbürgerschaft Einfluss auf das nationale Namensrecht genommen hat. Das Gemein-schaftsrecht ist zweifelsohne durch seine Dynamik in der Entwicklung gekennzeichnet. Dem EuGH ist dabei die Befugnis zur Rechtsfortbildung zuzusprechen, es ist jedoch nach wie vor Sache der Mitgliedstaaten, durch Vertragsänderung die Kompetenzen der Gemein-schaft zu erweitern. Ein Verzicht auf den grenzüberschreitenden Bezug im Bereich des Frei-zügigkeitsrechts könnte dazu führen, dass die Gefahr der Beurteilung rein nationaler Sach-verhalte durch den EuGH bestünde; solche Entscheidungen wären wohl als ultra vires ein-zustufen.

55 EuGH, Urteil v. 17.09.2002, Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Rn. 84.56 Rs. Chen, Rn. 19; Rs. Garcia Avello, Rn. 27.57 Hakenberg/Seyr, Gemeinschaftsrecht und Privatrecht – Zur Rechtsprechung des EuGH im Jahre 2003, ZEuP

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E. Ergebnis

Andere Lösungswege, die das Problem des Grenzübertritts nicht aufgeworfen hätten, sind nicht ersichtlich. Allenfalls mit der angesprochenen Lösung über das System der Grund-rechte hätte dieser Schwierigkeit ausgewichen werden können, allerdings scheint eine sol-che Vorgehensweise aus den genannten Gründen kaum vorstellbar. Es bleibt damit festzu-halten, dass die Einordnung von Art. 18 EG in die grundfreiheitliche Systematik wohl der überzeugendere, wenn nicht einzig gangbare Weg ist. Insofern ist dem Gerichtshof bei der Entscheidung im Ergebnis zuzustimmen. Wegen der genannten Risiken, die das ohnehin sehr offene Institut der Unionsbürgerschaft einschließ-lich des in ihr enthaltenen Freizügigkeitsrechts enthält, sollte der EuGH am Erfordernis ei-nes grenzüberschreitenden Elements festhalten. Gleichwohl müsste die Rechtsprechung Kriterien finden, die nachvollziehbarere Ergebnisse liefern. Sie darf sich nicht auf die knap-pe Behauptung beschränken, dass eine gewisse Konstellation einen grenzüberschreitenden Sachverhalt jedenfalls nicht ausschließe. Schon aus Gründen der Rechtsklarheit muss man erwarten dürfen, dass der EuGH künftig greifbarer klärt, ob ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt und damit das Gemeinschaftsrecht zur Anwendung kommen kann.

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KLEINERE BEITRÄGE, BERICHTE UND DOKUMENTE

Gott in der Europäischen Verfassung?

Zur Frage von Gottesbezug, Religionsfreiheit und Status der Kirchen im Vertrag über eine Verfassung für Europa

Von Norbert K. Riedel, Berlin*

I. Einführung

Die Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister der Europäischen Union haben am 29. Oktober 2004 in Rom den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ unterzeichnet. Der Verfassungsvertrag1 muss in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, um in Kraft treten zu können. Mit ihm sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass das größer gewordene Europa entscheidungsfähig und politisch führbar bleibt. Für viele setzt dies auch eine geistesgeschichtliche Fundamentierung der Union voraus: Wer nicht wisse, woher er komme, wisse nicht, wohin er gehe.Die Frage nach der kulturellen Identität, nach den Werten und Wurzeln der Europäischen Union hat deshalb bei den Verhandlungen im Konvent und in der Regierungskonferenz eine zentrale Rolle gespielt. Bis zuletzt war umstritten: Sollte die Europäische Verfassung einen Gottesbezug oder zumindest einen Verweis auf die christlichen Wurzeln Europas enthalten? Auch nach Unterzeichnung des Verfassungsvertrages hat die Diskussion über die Wurzeln und Werte der Union nicht an Schärfe verloren. Das belegen die umstrittenen Äußerungen des ursprünglich als EU-Kommissar vorgesehenen italienischen Europaministers Buttiglio-ne und die Auseinandersetzung um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Niemand wird bestreiten: Die Europäische Union ist keine Gemeinschaft nur von Christen. Ihre Werte sind nicht an eine bestimmte Religion oder Kultur gebunden. Vielmehr sind sie universell und beruhen auf den Errungenschaften der Aufklärung. Doch auch wenn sich die Staats- und Regierungschefs am Ende nicht auf einen Gottesbezug einigen konnten, so ist die Europäische Verfassung weder unchristlich noch unkirchlich. Sie enthält vielfache Be-züge auf die Religion, auf die Religionsgemeinschaften und die Kirchen. Dies kam und kommt bei der Diskussion um einen Gottesbezug oftmals zu kurz.

* Der Verfasser ist Honorarprofessor an der Universität Würzburg und war von 2002 bis 2005 Leiter des Referats für EU-Grundsatzfragen im Bundeskanzleramt. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder.

1 Im Folgenden: EU-Verfassung.

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II. Religion und Kirche in der EU-Verfassung

1. Verfassungspräambel

a) Forderung nach einem Gottesbezug

Der derzeit geltende „Vertrag über die Europäische Union“2 enthält weder einen Gottesbe-zug noch den Hinweis auf christliche Wurzeln oder Werte3. Nach Art. 6 Abs. 1 EUV beruht die Union „auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschen-rechte und der Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“ Art. 11 Abs. 1 EUV erwähnt in seinem ersten Anstrich die „Wahrung der gemeinsamen Werte“ als Ziel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-tik, ohne jedoch diese Werte näher zu beschreiben.Viele hatten dies schon in der Vergangenheit als Mangel empfunden. Neben Italien, Polen, Litauen, Malta, Portugal, der Slowakei und der Tschechischen Republik forderten deshalb vor allem die Kirchen4 und die christlichen Parteien5, dass in der Präambel der EU-Verfas-sung ein klarer Bezug auf das christliche Erbe Europas und die Verantwortung des Men-schen vor Gott aufgenommen wird. Für Befürworter einer solchen Bezugnahme ist der christliche Glaube das „genetische Prin-zip“ der Einheit Europas6. Schaue man auf die historisch gewachsene Verschiedenheit des Kontinents, so sei die christliche Evangelisierung die einzige Gemeinsamkeit. Auch am Ur-sprung des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Integrationsprojekts nach den zwei Weltkriegen stehe der christliche Wille zur Versöhnung. Angesichts der leidvollen Erfahrun-gen von Kriegen und Diktaturen in Europa sei es angebracht, deutlich zu machen, dass jede

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

2 In der Fassung des Vertrages von Nizza, BGBl. 2002 II, S. 1666 ff.3 In den Verfassungen der 25 EU-Mitgliedstaaten wird dieses Thema unterschiedlich behandelt. Eine sog. „invo-

catio dei“ gibt es in den Präambeln der Verfassungen von Deutschland, Griechenland, Irland und Polen. Im Grundgesetz heißt es: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen

beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Die Gemeinsame Verfas-sungskommission hat es im Rahmen der staatskirchenrechtlichen Debatte abgelehnt, eine Empfehlung abzuge-ben, „ob in der Präambel im Sinne einer stärkeren Trennung von Kirche und Staat die Bezugnahme auf Gott gestrichen werden soll.“ (Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000 vom 05.11.1993, 108 ff.)

In der polnischen Verfassung heißt es: „In der Sorge um unser Vaterland und seine Zukunft, (...) beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten (...).“

Dagegen heißt es in der spanischen Verfassung: „Es gibt keine Staatsreligion. Die öffentliche Gewalt berück-sichtigt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft und unterhält die entsprechenden kooperati-ven Beziehungen zur Katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen.“

Art. 1 der französischen Verfassung bestimmt kurz und knapp: „La France est une République indivisible, laique, démocratique et sociale.“

4 In der „Gemeinsamen Stellungnahme des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Konvent zur Zukunft Europas, 2002“ (www.ekd.de/EKD-Texte) heißt es: „Das europäische Verständnis vom Menschen und die Wertebasis, auf die sich die Euro-päische Union als Wertegemeinschaft stützt, sind wesentlich geprägt durch die Religion, insbesondere durch das Christentum. Die Europäische Union sollte sich daher in einer Präambel zu ihren religiösen Wurzeln beken-nen. Das religiöse Erbe Europas und die Absage an eine Verabsolutierung der politischen Ordnung der Europä-ischen Union sollten zudem durch einen Gottesbezug einen Platz in der Präambel des zu verfassenden Textes finden.“

5 Z.B. Beschluss von CDU und CSU zur Europäischen Verfassung vom 2. April 2004.6 Ausführlich hierzu Kardinal Lehman, Gott in der Europäischen Verfassung?, 2004.

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menschliche Ordnung vorläufig, fehlbar und unvollkommen und Politik nie absolut sei. Ne-ben dem Bezug auf die kulturellen, allgemeinen religiösen und humanistischen Überliefe-rungen müsse deshalb ausdrücklich auf die christliche Prägung Europas verwiesen werden. In einer Formulierung, die zugleich die Gewissensfreiheit betone, sollten sich auch diejeni-gen wiederfinden können, die nicht an Gott glauben.Die Bundesregierung hatte sich dafür eingesetzt, dass die EU-Verfassung eine Präambel erhält, in der der Bezug zur christlichen Tradition zum Ausdruck kommt. Aus ihrer Sicht wäre eine Formulierung denkbar gewesen, welche die griechisch-römischen, die jüdisch-christlichen und die humanistischen Traditionen und Überlieferungen unseres Kontinents zum Ausdruck bringt7. Für die Mitgliedstaaten, in denen die laizistische Tradition zur Staatsräson gehört, insbeson-dere Frankreich und Belgien, war die Forderung nach einem wie auch immer formulierten Gottesbezug dagegen nicht akzeptabel. Vor allem Frankreich zeigte keine Bereitschaft, das Prinzip des Laizismus als der strikten Trennung von Staat und Kirche über den Umweg der Europäischen Union in Frage stellen zu lassen8. Für diejenigen, die einen Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung ablehnen, sind Eu-ropa und Christentum schon lange keine Synonyme mehr. Mit rund 15 Millionen Muslimen in den EU-Staaten bilde Europa keine religiöse oder ethnische Einheit. Die Europäische Union sei deshalb auch eine Reaktion gegen den Gedanken, Europa über religiöse oder eth-nische Zugehörigkeit zu definieren. Der historische Erfahrungsraum Europa sei vielmehr geprägt durch einen lang andauernden Prozess der Trennung oder Differenzierung von Staat und Gesellschaft, privat und öffentlich, Staat und Religion. Diese Differenzierung münde in die Ausprägung eines demokratischen Rechtsstaats, in die Entfaltung eines liberalen Markt-verständnisses und in zivilgesellschaftliche Offenheit9.

b) Grundrechtekonvent

Anlässlich des Europäischen Rates in Nizza haben am 7. Dezember 2000 Europäisches Par-lament, Rat und Kommission die Charta der Grundrechte der Europäischen Union feierlich proklamiert10. Die Charta hält die Grundrechte und Grundwerte fest, an denen sich die Eu-ropäische Union und die Mitgliedstaaten nach Auffassung des Konvents in Zukunft orien-tieren sollen11. Schon während der Beratung12 der Grundrechtecharta war eine ausdrückli-che Bezugnahme auf das religiöse Erbe Europas umstritten13.

7 Vgl. Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa, Bundesrat Drucksache 983/04 vom 17.12.2004, S. 255.

8 Das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat von 1905 war in Frankreich unter den Gegebenheiten der Drit-ten Republik als emanzipatorischer Akt des Staates gegen mögliche Ansprüche der Kirche auf Einfluss in Poli-tik und Gesellschaft erdacht, konzipiert und umgesetzt worden. Zur aktuellen Diskussion vgl. Sarkozy, La République, les Religions, l’Espérance, 2004.

9 Vgl. hierzu Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002.

10 Ein aus 62 Mitgliedern, Stellvertretern und Beobachtern aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union be-stehender Konvent hatte die Charta unter Leitung des früheren deutschen Bundespräsidenten Herzog in nur neun Monaten ausgearbeitet.

11 Die Grundrechtecharta ist mittlerweile als Teil II integraler und damit rechtsverbindlicher Teil des Verfassungs-vertrags. Nach den gescheiterten Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden ist offen, ob und wann die EU-Verfassung in Kraft treten kann. Der Charta der Grundrechte kommt aber auch schon jetzt zuneh-mend Bedeutung für die europäische Rechtsprechung zu. Vgl. Riedel, BayVBl. 2004, S. 351.

12 Vgl. hierzu ausf. Engels, in: Friedrich Ebert Stiftung, Eurokolleg 45 (2001), Schmitz, EuR 2004, S. 691 ff.13 Siehe zu dieser Auseinandersetzung Bernsdorff/Borowsky (Fn. 9), S. 246.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

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Bei der Ausarbeitung der Charta bestand zunächst nur Einvernehmen darüber, der Charta eine Präambel voran zu stellen14. Während einige Mitglieder des Grundrechtekonvents auf die christlich-abendländische Tradition verwiesen, die das spezifisch europäische Men-schenbild präge, warnten andere unter Verweis auf die Universalität und Unteilbarkeit der Grundrechte vor religiösen Bezügen in der Präambel und vor der damit verbundenen „Aus-schlussgefahr“.15

Ein erster Entwurf 16 enthielt zunächst keine Bezugnahme auf die christlichen und humanis-tischen Grundlagen der Europäischen Union. Anders der zweite Entwurf17. Dort heißt es: „Ausgehend von ihrem kulturellen, humanistischen und religiösen Erbe“ (im Französischen: „S’inspirant de son héritage culturel, humaniste et religieux“). Diese Formulierung wurde später geändert18 in: „In dem Bewusstsein ihres geistigen und moralischen Erbes“ (im Fran-zösischen: „Consciente de son patrimoine spirituel et moral“). Einige deutsche Konventsmitglieder verwiesen jedoch darauf, dass das französische Wort „spirituel“ im Deutschen nicht einfach mit „spirituell“ oder „geistig“ übersetzt werden kön-ne. Der Konvent kam überein19, im Deutschen das Wort „spirituel“20 nunmehr mit „geistig-religiös“ zu übersetzen21. In allen anderen Sprachfassungen blieb es dagegen bei dem ent-sprechenden Ausdruck für „spirituell“, das Wort „religiös“ taucht dort nicht auf22. Im Er-gebnis bedeutete diese Lösung nichts anderes, als dass der fortbestehende inhaltliche Dis-sens durch sprachliche „Kunstgriffe“ überdeckt werden sollte. Dementsprechend wurde die deutsche Fassung nicht nur als „beachtliche Präzisierung“23, sondern auch als fehlerhafte Übersetzung24 bewertet.

c) Verfassungskonvent

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion trat die Bundesregierung zu Beginn der Arbeiten des Verfassungskonvents25 im Jahr 2002 zunächst dafür ein, die Formulierung der Grund-rechtecharta zu übernehmen. Schließlich war der Verweis auf das „geistig-religiöse und sittliche Erbe Europas“ in der deutschen Übersetzung von allen Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union mitgetragen worden. Allerdings wurde dies jetzt insbesondere von den Ver-tretern Frankreichs und Belgiens abgelehnt. Eine Rolle gespielt hat für diese Haltung sicherlich der unterschiedliche rechtliche Bedeutungsgehalt von Grundrechtecharta und Verfassung. Ging man doch bei der Grundrechtecharta ursprünglich davon aus, dass sie nur politisch, nicht jedoch rechtlich verbindlich sein werde.

14 Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Präambel, Rn. 1.15 Meyer (Fn. 14), Präambel, Rn. 18, 21, 25.16 Dokument CONVENT 45 vom 28.07.2000.17 Dokument CONVENT 47 vom 14.09.2000.18 Dokument CONVENT 47 REV 1 ADD 1 vom 25.09.2000.19 Zum Diskussionsverlauf im Grundrechtekonvent vgl. Bernsdorff/Borowsky (Fn. 9); vgl. auch Schmitz, EuR

2004, S. 691 ff., 706.20 Englisch „spiritual héritage“, spanisch „património espiritual“.21 Ausführlich zum Hintergrund Meyer (Fn. 14), Präambel, Rn. 25.22 Im weiteren Verlauf wurde in der deutschen Fassung auch das Wort „moralisch“ durch „sittlich“ ersetzt.23 Tettinger, NJW 2001, S. 1011; Busse, EuGRZ 2002, S. 567; vgl. Schmitz (Fn. 19), S. 707.24 Vgl. hierzu die Hinweise in Meyer (Fn. 14), Präambel, Rn. 32, Fn. 93.25 Zum Auftrag des Konvents ausführlich Riedel, ZRP 2002, S. 241 ff.

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Im Verfassungskonvent galt das Konsensprinzip. Deshalb wurde eine Entscheidung in die-ser Frage zunächst zurück gestellt. Erst ganz am Ende des Konvents legte das Präsidium zusammen mit dem gesamten Verfassungsentwurf einen Präambeltext vor26. Im zweiten Absatz der Präambel heißt es dort: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanis-tischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind.“ Damit sollte betont werden, dass es sich bei der Union nicht mehr allein um eine Wirtschaftge-meinschaft, sondern mehr um eine Wertegemeinschaft handelt, die auf gemeinsamen sozi-alethischen und politischen Grundlagen beruht.27 Der „Entwurf eines Vertrags für eine Ver-fassung für Europa“ wurde vom Europäischen Konvent im Konsensverfahren am 13. Juni und 10. Juli 2003 angenommen.

d) Regierungskonferenz

In der im Oktober 2003 beginnenden Regierungskonferenz wurde die Frage eines Gottesbe-zugs zunächst ebenfalls zurückgestellt. Von der italienischen Ratspräsidentschaft wurde der vom Konvent vorgelegte Text der Präambel nicht in Frage gestellt28. Erst die folgende iri-sche Präsidentschaft legte für die Schlussberatungen der Regierungskonferenz im Juni 2004 einen neuen Text vor29. Die Präambel beginnt danach mit folgendem Absatz: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unver-letzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“ Dieser Text wurde am 18. Juni 2004 im Rahmen der Gesamteinigung über den Verfassungsvertrag von den Staats- und Regierungschefs angenommen.Auch wenn Frankreich30 die Erwähnung des Christentums ablehnte, so hatte es mit dem Verweis auf das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe“ Europas Zugeständnisse ge-macht. Hervorzuheben ist vor allem, dass der Begriff des „religiösen Erbes“ anders als noch bei der Grundrechtecharta nun auch in den anderen Sprachfassungen – also nicht nur in der deutschen – erscheint. Letztlich bewegt sich dieser Kompromiss in der Mitte zwischen den Vorstellungen, die einen ausdrücklichen Gottesbezug in der Verfassung wünschten und den laizistischen Auffassungen, wonach sich die Verfassung aufgrund strikter Trennung von Staat bzw. Union und Kirchen in diesem Punkt neutral verhalten sollte.31

Auch wer die ausdrückliche Erwähnung der christlich-jüdischen Tradition forderte, muss einräumen, dass das in der Präambel erwähnte „religiöse Erbe“ Europas das Christentum unweigerlich einschließt. Die christlichen Wurzeln Europas gehören zu diesem Erbe. Der Konventsentwurf hatte den Werten des Humanismus und der Aufklärung noch ein größeres

26 Die Formulierung der Präambel stammt offenbar von Giscard d’Estaing persönlich. Vgl. hierzu v. Bogdandy, The Preamble, in: de Witte (Hrsg.), Ten reflections on the Constitutional Treaty for Europa, 2003 (E-book), S. 3 ff.

27 Vgl. Oppermann, DVBl. 2003, S. 1165 ff., 1169.28 Das Dokument CIG 60/3 ADD 1 PRESID 14, vom 9. Dezember 2003, das als Verhandlungsgrundlage diente,

enthielt folglich keinen Änderungsvorschlag.29 Dokument CIG81/04 PRESID 23 vom 16. Juni 2004.30 Der französische Conseil constitutionnel hat in seiner Entscheidung 2004-505 DC (Ziff. 14 ff.) vom 19.11.2004

zum Vertrag über eine Verfassung für Europa festgestellt, dass die Präambel der Charta der Grundrechte bei ihrer Auslegung auf die nationalen Verfassungstraditionen abstelle und dass daher keine Gefahr aus einer An-wendung der Charta für die verfassungsmäßigen Grundsätze der französischen Republik, insbesondere der Laizität bestünden.

31 Schwarze, EuR 2003, S. 535 ff., 538.

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Gewicht beigemessen als dem religiösen Erbe. Der endgültige Präambeltext der EU-Verfas-sung beschreibt die Quellen der Werte der Europäischen Union dagegen in einer ausgewo-generen und genaueren Weise. Weggefallen ist allerdings die im Konventsentwurf stärker formulierte Gegenwartsbedeutung der religiösen Überlieferung. Die Tatsache, dass sich 25 Mitgliedstaaten in einer so schwierigen Frage auf eine Formulie-rung einigen konnten, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Dies umso mehr, als es in den Mitgliedstaaten neben grundsätzlichen Unterschieden bei der Einstellung zum Verhältnis Staat und christlicher Kirche32 auch einen unterschiedlichen Umgang mit Präambeln gibt. Eine Reihe von Mitgliedstaaten kennt Präambeln in der Verfassung überhaupt nicht.33 Dies gilt auch für Staaten, in denen jedenfalls tatsächlich eine Präferenz für eine bestimmte christliche Konfession existiert.34

Die Präambel begründet ein allgemeines religiöses und weltanschauliches Neutralitätsgebot für die Europäische Union. Die Identifikation mit einer bestimmten Religion oder Weltan-schauung ist ebenso ausgeschlossen35 wie die mit Atheismus oder Agnostizismus.36 Eine einseitige „religiöse“ Bindung der Mitgliedstaaten schreibt der Text der Präambel nicht vor. Er enthält keine Aussage zur Zukunft und zu den Grenzen der Union37 und damit auch nicht im Hinblick auf die Aufnahme weiterer Mitglieder. Hier gibt es zusätzliche grundlegende Werte und Voraussetzungen, die auch ausdrücklich im Verfassungsvertrag genannt sind38 und die der beliebigen Erweiterung der Union Schranken setzen.39 Im Hinblick auf die Dis-kussion um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei kommt es deshalb allein darauf an, ob das Land die Werteordnung der EU-Verfassung einschließlich der Grundrechtecharta so-wohl in seinen Grenzen als auch in der rechtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit an-erkennt und umsetzt40.

2. Recht auf Religionsfreiheit

Der Charta der Grundrechte sollte zunächst nur politische Bedeutung zukommen. Erst durch die Übernahme in den Verfassungsvertrag41 wird sie als dessen integraler Bestandteil auch rechtsverbindlich. Die in der Charta als wesentliche Grundrechtsgarantie enthaltene Religionsfreiheit wird damit auch auf Ebene der Europäischen Union verbürgt.Nach Art. II-70 Abs. 1 EU-Verfassung hat jede Person „das Recht auf Gedanken-, Gewis-sens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltan-schauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“

32 Vgl. Winter, Das Verhältnis von Staat und Kirche als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Festschrift Hollerbach, 2001, S. 892 ff., 904 f.

33 Hierzu gehören Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweden.34 Schwarze (Fn. 31), S. 538 f.; Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents – Struktur, Kern-

elemente und Verwirklichungschancen -, in: Schwarze (Hrsg.): Der Verfassungsentwurf des Europäischen Kon-vents, 2004, S. 489 ff., 498 ff.

35 Meyer (Fn. 14), Präambel, Rn. 32.36 Robbers, in: Festschrift Maurer, S. 425 ff., 431; Meyer (Fn. 14), Präambel, Rn. 32.37 Zu den Grenzen der Union vgl. Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union – Möglichkeiten und

Grenzen der europäischen Verfassungsentwicklung nach Nizza, 2001; Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 ff.38 Vgl. Art. I-2 und I-58 EU-Verfassung.39 Schwarze (Fn. 31), S. 539.40 Vgl. Meyer (Fn. 14), Präambel, Rn. 32.41 Als Teil II der EU-Verfassung, Art. II-61 bis Art. II-114.

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Nach den Erläuterungen42 zur Charta der Grundrechte entspricht dieses Recht dem Recht, das durch Art. 9 EMRK garantiert ist. Es hat die gleiche Bedeutung und die gleiche Trag-weite43. Damit gilt auch die Schranke von Art. 9 Abs. 2 EMRK. Einschränkungen der Reli-gionsfreiheit sind demnach nur zulässig, wenn sie „gesetzlich vorgesehen und in einer de-mokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“Im Kern gewährleistet das Recht auf Religionsfreiheit die Freiheit des Glaubens. Es garan-tiert aber auch die Freiheit des Nichtglaubens bzw. Unglaubens und bietet damit ebenso Schutz für Atheisten, Agnostiker und Skeptiker.44 Eine Staatskirche wird nicht ausgeschlos-sen, gleichwohl dürfen Glaubensinhalte weder vorgeschrieben noch privilegiert werden. Die Religionsfreiheit ist als „Doppelgrundrecht“ ausgestaltet. Gewährleistet ist nicht nur die Freiheit des Individuums, sich mit anderen zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zu-sammenzuschießen. Auch die kollektive Religionsfreiheit ist geschützt, die den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst einen „grundrechtlich gesicherten Freiheitsbereich“ eröff-net.45

3. Status der Kirchen

Die Kirchen hatten schon in der Vergangenheit darauf gedrängt, ihre besondere Stellung in den europäischen Verträgen abzusichern46. Bereits während des Konvents hatte sich die Bundesregierung deshalb dafür eingesetzt, dass die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ausdrücklich auf den rechtlichen Status der Kirchen und Religionsgemein-schaften erstreckt wird. Es wurde vorgeschlagen, den Inhalt der Erklärung Nr. 11 zum Ver-trag von Amsterdam47, wonach die Europäische Union den Status achtet, den Kirchen und religiöse Vereinigungen in den Mitgliedstaaten nach deren Vorschriften genießen, in den Text der Verfassung zu übernehmen und dadurch rechtsverbindlich zu machen. Diese Formulierung hat Art. I-52 EU-Verfassung übernommen: Einbezogen in die Status-wahrung sind neben den Kirchen und religiösen Vereinigungen auch religiöse Gemeinschaf-ten. Klargestellt wird zudem, dass die Union den Status nicht nur achtet, sondern ihn darü-ber hinaus auch „nicht beeinträchtigt“.

42 Gemäß Erklärung Nr. 12 zur Schlussakte der Regierungskonferenz nimmt diese von den „nachstehend wieder-gegebenen Erläuterungen zur Charta der Grundrechte Kenntnis, die unter der Leitung des Präsidiums des Kon-vents zur Ausarbeitung der Charta formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert wurden.“ Diese Erläuterungen „haben als solche keinen rechtlichen Status, stellen jedoch eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.“

43 Art. II-112 Abs. 3 EU-Verfassung.44 Meyer (Fn. 14), Art. 10, Rn. 12.45 Meyer (Fn. 14), Art. 10, Rn. 13 mit weiteren Nachweisen.46 Vgl. hierzu die Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Amsterdam, abgedr. in: Schelter/Hoyer

(Hrsg.), Der Vertrag von Amsterdam, Schriften zur Europäischen Integration, Band 4, 1997, S. 279 f.47 Vom 2. Oktober 1997 (BGBl. 1998 II S. 387 ff.) idF. der Bek. v. 28. April 1999 (BGBl. 1999 II S. 416). Der Text

der Erklärung lautet: „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.“ Diese Erklärung berücksichtigt die Stellung der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, wie sie im innerstaatlichen Recht und für die Bundesrepublik Deutschland unmittelbar im Grundgesetz (Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. Weimarer Reichsverfassung) verankert ist. Vgl. hierzu auch Tempel, in: Im Dienste der Sache, Liber amicorum Gaertner, 2003, S. 667 ff., 670.

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Für die Kirchen ist wichtig, dass ausdrücklich auf ihre Stellung „in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften“ verwiesen wird. Es wird also kein kleinster gemeinsamer Nenner formuliert, der für die Kirche in vielen Ländern mit einer Minderung ihres Status verbunden wäre. Es wird vielmehr ausdrücklich hervorgehoben, dass die Europäische Uni-on diesen Status in den einzelnen Staaten nicht beeinträchtigt.48

Nach Art. I-52 EU-Verfassung pflegt die Union mit den Kirchen und Religionsgemein-schaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen Dialog, der „offen, transparent und regelmäßig“ sein muss. Den Kirchen wird damit im Rahmen der EU-Verfassung erstmals eine eigenständige Rolle zugebilligt. Aus kirchlicher Sicht ist zu-dem die Abgrenzung zum Dialog mit der Zivilgesellschaft49 wichtig, da sie selbst kein be-liebiger Verein sei50.

III. Zusammenfassung

Die Europäische Union hat sich niemals konfessionell definiert. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entscheidet sich allein nach politischen Kriterien. Dennoch enthält der Verfassungsvertrag wichtige Bezüge zur Religion. Hierzu gehört neben der Erwähnung des „religiösen Erbes“ in der Präambel auch das umfassende Recht auf Religionsfreiheit in Art. II-70 und die rechtsverbindliche Verankerung des Status der Kirchen in Art. I-52 EU-Verfassung.Die Verfassung ist weder unchristlich noch unkirchlich. Im Gegenteil: Die Wünsche und Erwartungen der Kirchen wurden stärker erfüllt, als man es noch vor zwei Jahren hätte vor-aussehen können. Die Verfassung trägt dem christlichen Weltbild Rechnung51. Auch wenn die Forderung nach einem ausdrücklichen Gottesbezug nicht durchsetzbar war, so konnte der polnische Ministerpräsident Marek Belka unmittelbar im Anschluss an die Einigung der Staats- und Regierungschefs über die EU-Verfassung zu Recht darauf hinweisen: „Weder Gott noch das Christentum werden darunter leiden.“52 Wichtig ist, dass sich alle 25 Mitgliedstaaten im vereinbarten Verfassungstext wiederfinden können, unabhängig von ihrer verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Tradition gerade auch in religiösen Fragen. Wie jeder Verfassungstext wird sich auch der europäische, der ja im eigentlichen Sinne ein Verfassungsvertrag ist53, fortentwickeln und in der Verfas-sungswirklichkeit mit Leben zu füllen sein. Hierbei wird den Kirchen eine wichtige Rolle zu kommen.

48 Kardinal Lehmann (Fn. 6), S. 10.49 Geregelt in Art. I-47 und I-48 EU-Verfassung.50 „Mehr als bloße Vereine“, so Kardinal Lehmann (Fn. 6), S. 11.51 So die „Gemeinsame Stellungnahme des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden

des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Konvent zur Zukunft Europas, 2002“ (Fn. 4).52 Zitiert nach Katholischer Nachrichtenagentur KNA, vom 20.06.2004.53 Zum Begriff der Verfassung vgl. Haack, EuR 2004, S. 785 ff.

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REZENSIONEN

Alexander Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreihei-ten des EGV, Duncker & Humblot, Berlin 2005, 201 Seiten.

Startet man in einem mündlichen Prüfungsgespräch der 1. juristischen Staatsprüfung den Versuch einer Unterhaltung über die europäischen Gemeinschaftsgrundrechte, so erntet man mitunter selbst bei Wahlfachkandidaten ungläubiges Staunen. Grundrechte? Mit nach-vollziehbarer Strategie wird dann gerne mit dem Hinweis vom Thema abgelenkt, es gebe ja die Grundfreiheiten, die doch so etwas Ähnliches wie die Grundrechte seien. Man mag da-ran erkennen, dass Lehrbücher und akademischen Lehre den Grundfreiheiten zwar einen großen Raum einräumen, die Grundrechte hingegen doch eher stiefmütterlich behandeln und mitunter in den Gliederungen noch immer unter den „Allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ verstecken. Immerhin genießen die Grundrechte dank der Grundrechtecharta, deren Über-leben auch ohne Verfassungsvertrag gesichert sein dürfte, seit einiger Zeit zu Recht ver-stärkte Aufmerksamkeit.Kandidaten, die die hier anzuzeigende, von Rainer Hofmann betreute Dissertation von Ale-xander Schultz gelesen haben, können sich allerdings mit Gelassenheit in das Prüfungsge-spräch zum Thema Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten begeben. Auf erfreulich wenigen Seiten und in schnörkelloser Sprache wird hier das komplizierte Verhältnis zwi-schen Grundfreiheiten und Grundrechten umfassend aufgearbeitet. Im Folgenden sollen vor allem diejenigen Passagen der Arbeit herausgegriffen werden, die zu kritischer Auseinan-dersetzung Anlass geben; diese soll aber keinesfalls den guten Gesamteindruck der Arbeit schmälern:Im 1. Teil des 1. Kapitels (S. 25-103) werden zunächst die Gemeinschaftsgrundrechte und sodann die Grundfreiheiten in ihren dogmatischen Strukturen entwickelt. Bei der Untersu-chung der Gemeinschaftsgrundrechte (1. Kapitel, S. 25-67) ist der Aufwand, den „Geltungs-grund der Gemeinschaftsgrundrechte“ (S. 32) zu ermitteln, relativ groß. Der nicht nur von Schultz verwendete Begriff „Geltungsgrund“ ist dabei etwas missverständlich, denn oft ver-schwimmen hier Fragen nach der materiellen Rechtsquelle und der Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung. Schultz sieht dieses Problem (S. 34), zieht aber mit dem Gebot der loyalen Zusammenarbeit (Art. 10 EGV) eine Bestimmung zur Geltungsbegründung heran, die das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten betrifft und damit auch eher kompeten-tieller denn materiell-rechtlicher Natur ist. Im Übrigen werden in diesem 1. Kapitel die we-sentlichen Streitfragen zu den Grundrechten jeweils knapp zusammengefasst. Dabei wird auch die Grundrechtecharta angesprochen. Schultz stimmt hier in die durchaus verbreitete Kritik am undifferenzierten Schrankensystem der Charta (Art. 52 Abs. 2 GRCh) ein und sieht darin gar ein „grundlegendes Defizit“, das den „Erfolg des ambitionierten Projektes als Ganzes in Frage“ stelle (S. 66). Man mag kritisch zurückfragen: Ist denn das „Schran-kenwirrwarr“ (Bettermann) des Grundgesetzes wirklich ein Exportartikel? Man sollte eher dankbar dafür sein, dass die Charta uns dieses Problem, an dem schon Generationen von Studierenden und Doktoranden verzweifelt sind, erspart hat. Und die Einheitlichkeit der Schranke bedeutet ja auch nicht, dass die Rechtsprechung nicht grundrechtsspezifische Strukturen der Verhältnismäßigkeitsprüfung entwickeln kann wie wir sie in Deutschland etwa von der Meinungs- und der Berufsfreiheit kennen.

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Im 2. Kapitel des 1. Teils (S. 67-103) stellt Schultz die Grundfreiheiten vor. In dem sehr aus-führlichen Teil zu den Funktionen der Grundfreiheiten (S. 68-91) wird die Entwicklung zu einer konvergenten dogmatischen Struktur der Grundfreiheiten nachgezeichnet, die nicht nur Gleichheits-, sondern auch Freiheitsrechte sein sollen. Schultz gesteht aber zu, dass man manches Urteil, das als eine Festlegung des EuGH zugunsten eines freiheitsrechtlichen Ver-ständnisses interpretiert wird, auch gleichheitsrechtlich deuten kann und betont mit Recht, dass die Diskussion insoweit an einem wenig elaborierten Diskriminierungsbegriff leide (vgl. dazu aber die Arbeiten von S. Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäi-schen Gemeinschaftsrecht, 2003 und A. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, 2004).Im 2. Teil (S. 104-181) wird dann das Verhältnis zwischen diesen beiden Schichten subjek-tiv-öffentlicher Rechte im Unionsrecht beleuchtet. Methodisch sauber wird dabei zwischen Konkurrenzen (1. Kapitel, S. 104-111) und Kollisionen (2. Kapitel, S. 112-136) unterschie-den; ein 3. Kapitel (S. 137-181) befasst sich mit den Gemeinschaftsgrundrechten als Schran-ken-Schranken der Grundfreiheiten. Bei der Frage einer möglichen Konkurrenz betont Schultz, dass die spezifisch binnenmarktbezogenen Grundfreiheiten nicht mit den Grund-rechten gleichgesetzt werden dürften. Das ist überzeugend und zutreffend; man muss aller-dings sehen, dass die Grundrechtecharta die Grundfreiheiten zum Teil recht unbekümmert in den Bestand der zu schützenden Grundrechte aufnimmt (vgl. Art. 15 GRCh) und der EuGH die Grundfreiheiten mittlerweile sehr weitgehend wie Grundrechte behandelt. Über-zeugend ist es auch, wenn der Verfasser aus den funktionalen Unterschieden zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten die richtige Konsequenz zieht, dass beide niemals ne-beneinander anwendbar sein können und daher eine Konkurrenzsituation von vornherein nicht entsteht (S. 109).Im 2. Kapitel des 2. Teils wird der umgekehrte Fall, die Kollision zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten, behandelt. An der von Schultz zunächst referierten Rechtsprechung lässt sich erkennen, dass die Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber den Grundfreiheiten als kol-lidierendes Verfassungsrecht zum Tragen kommen, wenn der EuGH Private an die Grund-freiheiten bindet, die sich für ihre „Beeinträchtigungen“ auf ihre Grundrechte berufen kön-nen, wenn Mitgliedstaaten zum Schutze der Grundrechte in die Grundfreiheiten eingreifen oder wenn umgekehrt ein Eingreifen zum Schutze Grundfreiheiten einen unverhältnismäßi-gen Grundrechtseingriff darstellen würde. Schultz kümmert sich sodann auch um die Frage, wo die Grundrechte dogmatisch in den Tatbestand der Grundfreiheiten eingebaut werden sollen (S. 125ff.). Schultz verwirft den eigentlich nahe liegenden Ansatz, die Grundrechte zur Konkretisierung des offenen Rechtfertigungstatbestandes der „öffentlichen Ordnung“ heranzuziehen mit dem Argument, dass dies im Gegensatz zu der Rechtsprechung stehe, die die Schrankentatbestände eng auslege. Das ist zweifelhaft, weil der EuGH sein angeblich enges Verständnis der geschriebenen durch Erfindung einer Fülle von ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen konterkariert. Außerdem: Selbst wenn sie eng auszulegen wären, wären die Grundrechte doch eine Erweiterung der Rechtfertigungsmöglichkeiten ganz un-abhängig davon, in welchem Verhältnis sie zu den geschriebenen Rechtfertigungsgründen stehen. Tatsächlich zieht der EuGH in der Entscheidung Omega (Rs. C-36/02), die Schultz noch nicht berücksichtigen konnte, das Grundrecht der Menschenwürde auch zur Konkreti-sierung des Tatbestandes der öffentlichen Ordnung i. S. v. Art. 30 EG heran.Im 3. Kapitel beschäftigt sich Schultz dann ausführlich mit der Streitfrage, ob die Gemein-schaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten taugen. Der EuGH bejaht dies, und Schultz stützt diese Rechtsprechung im Grundsatz mit dem Hinweis auf die uni-verselle Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte. Schultz will daran auch trotz Art. 51 Abs.

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2 S. 1 GRCh festhalten (S. 180f.), der die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte „ausschließlich bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts“ bindet. Führen denn Mit-gliedstaaten Gemeinschaftsrecht durch, wenn sie dieses beeinträchtigen? Darüber hinaus steht diese These m. E. im Widerspruch zum 1. Kapitel des 2. Teils. Denn dort hat der Ver-fasser ja zu Recht festgehalten, dass es seine Konkurrenz zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten nicht geben könne (S. 109). Wenn man aber die Gemeinschafts-grundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten ansieht, nimmt man genau diese Konkurrenzsituation an, und zwar in Gestalt einer Idealkonkurrenz: Denn der an die Grund-freiheiten gebundene und in diese eingreifende Mitgliedstaat wird aus diesem Grunde zu-gleich an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden! Und das ausgerechnet wegen der uni-versellen Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte, die dann doch auch im 1. Teil zur Annah-me einer Konkurrenz führen müsste. Da ist es dann wohl doch richtiger, von der universel-len Geltung der Grundrechte zu sprechen und darunter entweder die europäischen oder die mitgliedstaatlichen Grundrechte zu verstehen.Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte produzieren viele Streitfragen, die auch in einer Rezension zur kritischen Auseinandersetzung Anlass geben. Das darf aber nicht darü-ber hinwegtäuschen, dass Alexander Schultz eine lesenwerte Dissertation abgeliefert hat, die für alle Freunde der Grundfreiheiten und Grundrechte ein Gewinn ist.

Thorsten Kingreen, Regensburg

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Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, Schriften zum Europäischen Recht, Bd. 98. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2003, 274 S., 70 €.

Manche Bücher halten mehr, als sie versprechen. Zu ihnen gehört die von Rudolf Streinz betreute Dissertation von Christoph Herrmann. Sie untersucht nicht nur, wie ihr Titel ver-muten lässt, inwieweit Richtlinien i. S. v. Art. 249 III EG durch nationales Richterrecht um-gesetzt werden können, sondern enthält zudem eine umfassende dogmatische Analyse der Einwirkung von Richtlinien auf die nationale Rechtsprechung.Diese Analyse bildet den ersten Hauptteil der Arbeit (S. 31-189). Sein Schwerpunkt liegt auf der unmittelbaren Wirkung von Richtlinienbestimmungen und der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts; nur knapp werden die Staatshaftung für Umsetzungsdefi-zite und die richtlinienbezogenen Anforderungen an den nationalen Rechtsschutz darge-stellt. Bei der unmittelbaren Wirkung differenziert Herrmann – im Anschluss an entspre-chende Tendenzen in der neueren Literatur – zwischen negativer und positiver unmittelbarer Wirkung (Pflicht zur Nichtanwendung richtlinienwidrigen nationalen Rechts bzw. zur direk-ten, ggf. richtlinienwidriges nationales Recht ersetzenden Anwendung einer Richtlinienbe-stimmung). Die Unterscheidung wirkt sich schon auf die Voraussetzungen der unmittelba-ren Wirkung aus. So verlangt nach Herrmann die positive unmittelbare Wirkung ein höheres Maß an inhaltlicher Bestimmtheit als die negative. Konsequent ordnet er das vom EuGH hin und wieder geprüfte Kriterium, ob ein Mitgliedstaat sein (Umsetzungs-)Ermessen über-schritten habe, der negativen unmittelbaren Wirkung zu: Die Ermessensüberschreitung führt zur Richtlinienwidrigkeit des nationalen Umsetzungsakts, sagt aber nichts über die Anwen-dungseignung der umzusetzenden Richtlinienvorschrift aus. Die eigentlichen Konsequenzen der Unterscheidung ergeben sich jedoch erst bei der Untersuchung von Richtlinienwirkun-gen im Horizontalverhältnis bzw. im Vertikalverhältnis mit Drittbetroffenheit. Hier gelingt es, die auf den ersten Blick wenig klare Rechtsprechung des EuGH weitgehend in ein bruch-loses System zu bringen. Demnach ist in solchen Konstellationen die negative unmittelbare Wirkung zulässig, die positive unmittelbare Wirkung aber nur dann, wenn sie nicht zu einer (gerichtlich durchsetzbaren) Verpflichtung von Einzelnen führt. Unterhalb dieser Schwelle liegende Belastungen Einzelner durch die Anwendung einer Richtlinie (z. B. durch Anle-gung eines strengeren Maßstabs in Genehmigungsverfahren) sind demgegenüber zulässig. An ihre Grenzen stößt Herrmanns Konzeption bei Fällen, in denen es um die Anwendbar-keit technischer Vorschriften im Horizontalverhältnis geht, die unter Verstoß gegen in einer Richtlinie vorgesehene Verfahren erlassen wurden. Dieses Schicksal teilt sie freilich mit den meisten konkurrierenden Erklärungsmodellen.Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ordnet Herrmann zutreffend als rechtlich verbindliches Gebot ein, das uneingeschränkt am Vorrang des Gemeinschaftsrechts teilhat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie ihrem Inhalt nach dazu verpflichtet, die nationale Me-thodik außer Acht zu lassen: Das nationale Recht ist nach der Rechtsprechung des EuGH nur „so weit wie möglich“ – und das heißt: so weit wie im Rahmen der nationalen Methodik möglich – anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen. Diesen von der (deutschen) nationalen Methodik gezogenen Rahmen lotet Herrmann detailliert und souve-rän aus. Die Pflicht zur Konformauslegung ist demnach nicht darauf beschränkt, von meh-reren mittels richtlinienisolierter Auslegung des nationalen Rechts nach nationaler Metho-dik gewonnenen Auslegungsergebnissen das eine oder andere für vorzugswürdig zu erklä-ren. Vielmehr seien bereits im Auslegungsvorgang selbst – nämlich im Rahmen der gram-matikalischen und der objektiv-teleologischen Auslegung – Wortlaut und Zweck der

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Richtlinie zu berücksichtigen. Dabei könne der in der nationalen Methodik als Auslegungs-grenze anerkannte klare Wille des Gesetzgebers die richtlinienkonforme Auslegung nicht mehr beschränken, da die Befugnis zur legislativen Zwecksetzung im Kompetenzbereich der Gemeinschaften durch Art. 23 GG i. V. m. Art. 249 III EG auf den Gemeinschaftsge-setzgeber übergegangen sei. Auch der Wortlaut markiere nicht das Ende der richtlinienkon-formen Auslegung (oder besser: Interpretation, da der EuGH von einem umfassenden Inter-pretationsverständnis ausgeht, ohne anhand des Wortlauts zwischen Auslegung und Rechts-fortbildung zu trennen), weil er zwar die Auslegung (i. S. d. nationalen Methodik), nicht aber schlechthin die methodologisch zulässige Bearbeitung einer Vorschrift begrenze. So-weit nach nationaler Methodik die – freilich an erhöhte Voraussetzungen geknüpfte – Rechtsfortbildung zulässig sei, verlange die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung grundsätzlich auch eine Fortbildung des nationalen Rechts. Bei dem hierfür heranzuziehen-den Wertungsmaßstab sei allerdings zu differenzieren: Während die richtlinienkonforme Reduktion (negative Konforminterpretation) sich maßgeblich am Richtlinienziel orientieren könne, bedürfe es für die richtlinienkonforme Analogie (positive Konforminterpretation) stets eines Ansatzpunkts im nationalen Recht, da eine ausschließlich aus der Richtlinie her-aus entwickelte Analogie zu einer positiven unmittelbaren Wirkung führte, ohne notwendig auch deren Voraussetzungen zu erfüllen. Das Erfordernis eines Ansatzpunktes im nationalen Recht spricht im Übrigen – neben grundsätzlichen methodologischen Einwänden – gegen die Erstreckung der Pflicht zur Konforminterpretation auf eine Rechtsfortbildung extra bzw. contra legem.Der zweite Hauptteil der Arbeit (S. 190-252) ist der Umsetzung von Richtlinien durch Rich-terrecht gewidmet. Herrmann geht zunächst der Frage nach, ob die Rechtsprechung schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonformes Richterrecht schaffen darf. Dies be-jaht er für die Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, nicht aber für eine darüber hinausgehende Rechtsfortbildung. Diese sei – als „Ersatzhand-lung“ für legislative Versäumnisse – erst dann zulässig, wenn der Gesetzgeber seine inso-weit primäre Zuständigkeit während der Umsetzungsfrist nicht hinreichend wahrgenommen habe. Anschließend untersucht er, inwieweit zulässigerweise gebildetes Richterrecht als hin-reichende Richtlinienumsetzung angesehen werden kann. Auch hier fällt die Antwort in Be-zug auf rechtsfortbildendes Richterrecht negativ aus, da dieses nicht hinreichend klar und bestimmt sei. Demgegenüber könne die Konkretisierung von Generalklauseln unter be-stimmten Voraussetzungen den gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsanforderungen genü-gen; letztlich scheitere sie jedoch aus methodologischen und verfassungsrechtlichen Grün-den.Christoph Herrmann hat mit seiner Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Dogmatik der Richtlinienwirkungen im nationalen Recht geleistet. Seine Arbeit zeichnet sich nicht nur durch ein hohes Argumentationsniveau, sondern auch durch einen klaren analytischen Blick aus. Mehrere nach dem Erscheinen der Dissertation ergangene Entscheidungen des EuGH bestätigen die Tragfähigkeit einiger ihrer zentraler Thesen. Wer sich wissenschaftlich mit den Wechselwirkungen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Thomas Groh, Dresden

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BIBLIOGRAPHIE

Zusammengestellt von der Schriftleitung der Zeitschrift Europarecht

unter Mitarbeit von Florian Gröblinghoff

Bücher und Zeitschriften

Abkürzungsverzeichnis

AG ........................................... Die Aktiengesellschaft

AgrarR .................................... Agrarrecht

AJDA ...................................... L’Actualité Juridique Droit Administratif

ALJ .......................................... .Antitrust Law Journal

AÖR ........................................ Archiv des Öffentlichen Rechts

ArbRB ..................................... Arbeitsrechts-Berater

AuA ......................................... Arbeit und Arbeitsrecht

AuR ......................................... Arbeit und Recht

AVR ......................................... Archiv des Völkerrechts

BayVBl .................................... Bayerische Verwaltungsblätter

BB ........................................... Betriebsberater

Blätter ...................................... Blätter für deutsche und internationale Politik

CDE ......................................... Cahiers de Droit Européen

CMLR ..................................... Common Market Law Review

CRI .......................................... Computer und Recht International

Verw ........................................ Die Verwaltung

DB ........................................... Der Betrieb

DS ........................................... DER STAAT

DÖD ........................................ Der Öffentliche Dienst

DÖV ........................................ Die Öffentliche Verwaltung

DVBl ....................................... Deutsches Verwaltungsblatt

DVP ......................................... Deutsche Verwaltungspraxis

ECFR ...................................... European Company and Financial Law Review

EIPR ........................................ European Intellectual Property Review

EJIL ......................................... European Journal of International Law

ELF ......................................... The European Legal Forum

ELRev ..................................... European Law Review

EuGRZ .................................... Europäische Grundrechtszeitung

EurUP ...................................... Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht

EuZ .......................................... Zeitschrift für Europarecht

EuZW ...................................... Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWS ........................................ Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht

GewArch ................................. Gewerbearchiv

GPR ......................................... Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht

GRUR ...................................... Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht

GRUR int ................................ Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht international

IHR .......................................... Internationales Handelsrecht

IIC ........................................... International Review of Industrial Property and Copyright Law

inte ........................................... integration

IPG .......................................... Internationale Politik und Gesellschaft

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EuR – Heft 5 – 2005690

IPrax ........................................ Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts

JA ............................................ Juristische Arbeitsblätter

JB ............................................ Juristische Blätter

JCMS ...................................... Journal of Common Market Studies

JuS ........................................... Juristische Schulung

JR ............................................ Juristische Rundschau

JRP .......................................... Journal für Rechtspolitik

JZ ............................................. Juristenzeitung

Kreditwesen ............................ Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen

K&R ........................................ Kommunikation und Recht

KritJ ......................................... Kritische Justiz

KritV ....................................... Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

LIEI ......................................... Legal Issues of Economic Integration

MedizinR ................................. Medizinrecht

MDR ....................................... Monatsschrift für Deutsches Recht

MJECL .................................... Maastricht Journal of European and Comparative Law

MJIL ........................................ Maastricht Journal of International Law

MRM ....................................... MenschenRechtsMagazin

NdsVBl ................................... Niedersächsische Verwaltungsblätter

NILR ....................................... Netherlands International Law Review

NJ ............................................ Neue Justiz

NJB ......................................... Nederlands Juristenblad

NJIL ........................................ Nordic Journal of International Law

NJW ........................................ Neue Juristische Wochenschrift

NUR ........................................ Natur und Recht

NVwZ ..................................... Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NWVBl ................................... Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter

NZA ........................................ Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

ÖJ ............................................ Österreichische Juristenzeitung

OR ........................................... Osteuropa Recht

OstEur ..................................... Osteuropa

OstEurW ................................. Osteuropa-Wirtschaft

ÖZÖR ...................................... Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht

RabelsZ ................................... Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RdA ......................................... Recht der Arbeit

RdE ......................................... Recht der Energiewirtschaft

RDIDC .................................... Revue de Droit international et de droit comparé

RdW ........................................ Recht der Wirtschaft

RIW ......................................... Recht der Internationalen Wirtschaft

RL ........................................... Recht der Landwirtschaft

RMCUE .................................. Revue du marché commun et de l’Union Européenne

RTDE ...................................... Revue Trimestrielle Droit Européen

RuP .......................................... Recht und Politik

SächsVBl ................................. Sächsische Verwaltungsblätter

SEER ....................................... South East European Review for Labour and Social Affairs

SEW ........................................ Tijdschrift voor Europees en economisch recht

S+F .......................................... Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden

SZIER ..................................... Schweizer Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht

ThürVBl. ................................. Thüringer Verwaltungsblätter

Bibliographie

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691EuR – Heft 5 – 2005Bibliographie

UPR ......................................... Umwelt und Planungsrecht

VBlBW ................................... Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

VerwArch.. .............................. Verwaltungsarchiv

VergabeR ................................. Zeitschrift für Vergaberecht

VN ........................................... Vereinte Nationen

VR ........................................... Verwaltungsrundschau

Wbl .......................................... Wirtschaftsrechtliche Blätter

WiVerw ................................... Wirtschaftsverwaltung

WRP ........................................ Wettbewerb in Recht und Praxis

WuW ....................................... Wirtschaft und Wettbewerb

ZaöRV ..................................... Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZAR ......................................... Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

ZEUP ....................................... Zeitschrift für Europäisches Privatrecht

ZEUPR .................................... Zeitschrift für Europäisches Umwelt und Planungsrecht

ZEUS ....................................... Zeitschrift für Europarechtliche Studien

ZfU .......................................... .Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht

ZfRV ........................................ Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und

Europarecht

ZFW ........................................ Zeitschrift für Wasserrecht

ZLW ........................................ Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht

ZNER ...................................... Zeitschrift für neues Energierecht

ZRP ......................................... Zeitschrift für Rechtspolitik

ZUM ........................................ Zeitschrift für Urheber und Medienrecht

ZUR ......................................... Zeitschrift für Umweltrecht

ZvglRWis ................................ Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

ZWR ........................................ Zeitschrift für Wasserrecht

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EuR – Heft 5 – 2005692

I. Zeitschriften

Allgemeines zur Integration – Vertrag von Nizza – Richtlinien

Amato, Giuliano, Europa neu denken! Nach der Sint-flut. Die jüngsten Rückschläge sind eine heilsame Lek-tion, IPol 2005, S.13-16

Archibuge, Daniele/Coco, Alberto, Is Europe Becoming the Most Dynamic Knowledge Economy?, JCMS 2005, S.433-460

Balaguer Callejón, Francisco, Internationale und inter-ne Ebenen und Techniken zur Verwirklichung von Rechten in Europa. Eine Verfassungssicht, JöR 2005, S.411-428

Beck, Ulrich, Das kosmopolitische Empire. Ein Plädo-yer für ein Europa jenseits des Nationalstaats, IPol 2005, S.6-12

Bogdandy, Armin von, The prospect of a European re-public: what European citizens are voting on, CMLR 2005, S.913-941

Borgers, M.J., De implementatie van het Europese bev-riezingsbevel en de systematiek van rechtsbescherming en rechtseenheid, NJB 2005, S.1455-1460

Burns, Charlotte, How costs and Benefits Shape the Policy Influence of the EP, JCMS 2005, S.485-506

Bußjäger, Peter, Linearität oder Komplexität? Zur Pro-blematik der Theorie von Mehrebenensystemen am Beispiel der Europäischen Union, ZöR 2005, S.237-261

Colneric, Ninon, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, S.225-233

Constantinesco, Vlad, Les compétences et le principe de subsidiarité, RTDE 2005, S.305-318

Dougan, Michael, Legal Developments, JCMS – The European Union 2005, S.89-108

Fröhlich, Stefan, Europas wirtschaftliche Schwäche. Eine magere Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie, IPol 2005, S.40-46

Glöckner, Jochen, Ist die Union reif für die Kontrolle an der Quelle?, WRP 2005, S.795-808

Grimwade, Nigel, Developments in the Economies of the “Fifteen”, JCMS – The European Union 2005, S.181-198

Guérot, Ulrike, Stell dir vor, es gibt Europa und keiner macht mit. Einige persönliche Betrachtungen, IPol 2005, S.47-49

Häberle, Peter, Der europäische Jurist vor den Aufga-ben unserer gemeinsamen Verfassungs-Zukunft – 17 Entwürfe auf dem Prüfstand, JöR 2005, S.457-511

Herzog, Philippe, Après le référendum : relancer uns dynamique d’Union politique, RMCUE 2005, S.424-428

Howarth, David, Internal Policy Developments, JCMS – The European Union 2005, S.63-84

Jacqué, Jean-Paul, De la Convention à la Conférence intergouvernementale, RTDE 2005, S.227-242

Keeler, John T.S., Mapping EU Studies, JCMS 2005, S.551-582

Kilian, Michael, Walter Hallstein: Jurist und Europäer, JöR 2005, S.369-389

Lamers, Karl, Die Fundamente tragen noch. Wie Euro-pa seine Bürger wiedergewinnen kann, IPol 2005, S.29-34

Meyer, Harald/Schallenberger, Gisbert, Die EU-Flücht-lingsrichtlinie: Das Ende für das Forum Internum und Abschied von der Zurechnungstheorie?, NVwZ 2005, S.776-778

Paster, Thomas, The New Models of EU Governance: Combining Rationalism and Constructivism in Explai-ning Voluntarist Policy Coordination in the EU, ÖZP 2005, S.147-161

Patel, Kiran Klaus, Wie Europa seine Bürger verlor. Für mehr Teilhabe: Europäisierung und die Defizite der Integration, IPol 2005, S.22-28

Piris, Jean-Claude, L’Union européenne : vers une nouvelle orme de fédéralisme ?, RTDE 2005, S.243-260

Rees, Nicholas, The Irish Presidency: A Diplomatic Triumph, JCMS – The European Union 2005, S.55-58

Ritleng, Dominique, Le principe de primauté du droit de l’Union, RTDE 2005, S.285-304

Schweizer, Rainer J., Der Status des extrakorporalen Embryos. Möglichkeiten und Grenzen der Harmonisie-rung durch völkerrechtliche und europarechtliche In-strumente, ÖZÖR 2005, S.263-278

Settembri, Pierpaolo, Transparency and the EU Legis-lator, JCMS 2005, S.637

Bibliographie

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693EuR – Heft 5 – 2005Bibliographie

Urlesberger, Franz, Europarecht: Das Neueste auf ei-nen Blick, wbl 2005, S.212-215

Van Ham, Peter, The Dutch Presidency: An Assess-ment, JCMS – The European Union 2005, S.59-62

Vogenauer, Stefan, Eine gemeineuropäische Methoden-lehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2005, S.234-263

Weidig, Hevré, Les perspectives d’avenir sur la breveta-bilité des logiciels, RMCUE 2005, S.510-515

Organe – Kompetenzen – EPZ

Weyembergh, Anne, The Functions of Approximation of Penal Legislation within the European Union, MJE-CL 2005, S.149-172

Verfassungs- und Verwaltungsrecht – Grundrechte – Konvent – Unionsbürgerschaft

Balaguer Callejón, Francisco, Die europäische Verfas-sung auf dem Weg zum Europäischen Verfassungs-recht, JöR 2005, S.401-410

Benoît-Rohmer, Florence, Valeurs et droits fondamen-taux dans la Constitution, RTDE 2005, S.261-284

Blanchet, Thérèse, Les instruments juridiques de l’Union et la rédaction des bases juridiques : situation actuelle et rationalisation dans la Constitution, RTDE 2005, S.319-344

Blumann, Claude, Les institutions de l’Union dans le cadre du Traité établissant une Constitution pour l’Europe, RTDE 2005, S.345-374

Bogdandy, Armin von, Konstitutionalisierung des euro-päischen öffentlichen Rechts in der europäischen Re-publik, JZ 2005, S.529-540

Champeil-Desplates, Véronique, Commentaire de la décision du Conseil constitutionnel n° 2004 – 505 DC du 19 novembre 2004 relative au Traité établissant une Constitution pour l’Europe, RTDE 2005, S.557-580

Dinan, Desmond, Governance and Institutions: A New Constitution and a New Commission, JCMS – The Eu-ropean Union 2005, S.37-54

Grosclaude, Laurence, La clause de retrait du Traité établissant une Constitution pour l’Europe : réflexions sur un possible marché de dupes, RTDE 2005, S.533-548

Heitsch, Christian, Verkehrsaufteilung in Flughafen-systemen: Ein Beispiel für die Europäisierung des Ver-waltungsrechts, 75-87

Hölscheidt, Sven, Europäischer Konvent, Europäische Verfassung, nationale Parlamente, JöR 2005, S.429-456

Jacqué, Jean-Paul, Les dispositions générales et fina-les du Traité établissant une Constitution pour l’Europe, RTDE 2005, S.549-556

Kemmerer, Alexandra, Verfassungskritisch ist keine Lösung. Die Hochglanz-EU ist am Ende, nicht aber der Vertrag, IPol 2005, S.36-39

Milej, Tomasz, Verfassungsrechtliche Konsequenzen der EU-Mitgliedschaft, OstEuropaR 2005, S.175-180

Sauron, Jean-Luc, Un bouleversement discret de la gouvernance européenne: la troisième partie de la Con-stitution, RTDE 2005, S.411-436

Stelkens, Ulrich, Die „Europäische Entscheidung“ als Handlungsform des direkten Unionsrechtsvollzugs nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ZEuS 2005, S.61-97

Stelkens, Ulrich, Probleme des Europäischen Verwal-tungsvertrags nach dem Vertrag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft und dem Vertrag über eine Verfassung in Europa, EuZW 2005, S.299-304

Wessels, Wolfgang, The Constitutional Treaty – Three Readings from a Fusion Perspectives, JCMS – The Eu-ropean Union 2005, S.11-36

Rechtsverhältnisse zwischen EG und Mitgliedstaaten – Kompetenzen

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Bruter, Michael, Developments in the “Old” Member States, JCMS – The European Union 2005, S.147-162

Garcia-Duran Huet, Patricia, Vers l’Europe des euro-régions ? L’objectif de « cohésion territoriale », RM-CUE 2005, S.499-503

Konzen, Horst, Auswirkungen der europäischen Recht-sentwicklung auf das deutsche Arbeitsrecht – eine ak-tuelle Zwischenbilanz, ZFA 2005, S.189-209

Navas Navarro, Susana, Umsetzung der EG-Ver-brauchsgüterkaufrichtlinie in Spanien, IHR 2005, S.89-102

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EuR – Heft 5 – 2005694

Picht, Robert, Die mutige Republik. Polen und die eu-ropäische Krise, IPol 2005, S.17-21

Preuß, Nicola, Europarechtliche Probleme der deut-schen Notariatsverfassung, ZEuP 2005, S.291-321

Puttler, Adelheid, Die neuen Vertragsänderungsverfah-ren der Europäischen Verfassung im Lichte des Grund-gesetzes. Ihre Vereinbarkeit mit Art. 23 GG und erfor-derliche Verfassungsänderungen, DÖV 2005, S.401-410

Internationale Organisationen und ihre Beziehungen zur EG

Berg, Werner/Beck, Jochen, Zur jüngsten Rechtspre-chung der Gemeinschaftsgerichte zur unmittelbaren Anwendung von WTO-Recht im Gemeinschaftsrecht. Die Urteile in Sachen Biret, Chiquita und Van Parys, (Zugleich Anmerkung zu EuGH Rs. C-93/02, EuG Rs. T-19/01, EuGH, Schlussantrag GA – Rs. C-377/02), RIW 2005, S.401-411

Steinbach, Armin, Zur Rechtswirkung von WTO-Streit-beilegungsentscheidungen in der Gemeinschaftsrechts-ordnung. Zugleich Anmerkung zum EuGH-Urteil Léon von Pary (EuGH Rs. C-377/02), EuZW 2005, S.331-335

Beziehungen zu Drittländern – Beitritt/Osterweiterung – Zollunion

Baudin, Pierre, Les relations entre la Chine et l’Union européenne, jusque et y compris l’accord textiles du 10 juin 2005, RMCUE 2005, S.428-434

Henderson, Karen, Developments in the New Member States and Applicant Countries, JCMS – The European Union 2005, S.163-180

Johnson, Debra, Developments in the Economies of the New Member States and the Candidate Countries, JCMS – The European Union 2005, S.199-214

Nußberger, Angelika, Die „Zweite Wende“: Zur Verfas-sungsentwicklung in den Ländern Mittel- und Osteuro-pas im Zuge der EU-Erweiterung, DÖV 2005, S.357-367

Rosecrane, Richard, Europa gehört die Zukunft. Ame-rika ist altmodisch, Europa modern. Sie brauchen ein-ander, IPol 2005, S.52-56

Smith, Julie, Enlarging the European Union, JCMS – The European Union 2005, S.127-130

Yenal, Alparslan, EU-Mitgliedschaft der Türkei. The-sen zur aktuellen Debatte, RuP 2005, S.114-118

Wettbewerbspolitik – Staatliche Beihilfen – Öffentliche Unternehmen – Freier Warenverkehr – Wirtschaftsrecht

Bartosch, Andreas, Die Durchsetzung der Beihilfe-rechtswidrigkeit staatlicher Maßnahmen vor nationalen Gerichten, EuZW 2005, S.396-400

Ghérari, Habib, La relance du contentieux Airbus-Boing : suite et fin ?, RMCUE 2005, S.493-499

Knill, Christoph/Lenschow, Andrea, Compliance, Com-petition and Communication, JCMS 2005, S.583-606

Lehr, Marc, Europäisches Wettbewerbsrecht und kom-munale Daseinsvorsorge, DÖV 2005, S.542-551

Neframi, Eleftheria, La politique commerciale commu-ne selon le Traité établissant une Constitution pour l’Europe, RTDE 2005, S.473-492

Scharpf, Christian, Der Einfluss des Europarechts auf die Daseinsvorsorge, EuZW 2005, S.295-299

Wielsch, Dan, Wettbewerbsrecht als Immaterialgüter-recht, EuZW 2005, S.391-396

Freizügigkeit – Arbeits- und Sozialrecht

Barrett, Gavin, Light acquired on acquired rights: Exa-mining developments in employment rights on trans-fers of undertakings, CMLR 2005, S.1053-1105

Bieler, Andreas, Integration and the Transnational Re-structuring of Social Relations, JCMS 2005, S.461-484

Boelaert-Suominen, Sonja, Non-EU nationals and Council Directive 2003/109/EC on the status of third-country nationals who are long-term residents: Five paces forward and possibly three paces back, CMLR 2005, S.1011-1052

Dougan, Michael, Fees, grants, loans and dole cheques: Who covers the costs of migrant education within the EU?, CMLR 2005, S.943-986

Euzéby, Chantal, Pour une redéfinition des droits à la protection sociale en Europe, RMCUE 2005, S.503-510

Groß, Helene, Das Gesetz über die allgemeine Freizü-gigkeit von Unionsbürgern, ZAR 2005, S.81-86

Kugelmann, Dieter, Die Dienstleistungs-Richtlinie der EG zwischen der Liberalisierung von Wachstumsmärk-ten und europäischem Sozialmodell, EuZW 2005. S.327-331

Bibliographie

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695EuR – Heft 5 – 2005Bibliographie

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Tießler-Marenda, Elke, Verbesserter Schutz vor Diskri-minierung? Einführung in den Entwurf für ein Antidis-kriminierungsgesetz, ZAR 2005, S.100-106

Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – Europäisches Gesellschafts-recht

Junker, Abbo, Europäische Aktiengesellschaft und deut-sche Mitbestimmung, ZFA 2005, S.211-224

Krause, Rüdiger, Die Mitbestimmung der Arbeitneh-mer in der Europäischen Gesellschaft (SE), BB 2005, S.1221-1229

Steuern – Währungs- und Finanzpolitik

Angel, Benjamin, La préparation de l’élargissement de la zone euro, RMCUE 2005, S.434-441

Boschert, Friedhelm, Ambitionen und Erfahrungen mit Bankgeschäften in den neuen EU-Mitgliedsländern, kreditwesen 2005, S.462-464

Dieppe, Alistair/Küster, Keith/McAdam, Peter, Optimal Monetary Policy Rules for the Euro Area, JCMS 2005, S.507-538

Ferré, Montserrat, Fiscal Authorities’ Co-operation with Public Deficit Targets, JCMS 2005, S.539-550

Fournié, Francois, Les aspects financiers de la Consti-tution européenne, RTDE 2005, S.375-410

Gramlich, Ludwig/Manger-Nestler, Cornelia, Wäh-rungsrechtliche Aspekte des Reformprojekts „Europäi-sche Verfassung“, kreditwesen 2005, S.478-483

Mayes, David G., The European Central Bank 2004, JCMS – The European Union 2005, S.58-88

Mongelli, Francesco Paolo, EMU and the Properties of Optimum Currency Areas, JCMS 2005, S.607-636

Montagnon, Anne, La cadre financier de l’Union euro-péenne 2007-2013 – Reprendre les négociations au plus vite, RMCUE 2005, S.489-493

Prinz zu Hohenlohe, Franz/Heurung, Rainer/Oblau, Markus, Änderungen des Unternehmenssteuerrechts durch das Richtlinien-Umsetzungsgesetz, RIW 2005, S.433-436

Saß, Gert, Die geänderte steuerliche EU-Fusionsricht-linie, DB 2005, S.1238-1240

Schaumburg, Harald, Außensteuerrecht und europäi-sche Grundfreiheiten, DB 2005, S.1129-1137

Wymeersch, Eddy, The future of financial regulation and supervision in Europe, CMLR 2005, S.987-1010

Zimmermann, Lydia, Mehrwertsteuerstrategie: Stand von Gesetzgebungsverfahren im Bereich indirekte Steuern – was tut sich im Rat der Europäischen Uni-on?, EuGH-URep 2005, S.69-71

Umwelt-, Agrar- und Energiepolitik, Gesundheits- und Verbraucherschutz – Emmissionshandel

Cardwell, Michael/Bodiguel, Luc, Évolution de la défi-nition de l’agriculture pour une agriculture évoluée – Approche comparative Union européenne/Grande-Bre-tagne/France, RMCUE 2005, S.456-467

Erbguth, Wilfried/Schubert, Mathias, Strategische Um-weltprüfung und Umweltverträglichkeitsprüfung: Neue Herausforderungen für die Kommunen? EG-rechtliche Vorgaben und deren Umsetzung in Bundes- und Lan-desrecht. Letztes Beispiel Mecklenburg-Vorpommern, DÖV 2005, S.533-541

Knopp, Lothar/Scheil, Susanne, Aktuelle Entwicklung des europäischen Bodenschutzrechts, EurUP 2005, S.106-114

Scheidler, Alfred, Die Lärmminderungsplanung im Ge-setzentwurf zur Umsetzung der EU-Umgebungslärm-richtlinie, UPR 2005, S.247-253

Schink, Alexander, Die EU-Richtlinie über Umwelthaf-tung – Auswirkungen auf das deutsche Umweltrecht, EurUP 2005, S.67-75

Europäisches Zivilrecht und Strafrecht

Altmeppen, Holger, Änderungen der Kapitalersatz- und Insolvenzverschleppungshaftung aus „deutsch-europä-ischer“ Sicht, NJW 2005, S.1911-191

Ambos, Kai, Is the Development of a Common Sub-stantive Criminal Law for Europe Possible? Some pre-liminary reflections, MJECL 2005, S.173-192

Coester-Waltjen, Dagmar, Der neue europäische Voll-streckungstitel, Jura 2005, S.394-397

Hess, Burkhard, Die Konstitutionalisierung der europä-ischen Privat- und Prozessrechts, JZ 2005, S.540-552

Klip, André, The Constitution for Europe and Criminal Law: a step not far enough, MJECL 2005, S.115-125

Roussos, Kleanthis, Die Fortbildung des griechischen Vertragsrechts unter dem Einfluss der EU-Richtlinien, ZEuP 2005, S.322-337

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EuR – Heft 5 – 2005696

Stork, Florian, Das Gesetz zum Schutz vor Diskrimi-nierungen im Zivilrecht. Umsetzung der Richtlinien 2000/43/EG und 2004/113/EG in das deutsche Privat-recht, ZEuS 2005, S.1-60

Vogel, Joachim, The European Integrated Criminal Ju-stice and Its Constitutional Framework, MJECL 2005, S.125-148

Zimmermann, Reinhard, Die Principles of European Contract Law als Ausdruck und Gegenstand europäi-scher Rechtswissenschaft, Teil 2, Jura 2005, S.441-447

Völkerrecht – Internationales Privatrecht

Becker, Florian, IGH-Gutachten über „Rechtliche Kon-sequenzen des Baus einer Mauer in den besetzten pa-lästinensischen Gebieten“, AvR 2005, S.218-239

Orakhelashvili, Alexander, International Public Order and the International Court’s Advisory Opinion on Le-gal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, AvR 2005, S.240-256

Seidel, Gerd, Reform der UNO, RuP 2005, S.85-98

GASP/ESPV/Justiz und Inneres

Allen, David/Smith, Michael, External Policy Develop-ments, JCMS – The European Union 2005, S.109-126

Labayle, Henri, L’Espace de liberté, sécurité et justice dans la Constitution pour l’Europe, RTDE 2005, S.437-472

Maddalon, Philippe, L’action extérieure de l’Union eu-ropéenne, RTDE 2005, S.493-532

Miles, Lee, A Fusing europe in a Confusing World?, JCMS – The European Union 2005, S.1-10

Monar, Jörg, Justice and Home Affairs, JCMS – The European Union 2005, S.131-146

Trombetta, Stéphanie, La protection des intérêts nati-onaux de la défense quand la défense devient euro-péenne – Les évolutions de l’article 296 TCE, RMCUE 2005, S.441-451

Menschenrechte

Gundel, Jörg, Das Verbot der ideellen Rundfunkwer-bung auf dem Prüfstand der EMRK. Anmerkungen zu zwei neueren Entscheidungen des EGMR, ZUM 2005, S.345-351

Kadelbach, Stefan, Der Status der Europäischen Men-schenrechtskonvention im deutschen Recht, Jura 2005, S.480-486

Rechtsprechung – EuGH, EuG – Vollstreckung – Rechtsschutz – Urteilsanmerkungen

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De Weerth, Jan, Zur rückwirkenden Anwendung von EuGH-Urteilen am Beispiel der „Manninen“-Entschei-dung des EuGH, DB 2005, S.1407-1412

Desmoulin, Gil, La Cour et les Ètats : qui contrôle qui ? Indépendance de la Cour des comptes européenne et souveraineté des États membres, RMCUE 2005, S.515-524

Dutta, Anatol/Heinze, Christian A., Anmerkung zu EuGH Rs. C-149/02 (Prozessführungsverbote im eng-lischen und europäischen Zivilverfahrensrecht), ZEuP 2005, S.431-461

Eichenhofer, Eberhard, Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen koordinierenden Sozialrecht, JZ 2005, S.558-565

Haltern, Ulrich, Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, VerwArch 2005, S.311-347

Haukeland Fredriksen, Halvard, Individualklagemög-lichkeiten vor den Gerichten der EU nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ZEuS 2005, S.99-133

Seyr, Sibylle, Dosenpfand ade? Anmerkung zu EuGH Rs. C-463/01, C-309/02, EurUP 2005, S.96-98

Lotze, Andreas, Daseinsvorsorge oder Wettbewerb? Zu den vergaberechtlichen Konsequenzen der EuGH-Ent-scheidung, „Stadt Halle“ für die Ver- und Entsorgungs-wirtschaft, (Zugleich Anmerkung zu EuGH Rs. C-26/03), VergabeR 2005, S.278-287

Merdzo, Paul, Der Fall „IMS Health“ und das Span-nungsverhältnis zwischen nationalen Immaterialgüter-rechten und dem europäischen Wettbewerbsrecht, (zugl. Anmerkung zu: EuGH Rs. C-481/01 P), ZEuS 2005, S.135-174

Nieskens, Hans, Grundstücksumsätze im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, EuGH-URep 2005, S.63-68

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697EuR – Heft 5 – 2005Bibliographie

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Röthel, Anne, Anmerkung zu EuGH Rs. C-237/02 (Missbräuchlichkeitskontrolle nach der Klauselrichtli-nie: Aufgabenteilung im supranationalen Konkretisie-rungsdialog), ZEuP 2005, S.421-427

Schabel, Thomas, Anmerkung zu EuGH Rs. C-34/03 (Beteiligung „vorbefaßter“ Personen; Wettbewerbsver-fälschung; Beweislast; „Fabricom“), VergabeR 2005, S.326-328

Streinz, Rudolf, Anmerkung zu EuGH Rs. C-239/02 (Harmonisierung der Rechtsvorschriften; Auslegung der Richtlinien über Kaffee- Zichorienextrakte und über die Etikettierung von Lebensmitteln...), JuS 2005, S. 549-551

Thouvenin, Jean-Marc, Chronique de la concurrence, jurisprudence des années 2003 et 2004 – Première par-tie, RMCUE 2005, S.467-474

Thouvenin, Jean-Marc, Chronique de la concurrence, jurisprudence des années 2003 et 2004 – Second partie, RMCUE 2005, S.524-534

Triantafyllou, Dimitris N., La géographie et la Cour de justice – La contribution du juge à l’usage de termes géographiques, RMCUE 2005, S.451-456

Wollenschläger, Ferdinand, Anmerkung zu EuGH Rs. C-456/02 (Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe für Uni-onsbürger ohne wirtschaftliche Tätigkeit; Michel Tro-jani), EuZW 2005, S.309-312

II. Monographien

Allgemeines zur Integration – Vertrag von Nizza – Richtlinien

Sichert, Markus, Grenzen der Revision de Primärrechts in der Europäischen Union, Duncker & Humblot, Ber-lin 2005, 916 S.

Smismans, Stijn, Civil Society and Legitimate Euro-pean Governance, Edward Elgar Publishing, Chelte-nahm 2005, 240 S.

Tiedtke, Andreas, Demokratie in der europäischen Uni-on, Duncker & Humblot, Berlin 2005, 290 S.

Rechtsverhältnisse zwischen EG und Mitgliedstaaten – Kompetenzen

Bertelmann, Heiko, Die Europäisierung des Staatshaf-tungsrechts – Eine Untersuchung zum Einfluss des eu-ropäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Staatshaftungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Haftung für judikatives Unrecht, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 264 S.

Eichele, Wolfgang, Auswirkungen des Europarechts, insbesondere des Wettbewerbs- und Kartellrechts auf das deutsche Anwaltsberufsrecht, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 206 S.

Quirling, Christian, Die Nach-Bosman-Ära – Ord-nungsgemäße Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben im österreichischen und deutschen Verbands-recht am Beispiel des Fußballsports, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 250 S.

Schönborn, Tim, Die Causa Austria – Zur Zulässigkeit bilateraler Sanktionen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 461 S.

Wettbewerbspolitik – Staatliche Beihilfen – Öffentliche Unternehmen – Freier Warenverkehr – Wirtschaftsrecht

Natz, Alexander, Marktregulierung durch Arzneimittel-festbeträge – Gesetzliche Krankenkassen im Lichte des Wettbewerbsrechts der EU und der USA, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 250 S.

Shuibhne, Niamh Nic, Regulating the Internal Market, Edward Elgar Publishing, Cheltenahm 2005, 304 S.

Weatherill, Stephen, EU Consumer Law and Policy, Edward Elgar Publishing, Cheltenahm 2005, 288 S.

Wolf, Felix, Terrorversicherung und europäisches Wett-bewerbsrecht, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 221 S.

Freizügigkeit – Arbeits- und Sozialrecht

Adnett, Nick/Hardy, Stephen, The European Social Mo-del, Edward Elgar Publishing, Cheltenahm 2005, 272 S.

Horstmann, Hendrik, Arbeitsrechtliche Maßnahmen in Übernahmeauseinandersetzungen nach dem Wertpa-piererwerbs- und Übernahmegesetz – Unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Übernahmerichtli-nie, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 313 S.

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EuR – Heft 5 – 2005698

Umwelt-, Agrar- und Energiepolitik, Gesundheits- und Verbraucherschutz – Emmissionshandel

Klink, Thomas, Pauschale Ermächtigung zur Umset-zung von europäischem Umweltrecht mittels Rechts-verordnung, Duncker & Humblot, Berlin 2005, 220 S.

Urheberrecht – Markenrecht – Patentrecht

Buhrow, Astrid, Markenmäßiger Gebrauch im Span-nungsfeld von horizontaler und vertikaler Benutzung

Bibliographie

– Eine Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 155 S.

Völkerrecht – Internationales Privatrecht

Braune, Bernhard, Rechtsfragen der nachhaltigen Ent-wicklung im Völkerrecht, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main u.a. 2005, 257 S.

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt ein Prospekt der Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wir bitten freund-lichst um Beachtung.

Die Zeitschrift EUROPARECHT erscheint sechsmal im Jahr. Schriftleitung: Armin Hatje und Ingo Brinker. Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Armin Hatje, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, Telefon: (0521) 106 44 12, Telefax: (0521) 106 60 37; RA Dr. Ingo Brinker LL.M., c/o Gleiss Lutz Hootz Hirsch, Prinzregentenstraße 50, 80538 München.

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ISSN 0531-2485

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