E4K November 11/1993 F5931 E der CDU/CSU Verantwortung...E4K Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU...

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E4K Evangelischer Arbeitskreis der CDU/CSU November 11/1993 F5931 E Verantwortung „Macht und Verantwortung - Politik im Dienste der Menschen" :hen Borchert Politik wird heutzutage ständig hinterfragt und kritisiert. Medienvorwürfe gipfeln in Anklagen wie Macht- mißbrauch, Selbstbedienung und Verantwortungslosigkeit. Politik darf nach meinem Verständnis - weder in unkontrollierter Macht münden, - ,ioch persönliche Profilierung - noch kurzfristige Wahlerfolge suchen. Politik muß dienen. Jochen Borchert: Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und For- sten, Bundesvorsitzender des EAK der CDU/CSU Politische Verantwortung zu haben, bedeutet Gestaltungsmöglichkeiten zum Besten der Bürgerinnen und Bür- ger zu nutzen, bedeutet, im Sinne des Ganzen zu wirken. Politische - aber auch wirtschaftliche - Macht muß deshalb verantwortliches Handeln sein zum Wohle der Menschen und zur Bewahrung der uns anvertrau- ten Schöpfung. Glaubwürdigkeit bedingt Ehrlichkeit und Kompetenz. Ehrlichkeit und Kom- petenz bedingen einen festen Wertehin- tergrund. Wir haben diesen Wcrtehin- tergrund. Wir sind Christen. Das „C" in unserer Partei ist dabei mehr als nur die einfache Kurzformel „Christliches Menschenbild". Zum Christentum gehören der Glaube an Gott, die Einsicht, daß der Mensch als Geschöpf Gottes endlich ist und die Achtung vor dem Schöpfungs- werk Gottes - unserer Erde. Diese christlichen Überzeugungen sind für die Politik Auftrag und Ver- pflichtung zugleich. Mit der in unserer Einladung zitierten Jahreslosung „Man muß Gott mehr ge- horchen als den Menschen" bekennen wir uns dazu, daß unser menschliches Handeln nicht ohne Fehler oder Schuld ist, daß unserem Handeln Grenzen ge- setzt sind und daß wir nicht alles tun wollen, was machbar wäre, wenn es gegen unsere christliche Grundhaltung spricht. Christen wissen um die Begrenztheit ihres Tuns. An dieser Stelle möchte ich ausdrück- lich das Engagement des EAK in der Grundsatzprogramm-Diskussion her- vorheben. Der EAK hat seinen Beitrag dazu geleistet, daß unser christliches Ver- ständnis auch im neuen Grundsatzpro- gramm-Entwurf der Union verankert ist. Damit haben wir eine gute Ausgangsba- sis, um die Alltagsprobleme zu lösen, neue Themen aufzugreifen und über den Tellerrand hinaus zukünftige Ent- wicklungspfade aufzuzeigen. Aufgaben - drängende und unauf- schiebbare Aufgaben - gibt es genug, fast zuviele! Wir müssen die innere Einheit unse- res Landes vorantreiben, unser Sozial-

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E4KEvangelischerArbeitskreisder CDU/CSU

November 11/1993 F5931 E

Verantwortung„Macht und Verantwortung -Politik im Dienste der Menschen"

:hen Borchert

Politik wird heutzutage

ständig hinterfragt und

kritisiert.

Medienvorwürfe gipfeln in

Anklagen wie Macht-

mißbrauch, Selbstbedienung

und Verantwortungslosigkeit.

Politik darf nach meinem

Verständnis

- weder in unkontrollierter

Macht münden,

- ,ioch persönliche

Profilierung

- noch kurzfristige

Wahlerfolge suchen.

Politik muß dienen.

Jochen Borchert: Bundesminister fürErnährung, Landwirtschaft und For-sten, Bundesvorsitzender des EAK derCDU/CSU

Politische Verantwortung zu haben,bedeutet Gestaltungsmöglichkeitenzum Besten der Bürgerinnen und Bür-ger zu nutzen, bedeutet, im Sinne desGanzen zu wirken.

Politische - aber auch wirtschaftliche- Macht muß deshalb verantwortlichesHandeln sein zum Wohle der Menschenund zur Bewahrung der uns anvertrau-ten Schöpfung.

Glaubwürdigkeit bedingt Ehrlichkeitund Kompetenz. Ehrlichkeit und Kom-petenz bedingen einen festen Wertehin-tergrund. Wir haben diesen Wcrtehin-tergrund.

Wir sind Christen.Das „C" in unserer Partei ist dabei

mehr als nur die einfache Kurzformel„Christliches Menschenbild".

Zum Christentum gehören derGlaube an Gott, die Einsicht, daß derMensch als Geschöpf Gottes endlich istund die Achtung vor dem Schöpfungs-werk Gottes - unserer Erde.

Diese christlichen Überzeugungensind für die Politik Auftrag und Ver-pflichtung zugleich.

Mit der in unserer Einladung zitiertenJahreslosung „Man muß Gott mehr ge-horchen als den Menschen" bekennenwir uns dazu, daß unser menschlichesHandeln nicht ohne Fehler oder Schuldist, daß unserem Handeln Grenzen ge-setzt sind und daß wir nicht alles tunwollen, was machbar wäre, wenn esgegen unsere christliche Grundhaltungspricht.

Christen wissen um die Begrenztheitihres Tuns.

An dieser Stelle möchte ich ausdrück-lich das Engagement des EAK in derGrundsatzprogramm-Diskussion her-vorheben.

Der EAK hat seinen Beitrag dazugeleistet, daß unser christliches Ver-ständnis auch im neuen Grundsatzpro-gramm-Entwurf der Union verankert ist.

Damit haben wir eine gute Ausgangsba-sis, um die Alltagsprobleme zu lösen,neue Themen aufzugreifen und überden Tellerrand hinaus zukünftige Ent-wicklungspfade aufzuzeigen.

Aufgaben - drängende und unauf-schiebbare Aufgaben - gibt es genug,fast zuviele!

Wir müssen die innere Einheit unse-res Landes vorantreiben, unser Sozial-

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sä. EAK Buntlestagung

System nach den Prinzipien der Huma-nität und Leistungsgerechtigkeit wei-terentwickeln und der Sozialen Markt-wirtschaft neue Impulse geben.

Gleichzeitig müssen wir die Verant-wortung einer reichen Industrienationgegenüber den von Hunger und Elendbedrohten Völkern umfassender wahr-nehmen.

Die Herausforderung für den EAKsehe ich darin, daß wir in engagierterDiskussion und mit gewohnter Streit-kultur nach Antworten suchen, uns füreine Lösung entscheiden,- sie dann offen vertreten und in die

CDU/CSU hineintragen.

Der EAK soll der Sauerteig derPartei sein.

Es sind gerade erst vier Jahre ver-gangen, seit unsere ostdeutschenLandsleute mit einer beispiellosen„Graswurzelarbeit des Friedens" - soder diesjährige Friedenspreisträger desDeutschen Buchhandels, FriedrichSchorlemmer, - in der friedlichen Re-volution ohne Haß und Gewalt dassozialistische Unrechtsregime hinweg-fegten.

Es sind gerade erst drei Jahre ver-gangen, seit wir unter der entschlosse-nen Führung von Bundeskanzler Hel-mut Kohl die Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion und die EinheitDeutschlands besiegelten.

In dieser Zeit haben Sie sich, liebeFrau Merkel, in Ihrem Ministeramtund als Stellvertretende Bundesvorsit-zendes der CDU um die EinheitDeutschlands verdient gemacht. DemGelingen der inneren Einheit galt auchIhr Engagement im EAK. Sie habenviele Foren und Tagungen für nach-denkliche Beiträge und aufrüttelndeAppelle genutzt. In der menschlichenAnnäherung zwischen Ost und Westsind damit viele Brücken geschlagenworden.

Schon das ist eine großartige Lei-stung.

Gleichzeitig haben Sie es auch nochgeschafft, in allen fünf neuen Bundes-ländern EAK-Landesverbände aufzu-bauen und zu einem konstruktivenEngagement anzuregen.

Frau Merkel,herzlichen Dank!

Die innere Einheit gestalten.

In der kurzen Zeit ist auch im wirt-schaftlichen Umstrukturierungsprozeßschon einiges erreicht worden: Es ent-stehen Zug um Zug solide Unterneh-men.

Aber - und das füge ich hinzu - eshat Opfer gefordert wirtschaftlicheund menschliche, in Ost und West.

Manche Enttäuschungen über hoheArbeitslosigkeit, über mangelnde ge-sellschaftliche Orientierung und man-che Entbehrungen führen zu Bitter-keit, zu pauschalen Ablehnungen.

Dies kann dann sehr schnell in Radi-kalität und zuweilen leider auch inpraktizierten Extremismus umschla-gen.

Lassen Sie uns dafür arbeiten, daßdie Distanz zwischen Ost und Westüberwunden wird:

Wir sind ein Volk.

Die Union und im besonderen derEAK müssen dazu gemeinsam mit denKirchen das Gespräch mit den betrof-fenen Menschen suchen.

Betroffene sind die Bürger imOsten, weil manche Hoffnung nichtoder nicht so schnell realisiert werdenkann.

Betroffene sind auch die Bürger imWesten.

Sie müssen nach 10 Jahren Wirt-schaftswachstum erfahren, daß schein-bar unbegrenztes Wohlstandswach-stum und ausuferndes Anspruchsden-ken an Grenzen stoßen. Dies ist fürviele ein schmerzlicher Erfahrungspro-zeß.

Es ist auch ein bitterer Lernprozeß -rückblickend beurteilt - für Politiker,die nur allzu gern nicht nur die jährli-chen Zuwächse verteilen wollen, son-dern zudem freigiebig die Spargutha-ben unserer Kinder plündern. Nunwerden sie die Geister nicht mehr los,die sie einst gerufen haben.

Wir alle müssen begreifen, daß wirnur eine leistungsstarke Volkswirt-schaft haben können und der Umstruk-turierungsprozeß in den neuen Bun-desländern weiter den westlichen Fi-nanztransfer benötigt.

Die Menschen in den neuen Bundes-ländern sollen im täglichen Leben er-fahren, was Soziale Marktwirtschaftbedeutet: Sie bietet leistungsgerechteChancen für jeden einzelnen, läßt Frei-raum zur individuellen Entfaltung undbringt soziale Sicherheit.

Innere Einheit entsteht durchmenschliche Brücken.

Es wachsen aber emotionale Mau-ern, wenn Ostdeutsche beispielsweiseerleben, daß die Beschreibung ihrerWirklichkeit stets mit dem Verdachtdes Jammerns belegt wird.

In mühevoller Kleinarbeit muß fürbeiderseitiges Verständnis geworbenwerden.

Dazu bietet der EAK ein Forum.i

Wir wollen Ost-West-Klischees auf-brechen durch persönliche Beziehun-gen, durch Zuhören, Verstehen undverantwortliches Handeln.

Bei der Vollendung der inneren Ein-heit Deutschlands ist die Bewältigungder Arbeitslosigkeit das gravierendsteProblem. Denn hinter jedem Arbeits-losen steht ein Mensch, eine Familie,stehen persönliche Schicksale.

Als Christen muß uns das betroffenmachen und zur Suche nach Lösungenantreiben.

Wir müssen dabei aber akzeptieren,daß Arbeitsplätze nicht einfach „ver-ordnet" werden können. Nicht alles,was wünschenswert ist, kann von -""irPolitik geleistet werden. ,

Arbeitsplätze und Beschäftigung fürmöglichst viele Menschen setzt lei-stungsfähige Unternehmen und eineflorierende Wirtschaft voraus.

Nur wenn wir an unsere wirtschaftli-chen Erfolge der 80er Jahre anknüp-fen, kann die notwendige soziale Si-cherheit gewährleistet, können Um-schulungsmaßnahmen für Arbeitslosefinanziert, Zuschüsse zum Renten-und Krankenversicherungssystem be-zahlt und dringend notwendige Infra-strukturmaßnahmen durchgeführtwerden.

Perspektiven eröffnen.

Der schmerzlichste Teil des Anpas-sungs- und Umstrukturierungsprozes-ses in der Wirtschaft bestand und be-

EvangelischeVerantwortung

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sä. Ei\K Buntlestagung

steht in dem erheblichen Arbeitskräf-teabbau.

Unter dem Wettbewerbsdruck muß-ten viele Betriebe geschlossen oder mitdeutlich weniger Beschäftigten weiter-geführt werden.

Damit waren vielfach persönlicheEinschnitte, teilweise auch schwereSchicksale verbunden.

Dies erlebe ich hautnah bei vielenBesuchen in meiner alten HeimatSachsen-Anhalt und den anderen ost-deutschen Bundesländern.

Beispielsweise sind in der Landwirt-schaft von den ehemals 850.000 Er-werbstätigen heute nur noch etwa200.000 Beschäftigte übrig geblieben.

- ;cher: Von den rund 650.000 ausge-s^.iedenen landwirtschaftlichen Ar-beitskräften ist der überwiegende Teilin andere Berufe oder in Rente gegan-gen oder nimmt an Maßnahmen derArbeitsbeschaffung, Fortbildung undUmschulung teil.

Aber es sind auch noch viele Ar-beitskräfte aus der Land- und Forst-wirtschaft arbeitslos. Besonders be-troffen sind die Frauen im ländlichenRaum.

Seitens der Bundesregierung gibt eseine Vielzahl von Maßnahmen, umgerade den Menschen im ländlichenRaum Perspektiven zu eröffnen.

Dabei geht es zunächst um die För-derung des Aufbaues von leistungsfä-r " "»n Betrieben in der LandwirtschaftSv ,<\Q im Handel und Gewerbe. Umeinen langfristig gesicherten Absatzder hochwertigen ostdeutschen Le-bensmittel in ganz Deutschland und imeuropäischen Markt sicherzustellen,haben wir den zügigen Aufbau derErnährungswirtschaft nachhaltig un-terstützt.

Anreize zur Schaffung von wettbe-werbsfähigen Unternehmen und gesi-cherte Arbeitsplätze sind aber nur eineSäule zur Stabilisierung der ländlichenRäume.

Mindestens ebenso bedeutsamerEckpfeiler ist das Lebensumfeld. Dennnur wenn die Verkehrsverbindungstimmt, die Versorgung mit Schulenund Krankenhäusern ausreichend istund die Dörfer ein gepflegtes Erschei-nungsbild haben, bleiben die Men-schen in ihren angestammten ländli-chen Gebieten, kommen neue hinzu.

Neben dem Ausbau des Straßennet-zes und der öffentlichen Verkehrsmit-tel kommt daher der Förderung derDorferneuerung in den neuen Länderneine Schlüsselrolle zu: Damit wird diebauliche Substanz erhalten und ver-schönert, werden Arbeitsplätze fürHandwerksbetriebe geschaffen, dieEigeninitiative gestützt und anderezum Mitmachen angeregt.

Die Politik kann dabei immer nurdie Initialzündung geben. Wenn derFunken nicht auf die Menschen über-springt, sind die Maßnahmen, auchwenn sie mit noch soviel Geld unter-stützt werden, zum Scheitern verur-teilt.

Auf dieser Basis brauchen wir eineoffene Standortbestimmung undNeuorientierung an den Wertmaßstä-ben, die unser Land groß gemachthaben wie Zuverlässigkeit, Mensch-lichkeit und Mitmenschlichkeit, Eigen-verantwortlichkeit.

Wir brauchen einen Umbau in unse-rem Sozialstaat. Dazu zwingen unsallein schon die demographischen Ent-wicklungen. Wir sind heute eines derLänder mit der niedrigsten Geburten-rate in der Welt.

Zugleich sind wir ein Land mit einererfreulich hohen Lebenserwartung:Heute sind bereits mehr als 20 Prozent

Der neue Bundesvorsitzende des EAK, Jochen Bordiert, mit Dr. WolfgangSchäuble.

Politik im Dienste des Menschen

Eine Politik im Dienste des Men-schen muß vorausschauen auf das Mor-gen und Übermorgen. Was - müssenwir uns fragen - wollen wir unserenKindern hinterlassen?

Ich frage: Wie muß unser Sozialsy-stem weiterentwickelt werden, damites auch künftig gerecht, stabil und füralle finanzierbar bleibt?

Die Eckpunkte unserer Sozialpolitiksind unverändert die Gewährleistungeines menschenwürdigen Lebens, diesolidarische Absicherung existenziel-ler Risiken und die Stärkung der eigen-verantwortlichen Hilfe zur Selbsthilfe.

der Bevölkerung 75 Jahre und älter, insieben Jahren werden es 25 Prozentsein.

Auf einen Mitbürger, der 75 Jahreund älter war, kamen zu Beginn diesesJahrhunderts 79 jüngere. Im Jahre2000 werden es nur noch 12 jüngereMenschen sein.

Wir sind es den wirklich Bedürftigenschuldig, soziale Leistungen zu kon-zentrieren.

Der Staat sollte nur dann Unterstüt-zung gewähren, wenn der einzelneüberfordert ist, soziale Hilfen unbe-dingt notwendig sind und die Wirt-schaftskraft dies insgesamt erlaubt.

EvangelischeVerantwortung

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EAK Buntlestagung

Umbau des Sozialsystems heißt, sichneuen sozialen Herausforderungen zustellen: Wir brauchen mehr denn je diePflege Versicherung.

Umbau des Sozialsystems heißt aberauch, den Mißbrauch einzudämmen.

Es kann nicht angehen, daß Lei-stungsmißbrauch zum Maßstab wirdund die rücksichtslose Verwirklichungvon Eigeninteressen auf Dauer unsergesamtes Sozialsystem zerstört.

Es kann doch nicht richtig sein, daßbei vergleichbaren Haushalten dasEinkommen aus Sozialtransfers undNebeneinkünften zuweilen höher istals das aus Erwerbseinkommen.

Das ist weder politisch zu verantwor-ten, noch mit dem Engagement für diewirklich Bedürftigen zu vereinbaren.

Chancen und Grenzen des technischenFortschrittes

Unsere Soziale Marktwirtschaft hatin mehr als 40 Jahren ihre wirtschaftli-che und soziale Leistungsfähigkeit undÜberlegenheit unter Beweis gestellt.Ein tragendes Element der wirtschaft-lichen Erfolge waren dabei innovativeEntwicklungen. Technischer Fort-schritt hat der Menschheit beispiels-weise im Gesundheitswesen viele Se-gungen gebracht.

Heute müssen wir uns jedoch fragen,ob wir wirklich jeden technischen Fort-schritt brauchen, welche Innovationennoch verantwortbar sind und wo dieGrenzen liegen.

Können wir zum Beispiel auf dieBiotechnik und Gentechnologie ver-zichten, obwohl wir heute schon wis-sen, daß damit die Umwelt geschontund endliche Ressourcen gespart wer-den?

Können wir uns über ernstzuneh-mende Warnzeichen hinwegsetzen,daß Deutschland aufgrund politischerund bürokratischer Verzögerungen inder Biotechnologie den Anschluß zuverlieren droht? Folge wäre ja nicht,daß die Forschung im Bereich Biotech-nologie unterbliebe. Die Folge wärelediglich, daß sie dann in einem ande-ren Land stattfindet.

Dort wird investiert, werden Arbeits-plätze geschaffen, werden Steuermittelfür kulturelle und soziale Erforder-nisse erwirtschaftet.

Aber: Unsere Bevölkerung ist überdie Bewertung dieser neuen Entwick-lungen noch unsicher.

Rund 60 Prozent der Bundesbürgerlehnen Gentechnik zwar pauschal ab,gleichzeitig plädiert aber die Hälftedieser Bürger für die Therapie vonErbkrankheiten mit gentechnischenMethoden und zwei Drittel befürwor-ten den Einsatz in der Krebstherapie.

Wir müssen als CDU die Ängste derBevölkerung vor den neuen Technolo-gien sehr ernstnehmen. Umso wichti-ger ist es, Chancen und Risiken vorur-teilsfrei gegeneinander abzuwägen.

Die EAK muß hier im Dialog mitden Kirchen in großer Offenheit diekritischen Fragen diskutieren und Ant-worten finden.

Gegen Hunger und Elend -Hilfe zur Selbsthilfe

Nach einer fast 10jährigen Auf-schwungphase haben wir derzeit inDeutschland eine Reihe von wirt-schaftlichen und politischen Schwierig-keiten zu bewältigen. Diese Erfahrungdarf uns allerdings nicht blind machenfür die Schicksale der von Hunger undElend bedrohten Menschen in anderenKontinenten.

Als Christen sind wir ihnen Hilfeschuldig.

Als Politiker sind wir zu Hilfen ver-pflichtet, weil auf Dauer ein immerengerer Zusammenhang zwischenÜberflußgebieten und Notstandsge-bieten entsteht.

Denn Unterernährung, Besitzlosig-keit und fehlende Entwicklungsper-spektiven können sehr schnell zu ge-waltsamen Verteilungskämpfen füh-ren, die auch die Industrienationennicht unberührt lassen.

Über das persönliche Leid für jedenMenschen und jede Familie hinaushaben Mangel, Hunger und Armutauch langfristig katastrophale Folgen:Sie beschleunigen den Raubbau an derNatur. Und: Sie beeinträchtigen Ge-sundheit und Entwicklungsmöglich-keiten ganzer Völker. Damit wird ih-nen auf Dauer die Grundlage verwei-gert, sich selbst zu helfen.

Vordergründig einfache Lösungensind Scheinlösungen. Etwa: Wir be-kämpfen den Hunger, indem wir die

Nahrungsmittel-Vorratslager der Eu-ropäischen Gemeinschaft räumen.

Nein, das sind tatsächlich nurScheinlösungen zur Gewissensberuhi-gung.

Vielfach wird ja auch die Frage erho-ben, ob wir es überhaupt verantwortenkönnen, in Europa Flächen stillzule-gen und immer extensiver zu produzie-ren, während andere Völker Hungerleiden?

Unsere Bauern würden aus vollemHerzen auch viel lieber Nahrungsmit-tel erzeugen als sich Produktionsbe-schränkungen zu fügen.

Ich meine: Nahrungsmittelhilfe zurÜberwindung von Hungerkatastro-phen muß sein. Sie muß aber ei^ebefristete Maßnahme zur Lösung (

schlimmsten Not bleiben.

Langfristig sinnvolle Entwicklungs-hilfe ist eben nicht die dauerhafte ko-stenlose Bereitstellung von Nahrungs-mitteln.

Denn nur wenn es gelingt, die land-wirtschaftliche und industrielle Pro-duktion in der Dritten Welt weiterauszubauen, kann der Lebensstandarddort spürbar angehoben, Ernährungs-sicherheit langfristig gewährleistet, dieBevölkerung mit der Eigenproduktionin den ländlichen Regionen gehaltenund ein Anwachsen der stadtnahenSlum-Gebiete gebremst werden.

Hilfe zur Selbsthilfe ist unser Gebotfür diese Länder.

Der EAK als Forum zwischen Kir-che und Politik muß auch in diesemSpannungsfeld Position beziehen undLösungswege aufzeigen.

Wir brauchen - wie bereits Anfangder SOiger Jahre die EKD-Denkschrift„Landwirtschaft im Spannungs-feld...." formuliert - eine „weltweiteSolidargemeinschaft".

Einige EKD-Forderungen von da-mals sind heute auf einem guten Weg.Ich denke da besonders an die Redu-zierung der Überschüsse in der EG undstärkere Berücksichtigung ökologi-scher Belange in der Landwirtschaft.

Weiterer Prüfstein unserer Solidari-tät mit den unterentwickelten Ländernwird jetzt ein erfolgreicher Abschlußder G ATT-Verhandlungen sein.

EvangelischeVerantwortung

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sä. EAK Bunaestagung

Wir haben die Verpflichtung, denbedürftigen Ländern dieser Erde einefaire Chance zu geben.

Sie wollen keine Almosen.

Sie brauchen eine faire Welthandels-ordnung, in der sie ihre wettbewerbsfä-higen Produkte ungehindert anbietenkönnen.

Lassen Sie uns dafür mit allem Nach-druck eintreten.

Zum Dialog einladen

Es gehört zur Aufgabe der Christenin den Parteien, selbstkritisch undrechtzeitig die Probleme beim Namenzu nennen. Sich vom großen Stromtrioen zu lassen und nicht gegen ihn zu: Vimmen, heißt, die Quelle niemalszu erreichen.

Zur Glaubwürdigkeit in der Politikbeizutragen, heißt, kritische Themenanzusprechen, zu diskutieren und nachLösungen zu suchen und - wenn nötig -auch unbequeme zu vertreten.

Zu diesem Dialog wollen und müs-sen die Parteien einladen und offensein zum Mittun - auch für Nichtmit-glieder. Wir wollen im EAK auchMenschen zur Mitarbeit einladen, diesich vielleicht nur teilweise mit unserenPositionen identifizieren oder die sicheinfach nur ungern binden!

Fest steht auf jeden Fall, daß heutekeine politischen Gruppierungen mehr^"^yagt sind, die Themen unter Aus-! >uß der Öffentlichkeit diskutierenund dann die Ergebnisse präsentieren.

Im Diskussionsprozeß brauchen wiralle, müssen wir jeden, der mitarbeitenmöchte, willkommen heißen.

Auf die Frage, wo diese „Mitarbeitauf Zeit" bereits zum Erfolgsrezeptwurde, verweise ich auf den Kirchen-tag.

Viele EAK-Mitglieder gehörten undgehören zu den politischen Meinungs-führern in der Union - in Bund, Län-dern und Gemeinden und den unter-schiedlichsten Organisationen. Wennder EAK Impulsgeber bleiben will,dann müssen sich die Mitglieder stär-ker einbringen. Das kostet Zeit undKraft. Aber: In dieser bewegten Zeitetwas für eine mitmenschlichere Ge-sellschaft tun zu können, lohnt dieMühe.

Wir brauchen aber nicht nur denDialog mit der Partei, sondern auchmit der Kirche.

Gerade in einer Phase tiefgreifenderVeränderungen, in der sich auch un-sere Kirche vielfältiger Kritik ausge-setzt sieht, sollten wir uns um offeneund aktive Partnerschaft bemühen.

Dafür will ich eintreten und mich alsEAK-Bundesvorsitzender engagieren.

Lassen Sie uns gemeinsam für un-sere gemeinsamen Ziele arbeiten.

Ich habe den Eindruck, daßMenschen heute über Politik undPolitiker vor allem darum soverdrossen sind, weil die PolitikerErwartungen geweckt haben, dienicht erfüllbar sind. Politiker, wennsie verantwortlich handeln wollen,müssen offen die Grenzen ihrerMacht benennen. Wenn dies einErgebnis der Diskussionen imRahmen unserer Tagung seinkönnte, würde mich das freuen.

Dr. Angela Merkel, Lübeck 1993

Macht und Verantwortung -Politik im Dienste der MenschenDr. Berndt Seite

Wir leben in einem Zeitalter, in dem sich Werte wandeln und in dem viele Begriffeeiner neuen Sinngebung bedürfen. Zeiten des Wandels sind immer auch Zeiten derSuche nach Orientierung. Bei Veränderungen suchen die Menschen nach Wegwei-sern, nach Inseln der Sicherheit, nach Grundwerten, die Orientierung geben unddamit Zukunftsvertrauen ermöglichen. Einen Konsens über gemeinsame Werte zuerzielen, ist eine ständige Aufgabe, um aus einer Ansammlung von Menschen eineGemeinschaft, vorsichtiger: eine Gesellschaft zu formen. Hier sind Kirche undPolitiker gefordert. Der weltanschaulich weitgehend neutrale Staat selbst kanndiese Aufgabe nur begrenzt erfüllen. Gleichwohl ist gerade der freiheitliche Staatauf solche Werte in besonderem Maße angewiesen. Lebt er doch vom freiwilligenKonsens seiner Bürger und weniger aus der Möglichkeit, diesen Konsens notfallsmit staatlicher Gewalt erzwingen zu können.

Das Verhältnis von Macht und Ver-antwortung ist ein uraltes Thema. DieAusübung von Macht bedeutet immerauch Übernahme von Verantwortung.Die Frage bleibt, wofür und vor wemsich der Mächtige verantwortlich weiß.Und von wem er tatsächlich zur Ver-antwortung gezogen wird.

Verantwortung orientiert sich an be-stimmten Maßstäben, christlichenoder allgemein humanistischen Vor-stellungen oder, wie wir leidvoll erfah-ren haben, an Maßstäben einer letzt-lich unmenschlichen Ideologie. Politikfür den Menschen ist ohne Grundwerteund ohne Grundfreiheiten für denMenschen nicht denkbar. Auch wenndie Verfassung des wiedervereinigtenDeutschlands auf keine Weltanschau-ung festgelegt ist, ist das auf ihrer Basisberuhende Gemeinwesen aber nichtwertneutral, sondern wertebezogen.Indem die Präambel zum Grundgesetzdie Verantwortung des deutschen Vol-kes vor Gott und den Menschen alsGrundlage für die Verfassungsgebungbezeichnet, wird deutlich, daß derchristliche Glaube zumindest eine be-

sonders wichtige Quelle zur Ausfül-lung der Grundwerte ist, auf die in derVerfassung bezug genommen wird.Humanistische Ideen bilden einen Teildes geschichtlichen Ursprungs ihrerwesentlichen Prinzipien; die Wurzelnliegen aber vor allem in der jüdisch-christlichen Überlieferung. Daranknüpft die Präambel an.

Das dauerhafte Funktionieren unse-res pluralistischen Gesellschaftssy-stems setzt also voraus, daß in dieserGesellschaft auch religiöse Überzeu-gungen lebendig sind. Es mag zwarstimmen, daß christliche Werte nichtmehr allein ausreichen, um einen ge-sellschaftlichen Konsens zu erzielen.Aber, so frage ich mich, sind es letzt-lich nicht doch immer wieder christli-che Wertvorstellungen, aus denen sichunsere moralischen Überzeugungenspeisen? Sind es nicht christlicheGrundwerte, die uns in unserem Le-ben, bei unserem Handeln Orientie-rung geben?

Obwohl unsere Verfassung dieTrennung von Staat und Kirche vor-

11 /1QQ1 EvangelischeVerantwortung

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sä. EAK Buntlestagung

sieht, hat diese - mehr auf den Bereichder jeweils eigenen Organisation bezo-gene Trennung - keinen die andereSeite ausschließenden Charakter; es istvielmehr ein partnerschaftliches Ver-hältnis mit gegenseitigen Bindungen:Der Staat steht den Kirchen nichtgleichgültig, sondern aufgeschlossenund fördernd gegenüber. Ebenso übendie Kirchen eine aktive Rolle im Ge-meinwesen aus. Eine ihrer Hauptauf-gaben ist es, durch ihre Verkündigungchristliche und andere für den Men-schen positive Werte im Interesse derMenschen und des Gemeinwohls zupflegen. Damit erfüllen sie ihren Auf-trag. Auch hier eröffnet sich nach derWiedererlangung der Einheit Deutsch-lands ein weites Betätigungsfeld.

Wertorientierung und Sinngebung

Das Bedürfnis nach Wertorientie-rung und Sinngebung ist gerade imOsten Deutschlands sehr groß. Vordem Hintergrund einer 40 Jahre an-dauernden Unfreiheit sowie der Un-klarheit über die unmittelbare Zu-kunftsgestaltung fragen und suchenviele Menschen nach Wertmaßstäben,die ihnen behilflich sein sollen, ihrVerhalten zu bestimmen und so ihrenWeg in dieser „neuen" Gesellschafts-und Werteordnung zu finden. Mit derEntscheidung für die freiheitlich-de-mokratische Rechtsordnung der Bun-desrepublik Deutschland haben dieMenschen in der ehemaligen DDR denGrundstein gelegt für die Verwirkli-chung der äußeren Freiheit. Noch im-mer offen bleibt die Frage nach derinneren Freiheit der Menschen, nachjener selbst bestimmten Freiheit, diesich verwirklicht in der Bindung anbestimmte Werte.

So erweist sich der Umgang mit derneugewonnenen Freiheit für viele Bür-ger als schwierig. Den Grundwert Frei-heit mit Inhalt zu füllen, die Ausgestal-tung der eigenen Freiheit, bereitet vie-len Menschen noch Probleme.

Die Umorientierung von einem öst-lichen auf ein westliches Gesellschafts-und Wertesystem verläuft über einePhase der Ratlosigkeit und Orientie-rungslosigkeit. Es gab ja keinen all-mählichen Übergang, sondern Ab-bruch und Neubeginn. Die Netze, indenen die eigene Existenz geruhthatte, sind gewissermaßen zerrissenund müssen erst neu geknüpft werden.In Freiheit leben, meint eben nichtnur, in Freiheit von Bevormundungund Bespitzelung leben. In Freiheit

leben meint auch und gerade in Frei-heit zur Verantwortung, zur Bereit-schaft, die eigene Zukunftsgestaltungselbst in die Hand zu nehmen.

Politik im Dienste der Menschenbedeutet gerade heute eine Politik derVernunft, der Toleranz und der Ver-antwortung von Menschen für Men-schen, also der Solidarität mit anderen.

Wir leben in einem Zeitalter, inwelchem wir alle vor wesentlichen Ent-scheidungen stehen, die eine Ände-rung unserer Denkgewohnheiten und

Fagottspieler beimAbendgespräch.

theologischen

Lebensformen erfordert. Nie zuvorhatte die Menschheit die kreativen undtechnischen Möglichkeiten für die Si-cherung und Gestaltung einer huma-nen und friedlichen Gesellschaft derZukunft. Dazu gehört vor allem, daßwir damit aufhören, die Grundlagenunseres Lebens, Natur und Umwelt,gedankenlos oder mutwillig zu zerstö-ren. Aber, wenn es darum geht, Tole-ranz und Verantwortung gegenüberAndersdenkenden, gegenüber Men-schen anderer Religion, Rasse oderNationalität zu zeigen und zu leben.

Extremismus und Gewalt verhindern

Seit einigen Jahren erleben wir welt-weit eine besorgniserregende Zu-nahme rechtsextremistischer fremden-

feindlicher Ausschreitungen. Deutsch-land ist von dieser Entwicklung nichtverschont geblieben. Gewalttaten neh-men allgemein besorgniserregend zu.Die Täter werden immer jünger. Täg-lich gibt es Meldungen über gewalttä-tige Auseinandersetzungen zwischenJugendlichen, Gewalt in Kindergärtenund Schulen. Wir alle haben inzwi-schen mehr Fragen als Antworten. Woliegen die Wurzeln für die dramatischeZunahme der alltäglichen Gewalt, sindnicht auch die Umgangsformen in derGesellschaft, Wirtschaft und Politik inden letzten Jahren zunehmend härtergeworden? Bleiben die Schwachennicht auch hier auf der Strecke? Inwie-weit hat die erhöhte Gewaltbereit-schaft in unserer Gesellschaft mit demWandel von Werten, mit Veränderun-gen innerhalb der Familie oder miteiner immer größer werdenden Ori«^--tierungslosigkeit gerade bei Jugen }chen zu tun?

Natürlich ist in Zeiten wirtschaftli-cher und sozialer Anspannungen jedesgesellschaftliche System besonderenHerausforderungen ausgesetzt. Des-halb ist für eine Politik im Dienste derMenschen das Vermitteln und Be-wußtmachen von Grundwerten vonentscheidender Bedeutung - beson-ders wenn es darum geht, Extremismusund Gewalt zu verhindern.

Macht verantwortlich ausüben, dasheißt für uns Politiker auch zu verhin-dern, daß West- und Ostdeutschlandauseinanderfallen und wieder getrenntwerden in einen reichen und einenarmen Teil. Darum ist die Angleichungder Lebensverhältnisse in den nei^Bundesländern die große soziale K ,_ausforderung am Ende dieses und ver-mutlich auch noch zu Beginn des näch-sten Jahrhunderts.

Solidarität als Handlungsprinzip

Auch der Begriff der Solidarität er-hält mit Blick auf die Verantwortung,die wir alle im und für das vereinteDeutschland tragen, eine neue Quali-tät. Solidarität heißt hier, nicht nur inmaterieller, sondern auch in geistigerHinsicht, zueinander zu stehen. Ob-wohl wir drei Jahre nach der Wieder-vereinigung Deutschlands stolz auf dasbisher Erreichte zurückblicken kön-nen, wird doch immer deutlicher, daßdie noch vor uns liegenden Aufgabennur solidarisch, also in gemeinsamerVerantwortung aller Deutschen, zu be-wältigen sein werden. Die innere Ein-heit Deutschlands wird sich insbeson-

EvangelischeVerantwortung

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34t. EAK Buntlestagung

dere an der Bereitschaft und Fähigkeitder Menschen im Westen zur Solidari-tät mit den Menschen im OstenDeutschlands entscheiden.

Solidarität als Handlungsprinzip hatimmer das Gemeinwohl der ganzenGesellschaft zum Ziel. Wenn es unsjetzt nicht gelingt, im eigenen LandSolidarität zu leben, wer wird uns dannglauben, daß wir zur Solidarität inner-halb Europas und der Welt fähig sind?Die Interdependenz von Wirtschaftund Politik ist in allen Ländern welt-weit so gewachsen, daß nahezu jedesHandeln eines Landes auch Auswir-kungen auf ein anderes oder sogarganze Teile der Welt hat. Wir sindtatsächlich zu einer Schicksalsgemein-schaft geworden, die unauflöslich mit-einander verbunden ist. Politik imP:<yiste der Menschen heißt deshalb

'antwortung übernehmen für diekommenden Generationen - für dieBewahrung der Schöpfung. Nur in ge-meinsamer Anstrengung kann es unsgelingen, Hunger, Armut, Umweltzer-störung, Krieg und Diskriminierungabzubauen. Das ist eine Aufgabe, diedie Politik alleine nicht leisten kann.

Sie braucht hier die Unterstützung derKirchen, der großen gesellschaftlichenVerbände ebenso wie das Verständnisjedes einzelnen Bürgers.

Politik im Dienste der Menschen,Macht verantwortlich ausüben kannein höchst anstrengender und oftmalsunbequemer Prozeß sein.

Christliches Handeln und Verant-wortungsethik sind für mich deshalbdie Orientierungspole, die der Relati-vierung und Beliebigkeit von Wertenentgegengesetzt werden müssen. Inder Präambel unseres Grundgesetzeswird auf unsere Verantwortung vorGott verwiesen. Und wenn es auchnicht immer ausgesprochen wird, sosind es letztlich christliche Grund-werte, die uns heute den Weg weisenund zur Grundlage verantwortungsvol-len politischen Handelns werden.

Anm.: Ministerpräsident Dr. Berndt Seitekonnte leider aus terminlichen Gründen an der34. Bundestagung in Lübeck nicht teilnehmen.Wir haben ihn gebeten, seine Gedanken zumTagungsthema in einem Beitrag für die „EV"niederzulegen.

„Im Dienste der Menschen: DieEinheit gerecht gestalten!"Einführendes Statement zur Podiumsdiskussion

Christoph Stier

Das Thema dieser Podiumsrunde benennt einen hohen Anspruch: Die Einheitgerecht gestalten. Beschreibt dieser kurze Satz tatsächlich gegenwärtige Wirklich-k^J oder umschreibt er lediglich die Größe der Aufgabe, das anzustrebende Ziel?_ gönnte doch sein, daß es von vornherein eine Täuschung gewesen ist zu meinen,die Einheit ließe sich gerecht gestalten. Die historische Chance, die Einheit zuergreifen, bot sich zu einem Zeitpunkt, der kaum voraussehbar war. Dieseunvergleichliche Aufgabe traf Politik und Wirtschaft beinahe unvorbereitet. Esmußte unter großem Zeitdruck gehandelt werden, obwohl viel Zeit vonnötengewesen wäre, um möglichst gerechte Lösungen anstehender Probleme zuentdecken und durchsetzen zu können.

Die deutsche Einheit ist ein hohesGut. Sie kostet ihren Preis, in Ost undWest. Wenn es nur gelungen wäre, diesvon Anfang an stärker ins Bewußtseinzu heben! Vermutlich wäre die Bereit-schaft gewachsen, Lasten mitzutragen.Läßt sich der Trend in den neuenBundesländern aufhalten, daß die Ge-sellschaft weiter in Verlierer und Ge-winner der Einheit zerfällt?

Marktwirtschaft und Sozialpolitik

Die Gestaltung der BundesrepublikDeutschland ist in 40 Jahren gewach-

sen. Das wirtschaftliche Wachstumwurde in diesen Jahren zum Marken-zeichen der Bundesrepublik. Unterden damaligen Rahmenbedingungenwuchsen auch die Ansprüche an denmateriellen Standard der Lebensquali-tät und die sozialen Leistungen desStaates. Es hatte sich ein Verbundsy-stem von Marktwirtschaft und Sozial-politik herausgebildet. „Marktwirt-schaft und Sozialpolitik bedingen sichgegenseitig und müssen sich im Gleich-gewicht befinden, sonst ist das ganzeSystem gefährdet." (Helmut Hesse,Wirtschaft und Moral, UniversitätHannover, Vorträge im Fachbereich

Wirtschaftswissenschaften Band 61989, 13) Die Balance scheint gegen-wärtig aus dem Gleichgewicht zu gera-ten.

Die Gestalt, die die DDR in 40Jahren annahm, beruhte vor allem aufeiner besonderen Ideologie. Diesetrübte den Blick für die Realität undzehrte an der wirtschaftlichen Sub-stanz. Dennoch enthielt diese Ideolo-gie für viele Elemente von Hoffnung.

Freiheit und Gerechtigkeit

Die Unterschiede, die sich währendder getrennten Entwicklung zweierdeutscher Staaten in Deutschland her-ausgebildet hatten, lassen sich auf dasVerhältnis zweier hoffnungsträchtigerBegriffe reduzieren: Freiheit und Ge-rechtigkeit, Theodor W. Adorno hatauf die unaufhebbare Dialektik vonFreiheit und Gerechtigkeit hingewie-sen: Je mehr Freiheit - um so wenigerGerechtigkeit; je mehr Gerechtigkeit -um so weniger Freiheit.

Es ist keine Frage, daß die SED ihreVorstellung von Gerechtigkeit auf Ko-sten der Freiheit verwirklichen wollte.Das Opfer der Freiheit führte zur Will-kür, die auch der Gerechtigkeit schwe-ren Schaden zufügte. Das patriarchali-sche Betreuungssystem ließ die Eigen-initiative erlahmen. Ein Rückfall inunverschuldete Unmündigkeit war dieFolge.

Mit der Wiedervereinigung kam dieFreiheit zurück. Sie trat zuerst in Er-scheinung als freie, ungebremsteMarktwirtschaft. Noch bevor das ent-sprechende Rechtssystem wirksamwerden konnte, eroberten sich markt-crprobte Bundesbürger in der nochbestehenden DDR ihre Marktvorteile.Als das Rechtssystem, das der Gerech-tigkeit dienen soll, greifen sollte, wardie Verteilung des „volkseigenen"Nachlasses bereits in vollem Gang.Zugang zu den vorhandenen Wertbe-ständen hatten in erster Linie die „al-ten Kader" und die zahlungsfähigenGeschäftemacher. Viele Menschenmußten mit Verbitterung feststellen,daß die Freiheit des Marktes der Ge-rechtigkeit Hohn lacht. Während dieBundesbürger gelernt hatten von derFreiheit Gebrauch zu machen, bliebden DDR-Bürgern vielfach nur ihreSehnsucht nach Gerechtigkeit.

Kann zwischen Freiheit und Gerech-tigkeit wieder eine angemessene Ba-

EvangelischeVerantwortung

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s«. E AK Buntlestagung

lance hergestellt werden? Beispielhaftsollen zunächst einige Konkretionenbenannt werden, die in den neuenBundesländern zu neuen Ungerechtig-keiten führten.

Die Bischöfe der evangelischen Kir-chen in den neuen Bundesländern ha-ben sich mit einer Erklärung am 1.September 1993 an die Öffentlichkeitgewandt. Darin heißt es: „Unter denBedingungen der gegenwärtigen Re-zession tritt heraus, wie nachteilig fürdie Entwicklung der Wirtschaft in denöstlichen Bundesländern das Prinzip'Rückgabe vor Entschädigung' sichauswirkt: ohne Grund und Bodenkeine Kredite, ohne Kredite keineAufträge, ohne Aufträge keine Ar-beitsplätze. Das schafft Ungerechtig-keiten und gefährdet den sozialen Frie-den."

Arbeit und Besitz

Warum eigentlich muß Grund undBoden unbedingt an Privateigentümerveräußert werden? Das Rechtssystemder Bundesrepublik hat hier im Ver-bund mit den Banken- und Kreditwe-sen eine Zwangssituation geschaffen,die vielen Menschen in den neuenLändern zunehmend die Luft ab-schnürt. Wenn die Verfügung überprivates Eigentum um der Freiheit undder Gerechtigkeit willen einer Ein-schränkung bedarf, dann in erster Li-nie beim Besitz von Grund und Boden.Wenn beispielsweise Erbpachtver-träge von den Banken nicht als ausrei-chende Sicherheit für die Vergabe vonInvestitionskrediten anerkannt wer-den, wäre das doch ein Anlaß für Bundund Länder mit eigener Kreditvergabeentgegenzusteuern. Das könnte sogarauf lange Sicht billiger werden als diegegenwärtige Praxis der Investitions-beihilfen, die gewöhnlich nur denenzugute kommen, die bereits andereInvestitionsmittel zur Verfügung ha-ben. Die Privatisierung von Grund undBoden jedenfalls ist für die Marktwirt-schaft nicht unabdingbar, sie ist viel-fach ein Hindernis bei der gerechtenVerteilung von Marktchancen.

Der Einigungsprozeß ist schwer be-lastet durch die ungerechte Verteilungder Arbeit. Das ist nicht nur ein Pro-blem für die neuen Länder, sondernfür die Bundesrepublik insgesamt. Esist längst bekannt, daß die Kapitalin-tensität der Wirtschaft rapide zunimmtauf Kosten der Arbeitsintensität, d.h.seit Jahrzehnten schon werden Ar-beitsplätze immer teurer, während da-

durch die Arbeit immer knapper wird.Ein weiterer Effekt dieser verteuertenArbeit ist die Tatsache, daß immermehr Leistungsschwache, aus welchenGründen immer, vom Arbeitsmarktverdrängt werden. Mehr noch: die Be-wertungsgrenze des Leistungsfähigenwird immer weiter nach oben verlegt,so daß der durchschnittlich Begabteund Ausgebildete bereits als schweroder gar nicht vermittelbar eingestuftwird.

In Mecklenburg-Vorpommern ar-beiteten vor der Wende etwa 180.000Menschen in der Landwirtschaft. Ge-genwärtig sind es ca. 30.000. Wo sinddie 150.000 abgeblieben? Es ist keinWunder, daß noch immer Jugendlicheund qualifizierte Erwachsene in diealten Bundesländer abwandern.

Was Arbeitslosigkeit für das Selbst-wertgefühl und das soziale Prestigeungezählter Menschen bedeutet, istkaum zu ermessen. Das Empfinden,nicht mehr gebraucht zu werden, lösttiefreichende Kränkungen aus. Ge-rade in Deutschland - und zwar bis indie letzten Jahre in Ost und Westhinein - gilt eigene Arbeit als herausra-gender ethischer Wert. Der Protestan-tismus und insbesondere die lutheri-sche Sozialethik haben einen hohenAnteil an der verinnerlichten Arbeits-moral vieler Deutscher. Als evangeli-sche Christen müssen wir eine politi-sche Lösung gerechter Arbeitsvertei-lung fordern. Eine verantwortlich han-delnde Regierung darf es nicht denMarktkräften allein überlassen, ob siedie Arbeiter mit Hilfe neuer Technolo-gie aus der Produktion drängt oder obsie selbst alternative Arbeitsmodellefindet. Die Arbeitslosenversicherungist ein Notbehelf und keine Reparatur-werkstatt für versäumte Arbeitspoli-tik. Die Gewerkschaften vertretendann nicht mehr die Interessen derarbeitswilligen Bevölkerung, wenn siein erster Linie für Lohnanteile derArbeitsplatzbesitzer eintreten.

Solche Probleme sind für die mei-sten Menschen in den neuen Ländernvöllig neu. Sie müssen jedoch gleich-zeitig feststellen, daß die politik- undmarkterfahrenen Experten aus demWesten ihnen auch nicht gewachsensind. Der Rückgriff auf bewährte Re-zepte aus dem Erfahrungsschatz derletzten 40 Jahre Bundesrepublik nütztnur wenig. Er macht die Menschen beiuns nur noch verdrossener, weil damitihre eigene Erfahrung entwertet undder gemeinsame Vorgriff auf eine an-dere Zukunft eher verhindert als geför-dert wird.

Begrenzung der Freiheit

Was viele Menschen bei uns gegen-wärtig erleben, ist Freiheit auf Kostender Gerechtigkeit. Dies wäre vielleichtnoch zu ertragen, wenn sich wenigstensder Gebrauch der Freiheit gerecht ver-teilen ließe. Doch die Freiheit, wie sieerlebt wird, ist die Freiheit erbar-mungslos konkurrierender wirtschaft-licher Mächte. Ihnen gegenüber fühlensich die meisten Menschen ohnmächtigund hilflos. Wer arbeitslos und besitz-los ist oder sogar beides, wird zumObjekt solcher Freiheit und nicht zuihrem Teilhaber. Dabei vergeht ihnenauch die Freiheit der Rede und derpolitischen Initiative. Wenn dieserTrend weiter anhält, nimmt die Gefahrzu, daß Freiheit in Gleichgültigkeitund Resignation umschlägt oder ga-^nAggressivität und Gewalt. Dies gu / ,zu verhindern. Deshalb brauchen wireine gerechte und gerechtfertigte Be-grenzung jener Freiheiten, die Men-schen zu deren ohnmächtigen Objek-ten machen. Wenn der Egoismus desMarktgesetzes auch die Politik er-greift, dann ist es höchste Zeit, KantsFassung des kategorischen Imperativsin Erinnerung zu rufen: Handle so, alsob die Maxime deines Handelns gleich-zeitig Grundlage einer allgemeinenGesetzgebung sein sollte. Auch dieWirtschaft ist kein moralfreier Raum.„Dort, wo Egoismus, Habgier undGeiz von Menschen anderen zumNachteil wird oder gar ihre Ausbeu-tung bewirkt, muß ihnen der Wegverstellt werden. Wo die Moral dazu zuschwach ist, muß ihr eine Wettbewerb-sordnung an die Seite gestellt werd «• •auch sind die sittlichen Normen >, *staatliche Gesetze zu kleiden und ob-rigkeitlich durchzusetzen." (H.Hessea.a.O. 5)

Begrenzung der Freiheit um der Ge-rechtigkeit willen folgt aus dem Recht.Was jedoch viele im Augenblick davonspüren, ist das Komplizierte und Kost-spielige am Rechtsstaat. Gerade dasStraf- und Prozeßrecht dient eher demSchutz der Freiheit als der Herstellungvon Gerechtigkeit. Das hat seinen gu-ten Sinn, was Menschen aus der ehe-maligen DDR durchaus zu schätzenwissen. Daß damit jedoch das Unrecht,das so vielen in der Vergangenheitwiderfahren ist, nicht geahndet werdenkann, führt zu bitteren Enttäuschun-gen. Dies wäre vielleicht vermeidbargewesen, wenn rechtzeitig und offenauf die Grenzen des Rechtsstaates auf-merksam gemacht worden wäre. Esmuß als ungerecht empfunden werden,

8 EvangelischeVerantwortung

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34. EAK Bunaestugung

wenn ehemalige Mitarbeiter des MfSzwar aus dem Öffentlichen Dienst ent-fernt werden, jedoch als Personaldi-rektoren oder Managementberater inviel einflußreicheren Machtpositionenwieder auftauchen. Wenn das Rechthier nicht greift, muß man dann vor derschlechten Realität einfach kapitulie-ren? Doch es ist auch kein angemesse-ner Weg, eine in diesen Zusammen-hängen nicht greifende Strafgesetzge-bung durch Vermengung mit dem So-zialversicherungsrecht ausgleichen zuwollen. Dies ist z.B. im ersten Renten-anpassungsgesetz geschehen. Wem derStempel „staatsnah" aufgedrückt wer-den kann, werden die Bemessungs-grundlagen für die Rentenberechnungzurückgestuft.

Viele Politiker und Politikerinnenbeklagen einen Werteverlust in unse-;,' Gesellschaft und fordern gerade die

Kirche auf, dem entgegenzusteuern.Es trifft wohl zu: Die Menschen sehnen

sich nach glaubwürdigen Entwürfenfür die Zukunft. Diese könnte sogareher bescheiden sein gegenüber denunglaubwürdig gewordenen Hoff-nungsbildern vom neuen Wirtschafts-wunder und dem ständig weiterenWachstum von materiellem Wohl-stand. Die Menschen wollen beteiligtwerden an der Gestaltung einer ge-rechteren Ordnung des gemeinsamenStaatswesens. Dabei können die Kir-chen helfen, doch dann müssen auchsie ihr eigenes Verhalten überprüfenund verändern sowie gegen eine Welt-ordnung antreten, die wirtschaftlichenErfolg als obersten Wert des politi-schen Gemeinwesens zur Geltungbringt. Eine Umkehr ist nötig, dieGerechtigkeit und Freiheit wieder inein angemessenes Verhältnis zueinan-der bringt.

Anm.: Christoph Stier ist evanglischer Landesbi-schof der Landeskirche Mecklenburgs.

„Im Dienste der Menschen: DieEinheit gerecht gestalten!"Einführendes Statement zur Podiumsdiskussion

Tyll Necker

Bei der Eröffnung der Leipziger Messe im März '92 habe ich die deutscheWiedervereinigung mit einer großen Reifeprüfung für unser Volk verglichen. Wirhaben diese Prüfung noch lange nicht bestanden. Der historische Glücksfall derdeutschen Einheit droht in West und Ost nur all zu oft in Frustration undEntfremdung umzuschlagen. Dies zu verhindern, sind wir gemeinsam aufgerufen.

Ich möchte mich einer kurzen Ana-der Licht- und Schattenseiten des

biiiigungsprozesses beginnen:

Wir sollten nie vergessen:

I. Die Wende hat zur Überwindungstaatlicher Willkür und millionen-facher Bespitzelung, Unterdrük-kung und Verfolgung geführt. Diesalles abzuschütteln und Meinungs-freiheit herzustellen, hat alleinschon jede Anstrengung gelohnt.

II. Im ökonomischen Bereich ist diegrößte Chance der sozialen Markt-wirtschaft in den neuen Bundeslän-dern die Freisetzung der Eigenin-itiative und Kreativität ungezählterMenschen.

Aber natürlich sollten auch diekonkreten Erfolge der sozialenMarktwirtschaft und der Wieder-vereinigung nicht gering einge-schätzt werden:

Die Versorgung im Osten ver-besserte sich innerhalb wenigerWochen grundlegend. Aus per-manentem Mangel wurde ein rei-ches Warenangebot.

Konvertibles Geld - die harteD-Mark - öffnete die Tore zurganzen Welt und macht die Ver-wirklichung mancher Träumemöglich.

Im Handwerk, im Handel, in derBauwirtschaft und in den Dienst-leistungsbereichen entsteht einneuer Mittelstand. Hunderttau-sende können ihr Leben selbstgestalten - mit allen Chancen,aber auch Risiken.

Die soziale Marktwirtschaftbringt Farbe ins Land und drängt- für jeden sichtbar - "grauraus".

- Es sind bereits spürbare Verbes-serungen beim Schutz von Naturund Umwelt eingetreten unddies nicht nur durch einen Rück-gang der Produktion.

- Eine Perspektive für eine schritt-weise Verwirklichung von„Wohlstand für alle" wird lang-sam erkennbar.

Neben diesen unzweifelhaft funda-mental positiven Entwicklungen dür-fen aber schwere Strukturbrüche undFehlentwicklungen nicht übersehenwerden.

Hier gilt es zu unterscheiden zwi-schen dem unvermeidbaren Untergangalter Strukturen und vermeidbarenFehlentwicklungen.

In einem historisch so einmaligenProzeß werden natürlich Fehler ge-macht und müssen auch verziehen wer-den. Aber wir sollten uns klar machen,daß auch die beste Medizin durchKunstfehler in Verruf kommen kannund der Patient unter ihnen weit mehrzu leiden hat als der Arzt. Der Trans-formationsprozeß von sozialistischerPlanwirtschaft zur sozialen Marktwirt-schaft muß daher immer wieder unterdem Gesichtspunkt der- Zumutbarkeit für die Menschen und- der Effizienz des Prozesses, also der

Optimierung des Einsatzes der im-mer knappen Mittel, überprüft wer-den.

Dabei werden die Urteile sehr unter-schiedlich ausfallen.

Das Wünschbare und das Machbare.

Die Einheit gerecht gestalten - daswirft nicht nur die philosophischeFrage auf: Was ist gerecht? sondern eszwingt uns auch, das Wünschbare unddas Machbare miteinander abzuwä-gen.

Die Weckung der Erwartung - durchPolitiker und Tarifparteien - gleicheLebensverhältnisse in Ost und Westseien in 3-5 Jahren erreichbar, habenzu nicht erfüllbaren Ansprüchen undunnötigen, schweren Belastungen undEnttäuschungen geführt. Ludwig Er-hard war klug genug, den Mut zumMarkt mit engagierten „Appellen zumMaßhalten" zu verbinden. Wir müssendas Maßhalten offensichtlich erst müh-sam lernen.

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34. EAK Buntlestagung

Was bedeutet auch eine schnelleAngleichung der Lebensverhältnisse inOst und West?

Sind damit vorrangig gleiche Ein-kommen gemeint?Oder die Gleichheit von Arbeitsplatz-und Lebenschancen? Wohlstand kannleider nicht verordnet werden. Dashaben Sozialisten immer wieder ver-sucht und sind jedesmal gescheitert.

Unternehmen im Wettbewerb kön-nen nur soviel bezahlen, wie derKunde bereit ist, für ihre Leistungauszugeben. Steigen die Einkommenschneller als die Leistungsfähigkeit, sobrechen die Unternehmen und damitdie Arbeitsplätze wie überforderteLastesel zusammen.

Wer - um der Gerechtigkeit willen -gleiche Einkommen in Ost und Westfordert, obwohl die Produktivität au-ßerordentlich unterschiedlich ist,nimmt hohe Arbeitslosigkeit und un-gleiche Lebenschancen in Kauf.

In Anlehnung an einen Bibelspruchmöchte ich fragen: „Was hülfe es denMenschen in Ostdeutschland, wenn siewestdeutsches Einkommensniveau ge-wönnen und nähmen doch Schaden anihren Arbeitsplätzen und an ihrerSeele?"

Die Einheit gerecht gestalten darfnicht mit der schnellen Schaffung glei-cher Lebens- und Einkommensver-hältnisse gleichgesetzt werden. Es gehtum die menschengerechte Gestaltungder Einheit. Jede Verkürzung auf ma-terielle Gleichheit ist wirtschaftlich il-lusorisch und führt zu einem Verlustmenschlicher Identität.

Steht hinter der Forderung nachgleichen Lebensverhältnissen in Ostund West nicht implizit die Vorstel-lung: „Ihr müßt schnellstens so werdenwie wir?" Soll die Einheit im Diensteder Menschen gerecht gestaltet wer-den, kommt es nach meiner Überzeu-gung vor allem darauf an, daß dieMenschen in den neuen Bundeslän-dern die Chance erhalten, an eigenenErfolgserlebnissen zu wachsen und ihrLeben und ihre Heimat selbstbestimmtzu gestalten.

Am meisten schmerzt mich, daß eswegen falscher Zielvorstellungen undfehlerhaften Instrumente in den neuenBundesländern kaum zu einer echtenAufbruchstimmung gekommen ist.Das befreiende Gefühl: „Wir schaffen

es - mit eurer Hilfe, aber aus eigenerKraft" - wird vom importierten An-spruchsdenken und viel westlicher Ar-roganz erstickt.

Nicht das bereits Erreichte zählt,sondern der ständige Vergleich mitdem Westen produziert Ungeduld undUnzufriedenheit. Wird Wohlstandvorwiegend verteilt und kann er nurunzureichend selbst erarbeitet werden,so fehlt die Bestätigung aus eigenenErfolgen und zuviele Menschen, Fir-men, ja ganze Branchen und Regionenkommen an den „Tropf staatlicher So-zialpolitik" .

BDI-Präsident Tyll Necker

Und im Westen will es nicht gelin-gen, Besitzstandsdenken und Verkru-stungen — "die Tyrannei des StatusQuo" - zu überwinden. Die einzigar-tige Chance, aus unterschiedlichen Er-fahrungen zu lernen, droht in mensch-licher und finanzieller Überforderungzu ersticken.

Die Selbstheilungskräfte der Markt-wirtschaft sind beachtlich. Sie könnenaber genauso überfordert werden, wiedie Selbstheilungskraft der Natur. Esgeht um das richtige Gleichgewichtzwischen Bewegen und Bewahren, waswir immer wieder suchen müssen.

Im Bereich des Umweltschutzes ha-ben wir in den letzten Jahrzehntenschrittweise gelernt, daß ökologischeSysteme komplexe Gebilde sind. Jederunbesonnene Eingriff in die labilenGleichgewichte der Natur kann zu ka-tastrophalen Folgen führen.

Wann aber werden wir bereit sein,auch in der Wirtschaft die ökonomi-schen Gesetzmäßigkeiten zu respektie-ren und sie in den Dienst des Gemein-wohls zu stellen, statt ständig gegen siezu verstoßen. Die Sicherung ökonomi-scher Effizienz erfordert Leistungsge-rechtigkeit . Verteilungsgerechtigkeitzur Sicherung der Schwachen undHilfsbedürftigen bedarf einer korrigie-renden Sekundärverteilung. Wird ineiner Marktwirtschaft von den Unter-nehmen die Zahlung politischer Ein-kommen gefordert und diese Forde-rung auch durchgesetzt, um vermeint-liche Verteilungsgerechtigkeit herzu-stellen, so geht nicht nur die Leistungs-gerechtigkeit verloren, sondern es ge-hen auch die im internationalen Wett-bewerb stehenden Betriebe kaputt.Wer gegen die Gesetze der Statik ver-stößt, baut Luftschlösser, die zusa^-vmenbrechen müssen. Wer gegen f ,Gesetze des Marktes verstößt, verhin-dert einen selbsttragenden Auf-schwung und jede menschengerechtePerspektive. Wir müssen auch im wirt-schaftlichen Bereich aus „verkürztemDenken" herauskommen und auch diekünftigen Wirkungen politischer Zieleund Maßnahmen einbeziehen und be-rücksichtigen.

Es sind Verstöße gegen die Chan-cengerechtigkeit, die den Einigungs-prozeß am schwersten belasten. Wirschicken z.B. die Industrie in denneuen Bundesländern mit schwerenNachteilen in einen sehr ungleichenWettbewerb.

- Eine unzureichende Kapitalausstat-tung und Produktivität, •<"

- verlorene Kunden und Märkte, *-*- der schwierige Marktzugang gegen

etablierte Konkurrenten, im Westenund

- ein unzureichendes Training unterWeltmarktbedingungen

sind nur einige der Handikaps, dieentmutigen müssen. Bitte stellen Siesich einmal vor, Sie sollten bei einemAutorennen mit einem Trabi gegenBMW und Mercedes antreten. WennSie keine Siegeschancen haben, wirdder Wettbewerb zur Farce und mündetin Bitterkeit und in ein beschädigtesSelbstbewußtsein.

Die Politik hat versucht, mit Investi-tionsförderung die Chancengerechtig-keit zu verbessern. In den Bereichen,wo die Leistung vor Ort erbracht wer-den muß - die also nur dem regionalenWettbewerb ausgesetzt sind - z.B. imHandel, im Handwerk und in der Bau-

10 EvangelischeVerantwortung

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sä. E/uf Bunelestagung

Industrie haben die Menschen in denneuen Bundesländern hunderttau-sendfach ihr Engagement und ihre Lei-stungsfähigkeit bewiesen.

Die Bereiche aber, in denen dieLeistung im internationalen Wettbe-werb erbracht werden müssen, weil dasAngebot aus allen Ländern der Erde indie neuen Bundesländer transportiertwerden kann - dies trifft fast aus-schließlich für die Industrie zu - ist dieInvestitionsförderung ein notwendigesaber unzureichendes Mittel, um Wett-bewerbsnachteile auszugleichen. Wer

Anbietern eine faire Chance gewäh-ren. Wir können von ihnen aber nichtverlangen, daß sie auf den Leistungs-vergleich verzichten.

Es geht aber nicht nur um Chancen-gerechtigkeit zwischen West und Ost,sondern auch um Wettbewerbsgerech-tigkeit zwischen subventioniertenTreuhandbetrieben und privatisiertenUnternehmen.Das Management eines Treuhand-Un-ternehmens kann sehr viel entspannterschlafen und günstiger anbieten, als einprivatisiertes Unternehmen im Osten.

Generalsekretär Peter Hintze, MdB, mit dem Präsidenten des BDI, Tyll Neckerund Moderatorin Renate Biitow

kaum Chancen hat, Aufträge im Wett-bewerb zu gewinnen und unter massi-ven Liquiditätsengpässen leidet, wirderst gar nicht investieren und damit dieFörderung nicht erreichen können.

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, • ch habe daher auch für den BDIschon seit langer Zeit gefordert, mehrChancengerechtigkeit für die Industriein den neuen Bundesländern durcheinen Zuschuß zur selbsterwirtschafte-ten Wertschöpfung in degressiverForm zu gewähren. Dies ist bei denKonkurrenten im Westen nicht unbe-dingt beliebt, aber für mehr Chancen-gerechtigkeit unbedingt erforderlich.

1992 gingen noch 15 % der Liefe-rungen der ostdeutschen Industrieüber die Grenzen der neuen Bundes-länder hinaus. In diesem Jahr sind esnur noch knapp 10 %. Westdeutsch-land liefert mehr als 7 mal so viel in denOsten als es aus dem Osten einkauft!Auch eine EINKAUFSINITIATIVEOST, wie sie vom BDI zusammen mitder Treuhand begründet wurde, kannhier nur sehr begrenzt Abhilfe schaf-fen. Wir müssen alles daran setzen,daß westliche Einkäufer den östlichen

Die große Mutter Treuhandanstaltgleicht im Zweifel auch Verluste aus,die jeden Privatbetrieb in den Konkursgetrieben hätte. Dies muß zu massivenWettbewerbsverzerrungen führen.Wir haben daher immer gefordert,Chancengerechtigkeit durch eine glei-che und transparente Förderung dernoch bei der Treuhand verbliebenenUnternehmen zu schaffen.

Quasi-Bestandsgarantien für soge-nannte „industrielle Kerne" könnendagegen nur zu weiteren Wettbewerbs-verzerrungen führen. Es geht keines-wegs um die Frage, ob der Industrie inden neuen Bundesländern geholfenwerden soll, sondern nur, wie Wettbe-werbsverzerrungen zwischen Ost undOst und Ost und West auf das unver-meidliche Minimum beschränkt wer-den können und Chancengerechtigkeithergestellt werden kann.

Besonders auch von kirchlichenKreisen wurde die Forderung aufge-stellt:

„Die Teilung in Deutschland durchTeilen überwinden"

Diese Forderung stellt nach einerÜberzeugung viel zu einseitig auf Ver-teilungsgerechtigkeit (Justitia distribu-tiva) ab und verstärkt damit die Vertei-lungskämpfe, die uns am Ende alle nurärmer machen.

Ich weiß, daß jedes Schlagwort eineVerkürzung der Realität bedeutenmuß. Dies trifft auch für meine Forde-rung zu:

„Die Teilung in Deutschland durchHilfe zur Chancengerechtigkeitüberwinden"

Bei kommunizierenden Röhren fin-det der Ausgleich von Niveauunter-schieden auf mittlerer Höhe statt. DerEine gewinnt - was der Andere verliert- im Ganzen ist es ein „Nullsummen-spiel".

Wir müssen dagegen anstreben,durch richtige Ordnungspolitik neuerentable Arbeitsplätze zu schaffen undim Osten zu einem selbsttragendenAufschub und im Westen zu neuerWachstumsdynamik zu kommen. Wirwerden dies nur erreichen, wenn un-sere ganze Gesellschaft wieder wettbe-werbsfähiger und leistungsorientierterwird. Gemeinsam einen größeren Ku-chen backen, an dem der Osten durcheigene Leistungen und gewaltigeTransferleistungen zunehmend partizi-piert, das sollte unser Ziel sein. •

Ich bin mir sehr wohl bewußt, daßEAK-Arbeit vor Ort oft mühsamist. Die meisten - gleich ob aufLandes- oder Kreisebene - könnennicht mit der Unterstützung vonHauptamtlichen rechnen. Ange-sichts der schwierigen Finanzlageder Partei können wir hier keineVeränderungen erwarten. Dasheißt, Sie alle werden sich weitersehr stark selber einbringen müssen.Ich denke aber, daß wir dabeigemeinsam viele positive Erfahrun-gen machen können. Eine Reihe vongelungenen Landestagungen indiesem Jahr zeigt, daß der Einsatzsich lohnt.

Dr. Angela Merkel, Lübeck 1993

EvangelischeVerantwortung

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Juden und Christen

Individuelle Verantwortung für dieVerwirklichung von Humanität undRecht in der GesellschaftDr. Angela Merkel

Die Bundesministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel, hielt bei demFestakt zum 150. Jubiläum von B'nai B'rith in der Deutschen Staatsoper Berlin am10. Oktober 1993 in Berlin eine Rede, aus der wir Auszüge dokumentieren.

B'nai B'rith („Söhne des Bundes") -das bedeutet vor allem Brüderlichkeit,Toleranz und Verständigung. Das be-deutet die Verpflichtung, das Wohler-gehen der Gemeinschaftsmitglieder zusichern und zu schützen - eine Ver-pflichtung, die zum Kern jüdischerExistenz gehört. Ich wünschte mir, daßunsere modernen Gesellschaften stär-ker von dieser Kultur des Reifens unddes Füreinander-Einstehens geprägtwürden. Das wäre ein Zugewinn anHumanität in unserer Welt und eingutes Fundament für die Zukunft.

B'nai B'rith wurde von deutschenJuden in Amerika ins Leben gerufen.Die Verbindung zum deutschen Juden-tum hat diese Organisation über langeJahrzehnte hinweg ganz wesentlich ge-prägt.

1882 wurde hier in Berlin der deut-sche B'nai B'rith gegründet. Es warendie ersten Jahre nach der bürgerlichenGleichberechtigung der Juden imDeutschen Reich von 1871. Es warenaber auch die Jahre, in denen derAntisemitismus sich vom vormoder-nen AntiJudaismus gleichsam emanzi-pierte und zunehmend rassistischeZüge bekam. Und dennoch - in dieserZeit entfaltete sich die Synthese vonchristlich-jüdischer Kultur, der diesesLand so viel zu verdanken hat, wie niezuvor.

Trotz vieler Schwierigkeiten warDeutschland ein Land, in dem sichJuden zu Hause und ganz selbstver-ständlich dazugehörig fühlten. Dafürstehen beispielhaft die Namen des Ma-lers Max Liebermann, des Unterneh-mers Emil Rathenau, des JournalistenMaximilian Harden oder auch desTheaterregisseurs Max Reinhardt undder Lyrikerin Eise Lasker-Schüler.

Die deutschen Bürger jüdischenGlaubens identifizierten sich mit die-sem Deutschland, sie traten für diesesLand ein, engagierten sich in Wissen-schaft, Forschung und Bildung, siehalfen Schwachen und Notleidenden,

Dr. Angela Merkel in Lübeck

ja sie setzten im Ersten Weltkrieg ihrLeben für dieses Land ein.

Das Deutschtum der gebildeten Ju-den in jenen Dekaden war kein Ver-such der Tarnung, keine ängstlicheSelbstverleugnung, sondern ein Ge-fühl der Teilhabe an einer Kultur, dieHumanisten und Kosmopoliten wieKant, Schiller und Goethe hervorge-bracht hatte.

Um seine grundsätzliche Verbun-denheit mit Deutschland zu zeigen undzu empfinden, mußte ein deutscherJude keineswegs sein Judentum aufge-ben. Wenn er es auch häufig tat, so warDeutschland in jener Zeit auch einZentrum jüdischen Denkens, j üdischerKultur und jüdischer Identität.

Das Besondere des deutschen Ju-dentums lag in dem Versuch, das Ei-gene immer wieder neu zu gewinnen,ohne den Kontakt zur gesellschaftli-chen Umgebung zu verlieren. Die Ein-bettung in die große jüdische Ge-schichte sollte sich vereinbaren mitdeutscher Vaterlandsliebe. Der Ver-such dieser Synthese ist schmerzlichgescheitert.

Schon vor 1933 und vor dem ErstenWeltkrieg waren die Juden in vielerHinsicht nur oberflächlich integriert.Gerade der tiefgehende Einfluß aufbestimmte Gebiete des kulturellen undöffentlichen Lebens, den sich die deut-schen Juden in nur kurzer Zeit erarbei-tet hatten, nachdem ihnen jahrhunder-telang Restriktionen auferlegt waren,wurde zur Quelle von Mißgunst undHaß.

Es gehört zur tiefen Tragik dieserGeschichte, daß in einem Moment, indem es nach 1945 ein freies und demo-kratisches Deutschland gab, das dieMöglichkeit auf eine dauerhafte undglückliche Synthese zwischen Judenund Nichtjuden bot, das deutsche Ju-dentum bereits weitgehend der Ver-gangenheit angehörte.

>-•»-Es wäre jedoch ein später Sieg y ,

die nationalsozialistischen Machtha-ber, wenn in Deutschland die Erinne-rung an jüdisches Leben vor dem Be-ginn der Barbarei verloren ginge. Es isteine Erinnerung an den jüdischen Bei-trag zur deutschen Kultur, der sichvielleicht als Wille zur Humanität zu-sammenfassen läßt. Die deutschen Ju-den haben auf ihre Weise darum ge-rungen - die besten von ihnen alsPhilosophen, Schriftsteller, Wissen-schaftler, Maler oder Komponisten. Indiesem Kampf um das Humane seheich den verpflichtenden Auftrag deseinst großen deutschen Judentums anunsere Gegenwart und Zukunft.

Dazu gehört auch die Erinnerung andie fast vollständige Vernichtung derdeutschen Juden. Es darf nie wie^-1-'-aus dem Gedächtnis der Mensch, i .gelöscht werden, was der Nationalso-zialismus der Judenheit nicht nur indiesem Land, sondern in ganz Europaangetan hat. Wir Deutsche müssen mitder schrecklichen Wahrheit leben, daßden Juden in den Jahren von 1933 bis1945 von Deutschen unsagbares Leidzugefügt wurde. Wir wissen, daß dasVerbrechen dieses Völkermordes inseiner kalten, unmenschlichen Pla-nung und in seiner tödlichen Wirksam-keit in der Geschichte der Menschheiteinmalig ist.

In der Vorbereitung zu diesem Fest-akt las ich ein Wort des langjährigenVorsitzenden von B'nai B'rith inDeutschland vor dem Kriege, des Rab-biners Leo Baeck. Es hat mich tiefbewegt. Leo Baeck sagte nach seinerBefreiung aus dem Konzentrationsla-ger Theresienstadt: „Für uns Juden ausDeutschland ist eine Geschichtsepoche

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Juden und Christen

zu Ende gegangen. Eine solche geht zuEnde, wenn immer eine Hoffnung, einGlaube, eine Zuversicht endgültig zuGrabe getragen werden muß. UnserGlaube war es, daß deutscher undjüdischer Geist auf deutschem Bodensich treffen und durch ihre Vermäh-lung zum Segen werden können. Dieswar eine Illusion - die Epoche derJuden in Deutschland ist ein für alle-mal vorbei."

Natürlich können wir nicht einfachdort anknüpfen, wo es 1933 endete.Aber es gehört zur Wahrheit und es istein historisches Verdienst, daß sichauch nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges Bürger jüdischen Glau-bens wieder bereit fanden, tatkräftigund mit ihrem moralischen Wort undGewicht beim Aufbau Deutschlandszu, tielfen. Auch diese Erinnerung wol-' £.wir bewahren, um den Willen zurGemeinschaft in einer besseren Zu-kunft zu stärken.

Der Wandel der letzten Jahre hatdazu geführt, die kleine jüdische Ge-meinde in Deutschland deutlich zuvergrößern. Ich persönlich sehe es alsein großes Zeichen des Vertrauens an,das Tausende von jüdischen Menschenaus dem Osten Europas nach Deutsch-land gekommen sind, um hier als un-sere Mitbürgerinnen und Mitbürger zuleben und zu arbeiten. Dadurch hat dasjüdische Gemeindeleben in Deutsch-land neue Impulse erhalten.

Gerade hier in Berlin sind Gemein-destrukturen entstanden, die in vieler-lei Hinsicht zukunftsweisend sind. Esist mir eine besondere Freude, daß die{ ^.Berliner Synagoge wieder neu ent-sumden ist und ihrem eigentlichenZweck dient, dem Gebet. Und nachvielen Jahrzehnten gibt es hier in Ber-lin auch erstmals wieder ein jüdischesGymnasium.

Dies alles ist nur wenig, wenn mandaran denkt, wie eng Berlin und Ju-dentum in früherer Zeit auf glücklicheWeise miteinander verwoben waren.So eng, daß Fontäne, ein Kenner derBerliner Geschichte, das jüdische Ele-ment einen unverkennbaren, unaus-löschlichen und wichtigen Bestandteildes spezifisch berlinischen Stilsnannte. Wir können uns glücklichschätzen, wenn zumindest etwas davonin die deutsche Hauptstadt zurückge-kehrt ist.

Der große deutsch-jüdische DenkerMartin Buber hat zeitlebens auf dieenge Verbindung von Judentum und

Christentum hingewiesen, die auf dergemeinsamen Überzeugung von derGottebenbildlichkeit, der Einzigartig-keit und der unveräußerlichen Würdedes Menschen beruhe. Daraus er-wächst Juden und Christen die Pflicht,die Chancen, die sich in diesem neuenZeitalter für die Menschheit im Sinnevon Freiheit, Selbstbestimmung undFrieden bieten, gemeinsam zu nutzenund dafür zu arbeiten.

Schon seit über 30 Jahren gilt denJuden in der ehemaligen Sowjetuniondie besondere Fürsorge von B'naiB'rith. Es ist heute unsere Aufgabe,den Menschen in Rußland, in denStaaten der GUS sowie in den anderenehemals kommunistisch regiertenStaaten, aber auch den Menschen inder sogenannten Dritten Welt ver-stärkt zur Seite zu stehen. Wir sichernden Frieden in der Welt nicht durchgigantische Rüstungsprogramme; wirmachen den Frieden sicherer, indemwir Werke der Menschlichkeit tun.

Frieden sichern - das ist nicht nureine Aufgabe zwischen den Staaten,sondern auch eine Aufgabe, die imInnern eines jeden Landes zu bewälti-gen ist. Ich bin zutiefst beschämt überdie menschenverachtenden Anschlägegegen Ausländer hier in meinem Land.Ich bin beschämt über die Schändungvon jüdischen Gedenkstätten undFriedhöfen. Diese Taten sind eineSchande für Deutschland.

Es gibt Fremdenfeindlichkeit in die-sem Land, und es gibt rechtsradikaleOrganisationen. Viele Menschen sinddarüber erschüttert und nehmen dieszu Recht sehr ernst. Die Bundesregie-rung hat vielfältige Maßnahmen ergrif-fen, um den Extremisten zu begegnen.In den vergangenen Jahren wurdenfünf rechtsextreme Organisationenverboten. Es ist beabsichtigt, den Ge-brauch von nationalsozialistischen„Ersatzsymbolen" unter Strafe zu stel-len. Wir haben Sondergruppen derPolizei und des Verfassungsschutzesgegen Rechtsextremisten gebildet.

Wer Freiheit dazu mißbraucht, Ras-sismus zu predigen, Menschen andererHerkunft oder anderen Glaubens zudrangsalieren oder gar umzubringen,der muß mit der entschiedenen Gegen-wehr des Staates rechnen.

Wirklich gewaltbereit sind etwa 2 bis5 Prozent. Einige davon greifen zurGewalt, weil sie einen Sündenbocksuchen oder weil sie sich von der De-magogie rechter Ideologen verführen

lassen. Dann werden schnell Ausländerals diejenigen abgestempelt, die Schuldan der eigenen Perspektivlosigkeit sind.Andere Jugendliche wollen einfach pro-vozieren. Sie finden Gefallen daran,Tabus zu durchbrechen. Viele von ih-nen sind noch sehr jung. Oft sind sienicht älter als dreizehn oder vierzehn.Ihre Provokation ist oft ein Hilferufnach besseren Zukunftschancen undsinnvollen Betätigungsfeldern.

Zu erklären bedeutet nicht zu recht-fertigen. Keine noch so schwierige Si-tuation rechtfertigt Gewalt gegen an-dere Menschen.

Ignatz Bubis hat vor wenigen Tagengesagt, daß den etwa 6 400 Jugendli-chen, die auch zu schweren Straftatenbereit sind, „Millionen und Abermillio-nen junger Leute gegenüberstehen, dieGewalt verabscheuen". Ich bin ihm fürdiese Worte dankbar. Jeder Gewalttä-ter und jeder Rechtsradikale ist einerzuviel. Wir werden ihnen auch weiter-hin mit aller Kraft entgegentreten.Aber richtig ist eben auch, daß wir nichtvor einem neuen Nazismus in Deutsch-land stehen. Über 95 Prozent der jun-gen Deutschen lehnen Gewalt ab.

Es muß vor allem darum gehen, lang-fristig der Gewalt vorzubeugen. AlsJugendministerin habe ich neben vielenanderen Maßnahmen ein Programm ge-gen Aggression und Gewalt begonnen.Damit wollen wir Jugendlichen in derschwierigen Umbruchsituation kon-krete Hilfestellung geben und Orientie-rung vermitteln. Wir haben damit ersteErfolge erreicht. Sie machen deutlich,daß die Eskalation der Gewalt aufge-halten werden kann.

Gewalt ist ein soziales Phänomennicht nur hier in Deutschland. Es gibtGewalt in vielen Bereichen: in denFamilien, gegen Frauen und Kinder, imStraßenverkehr, in den Medien, undauch das organisierte Verbrechennimmt in beunruhigender Weise zu.

Wenn wir der Gewalt an den Wurzelnbegegnen wollen, dann müssen wir ge-meinsam neu darüber nachdenken, wel-che Werte es eigentlich sind, die unsereGesellschaft zusammenhalten. Denndie Probleme unserer Tage - Gewalttä-tigkeiten, Intoleranz, mangelndesRechtsbewußtsein, fehlende Solidarität- haben gewiß etwas damit zu tun, daßin Elternhäusern, Schulen, aber auch inden Medien und - zumindest inDeutschland - selbst in den Religions-gemeinschaften die Vermittlung vonWerten vernachlässigt wurde. •

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Aus unserer Arbeit

LeserbriefBetr.: Ev 9/93, ArtikelDr. Werner Hofmaim

Zum ausgezeichneten Artikelvon Dr. Werner Hofmann nureine kurze Überlegung zum Pro-blem Kirchensteuer: Sollte je-mals eine Änderung veranlaßtwerden, dann müssen sich die,die sich einer ihnen lästigenSteuer zu entziehen versuchen,darüber klar sein, daß die sozia-len Aufgaben, die zum Teil mitder Kirchensteuer abgedecktwerden, ja nach wie vor vorhan-den sind. Das heißt praktisch:der Staat muß dann eine Sozial-steuer einführen, die alle Bürgerzahlen müssen, da ja ein Austrittaus dem Staat nicht möglich ist.Und in welcher Höhe eine sol-che alle Bürger betreffendeSteuer ausfällt, ist wohl werthinterfragt zu werden. Bislangzahlen die Kirchensteuerzahlerfür die aus einer Kirche Ausge-tretenen die sozialen Lasten mit:aus selbstverständlicher bürger-licher Solidarität.

Ottmar Strohm,Oststr. 24, 86825 Bad Wörishofen

BücherWilhelm Hahn, Der Ruf ist im-mer neu, Aus 200 Jahren derbaltischen TheologenfamilieHahn, Seiten: 180, HaussierVerlag Neuhausen - Stuttgart1993

Dieses Buch berichtet aus denletzten 200 Jahren der baltischenTheologenfamilie Hahn. Es be-schränkt sich dabei auf das Le-ben von sechs Familienmitglie-dern aus fünf aufeinander fol-genden Generationen, die imöffentlichen und kirchlichen Le-ben besonders hervorgetretensind und deren Wirken unsdurch Biographien, historischeArbeiten und insbesonderedurch Autobiographien an-schaulich dokumentiert ist.Diese Lebensberichte habennicht nur biographisches Inter-esse; denn in ihnen spiegelt sichjedesmal auch ihre Epoche mitihren Problemen und Anschau-ungen, so daß die sechs Lebens-berichte zugleich eine zeit- undkirchengeschichtliche Doku-

mentation darstellen, die ihrenbesonderen Wert darin hat, daßEreignisse, Probleme und Ant-worten jener vergangenen Zeit-abschnitte uns aus der Perspek-tive der damals Lebenden be-gegnet.

Aus unserer Arbeit

Dieser Blick in das Leben un-serer Väter und Mütter - unddas gilt wahrlich nicht nur fürdiese Familien - kann uns be-wußt machen, wie ernst sie ihreVerantwortung vor Gott nah-men und bereit waren, aus ihrKonsequenzen zu ziehen. Auchwenn wir in einer verändertenWelt leben, sollten wir das gei-stige Erbe, das in ihrem LebenGestalt gewonnen hat und dassie uns vermittelt haben, als ver-pflichtendes Kapital betrachten,das zu nutzen und neu zu verle-bendigen jeder folgenden Gene-ration befohlen ist. Gerade dieGeschichte der Familie Hahnzeigt, daß der Ruf zur Verant-wortung zu jeder Zeit und injedem Leben andere Antwortenerfordert.

So will dieses Buch mit seinenBerichten aus fünf Generatio-nen der Theologenfamilie Hahnnicht nur eine Familienge-schichte sein, sondern ganz all-gemein Verständnis für unsereVäter und Mütter in den unsvorausgegangenen Generatio-nen wecken und bewußt ma-chen, wie viel wir ihnen verdan-ken. Eine Generation, diemeint, nur aus sich selbst ihrLeben gestalten zu können, undkein Verhältnis zu ihrer Ge-schichte hat, wird zur vaterlosenGesellschaft ohne Wurzeln unddeshalb ohne Früchte. Erstrecht sollten wir Christen unsmit denen verbunden wissen,die uns im Glauben vorausge-gangen sind und uns die Bot-schaft des Evangeliums bezeugtund vorgelebt haben.

(aus: dein Vorwort)

Zum Entwurf des CDU-Grund-satzprogrammes

Kirchzarten. Daß es sich nichtum eine der üblichen politischenVeranstaltungen handelte, kün-digte sich gleich zu Beginn an,als Pfarrer Dr. Gießer mit einerkurzen Andacht die Veranstal-tung eröffnete.

Um was es inhaltlich ging,sagte Ingeborg Babucke, dieLeiterin des Evangelischen Ar-beitskreises: Vorstellung undDiskussion des im Entwurf vor-liegenden Grundsatzprogram-mes der CDU Deutschlands.

In seiner Einführung in dasmehr als 200 Artikel umfassendeWerk machte Dekan Franz Do-leschal dann auch die Gewich-tigkeit dieses Vorhabens deut-lich und hob hervor, daß dieGrundlage für dieses Programmdas christliche Verständnis vomMenschen sei. Mit Genugtuungkönne man feststellen, daß dasGrundsatzprogramm auch Platzfür Nichtchristen biete.

Ob zu der im Programm ge-nannten Fehlbarkeit des Men-schen ein Zusammenhang mitden diversen Rücktritten vonPolitikern herzustellen sei, bliebder Interpretation der zahlreicherschienenen Teilnehmer über-lassen. Dekan Doleschal ver-wies in seinen Ausführungen mitNachdruck auf die Pflicht einesjeden Christen hin, sich für dasGemeinwohl nach Kräften zuengagieren. Dabei könne undsolle man die CDU beim „C"nehmen. Es war bemerkens-wert, wie Franz Doleschal im-mer wieder auf die eindeutigeVerankerung der christlichenGrundtugenden wie Nächsten-liebe oder Solidarität Wertlegte.

Die Erläuterungen vonStaatssekretär Ludger Rede-inann zu dem mehr an wirt-schaftlichen Gesichtspunktenorientierten Teil des Grundsatz-programmes beschäftigten sichinsbesondere mit der Sicherungdes Wirtschaftsstandortes durchVerbesserung der Aus- undFortbildung, der Schaffung ei-nes attraktiven Steuerklimas,der Begrenzung der Lohnne-benkosten und der Verbesse-rung des sozialen Friedens.

Integration der Aussiedler nichtohne Rücksicht auf die Religion

Bielefeld. „Erst nehmen sieuns die Sprache, dann die Sitteund schließlich den Glauben.Wir müssen nach Deutschland,damit unsere Kinder Christenbleiben". Es war einer der füh-renden Mennoniten Rußlands,der mit diesen Worten die not-wendige Aussiedlung der Ruß-landdeutschen begründet hat.Nicht aus Angst vor nationalerVerfolgung, sondern aus reinreligiösen Motiven, wie PastorDr. Johannes Reimer feststellt.Doch statt geistlicher Rettungfanden sie die historische "mal säkularisiert vor.

Als Fazit seines Vertrags mitdem Titel „Einheimisch werden.Sozio-religiöse Integration derAussiedler als Bedingung" sagteder mennonitische Pastor:Wollte man den Rußlanddeut-schen wirklich helfen, dann seivor allem theologische Hilfe an-gesagt. Wollten wir Integrationim Sinne wirklicher Eingliede-rung der Aussiedler in unsergesellschaftliches Leben, dannkann eine tiefe Aufklärung nichtausbleiben. Freilich bedeutetdas nicht eine Angliederung derGlaubcnsvorstcllung an diewestlich-liberalisierten Denk-schemata.

In einer engagierten Diskus-sion, der auch der Aussiedlerbc-auftragte der EvangelischenLandeskirche, Pfarrer Dr. Chri-stoph Seiler und SozialpfarrerEberhard Hahn beiwohnten,präzisierte Dr. Reimer seineThesen. Er nannte er als Bei-spiel Gemeinden, in denen esunter anderem mit der Hilfe vonLogos gelinge, einen Erneue-rungsprozeß in Gang zu setzen.

Der EAK Bielefeld bestätigteAngelika Schulze, die auch stell-vertretende Landesvorsitzendeist, als Kreisvorsitzende. IhrStellvertreter ist Fritz Götza,Schriftführer Thorsten Ruppel.Zu Beisitzern wurden gewählt:Horst Krause, Dr. GerhardRödding, Dr. Dietrich Weberund Professor Dr. HelmtutWenck.

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Aus unserer Arbeit

Gedankenaustausch zwischenPolitikern und Studenten

Wiedenest. Der EvangelischeArbeitskreis der CDU, Bezirks-verband Bergisches Land, be-suchte das Missionshaus und dieBibelschule Wiedenest. EinKennenlernen und ein Gedan-kenaustausch zwischen denCDU-Politikern und den Stu-denten des Missionshausessollte es sein. Ein mehrstündigesintensives Fragen und Diskutie-ren um Ethik und Glauben inder Politik, die Einflußnahmevon Christen im politischenRaum, und um die grundsätzli-che Frage: „Kann sich ein Christnoch auf Politik einlassen"wurde daraus.

Unter der gemeinsamen Lei-'," l von Schulleiter HartwigS«..inurr und Dr. Hans HörnMdL, Bezirksvorsitzender desEAK Bergisches Land, saßenca. 120 junge Leute und derenDozenten, sowie BürgermeisterKarl-Siegfried Noss, Kreistags-mitglied Reinhard Flick und derVorsitzende der CDU Bergneu-stadt. Dieter Neukrantz.

Schwieriger, aber stetiger Auf-schwung

Nienburg. Um die wirtschaft-liche Entwicklung in den neuenBundesländern ging es auf einerVortragsveranstaltung desEvangelischen Arbeitskreisesim CDU-Kreisverband Nien-burg, zu der Arbeitskreisvorsit-zpnder Helmut Leeke zahlrei-

,3äste begrüßen konnte.

Als erster Referent stellte Di-terich Harms, Vorstandsvor-standsvorsitzender der Spar-kasse Strausberg, seinen Land-kreis vor, 30 Kilometer östlichBerlin, der mit der Hinterlassen-schaft des sowjetischen Militärszu kämpfen habe. Die Kreisin-frastruktur sei aber gut, proble-matisch jedoch die noch hoheArbeitslosigkeit. Die Nähe Ber-lins bewirke auch zu hoheGrundstückspreise, und Mühebereite nicht wenig die man-gelnde Flexibilität gerade derjungen Leute.

Bürgermeister Rene Koth er-läuterte die Situation der StadtAtlandsberg im gleichen Kreis.In der Verwaltung sei die Zahlder Beschäftigten stark redu-ziert worden, aber Gewerbebe-triebe mit vielen Arbeitsplätzenseien neu angesiedelt worden.

Mit der Sanierung des Altstadt-kerns beschäftigt, könne maninzwischen über Telephon- undGasversorgung nicht mehr kla-gen. Schwierig sei es für dieVerwaltung jedoch, sich in demkomplizierten Regelwerk derwestdeutschen Gesetze zurechtzu finden.

Aus der Sicht der Treuhand-anstalt nahmen die JuristenLudwig Harms und Gerd Kin-derling aus Magdeburg Stellung.

Vertiefende Fragen bewiesendas große Interesse der Zuhö-rerschaft, in deren Namen Vor-sitzender Leeke den Referentenvielmals für die anschaulicheDarstellung der Aufbaupro-bleme und -erfolgte dankte.

Themen „Glauben und Politik"aufgreifen

Leipzig. Die Gründung einesEvangelischen Arbeitskreisesfür Leipzig und Umgebung stehtunmittelbar bevor. Auf Einla-dung von Karlheinz Bauer,Landrat der Kreise Borna undGeithain, hatten sich einige Per-sonen zusammengefunden, ummiteinander über ihre Erfahrun-gen mit Kirche, Politik und Par-tei zu sprechen. Sie befürworte-ten die Bildung eines Arbeits-kreises, um sich intensiv mit denZusammenhängen zwischenGlaube und Politik sowie Kircheund Staat auseinanderzusetzen.Dr. Michael Feist übernahm es,in einer Veranstaltung unterdem Thema „Politik aus christli-cher Verantwortung" über An-liegen, Ziele und Aufgaben desEvangelischen Arbeitskreises zuinformieren sowie Vorschlägezur künftigen Arbeit in Leipzigzu machen.

Spendenaktion

Heinsberg. Bereits seit 1990hat der Evangelische Arbeits-kreis der CDU im Bezirksver-band Aachen Kontakte zu einerev. Luther. Gemeinde in derNähe von Oppeln aufgenom-men. Ein ehemaliges Pfarrhaussoll zu einem Jugendzentrumumgestaltet werden. Landeskir-chenrat Gutheil der Ev. Landes-kirche Rheinland und Arnulfvon Bock, Mitglied des Kirchen-kreises Aachen, haben die Ver-bindung zum Zwecke einerHilfe im früheren Oberschlesiengeschaffen.

Das Jugendzentrum soll dieKommunikation der Menschenuntereinander fördern, als Zen-trum ökumenischer Gesprächedienen und nicht zuletzt einerfunktionierenden Jugendarbeitzugeführt werden.

Die gut erhaltene Bausub-stanz kann mit einem geschätz-ten Materialkostenaufwand vonrund DM 25.000 funktionstüch-tig saniert werden. Die Ausfüh-rungsarbeiten werden von denGemeindemitgliedern durchge-führt und in Zusammenarbeitmit Mitgliedern des Evangeli-schen Arbeitskreises koordi-niert.

Der Evangelische Arbeits-kreis der CDU im Bezirksver-band Aachen bittet um Ihre fi-nanzielle Mithilfe bei der Ver-wirklichung des Jugendzen-trums. Die Spendenaktion wirddurch das Jugendreferat des Kir-chenkreises Aachen unterstützt.Überweisen Sie Ihren Spenden-betrag auf das Konto des Kir-chenkreises Aachen bei der

Sparkasse AachenKonto-Nr. 429886Bankleitzahl 391501 00Stichwort:Jugendzentrum LubienieSpendenbescheinigungen kön-nen ausgestellt werden.

Einladungzur Diakonie-Tagung nach Lippstadt

in das evangelische Gemeindehaus, Brüderstr. 15, 59555 Lippstadt

„Diakonie im Gemeinsamen Haus Europa"Samstag, 27. November 1993

Beginn: 10.00 Uhr - Ende ca. 15.00 UhrEAK-Kreisvorsitzende Angelika Schulze, Lämmkenstatt 56, 33729 Bielefeld,Telefon: 0521-762633/Fax: 0521-761725 (ab 18. November 1993)

EAK-Bezirk Mittelrhein plant Israel-Reise

Der Bezirksvorstand des EAK-Mittelrhein hat beschlos-sen, ein Reiseunternehmen mit der Durchführung einerRundreise durch Israel zu beauftragen. Das beauftragteUnternehmen ist seriös und erfahren in der Planung undVeranstaltung solcher Reisen. Die Reise findet vom

13.-22. S. 1994

statt. Start- und Zielflughafen in Deutschland wirdFrankfurt!Main, in Israel Tel Aviv sein. Die Rundreisewird in klimatisierten Bussen mit deutschsprechendemReiseführer durchgeführt, die Übernachtungen sind inKibbuz-Gästehäusern bzw. 3-Sterne-Hotels mit Duscheoder Bad und WC. Der Teilnehmerkreis ist offen, er istalso nicht auf Mitglieder des E AK-Mittelrhein be-schränkt. Die Kosten für Reise mit Halbpension werdensich voraussichtlich pro Person im Doppelzimmer jenach Teilnehmerzahl auf 2.100,- DM bis 2.300,- DM,Einzelzimmerzuschlag ca. 250,- DM belaufen.

Es besteht außerdem die Möglichkeit eines anschließen-den Badeurlaubs in Beth Hava bei Naharia zu günstigenPreisen, ohne daß sich der Flugpreis dadurch erhöht.

Weitere Auskünfte erteilt:Friedemann Schwarzmeier, Erzstraße 27,53604 Bad Honnef.

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EvangelischeVerantwortung

Meinungen und Informationen aus dem Evangelischen Arbeitskreis derCDU/CSU • Herausgeber: Jochen Borchert, Dr. Ingo Friedrich, GustavIsernhagen, Dr. Hans Geisler, Dr. Sieghard-Garsten Kampf, ChristineLieberknecht, • Redaktion: Birgit Heide, Katrin Eberhard!, Friedrich-Ebert-Allee 73-75, 53113 Bonn, Telefon (0228) 544305/6 • Verlag: VereinigteVerlagsanstalten GmbH, Höherweg 278, 40231 Düsseldorf • Abonne-mentspreis jährlich 20,- DM • Konto: EAK, Postgiroamt Köln 1121 00-500oder Sparkasse Bonn 56267 • Druck: Union Betriebs-GmbH, Friedrich-Ebert-Allee 73-75, 53113 Bonn • Nachdruck - auch auszugsweise - nurmit Genehmigung der Redaktion und mit Quellenangabe kostenlosgestattet — Belegexemplar erbeten. Namentlich gekennzeichnete Beiträgestellen die Meinung des Verfassers dar, nicht unbedingt die der Redaktionoder Herausgeber.

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Aus dem Inhalt:

Macht und Verantwortung -Politik im Diensteder MenschenJochen Borchert 1

Macht und Verantwortung -Politik im Diensteder MenschenBerndt Seite 5

Im Dienste der Menschen:Die Einheit gerechtgestalten!Christoph Stier 7

Im Dienste der Menschen:Die Einheit gerechtgestalten!Dr. Tyll Necker 9

Individuelle Verantwortungfür die Verwirklichung vonHumanität und Recht in derGesellschaft 12

Aus unserer Arbeit 14

Unsere Autoren:

Jochen Borchert MdBBundesministerRochusstr. 153123 Bonn

Dr. Berndt SeiteMinisterpräsidentSchloßstr. 2-419053 Schwerin

Christoph StierLandesbischofMünzstr. 819055 Schwerin

Dr. Tyll NeckerPräsident BDIGustav-Heinemann-Ufer 84-8850968 Köln

Dr. Angela Merkel MdBBundesministerinKennedyallee 105-10753175 Bonn

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Ein Wort gerät als Schlagwortimmer mehr ins Zwielicht. Derinflationäre Gebrauchschwächt seine Glaubwürdig-keit. Immer mehr Menschenführen es im Munde, immerweniger scheinen „Solidarität"zu praktizieren. Ist sie in einerWohlstands- und Anspruchs-gesellschaft zu einem Deck-mantelfür Eigen- und Grup-penliebe verkommen? Wird siezum (Selbst-)Täuschungsma-növer, wenn sie einerseitslauthals gefordert, andererseitsnur ungern geübt wird? Setztsie Andersdenkende nach demMotto „Willst du nicht meinBruder sein, so ..." untermoralischen Druck, verschafftihnen ein schlechtes Gewissenund bringt sie zum Verstum-men? Kann sie als eine ArtZauber- und Beschwörungs-formel Probleme, Konflikteund Interessengegensätzebewältigen?

Bei allem möglichen Miß-brauch und Mißverständnisbleibt der rechte Gebrauch„solidarischen Verhaltens"sinnvoll und notwendig. AlsGegenteil von ungebändigtemEgoismus und aggressivemEinzelkämpfertum bedeutetSolidarität, (Mit-) Verantwor-

tung zu übernehmen, Hilfe zurSelbsthilfe anzubieten undRücksicht zu nehmen. Diebesten Voraussetzungen dafürsind, die (Not-)Situation desanderen realistisch einzuschät-zen und freiwillig und „mitdem Herzen" die fremdenBedürfnisse zum eigenenProgramm zu machen. Wersich ganz öffnet, wird an derNot anderer nicht nur passivanteilnehmen, sondern hierausauch Schlußfolgerungenziehen. Vor allem wird erSolidarität als ein Füreinander-Einstehen begreifen underfahren lernen. Sind wirlediglich nicht alle voneinanderabhängig und wird nicht jedereinzelne auch für die Gesamt-heitgebraucht?! Diese Abhän-gigkeit mit gegenseitigenPflichten und wechselseitigenVerpflichtungen eröffnetgemeinsames Handeln.

Eine neue Solidarität wirdgeboren, wenn die stets kon-krete Nächstenliebe denFernsten nicht vergißt. In dermenschlichen Finsternis undKälte weist sie als soziales Lichtden Weg in eine gemeinsameZukunft.

Burkhard Budde

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