(eBook - German) Akte X Novel - Bd. 08 - Der Parasit

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Transcript of (eBook - German) Akte X Novel - Bd. 08 - Der Parasit

  • Les Martin

    Der Parasit Roman

    auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Chris Carter, nach einem Drehbuch

    von Chris Carter

    Aus dem Amerikanischen von Jrgen Heinzerling

    Unheimliches geht vor in der Kanalisation von Newark, New Jersey. Im Abwasser wird eine grausam verstmmelte Leiche gefunden, ein Krper, der kaum noch als menschlich zu erkennen ist. Kurz darauf wird ein Kanalarbeiter in die schlammigen Fluten gezogen und kann erst in letzter Sekunde gerettet werden. Mulder kommt nach Newark, um den Fall zu untersuchen. Nachdem die Abteilung X-Akten geschlossen worden ist, vermutet er eine neue Schikane von Assistant Director Skinner, der ihn fr diesen Drecksjob angefordert hat. Angeekelt stapft Mulder durch die Kloake unter der Stadt und verhrt die Kanalarbeiter. Alles deutet auf reine Routine hin - bis Scully bei der Autopsie der verstmmelten Leiche etwas uerst Ungewhnliches entdeckt... Im Klrwerk von Newark kommt es schlielich zu einer grotesken Begegnung. Einer unerwartet schleimigen Begegnung...

  • Erstverffentlichung bei: HarperTrophy - A Division of Harper Collins Publishers, New York

    Titel der amerikanischen Originalausgabe: The X-Files - The Host

    The X-Files 1997 by Twentieth Century Fox Film Corporation All rights reserved

    Die unheimlichen Flle des FBI

    Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Akte X Novels - die unheimlichen Falle des FBI.

    Bd. 8. Der Parasit: Roman / Les Martin. Aus dem Amenkan. von Jrgen Heinzerling. -1. Aufl. - 1998

    ISBN 3-8025-2562-0

    2. Auflage 1998 der deutschen bersetzung vgs Verlagsgesellschaft, Kln 1998

    Coverdesign: Steve Scott Umschlaggestaltung der deutschen Ausgabe:

    Papen Werbeagentur, Kln

  • l

    Eigentlich htte Dmitri Protemkin glcklich sein mssen: Solange er denken konnte, hatte er schon zur See fahren wollen. Seine Kindheit hatte er auf einem Bauernhof in der Ukraine verbracht, und immer wenn er im sich wiegenden Getreide stand, hatte er sehnschtig zum Flu Dnjepr hinbergese- hen und den Strom auf seiner Reise zum Schwarzen Meer in Gedanken begleitet. Die weiten Felder sei- ner Kindheit wurden nach einem Unfall in einem Kernkraftwerk in der Nhe von Tschernobyl pla- niert. Aber zu dieser Zeit ging Dmitri schon auf eine Schule, wo er den Beruf eines Schiffsinge- nieurs erlernte. Dann bekam er seinen ersten Job - doch sein Traum, die Welt zu sehen und fremde Lnder zu erkunden, wurde zu einem Alptraum.

    Dmitri war der Ingenieur mit dem niedrigsten Dienstgrad auf der Lenin, einem russischen Frach- ter. Als sich die Sowjetunion in Republiken aufspal- tete, wurde das Schiff in Liberty umgetauft. Die Mannschaft hatte jedoch ihren eigenen Namen fr den Frachter - sie nannte ihn Die schwimmende Mlltonne".

    Auf diesem Trn stampfte die Liberty sehr weit entfernt von Wladiwostock, ihrem Heimathafen,

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  • durch die schwere See. Sie kmpfte sich durch den dunklen, strmischen Atlantik, an der Kste von New Jersey vorbei, und Dmitri konnte fhlen, wie die hohen Wellen gegen den Schiffsrumpf schlu- gen. Nur auf diese Weise war berhaupt zu spren, da er sich auf dem Meer befand. Sein Dienst sah vor, da er sich stndig unter Deck aufhielt und im Maschinenraum schuftete, wo er auch die lieblos zusammengefhrten Mahlzeiten herunterschlang und am Ende einer Schicht vllig erschpft in sei- ner engen Koje einschlief. Das Meer hatte er zum letzten Mal gesehen, als er sich zu Beginn der Fahrt ber die Reeling gebeugt hatte, weil sein Magen rebellierte. Obwohl er die Seekrankheit mittlerweile berwunden hatte, erschien ihm das Leben auf einem Bauernhof nun alles andere als unertrglich: Dmitri zhlte die Tage, bis er wieder festen Boden unter den Fen spren wrde, Bume und Gras sehen und wieder frische Luft atmen konnte.

    An diesem Tag hatte er seine Schicht beinahe beendet. Mit einem neuen Schlauchstck kletterte er die eiserne Leiter hinunter in den verqualmten Maschinenraum. Er mute nur noch die tropfende lleitung reparieren, dann konnte er sich ausruhen.

    Der Oberingenieur des Schiffes, Serge Steklow, erwartete ihn schon. Auf seinem brtigen Gesicht stand ein breites Grinsen - und Dmitri lief ein Schauer ber den Rcken. Er fragte sich, was fr

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  • einen schweitreibenden Job sich Serge nun wieder fr ihn ausgedacht haben mochte. Um der Schikane zu entgehen, versuchte Dmitri dem Oberingenieur zuvorzukommen: Tut mir leid, aber ich habe es eilig. An der rechten Maschine mssen die Rohrlei- tungen repariert werden."

    Serges Grinsen wurde noch eine Spur breiter. Du machst dir zu viele Gedanken. Vergi doch mal den ganzen Mist, den du auf der Schule gelernt hast. Die alten Rohre haben schon 50 Jahre gehal- ten, also werden sie noch ein wenig warten knnen."

    Das wurde auch vom kommunistischen System behauptet, bis es zusammengebrochen ist", gab Dmitri zurck.

    Wir wollen keine Zeit damit vergeuden, ber Politik zu debattieren." Serge fuhr sich durch seine fettigen Haare. Wir haben ein dringenderes Pro- blem. Ich habe eben einen Bericht erhalten, da die Toiletten nicht mehr funktionieren. Wir knnen ohne die Maschine auskommen, aber nicht ohne Klo. Also mssen wir schleunigst sehen, was wir da unternehmen knnen."

    Dmitri zog eine unwillige Grimasse. Serge hatte wir" gesagt, also wrde er die Arbeit ganz allein erledigen mssen.

    Komm mit!" befahl Serge, kletterte die Leiter hinauf und ging dann einen schmalen Flur entlang bis zu dem Waschraum, der von der gesamten

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  • Mannschaft benutzt wurde, mit Ausnahme der Offi- ziere natrlich.

    Sie muten durch die stinkende, braune Flssigkeit waten, die offenbar aus den Toiletten gelaufen war.

    Da scheint alles verstopft zu sein", brummte Serge. Wir mssen herausfinden, warum."

    Sie verlieen den Waschraum wieder und stiegen die Leiter hinab in die Tiefe des Schiffes. Als sich der Oberingenieur nherte, versteckten einige der Seeleute ihre glimmenden Zigaretten, auf die sie trotz des strengen Rauchverbots nicht verzichten wollten.

    Serge ignorierte sie und deutete auf eine Metall- platte, die an einem Schott befestigt war. Dahinter ist der Entsorgungstank fr die Toilette. Was immer die Rohre verstopft, wir mssen es finden und ent- fernen."

    Und warum mu immer ich solche Sachen machen?" begehrte Dmitri auf. Serge lachte rauh, fast bellend.

    Weil du das Kken bist! Und weil es eine beson- ders unangenehme, besonders stinkende Arbeit ist." Zwei andere Seeleute stimmten in sein hhnisches Gelchter ein, whrend er Dmitri den Druckluft- schraubenzieher hinberreichte.

    Mit einem grimmigen Nicken machte sich Dmitri daran, die Schrauben der Metallplatte zu entfernen. Nach zehnmintiger Plackerei konnte er die Platte schlielich abheben.

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  • Der ausstrmende Gestank warf die Mnner bei- nahe um. Serge, der sich mglichst weit entfernt hielt, trieb ihn an: Weiter so, Dmitri."

    Dmitri drehte sein Gesicht von der Luke weg und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er den Kopf in den Tank steckte und mit seiner Taschenlampe aus- leuchtete. Da er den Grund fr die Verstopfung nicht entdecken konnte, beugte er sich immer wei- ter vor. Dann wurde seine Luft knapp, doch gerade als er sich zurckziehen wollte, bemerkte er eine Bewegung am Grunde des Tanks.

    Es war schmutzig-wei und schleimig. Dmitri ri die Augen auf. Es war eine Hand!

    Pltzlich scho ein Arm aus der stinkenden Brhe. Eine zweite Hand und ein zweiter Arm folgten.

    Dmitri versuchte, sich zurckzuziehen, doch da hatten die Hnde bereits seinen Hals umklammert und zogen ihn mit dem Gesicht voran in die Kloake.

    Ohne nachzudenken, pumpte er seine Lungen mit der ammoniakhaltigen Luft voll und schrie um Hilfe.

    Serge und die beiden anderen Seeleute sprangen hinzu und bekamen gerade noch seine Fe zu fas- sen. Sie waren groe, starke Kerle - aber sie waren nicht gro und nicht stark genug, um es mit diesem Gegner aufnehmen zu knnen. Dmitris glitschige Stiefel glitten aus ihren

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  • Hnden, und der junge Mann verschwand im Bruchteil einer Sekunde in den Tiefen des Tanks. Serge verga den Gestank und steckte seinen Kopf durch die ffnung - und konnte gerade noch sehen, wie Dmitris Arbeitsstiefel im Dreck versanken. Doch als er eine weitere Gestalt entdeckte, ri er den Kopf zurck und schrie: Flutet den Tank! Schnell, flutet den Tank!"

    Whrend Serge weiter auf die Luke starrte, wur- de sein Befehl in Windeseile ausgefhrt. Doch erst als er die Kolben der anlaufenden Pumpe hrte, die den Tankinhalt ins Meer hinausbefrderte, konnte er wieder aufatmen.

    Schraubt den Deckel fest!" ordnete er an und eilte zurck in den dunklen Maschinenraum, damit die anderen seine Erschtterung nicht sehen konn- ten. Er wute nicht genau, was er da im Tank gese- hen hatte, und er wollte es auch gar nicht wissen. Er war zu einer Zeit in Ruland aufgewachsen, wo es nicht gut fr die Gesundheit war, zu viele Fragen zu stellen oder gar nach Menschen zu fragen, die verschwunden waren. Doch eines wute er: das Schiff und seine Mannschaft muten so schnell wie mglich fort von hier. Fort von . .. dem Ding, das sie soeben vor der Haustr der Vereinigten Staaten entsorgt hatten.

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  • 2

    Fox Mulder sa auf einem harten Metallklappstuhl in der muffigen Abstellkammer eines Motels in Washington, D. C. ber Kopfhrer war er mit einem Abhrgert verbunden, das vor ihm auf dem Tisch stand.

    Seine Schicht dauerte noch fnf Stunden, und er hatte die Tte mit Sonnenblumenkernen schon zur Hlfte geleert. Die Tischplatte war mit Hlsen berst. Mit dem Zeigefinger schnippte er eine der Schalen quer ber den Tisch in einen leeren Kaffee- becher aus Styropor. Bingo, genau getroffen! Mul- der verzog das Gesicht. Das war das erste Mal, da er heute ein Erfolgserlebnis hatte.

    Dann wandte er sich wieder der Abhranlage zu und belauschte die beiden Mnner, die sich schon seit 20 Minuten am Telefon unterhielten. Ganz offensichtlich planten die beiden nichts Gutes, doch das wirklich Schlimme an der Sache war, da ihre Plne unermelich langweilig waren. Mulder unter- drckte ein Ghnen.

    Drake sagt, da er das machen kann. Aber es wird 'ne Stange Geld kosten", sagte der eine.

    Dave ist ein guter Mann", entgegnete der ande- re. Wenn der die Sache in die Hand nimmt, wrst

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  • du schn bld, wenn du dich nicht daran beteiligen wrdest."

    Du hast ja recht", meinte der erste, aber ich wollte mich eigentlich nur mal umhren, was so luft."

    Was willst du berhaupt? Du willst wissen, was wir vorhaben, aber nicht da mit reingezogen wer- den? Hast du Angst, dir die Finger schmutzig zu machen?"

    Nein, Mann! Wenn ich dabei bin, dann bin ich auch ganz dabei."

    Mulder seufzte, dann ghnte er laut. Schon seit fnf Tagen redeten die beiden Burschen um den heien Brei herum, manchmal telefonierten sie dreimal am Tag miteinander. Er machte ein grim- miges Gesicht - leider konnten Kriminelle noch nicht dafr verhaftet werden, weil sie sinnlose Unterhaltungen fhrten und ihrem berwacher den letzten Nerv raubten.

    Mulder berlegte, ob die beiden Mnner noch whrend seiner Dienstzeit beim FBI zu einer Ent- scheidung kommen wrden. Nein. Resigniert schttelte er den Kopf. Wahrscheinlich nicht vor seiner Kndigung - oder seinem Rausschmi.

    Im Moment war es Mulder ziemlich gleichgltig, welche der beiden Alternativen zutreffen wrde. Vor einigen Monaten war die Abteilung X-Akten geschlossen worden. Mulder und seine Partnerin Dana Scully durften nicht lnger nach der Wahrheit

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  • suchen, egal wie merkwrdig, bengstigend und unglaublich die Flle auch sein mochten, die schlielich in den X-Akten landeten, nachdem alle anderen Abteilungen kapituliert hatten. In der Fhrungsetage gab es jedoch einige - leider uerst einflureiche - Leute, die verhindern wollten, da die Wahrheit ans Licht kam. Also hatten sie Scully in ein Forschungslabor abgeschoben und Mulder mute einen Fall bearbeiten, der so aufregend war wie die Oscar-Verleihung vom vergangenen Jahr.

    Das habe ich ihm auch gesagt", ertnte die erste Stimme aus dem Kopfhrer. In diesem Moment bemerkte Mulder, wie sich die Tr der Abstellkam- mer langsam ffnete.

    Seine Hand glitt schon zum Schulterhalfter, doch dann entspannte er sich und lie den Arm wieder sinken.

    Die beiden Mnner, die hereinkamen, zeigten ihre FBI-Ausweise vor. Agent Mulder?" fragte der eine.

    Yeah", erwiderte Mulder und nahm die Kopfh- rer herunter, um sie besser verstehen zu knnen. Ich bin Agent Brisentine."

    Nett, Sie kennenzulernen." Mulder erhob sich. Aber ich glaube kaum, da ich Verstrkung brauche. Eher schon ein gutes Kreuzwortrtsel. Das in der Zei- tung hatte ich schon nach zehn Minuten fertig."

    Agent Mulder, Sie werden von diesem Fall abgezogen", erklrte Brisentine.

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  • Vermutlich, weil ich im Dienst zu viel Kaffee getrunken habe", witzelte Mulder.

    Doch Brisentine reagierte nicht. Agent Brozoff wird Sie ablsen", fuhr er ungerhrt fort. Sie mssen in 45 Minuten am Flughafen sein." Und was soll ich da?"

    Sie sollen einen Mordfall untersuchen. In Newark, New Jersey."

    Whrenddessen nahm Agent Brozoff Mulder die Kopfhrer ab und setzte sich auf seinen Stuhl.

    Mulder gab ihm die Tte mit den restlichen Son- nenblumenkernen. Hier, amsieren Sie sich gut!" Er winkte seinem Nachfolger kurz zu und folgte Brisentine aus der Abstellkammer.

    Eigentlich sollte ich beleidigt sein, weil ich von diesem wichtigen Fall abgezogen werde", meinte Mulder zu seinem Begleiter, whrend sie den Flur des Motels entlanggingen. Aber erstaunlicherweise bin ich nicht im geringsten eingeschnappt. Wahr- scheinlich ist es der Schock, wissen Sie? Sicher wird es mich nachher um so schlimmer treffen . . ."

    Aber Brisentine antwortete nur mit leiser Stim- me: Sie werden vom National Airport abfliegen. Ihr Kontakt in Newark ist Detective Norman."

    Wie bin ich eigentlich an diesen Job gekom- men?" Assistant Director Skinner hat Sie angefordert."

    Mulder zog die Augenbrauen hoch. Skinner hat mich angefordert?"

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  • So wurde es mir gesagt", nickte Brisentine. Okay", erwiderte Mulder leichthin und lie sich

    seine Verwunderung nicht weiter anmerken. Damit hatte er nicht gerechnet - schlielich war es Skin- ner gewesen, der ihm in letzter Zeit fnf Aufgaben zugewiesen hatte, von denen eine langweiliger als die andere gewesen war. Doch jetzt glaubte Mulder dahinter eine ganz gewisse Taktik erkennen zu knnen.. . Vielleicht war sein lahmer Witz doch zutreffender gewesen, als er es beabsichtigt hatte. Vielleicht wrde es ihn tatschlich noch schlimmer treffen. ..

    Knnen wir auf dem Weg zum Flughafen noch einmal anhalten?" fragte er. Ich wrde gern mei- nen Vorrat an Sonnenblumenkernen wieder auffl- len."

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  • 3 Doch Mulder sollte nicht Recht behalten.

    Er brauchte die Sonnenblumenkerne nicht - er hatte berhaupt keinen Bedarf nach etwas Ebarem.

    Schon an seinem ersten Arbeitstag lie er sogar das Abendessen aus, denn der bloe Gedanke daran stlpte ihm den Magen um. Er hatte seinen Appetit in dem Moment verloren, als er aus dem Leihwagen gestiegen war. Der fchterliche Gestank, der ihm aus dem geffneten Abwasserrohr mitten auf einer Strae in Newark entgegenwehte, traf ihn wie ein Hammerschlag.

    Rund um die ffnung hatte die Polizei Absperr- gitter aufgestellt, obwohl das eigentlich nicht ntig war: Kein Mensch wrde sich freiwillig in die Nhe des Tatorts wagen. Die Polizisten, die die Stelle zustzlich abriegelten, waren merkwrdig bla und schluckten krampfhaft.

    Ein junger Mann in einem ramponierten Anzug kam auf Mulder zu und sah ihn fragend an.

    Special Agent Mulder, FBI", beantwortete Mul- der die stumme Frage und zeigte ihm seinen Aus- weis.

    Detective Lieutenant Norman von der Newark Police." Der junge Mann gab Mulder die Hand.

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  • Man sagte mir, da sich die G-Men in den Fall ein- schalten wrden. Sie sind also der, den es getroffen hat. So ein Pech aber auch."

    Oh, mit Pech hat das weniger zu tun", entgeg- nete Mulder kurz angebunden. Sagen Sie mir nur, was hier los ist."

    Ja, klar. Mein Team ist mit der Untersuchung des Leichnams fertig. Sie werden ihre Erkenntnisse in einem Bericht zusammenfassen." Was haben Sie mit der Leiche gemacht?"

    Wir haben sie dort gelassen, wo sie gefunden wurde", erwiderte Norman mit einer vagen Geste. Sie gehrt jetzt ganz Ihnen."

    Vielen Dank", murmelte Mulder. Kann ich mal einen Blick darauf werfen?"

    Folgen Sie mir." Norman drehte sich um und rief einem der uniformierten Polizisten zu: Kenny! Bitte einen Satz Gummistiefel!"

    Der Polizist kam zu ihnen herber und brachte ein Paar hoher Gummistiefel mit, wie sie nun auch Norman gerade ber seine Fe streifte.

    Wozu soll das gut sein?" wollte Mulder wissen, whrend er die Stiefel anzog.

    Wir wollen doch nicht, da Sie sich Ihre schnen Ausgehschuhe ruinieren . . ." Norman warf einen bezeichnenden Blick auf Mulders Slipper. Nachdem er sich eine Taschenlampe besorgt hatte, begleitete er Mulder zu der Kanalffnung, und sie stiegen die eiserne Leiter hinunter.

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  • Am Ende der Leiter warteten vier uniformierte Polizisten und einer in Zivil. Alle waren mit Taschenlampen ausgerstet und standen eng bei- sammen, als frchteten sie sich davor, allein zu sein.

    Als er das Ende der Leiter erreicht hatte, schalte- te Norman seine Taschenlampe ein und erhellte eine unwirkliche Szenerie. Die Tunnelwnde waren voller Ablagerungen und sahen aus, als wren sie noch aus dem letzten Jahrhundert. Eine zhe, schmutzige Brhe flo ber den Boden. Schwung- voll trat Mulder hinein - und versank fast bis zur ffnung seiner Gummistiefel im stinkenden Schleim.

    Mnner, das ist Special Agent Mulder", verkn- dete Detective Norman. Es scheint so, als wolle sich das FBI an diesem Fall beteiligen. Also zeigen wir Agent Mulder, welchen Schatz wir hier gefun- den haben."

    Dicht aneinander gedrngt gingen die Polizisten den engen Tunnel entlang, Mulder mitten zwischen ihnen. Das Licht ihrer Taschenlampen beleuchtete den Weg.

    Seien Sie vorsichtig", wurde Mulder von Nor- man ermahnt, whrend sie durch den Schmutz wateten.

    Ganz bestimmt", versuchte Mulder zu scherzen. Schlielich will ich ja nicht irgendwo reintre- ten .. ."

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  • Oder irgendwo reinfallen", ergnzte Norman. Dann fgte er hinzu: Machen Sie sich bereit."

    Doch es war zu spt. Mulder hatte bereits den Fehler gemacht und eingeatmet. Der Gestank traf ihn wie eine Faust in den Magen.

    Man sagte mir, da es hilft, wenn man nur durch den Mund atmet", prete Norman hervor. Eine aalglatte Lge!" keuchte Mulder.

    Mglich . . . " Norman richtete das Licht seiner Taschenlampe auf die Stelle, die die Quelle des infernalischen Geruchs war.

    Dort lag eine Leiche. Mit dem Gesicht nach unten dmpelte sie halb verwest im Abwasser.

    Mulder ging auf die Leiche zu. Er mute sich zwingen, sie nher zu betrachten. Vielleicht hatte er schon einmal etwas Schlimmeres gesehen, doch im Moment konnte er sich nicht erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit. Wer hat ihn gefunden?" fragte er.

    Ein Kanalarbeiter. Er war mit einer Routinein- spektion des Tunnels beschftigt. Wer wei, wann die Leiche sonst gefunden worden wre. Hier unten kommen nicht sehr viele Leute hin." Und die Todeszeit?"

    Alles was wir sagen knnen, ist, da er hier schon eine ganze Weile liegen mu . . ." Konnten Sie schon herausfinden, wer er ist?"

    Nein." Bedauernd schttelte Norman den Kopf. Und sein Gesicht sagt uns auch nicht gerade viel.

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  • Die Vorderseite des Krpers ist halb zerfressen. Mchten Sie vielleicht, da wir ihn umdrehen?"

    Nein", sagte Mulder betont freundlich. Ihr Wort gengt mir." Dann drehte er sich abrupt um und stapfte durch den Tunnel zurck zur Leiter. Hey!" rief Norman ihm nach. Mulder marschierte einfach weiter.

    Norman versuchte es noch einmal. Agent Mul- der! Was sollen wir mit der Leiche machen?"

    Endlich blieb Mulder stehen und wandte sich halb um.

    Packen Sie sie gut ein und schicken Sie sie an das FBI!" rief er zurck. Adressieren Sie das Pckchen an Assistant Director Skinner, Porto bezahlt Empfnger."

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  • 4 Mulders Magen rebellierte - aber nicht, weil er sich ekelte, sondern weil er wtend war. Er klopfte an eine Brotr im FBI Hauptquartier in Washington, D. C.

    ASSISTANT DIRECTOR WALTER S. SKIN- NER stand auf dem Namensschild.

    Mulder ffnete die Tr und strmte ins Zimmer - bis zu dem Tisch, an dem normalerweise Skinners Sekretrin sa. Aber ihr Stuhl war leer.

    Whrend er darauf wartete, da sie zurckkam, wippte er ungeduldig mit dem Fu. Er wute, da es nicht lange dauern wrde.

    Diane Jensen war f r Assistant Director Skinner mehr als nur eine Sekretrin. Sie hielt es fr ihre Aufgabe, alles von ihrem Chef fernzuhalten, was sein Leben auch nur ein bichen verkomplizieren knnte. Im Rahmen dieser Ttigkeit erachtete sie es als ihre Pflicht, ihren Posten nie lnger als zehn Minuten zu verlassen. Sogar ihre Mahlzeiten nahm sie an ihrem Schreibtisch ein.

    Eine Minute spter ffnete sich die Tr von Skin- ners Privatbro, und Ms. Jensen kam heraus. Ihr Blick war so unterkhlt wie immer insgesamt strahlte sie die Wrme eines Eisbergs im Sommer aus.

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  • Mulder verschwendete keine Zeit mit Hflichkei- ten. Er und Ms. Jensen kannten sich schon eine kleine Ewigkeit, und man konnte mit Fug und Recht behaupten, da sie sich gerade deshalb nicht schtzten. Also kam er direkt auf den Punkt: Ich will ihn sprechen!"

    Ms. Jensens Stimme klang, als htte sie am Mor- gen mit Glassplittern gegurgelt. Es tut mir leid, aber Mr. Skinner kann Sie zur Zeit nicht empfan- gen. Wenn Sie vielleicht warten wollen?"

    Mulder schob sich nur einen Schritt weiter auf den Schreibtisch der Sekretrin zu. Wrden Sie ihm - bitte - sagen, da ich hier bin?" verlangte er mit Nachdruck. Und da ich ihn sprechen mu. Jetzt, sofort!"

    Ms. Jensens Zge erstarrten zu einem Ausdruck der Abwehr, und Mulder konnte fast hren, was sie in diesem Moment von ihm dachte - und von jedem anderen, der es wagte, ihre Autoritt in Frage zu stellen. Doch sie hatte auch die Hrte in seiner Stimme gesprt und erkannt, da er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen wrde. Warten Sie einen Moment. . ."

    Sie sah Mulder streng an, um sicher zu gehen, da er nicht an ihr vorbeistrmen wrde. Dann ffnete sie die Tr zu Skinners Bro und lehnte sich hinein. Entschuldigen Sie. Es tut mir leid, da ich Sie stren mu, aber Agent Mulder besteht dar- auf, mit Ihnen zu sprechen."

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  • Durch den Spalt in der Tr konnte Mulder Skin- ner sehen, der gro, kahlkpfig, mit verkniffenem Mund und blitzenden Brillenglsern an seinem Schreibtisch stand.

    Skinner erwiderte Mulders kalten Blick ohne ein Blinzeln. Dann kam er zur Tr und sagte mit staubtrok- kener Stimme: Gibt es ein Problem, Agent Mulder?" Oh ja, das gibt es", schnappte Mulder.

    Dann lassen Sie sich einen Termin geben", ent- gegnete Skinner und machte Anstalten, sich gleich wieder abzuwenden. Doch Mulders Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: Es ist ziemlich hart, den korrekten Weg einzuhalten, wenn man bis zu den Knien im Dreck waten mu und von einem unmglichen Job zum nchsten geschickt wird."

    Tut mir leid, aber ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen ..."

    Was fr einen. .. miesen Job soll ich denn als nchstes fr Sie erledigen?" giftete Mulder. Soll ich vielleicht den Waschraum mit einer Zahnbrste schrubben?" Migen Sie sich, Agent Mulder!"

    Aber warum denn? Das machen Sie doch alles nur, damit ich Ihnen nicht lstig werde ... damit ich Ihnen nicht mehr in die Quere komme." Mulder redete sich zunehmend in Rage.

    Skinners Nacken nahm eine rote Frbung an. Kommen Sie in mein Bro, Agent Mulder!" fauchte er. Wenn ich bitten darf!"

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  • Mulder ging um Mrs. Jensen herum, die vor der Tr stehen geblieben war. Kaum war Mulder einge- treten, als Skinner auch schon die Tr hinter ihm schlo. Erst jetzt konnte Mulder die Leute sehen, die rund um den groen Konferenztisch saen. Er erkannte einige hochrangige FBI-Beamte. Die anderen sahen noch wichtiger aus.

    Agent Mulder, bitte erklren Sie uns, warum Sie Ihre Arbeit an dem Fall in New Jersey als Dreck bezeichnet haben."

    Naja, vielleicht wre sinnlos die bessere Bezeichnung . . ."

    So, dann betrachten Sie also die Arbeit an einem Mordfall als sinnlos!"

    Es..." Mulder machte eine Pause und schluckte. Er hatte das Gefhl, da alle Augen auf ihm ruhten. Die Anwesenden schienen sich ber ihn lustig zu machen - offenbar warteten sie nur darauf, was er als nchstes sagen wrde. Er wurde vorsichtig. Fr mich sah es wie ein ganz normaler Fall aus. Mglicherweise waren Drogen im Spiel. Trotzdem nichts, wofr man die Zeit und die Arbeitskraft des FBI verschwenden mte."

    Agent Mulder, bedenken Sie bitte, welche berufliche Vergangenheit Sie haben. Wie oft hatten Sie fr Ihre Flle kein befriedigendes Ergebnis vor- zuweisen . . . beziehungsweise berhaupt auch nur irgendein Ergebnis?" Aber.. .", begann Mulder.

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  • Skinner ging gar nicht darauf ein. Bei Ihrem Ruf sollten Sie sich wirklich nicht anmaen, selbst entscheiden zu knnen, welcher Fall wichtig ist oder nicht und wofr wir unsere Leute einsetzen."

    Mulder suchte nach einem weiteren Einwand. Er versuchte, seinen anfnglichen Elan wiederzufin- den. Sir, meine Arbeit an den X-Akten war wich- tig ..."

    Doch Skinner unterbrach ihn wieder. Die X- Akten sind geschlossen, Agent Mulder, und zwar aus den Grnden, die ich eben genannt habe. Sie werden Ihre neuen Aufgaben bernehmen, ohne zu meutern. Und Sie werden Ihr Bestes geben, haben Sie mich verstanden?" Ja", antwortete Mulder kleinlaut.

    Ich erwarte dann Ihren Bericht ber den Fall in Newark. Also .. . wenn Sie nichts mehr dazu zu sagen haben, dann sollten Sie sich wieder an Ihre Arbeit machen."

    Wortlos drehte sich Mulder um und verlie den Raum. Er hatte keine Lust, sich noch mehr zum Narren zu machen.

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  • Mulder sa an der Uferpromenade des Potomac auf einer Bank. Die Wellen des Flusses reflektierten die Lichter am Ufer, und auf der anderen Fluseite sah man das hell erleuchtete Washington Monument. Wie ein riesiger Finger ragte es in den nchtlichen Himmel.

    Mulder achtete nicht auf die Lichter und auch nicht auf die blinkenden Sterne ber ihm. Mit hngenden Schultern sa er bewegungslos da und stierte auf den Boden - doch dort war nichts zu sehen. Keine Gegenwart, und auch keine Zukunft.

    Pltzlich hrte er hinter sich eine Stimme. Ver- zeihung, ist dieser Platz besetzt?"

    Er brauchte gar nicht aufzusehen, um zu wissen, wer da gesprochen hatte. Nachdem er so lange und so eng mit Special Agent Dana Scully zusammen- gearbeitet hatte, kannte er ihre Stimme so gut wie seine eigene. Immer noch auf den Boden starrend, erwiderte Mulder: Dieser Platz ist nicht besetzt. Aber ich sollte Sie warnen, ich habe eine ziemlich miese Laune."

    Nun, das macht mir gar nichts", meinte Scully. Ich bin gro genug, ich kann schon auf mich auf- passen."

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  • Auf Mulders Gesicht zeigte sich ein leises Lcheln, das Scully an jene Zeit erinnerte, als sie noch ein fast unschlagbares Team waren.

    Seien Sie herzlich willkommen", sagte er mit einem merkwrdig feierlichen Unterton.

    Scully lie sich neben ihm nieder. Ich habe gehrt, da Sie heute einen heftigen Zusammensto mit Skinner hatten", begann sie.

    Oh ja, dieser Mann liebt mich. Er will mir einen Orden berreichen. Oder vielleicht werde ich sogar Pate seiner Kinder, ich wei es nicht so genau ..." Endlich hob Mulder den Blick und musterte seine ehemalige Parnterin.

    Er sah den Kummer in ihrem Gesicht. Sie machte sich Sorgen um ihn. Na, ja, dachte er, da ist sie nicht die einzige.

    Was genau haben Sie denn gehrt?" wollte er von ihr wissen.

    Da Sie ihn in eine peinliche Situation gebracht haben. . . Und in der Chefetage haben Sie sich anscheinend auch nicht gerade beliebt gemacht."

    Mulder zuckte die Achseln. Skinner hat mich in die Ecke gedrngt, und da habe ich eben zurckge- schlagen." Das hrt sich an, als wre Ihre Zeit vorber..."

    Ja, wahrscheinlich." Mit zusammengezogenen Brauen starrte er in die Dunkelheit. Aber was macht das schon? Warum sich Gedanken ber Din- ge machen, die lngst Vergangenheit sind."

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  • Was wollen Sie damit sagen?" Ich bin mir nicht ganz sicher, Scully... Ich

    glaube, irgendwann erreicht man einfach einen Punkt, da kann man nicht mehr mit einem Lcheln weitermachen - so, als wre nichts gewesen."

    Aber das sollte Sie doch eigentlich nicht berraschen. Wer nicht nach den Regeln spielt, zahlt irgendwann dafr. So ist das Leben. . . Ich meine, Sie haben sich ja nicht gerade angepat verhalten."

    Ja, darber habe ich auch schon nachgedacht", nickte Mulder dster. Ich habe sogar viel darber nachgedacht." Er machte eine Pause, und dann hatte er die Worte gefunden, die ausdrckten, was er eigentlich meinte. Ich habe berlegt, ob ich kndigen soll."

    Scully mute erst einmal schlucken, bevor sie antworten konnte. Die Beklemmung machte ihren Hals eng. Kndigen? Das FBI verlassen?" Mulder schwieg.

    Mulder, ich denke, Sie nehmen das alles viel zu ernst." Scully suchte nach den richtigen Worten. Man . .. wir brauchen Sie doch."

    Wofr?" entgegnete er heftig. Um in der Kana- lisation herumzuwhlen? Um andere abzuhren?"

    Ach... darum ging es bei Ihrem Streit mit Skinner", sagte Scully mit einem kleinen Seufzer. Sie knnten bestimmt etwas mit ihm aushandeln, wenn Sie es richtig anstellen."

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  • Nicht nach dem, was heute geschehen ist." Aber, was wollen Sie denn machen, wenn

    Sie ...?" Scully konnte die Frage nicht beenden. Mulder tat es fr sie. Wenn ich gekndigt habe?

    Ich wei es nicht. .. Vielleicht kann ich meine For- schungen zu paranormalen Phnomenen weiterfh- ren. Es wird sich schon was ergeben .. ."

    Die Wahrheit ist irgendwo da drauen", mur- melte Scully. Immer noch auf derselben Spur, wie?"

    Sie ist irgendwo da drauen", beharrte Mulder mit Nachdruck.

    Allmhlich begriff Scully, da es ihm ernst war. Voller Panik versuchte sie es noch einmal: Bean- tragen Sie doch eine Versetzung. Kommen Sie doch wieder in die Abteilung fr Verhaltensforschung. Da arbeite ich auch, und wir knnten .. ."

    Scully, es wrde nichts ntzen. . . sie wollen einfach nicht, das wir wieder zusammenarbeiten."

    Er wollte sich nicht mit ihr streiten, und deshalb sprach er nur aus, was sie beide wuten. Und zur Zeit wre die Zusammenarbeit mit Ihnen der einzi- ge Grund, nicht zu kndigen."

    Scully schwieg betroffen. Noch nie hatte Mulder so offen ber seine Gefhle gesprochen, und es stimmte sie traurig, da seine wahren Gedanken so spt zum Ausdruck kamen. Vielleicht war es sogar schon zu spt. Scully sah die Leere in seinen Augen. Sie wollte

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  • ihm wieder Hoffnung machen. Was ist mit dem Fall, an dem Sie gerade arbeiten?" fragte sie behut- sam.

    Eine de Sache. Irgendein zweitklassiger Gau- ner mute dran glauben. Seine Mrder haben sich noch nicht mal die Mhe gemacht, ihm einen Betonsarg zu verpassen." Und wo ist der Leichnam?"

    Mulder hob die Schultern. Der wurde ins FBI- Labor gebracht, damit die Todesursache geklrt wird", erwiderte er. Dann sah er zu Scully hinber und schttelte den Kopf. Sehen Sie, Scully, ich wei, was Sie jetzt denken und ..."

    Ich knnte die Autopsie selbst durchfhren", warf Scully ein. Ich denke, da ich das durchset- zen kann. Schlielich bin ich die beste rztin, die sie fr diesen Job haben knnen."

    Das wre reine Zeitverschwendung", winkte Mulder mde ab. An diesem Fall ist nichts Beson- deres. Skinner hat mich nur drauf angesetzt, um mir eine Lektion zu erteilen."

    Wollen Sie damit sagen, da ein Toter nichts zu bedeuten hat?"

    Sie glauben mir nicht, was? Okay, finden Sie es selbst raus."

    Am dumpfen Klang seiner Stimme konnte Scully erkennen, wie niedergeschlagen er noch immer war. Mit logischen Argumenten war ihm im Moment nicht zu helfen. Sie schluckte und ver-

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  • suchte, ihre eigene Resignation zu verbergen, als sie sagte: Genau das werde ich tun. Unternehmen Sie nichts, bis ich meinen Bericht fertig habe."

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  • Fr Scully war es nicht schwer, die Autopsie an der Leiche zu bernehmen, die im Abwasserkanal gefunden worden war. Sie brauchte nur zu fragen. Steve Jones, der Leiter des FBI-Labors, zuckte die Achseln und nuschelte: Er ist ganz der Ihre."

    Ich werde die Autopsie allein durchfhren", teilte sie ihm mit. Das sollte Assistant Director Skinner zufriedenstellen. So werden die Zeit und die Arbeitskraft von anderen FBI-Mitarbeitern nicht vergeudet." Kein Problem", nickte Jones.

    Als Scully den Reiverschlu des Leichensacks aufzog, wurde ihr schlagartig klar, warum sich nie- mand darum gerissen hatte, die Autopsie durch- zufhren. Sie konnte es riechen.

    Sie hatte einen weien Laborkittel bergezogen und ihre Hnde mit Latexhandschuhen geschtzt. Eine groe Kunststoffbrille bedeckte ihre Augen. Aber nichts konnte sie vor dem Gestank schtzen, der in ihre Nase kroch und ihren Magen in Aufruhr brachte.

    Puuuh!" sthnte sie und trat einige Schritte zurck, um ihre Schleimhute wieder etwas zu beruhigen.

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  • Dann machte sie sich an die Arbeit. Sie schaltete das Diktiergert ein und las einige

    Daten ab, die sie sich notiert hatte: Untersuchung und Autopsie von John Doe, Nummer 101356. Aktenzeichen DPI 12148. Zustndiger FBI-Beamter vor Ort war Special Agent Fox Mulder."

    Danach legte sie ihre Notizen beiseite und sah sich den Krper auf dem Edelstahltisch genauer an.

    Es gab Zeiten, da war Scully froh, da sie rztin geworden war, bevor sie zum FBI kam. Auf der Universitt hatte sie gelernt, einen Krper zu sezie- ren und sich dabei nur auf die Lsung eines Pro- blems zu konzentrieren. Sie war darauf trainiert worden, sich keine Gedanken ber die Person zu machen, die jetzt als toter Krper vor ihr lag, keine Vorstellung davon, wie sie gelebt, geatmet und gefhlt haben knnte. Sie konnte sich Krperteile ansehen, als seien sie Teile einer Maschine und nicht verwesendes Fleisch und Blut.

    Hier und jetzt brauchte Scully diese Fhigkeit mehr denn je.

    Whrend sie in den Recorder sprach, betrachtete sie den zerfressenen Krper mit professionellem Blick: Die Leiche eines erwachsenen Mannes, die Verwesung ist schon weit fortgeschritten. Sein Gewicht betrgt 164 Pfund, er ist 1,75 Meter gro. Seine Haut ist fleckig und farblos, wo sie in bakteri- enverseuchter Flssigkeit gelegen hat. Todesursa-

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  • ehe und der Zeitpunkt des Todes lassen sich nicht genau feststellen."

    Dann bemerkte sie einen Schatten auf dem rech- ten Arm des Leichnams, direkt ber dem Ellbogen. Sie beugte sich tiefer herunter. Auf der schmutzi- gen, verwesenden Haut war eine undeutliche Zeich- nung zu erkennen. Das knnte eine Ttowierung sein. Vielleicht der Name einer Freundin. Oder das Abzeichen einer Bande.

    Eine Mglichkeit zur Identifizierung auf dem rechten Oberarm", diktierte sie in den Recorder und beschlo, sich die Ttowierung spter noch einmal genauer anzusehen.

    Jetzt hatte sie Wichtigeres zu erledigen. Sie mute nicht herausfinden, wer der Tote gewesen war, sondern seine Todesursache feststellen. Und dafr mute sie tiefer graben.

    Sie nahm ein Skalpell von dem Instrumenten- tischchen. Mit einem schnellen, sicheren Schnitt teilte sie den maroden Krper von der Brust bis zum Oberschenkel: Es war so einfach, als wrde man eine Banane schlen. Sie untersuchte das Krpergewebe.

    Die Bauchhhle weist keine Besonderheiten auf, die inneren Organe sind intakt. Ihr Verwe- sungsstadium entspricht dem der Haut."

    Scully schttelte den Kopf. Nichts zu finden. Sie mute tiefer suchen. Sie legte das Skalpell zur Seite und langte nach einer chirurgischen Zange. Als wrde

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  • sie die ste eines Baums zurckschneiden, durch- trennte sie die Rippen und legte Herz und Lungen frei.

    Der Zustand von Herz und Lungen ist zufrie- denstellend", sagte sie ins Mikrofon. Es gibt keine Anzeichen fr eine krankheitsbedingte Vernde- rung an den Organen. Ich stelle fest, da das Opfer ein junger Erwachsener war, mglicherweise nicht viel lter als 20 Jahre."

    Scully tastete die Leber ab. Vorsichtig drckte sie auf das ehemals dunkelrote Organ - etwa so, als wrde sie auf einen Pfirsich drcken, um seinen Reifegrad zu testen.

    An der Leber sind leichte Verhrtungen festzu- stellen", berichtete sie. Mglicherweise die Folge von bermigem Alkoholkonsum. Davon abgese- hen ist im Krper nichts zu finden, das auf die Todesursache hinweist."

    Erneut griff Scully nach ihrem Skalpell und machte einen weiteren, gekonnten Schnitt. Hinter der Schutzbrille weiteten sich ihre Augen.

    Oh, mein Gott!" sthnte sie und verga fr einen Augenblick, da der Recorder noch lief.

    Aus der Schnittflche wand sich ein Ding hervor. Es sah aus . .. wie ein Kopf. Ein flacher, weier, schleimiger Kopf. Ein Kopf mit einer runden Mundffnung.

    Scully konnte ihren Blick nicht abwenden. Doch ihre Hnde bewegten sich, als wrden sie diese Untersuchung tglich machen.

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  • Sie lie ihr Skalpell fallen, tastete nach einer Pin- zette und packte zu - bevor das. .. Ding wieder dorthin verschwinden konnte, woher es gekommen war.

    Langsam und vorsichtig zog Scully an. Zentime- ter fr Zentimeter frderte sie einen glitschigen, blassen Wurm zutage. Das ist aber kein Wurm, den man zum Angeln benutzt, dachte sie unfreiwillig und starrte auf das etwa dreiig Zentimeter lange Geschpf, das sich unter ihrem Griff hin und her ringelte.

    Sie fragte sich, was Mulder wohl dazu sagen wrde.

    Doch eines war jetzt mehr als sicher: Dieser Fall war keine Routine mehr.

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  • 7

    Wei t du, was ich den Leuten erzhle, wenn sie mich nach meinem Beruf fragen?" wollte Craig Jackson von seinem Kollegen Pete Helms wissen. Sie standen an einer Kanalisationsffnung mitten auf einer Strae in Newark.

    Was denn, da du Kanalarbeiter bist?" sagte Pete und blinzelte in das dunkle Loch hinunter.

    Nein, Mann", erwiderte Craig. Ich sage ihnen, da ich der Stadtarzt bin." Wie biste denn da drauf gekommen?"

    Ich meine, die Stadt wre doch wirklich am Ende, wenn sich niemand drum kmmern wrde, da der ganze Dreck weggeschafft wird. . . Sie wrde krank werden und sterben." Wenn du es sagst. .." Pete zuckte die Achseln.

    Und den ganzen Dreck kann man nur durch die Kanalisation loswerden, richtig?" fuhr Craig wich- tigtuerisch fort.

    Ja, sicher. Wenn du meinst", brummte Pete, dem Craigs Gerede auf die Nerven ging. Er hatte gar nicht richtig zugehrt. Auerdem versprte er wenig Lust, mit der Arbeit anzufangen.

    Also, wir sind diejenigen, die dafr sorgen, da in der Kanalisation alles in Ordnung ist, oder etwa

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  • nicht? Wenn wir in dieses Loch hier runtersteigen, dann ist das genau so, als wrde ein Arzt in einen Krper steigen und ihn untersuchen."

    In Ordnung, Dr. Kildare", stichelte Pete, dem nun endgltig der Geduldsfaden ri. Du meinst, wir sollten uns grndlich die Hnde waschen, bevor wir heute mit der Arbeit anfangen? Und vielleicht sollten wir auch solche Dinger anziehen, solche Gummihandschuhe? Schlielich drfen wir ja keine Bazillen nach da unten tragen."

    Das Problem mit dir ist, da du keine Phantasie hast", erwiderte Craig gekrnkt und stieg die Leiter hinunter. Pete und er trugen die typische Uniform der Kanalarbeiter: weie Schutzhelme, leuchtend orangefarbene T-Shirts, wasserfeste berhosen und schwere Arbeitsstiefel.

    Und das Schlimme an dir ist, da du dir zu viele Gedanken machst", gab Pete zurck, whrend sie langsam den hlzernen Steg entlanggingen, der durch das tunnelartige Rohr fhrte. Beide leuchte- ten mit ihren starken Taschenlampen auf die trg dahinstrmende Masse vor ihnen. Je weniger man ber diesen Job nachdenkt, desto besser. Ich zum Beispiel denke lieber ber meinen Ruhestand nach. Dann gehe ich irgendwo hin, wo nicht so viele Menschen sind. Wo sich niemand darber Gedanken machen mu, wie er seinen Unrat los- wird - falls es so einen Ort berhaupt noch irgend- wo gibt.. ."

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  • Oh-oh!" fiel ihm Craig ins Wort. Das sieht nach rger aus."

    Das Licht seiner Taschenlampe beleuchtete ein Drahtgitter, das das Wasser filterte, bevor es ins Meer geleitet wurde.

    Ein Baumstamm hatte sich in dem Gitter ver- keilt.

    Das mu gestern bei dem Gewitter passiert sein", vermutete Craig. Da wurde eine ganze Men- ge Zeug hier runter gesplt."

    Du bist an der Reihe, den Dreck da rauszuho- len." Pete stemmte die Hnde in die Hften. Ich war das letzte Mal dran."

    Okay, okay! Dann gehst du wieder nach oben und besorgst neues Maschengitter und Wickeldraht."

    Vielleicht sollte ich dir auch ein Skalpell brin- gen, Dr. Jackson", feixte Pete, bevor er zur Leiter zurckeilte. Du knntest es nehmen, um die Ver- stopfung zu entfernen."

    Haha", knurrte Craig und kletterte weiter in den Kanal hinein.

    Nachdem er nun schon seit ber fnf Jahren in diesem Job arbeitete, machte es ihm nicht mehr viel aus, in den tiefen Schmutz zu steigen. Er watete auf den Baumstamm zu. Leise vor sich hinfluchend versuchte er, das Gitter wieder frei zu bekommen, und als er es endlich geschafft hatte, war er vllig verschwitzt. Mit dem Baumstamm im Schlepptau stapfte er zurck zum Holzsteg.

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  • Doch als er den Stamm aus dem Wasser hievte, wurde er pltzlich zurckgeworfen. Der Baum pol- terte auf den Holzsteg, whrend Craig ins Abwasser fiel und laut schrie.

    Auch nachdem er bereits untergegangen war, gellte das Echo seines Schreis immer noch hohl durch den Tunnel.

    Pete hatte schon einen Fu auf der Leiter. . . da hrte er den Schrei und rannte zurck. Er erreichte Craig, als dieser sich noch einmal hochstrampeln konnte. Hilfe!"

    Schnell, halt dich fest!" rief Pete und warf ihm ein Seil zu. Doch ehe Craig danach greifen konnte, war er schon wieder in der zhen Brhe verschwun- den.

    Mit dem Seil in der Hand starrte Pete hilflos ins Wasser. Craig! Craig! Wo bist du?" schrie er mit sich berschlagender Stimme.

    Unerwartet fern hrte er die klgliche Antwort: Hier! Hier!"

    Craig war schon halb durch die ffnung in dem Drahtgitter hindurch. Verzweifelt kmpfte er gegen die tckische Strmung, die ihn in die nchste Kammer zu ziehen drohte. Dort wurde der Abwas- serstrom zu einem reienden Flu.

    Pete eilte hinzu und warf ihm erneut das Seil zu - und diesmal gelang es Craig, sich daran festzuhal- ten.

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  • Voller Todesangst klammerte er sich daran fest, whrend Pete seine ganze Kraft einsetzen mute, um ihn herauszuziehen.

    Zu guter Letzt lag Craig erschpft auf dem Holz- steg. Er japste nach Luft und krmmte sich vor Schmerzen. Jeder Atemzug schien ihn zu qulen.

    Was ist mit dir?" Besorgt beugte sich Pete ber ihn. Was tut dir weh, mein Alter?"

    Sthnend setzte Craig sich auf- und jetzt konnte Pete erkennen, was nicht in Ordnung war.

    In Craigs T-Shirt war ein Ri, direkt ber dem Bund der wasserfesten Hose. Und unter diesem Ri klaffte eine runde, blutige Wunde.

    Oh, mein Gott. Was hast du denn da gemacht?" murmelte Pete und sah zu dem Abwasser hinber. Was . . . zum Teufel ist da unten?"

    Doch eigentlich wollte er es gar nicht so genau wissen. Er wute nur eines. Besser, wenn ich Hilfe hole", sagte er me hr zu sich selbst und rannte auf die Leiter zu.

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  • 8

    Craig Jackson blinzelte in das grelle Licht. Key, Doc", seufzte er, an meinen Augen ist

    nichts." Ich mchte nur sicher gehen, da Sie wirklich

    in Ordnung sind", erwiderte Dr. Jo Zenzola, whrend sie mit einer kleinen Stablampe in Craigs Auge leuchtete. Mit der anderen, latexgeschtzten Hand hielt sie das Augenlid hoch. Die dunkelhaari- ge rztin stellte fest, da die Pupillen normal rea- gierten. Sie schaltete die Lampe aus und lie das Lid zurckgleiten.

    Ich kann keinen Schaden an Ihrem Nervensystem feststellen", erklrte sie Craig. Die einzige Gefahr besteht darin, da Sie sich durch die Wunde mit Teta- nus infizieren knnen. Ich gebe Ihnen eine Spritze, um das zu vermeiden. Dann knnen Sie den Kranken- kittel wieder ausziehen, nach Hause gehen und sich richtig ausschlafen. Es besteht kein Grund, da Sie morgen nicht wieder arbeiten gehen knnten. Sollten Sie irgendwelche Beschwerden haben, kommen Sie wieder und ich sehe Sie mir noch einmal an."

    Ich hatte schon schlimmere Verletzungen und brauchte dafr auch nur ein Heftpflaster", sagte Craig achselzuckend. Aber vielleicht knnen Sie

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  • etwas gegen den scheulichen Geschmack in mei- nem Mund tun. Es ist, als htte ich verdorbenes Fleisch gegessen - und schlimmer."

    Lassen Sie mich mal sehen", forderte die rztin. ffnen Sie den Mund."

    Craig gehorchte, und Dr. Zenzola warf einen Blick in seine Mundhhle.

    Ich kann nichts Ungewhnliches entdecken. .. Haben Sie Schwierigkeiten beim Schlucken?"

    Mit offenem Mund schttelte Craig den Kopf und grunzte: Anh-ah."

    Dr. Zenzola schaltete die Lampe aus und griff in die Tasche ihres Laborkittels.

    Hier, nehmen Sie das!" Sie kramte ein Pfeffer- minzkaugummi hervor und gab es Craig.

    Als er zweifelnd zu ihr hochsah, versuchte sie ihn zu beruhigen: Machen Sie sich keine Sorgen. Es war nicht gerade Mundwasser, was Sie da unten schlucken muten."

    Das sagen Sie ausgerechnet mir", knurrte Craig, whrend er das Kaugummi auswickelte und in den Mund steckte.

    Wenn der Geschmack nicht weggeht, knnen Sie ...", begann Dr. Zenzola, als sie bemerkte, da jemand in den Behandlungsraum gekommen war.

    Sie drehte sich um und sprach den Fremden an: Es tut mir leid, aber ich bin mit diesem Patienten noch nicht ganz fertig. Wenn Sie bitte warten wrden, bis Sie dran sind . .."

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  • Und es tut mir leid, wenn ich Sie unterbrechen mu, aber die Dame am Empfang macht wohl gerade eine Pause", erwiderte der Neuankmmling. Ich brauche keine Behandlung, nur ein paar Informatio- nen." Er holte einen Ausweis hervor und hielt ihn ihr auf Augenhhe entgegen. Nachdem Sie angerufen hatten, bin ich so schnell wie mglich gekommen."

    Dr. Zenzola wandte sich an Craig: Bitte ent- schuldigen Sie mich einen Moment."

    Sie verlie ihren Patienten und geleitete den anderen Mann in die entlegenste Ecke ihres Bros. Dort sah sie sich den Ausweis an und meinte: Schn Sie kennenzulernen, Agent Mulder."

    Das Vergngen ist ganz auf meiner Seite, Dr. Zenzola .. . Woher haben Sie meinen Namen?"

    Die Polizei in Newark sagte mir, da ich Sie wegen dieses Unfalls informieren sollte. Ich mu zugeben, ich war berrascht zu hren, da sich das FBI fr unser Abwassersystem interessiert. Geht hier irgend etwas vor, was ich wissen sollte?"

    Nicht, da ich wte." Mulder hob die Schul- tern. Aber vielleicht knnen Sie mir dieselbe Fra- ge beantworten?"

    Er schielte auf seine Armbanduhr - offenbar war er keineswegs auf Smalltalk aus, sondern darauf bedacht, dieses Gesprch mglichst schnell zu beenden. Wahrscheinlich hatte er an diesem Fall so viel Interesse wie Dr. Zenzola an einem Patienten, der sich den kleinen Finger geritzt hatte.

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  • Die rztin bemerkte seine Ungeduld und bemhte sich, die Fakten in aller Krze zusammen- zufassen. Der Patient, Craig Jackson, ist Kanal- arbeiter. Er gab an, da er heute morgen von.. . von irgend etwas in der Kanalisation angegriffen wurde." Jetzt schien Mulder doch interessiert zu sein. Angegriffen?" Er hob die Stimme. Von wem?"

    Das konnten wir bisher nicht feststellen", ent- gegnete die rztin. Zuerst dachte ich, Mr. Jackson htte sich diese Geschichte blo ausgedacht. Um Krankengeld zu kassieren, Sie wissen schon. Aber bei meiner Untersuchung mute ich feststellen, da er die Wahrheit gesagt hat." Whrend sie sprach, zog Dr. Zenzola eine Tetanusspritze auf.

    Was haben Sie bei Ihrer Untersuchung herausge- funden?" Mulders Augen folgten ihren Bewegungen.

    Sein Gesundheitszustand ist zufriedenstellend", erhielt er zur Antwort. Ich habe ihm Antibiotika gegeben und geprft, ob Anzeichen fr eine Hepati- tis vorliegen - wegen des vielen Abwassers, das er geschluckt hat." Und die Hinweise auf einen Angriff?" Er hat eine Wunde am Rcken." Was fr eine Wunde?"

    Eine ziemlich sonderbare ..." Nachdenklich schttelte Dr. Zenzola den Kopf. Es knnte eine allergische Hautreaktion auf eine Art bakterielle Infektion sein - aber das ist nicht sehr wahrschein-

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  • lieh. Es sieht eher wie eine Biwunde aus. Alles was ich sagen kann, ist, da ich so eine Verletzung noch nie gesehen habe." Und wie ist das passiert?" Das fragen Sie ihn am besten selbst."

    Mit der Spritze in der Hand ging Dr. Zenzola zu ihrem Patienten hinber. Whrend sie seinen Arm festhielt, sagte sie: Dies ist Agent Mulder vom FBI. Er mchte Ihnen einige Fragen stellen."

    Sicher, fragen Sie nur", meinte Craig zu Mulder und verzog das Gesicht, als Dr. Zenzola die Nadel- spitze in seinen Arm stie.

    Haben Sie eine Ahnung, wer oder was Sie da unten angegriffen hat?" fragte Mulder.

    Ich bin mir nicht sicher", antwortete Craig. Whrend Dr. Zenzola langsam den Kolben der Spritze herunterdrckte, verstrkte er seine Gri- masse. Aber ich dachte, es knnte vielleicht ein Python gewesen sein."

    Ein Python", wiederholte Mulder und grinste leicht.

    Vielleicht auch eine Boa Constrictor", chzte Craig und entspannte sich, als die Nadel herausge- zogen wurde und Dr. Zenzola die Stelle mit Alko- hol abrieb. Lachen Sie nicht. Sie haben doch keine Ahnung, was die Leute so alles die Toilette run- tersplen. Vor einigen Jahren haben wir im Abwas- serkanal sogar mal einen Alligator gefunden. Er ist jetzt im Zoo."

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  • Aber Sie wissen nicht genau, was Sie da ange- griffen hat?" hakte Mulder noch einmal nach.

    Was es auch war, es hatte Krfte wie ein Br, das sage ich Ihnen!" Craig schttelte den Kopf bei der Erinnerung an das, was er erlebt hatte. Ich wurde zusammendrckt wie in einer Schraubzwin- ge. Ich wollte nur noch weg. Aber es hat seine Spu- ren hinterlassen."

    Kann ich mir die Wunde mal ansehen?" fragte Mulder.

    Wenn Ihr Magen das aushlt", erwiderte Craig ein wenig grospurig. Und wenn die rztin nichts dagegen hat."

    Natrlich nicht", lchelte Dr. Zenzola und schob Craigs Krankenkittel beiseite.

    Mulder betrachtete die frisch gereinigte Wunde eingehend. Es war ein o-frmiges Loch von etwa zehn Zentimeter Durchmesser. Am Rand waren vier punktformige Lcher und ein greres in der Mitte.

    Wie ich schon sagte, es sieht aus wie eine Biwunde", kommentierte Dr. Zenzola. Aber ich wei nicht, was so eine Wunde schlagen knnte."

    Diese Biwunde ist tatschlich ziemlich unge- whnlich", stimmte Mulder zu und sah noch einmal genauer hin.

    Pltzlich schien er berhaupt nicht mehr gelang- weilt zu sein . .. doch bevor er weitere Fragen stel- len konnte, klingelte sein Handy. Er langte in seine Jackentasche. Mulder hier."

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  • Irgendwie wute er, wer ihn sprechen wollte. Sie mute es einfach sein.

    Dieser Fall war nicht mehr das, wonach er zuerst ausgesehen hatte. Ziemlich merkwrdig die ganze Angelegenheit. Es schien da einen Zusammenhang zu geben . . . aber welchen?

    Er fhlte sich an alte Zeiten erinnert. Zeiten, die er lngst fr vergessen gehalten hatte. Mulder, ich bin es", hrte er Scullys Stimme.

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  • Was ist los?" fragte er sie mit kaum unterdrckter Spannung.

    Whrend er sprach, wandte er sich von Dr. Zen- zola und Craig ab, um sich wenigstens eine gewisse Privatsphre zu verschaffen.

    Mulder, knnen wir uns irgendwo treffen? Ich habe gerade die Autopsie an dem John Doe been- det, der in der Kanalisation gefunden wurde. Ich. .. ich habe etwas entdeckt, das Sie sich anse- hen sollten." Was, Scully? Was?"

    Ich bin mir nicht ganz sicher. In seinem Krper hatte sich anscheinend eine Art Parasit eingenistet. Ich werde das noch genauer untersuchen. Wenn Sie hier sind, wei ich bestimmt schon mehr."

    Ich bin zur Zeit in New Jersey", teilte ihr Mul- der mit. In einer Stunde geht ein Flug nach Washington, den erreiche ich wohl gerade noch. Vom Flughafen komme ich dann direkt ins Labor."

    In Ordnung . . . In der Zwischenzeit werde ich hier weitermachen." Also, bis spter." Ja, bis dann", antwortete Scully und hngte ein. Mulder steckte das Handy wieder in seine

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  • Tasche, doch Scullys Stimme wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Diese Aufregung - wie bei einer Jagd. Wie frher, als sie noch Hand in Hand arbei- ten durften.

    Innerlich mute er grinsen. Vielleicht hatte sie denselben Eifer auch bei ihm gesprt.

    Craigs Stimme ri ihn aus seinen Gedanken. Wann komme ich hier raus? Ich mchte nach Hause", fragte er die rztin.

    Wollen wir das nicht alle? dachte Mulder. Auf ein- mal freute er sich auf seinen Flug nach Washington. Da piepte sein Handy wieder.

    Was kann Scully in so kurzer Zeit denn noch gefunden haben? wunderte er sich. Ja?" sagte er leise ins Handy. Doch die Stimme, die er hrte, war nicht Scullys. Es war eine Mnnerstimme. Tief wie die Dunkel- heit. Rauh wie Reibeisen. Agent Mulder?" Ja?"

    Ich denke, Sie sollten wissen, da Sie einen Freund beim FBI haben .. ." Mit wem spreche ich?" fragte Mulder hastig.

    Doch er bekam keine Antwort, sondern vernahm nur ein Klicken, als das Gesprch unterbrochen wurde.

    Im Hintergrund hrte Mulder Dr. Zenzola. Leichte Ungeduld schwang in ihrer Stimme. Agent Mulder, wenn Sie keine weiteren Fragen haben, dann kann ich diesen Mann entlassen."

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  • Nein, er kann gehen", beschlo Mulder und steckte sein Handy wieder ein. An Craig Jackson hatte er keine Fragen mehr.

    Es war eine ganz andere Frage, die ihn auf dem Weg nach Washington beschftigte.

    Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster, whrend das Flugzeug durch den dunklen Nacht- himmel donnerte. Wieder und immer wieder ging ihm die anonyme Nachricht durch den Kopf: Sie haben einen Freund beim FBI." Wem gehrte diese tiefe Stimme? Wo kam er her und was wollte er von ihm? War er wirklich ein Freund?

    Mulder erinnerte sich an einen anderen Freund", den er einmal gehabt hatte.

    Einen Freund", der alles ber Mulder wute, doch nichts von sich selber preisgab.

    Einen Freund", der nur sporadisch Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, wann immer es ihm erfor- derlich erschien. Der Mulder nur kleine Informati- onsbrckchen zukommen lie, wie kleine Kder.

    Einen Freund", den er nur als Deep Throat gekannt hatte.

    Doch Deep Throat war tot. Er war direkt vor Mulders Augen gestorben - andernfalls wre Mul- der sich gar nicht so sicher gewesen, da Deep Throat auch wirklich nicht mehr lebte.

    Tuschungsmanver. . . sie waren die Spezialitt von Deep Throat gewesen.

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  • Whrend er im Sterben lag, hatte Deep Throat Mulder noch drei kurze Worte zuhauchen knnen. Ein Rat wie ein Rettungsring, der einem Mann zugeworfen wird, der ein Meer von trgerischen Untiefen und gefrigen Haien durchschwimmen mu.

    Und Mulder klammerte sich an diese Worte: Vertrauen Sie niemandem!"

    Auer Scully, dachte Mulder wehmtig und lehnte sich in seinem Sitz zurck. Auer Scully. Spt in der Nacht erreichte er das FBI-Labor in Washington.

    Die Wache musterte ihn mit einem fragenden Blick, und Mulder zeigte seinen Ausweis vor.

    In welcher Angelegenheit sind Sie hier, Agent Mulder?"

    Ich bin Agent Scullys Partner", gab Mulder zur Antwort.

    Manchmal mu man sich die Dinge eben leicht zurechtbiegen, schmunzelte er still vor sich hin. Aber im Grunde war es ja die Wahrheit. Hoffent- lich.

    Oh sicher, Agent Scully", sagte der Wachmann. Das htte ich mir denken knnen. Sie ist die einzi- ge, die um diese Zeit noch arbeitet. Wahrscheinlich verbringt sie mehr Zeit in diesem Labor als zu Hause. Ich meine immer, diese Lady liebt ihren Job wirklich."

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  • Ja, das denke ich auch .. ." Sie finden sie im Labor B-2, am Ende des Kor-

    ridors", erklrte der Wachposten und winkte Mul- der durch. Danke."

    Mulder ging den sprlich beleuchteten Gang hin- unter, bis er die bezeichnete Tr erreicht hatte. Er klopfte an, und Scully ffnete, als er die Hand gerade zum zweiten Mal erheben wollte.

    Hallo", begrte sie ihn mit einem kurzen Lcheln. Schn, da Sie da sind." Schn, hier zu sein . .."

    Scully drehte sich um und ging ins Labor zurck. Mulder folgte ihr. Schlieen Sie die Tr", forderte sie ihn auf.

    Mulder gehorchte, dann meinte er: Sie sagten am Telefon, da Sie mir etwas Interessantes zeigen wollen?"

    Genau das will ich", erwiderte Scully und sah ihren ehemaligen Partner offen an. Aber ich mu Sie warnen." Warum?"

    Falls Sie heute noch etwas essen wollen, dann sollten Sie das vorher tun."

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  • 10

    Scully ffnete eine Schublade aus Metall und holte ein Glasgef heraus. Sie stellte es auf den Edel- stahltisch und trat einen Schritt beiseite. Sehen Sie sich das an", forderte sie Mulder auf.

    Er blickte auf das Gef, in dem sich eine klare Flssigkeit befand. Und mitten drin schwamm ein schleimiger, weier Wurm von gut und gerne drei- ig Zentimeter Lnge.

    Nettes kleines Ding", schnaubte Mulder. Hat es schon einen Namen?"

    In der Fachliteratur wird er als Turbellaria bezeichnet, eine Art Plattwurm oder Bandwurm."

    Mulder sah noch einmal genauer hin. Und es lebte in dieser Leiche?"

    Ja. . . es sieht so aus, als wre er in die Galle eingedrungen und htte sich bis zur Leber weiter durchgefressen."

    Klingt wirklich appetitlich." Mulder zog die Nase kraus. Ich hoffe blo, da unsere Leiche fr eine schmackhafte Mahlzeit gesorgt hat."

    Zweifellos, wie jeder gute Wirt." Scully hob die Hnde. Ob Sie es glauben oder nicht, auf der gan- zen Welt sind etwa 40 Millionen Menschen mit parasitren Wrmern infiziert."

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  • Wollen Sie mir damit auf nette Weise beibrin- gen, was ich mir beim Sushi-Essen einfangen kann?" frotzelte Mulder halbherzig, whrend er weiter auf die Kreatur in ihrem Glasgef starrte. Sie mochte tot sein, doch so wie sie in der Flssig- keit schwamm, machte sie einen verdammt lebendi- gen Eindruck.

    Vielleicht mchten Sie ja auch noch erfahren, was Sie sich holen knnen, wenn Sie ein schnes blutiges Steak essen .. ."

    Endlich gelang es Mulder, seinen Blick von dem Wurm zu lsen. Ich frage mich nur, was das mit der Suche nach der Todesursache zu tun haben soll? War die Mordwaffe vielleicht ein Steak? Oder gar roher Thunfisch auf Reis?"

    Plattwrmer wie dieser bevorzugen ein unhy- gienisches Umfeld", erwiderte Scully ernsthaft. Sehr wahrscheinlich geriet er erst in der Kanalisa- tion in sein Opfer." Bevor oder nachdem er gestorben ist?"

    Das wei ich nicht", gab Scully zu. Aber wenn man die Tests bercksichtigt, die ich bisher durch- gefhrt habe, ist es nicht allzu wahrscheinlich, da der Mann von diesem Wurm hier gettet worden ist."

    Vielleicht war seine Gesundheit vorher schon angegriffen", vermutete Mulder. Oder er hatte irgendeine Krankheit. Drogen und Alkohol knnten ebenfalls eine Rolle spielen."

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  • Scully schttelte nachdrcklich den Kopf. Das Opfer war ein junger, verhltnismig gesunder Mann - das ist ja das Sonderbare! Bis auf diesen Parasiten habe ich keinen Hinweis auf die mgliche Todesursache gefunden."

    Mulder dachte einen Moment lang nach, dann griff er in seine Jacke. Whrenddessen fragte er: Wie ist dieser Wurm in sein Opfer hineingekom- men?" Er hat einen sogenannten Skolex."

    Was bitte ist denn das?" fragte Mulder und fischte ein Photo aus seiner Jackentasche.

    Ein mundhnliches Saugorgan mit vier haken- frmigen Zhnen", erluterte Scully.

    Wrde das eine Biwunde wie diese hier her- vorrufen?" Mulder reichte Scully das Photo.

    Verblfft betrachtete sie das Bild. Sie sah genau- er hin und schluckte. Wo haben Sie das her?"

    Heute morgen wurde ein Arbeiter von einem Tier oder etwas hnlichem angegriffen - und zwar in dem selben Kanalrohr, wo auch diese Leiche gefunden wurde. Und dieses Photo zeigt die Wunde auf seinem Rcken."

    Und Sie fragen mich wirklich ernsthaft, ob diese Wunde von einem Plattwurm stammt?"

    Wre das mglich?" Mulder machte ein betont unschuldiges Gesicht.

    Ich frchte, ich mu Sie auf den Boden der Tat- sachen zurckholen." Scully versuchte, ein Lcheln

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  • zu unterdrcken. Der Plattwurm hat ein winziges Maul, und das hier ist doch eine richtig groe Biwunde." Wie gro knnen diese Wrmer denn werden?"

    Wie gro knnen diese . . ." begann Scully, und schlielich verstand sie, worauf Mulder hinaus wollte. Mulder, Sie werden sich nie ndern! Das darf doch wohl nicht wahr sein ..."

    Mulder mute grinsen und nickte. Doch dann wurden beide schlagartig ernst, als sie sich wieder dem Glasgef zuwandten.

    Erzhlen Sie mir mehr ber diesen Wurm", ver- langte Mulder.

    Es handelt sich um sogenannte Endoparasiten. Sie leben im Krper ihres Opfers. Sie gelangen in den Krper, wenn der Wirt etwas it oder trinkt, das mit ihren Eiern oder Larven verseucht ist. In der Medizin gelten sie als unerwnschte Kleinorga- nismen, die der Gesundheit abtrglich sind. Aber sie sind keine - ich wiederhole! - keine Monstren, die nachts herumstreifen und Leute berfallen, deren Leichen nachher tellergroe Biwunden auf- weisen."

    Das klingt ja wirklich beruhigend", griente Mul- der. Ich habe nmlich wenig Lust, Assistant Direc- tor Skinner berichten zu mssen, da wir wegen eines riesigen, blutsaugenden Wurms die groe Mobilmachung inszenieren mssen." Doch dann verfiel sein Gesicht. Er nahm das

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  • Glasgef in die Hand und meinte mit mder Stim- me: Das war's dann wohl. Danke, da Sie sich so viel Mhe gemacht haben, Scully."

    Scully legte eine Hand auf seine Schulter. Es tut mir leid, Mulder. Ich dachte, es knnte etwas dran sein. Ich hoffte, es wre so."

    Na ja, ich denke, dieses Glasgef knnte fr die Stadtreinigung in Newark interessant sein. Viel- leicht werden die eine Anti-Parasiten-Kampagne starten, hm? Toll zu wissen, da das FBI wieder einmal zum Wohle der Menschheit beitragen konnte . . . da schwillt einem glatt der Kamm."

    Mulder, versuchen Sie doch wenigstens, nicht so verbittert zu sein. Das mu doch wirklich nicht sein . . ."

    Er unterbrach sie. Sehen Sie, Scully, ich wei nicht, mit wem Sie ber unsere Unterhaltung von neulich nacht gesprochen haben. Aber es wre mir lieber, wenn Sie im Bro nicht ber mich sprechen wrden." Aber. . ." Scully war verwirrt.

    Wie gesagt, ich wei nicht, wem Sie davon erzhlt haben", wiederholte er.

    Ich habe mit niemandem darber gesprochen", versicherte sie ihm mit Nachdruck.

    Irgend jemand hat mit jemandem gesprochen", beharrte Mulder. Und dieser zweite Jemand hat mich angerufen, um mich darber zu informieren, da ich einen ,Freund' beim FBI htte."

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  • Wer hat Sie angerufen?" Das wollte er nicht sagen."

    Ich wei nicht, was ich dazu sagen soll." Scully verschrnkte die Arme vor der Brust und schaute betrbt zu Boden.

    Dann hob sie den Blick. Auer einer Sache. Ich wrde nie etwas verraten, das mir jemand unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat."

    Ja", entgegnete Mulder ernst und traurig zu- gleich. Das w rden Sie sicher nicht. Ja, dann.. . vielen Dank fr alles, Scully. Wir sehen uns." Aber Mulder!" protestierte sie.

    Ich mu jetzt gehen", erklrte er. Pltzlich war er kurz angebunden. Mu noch meinen Bericht schreiben. Vielleicht will ja doch jemand einen Blick darauf werfen, bevor er zwischen den anderen Nicht-X-Akten verschwindet." Mulder, glauben Sie mir, ich .. ." Doch er war bereits aus der Tr.

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  • 11

    Den rzten kann man aber auch gar nichts glau- ben", maulte Craig Jackson vor sich hin. Fr diese Dr. Zenzola ist es einfach zu behaupten, dieser Nachgeschmack wrde von selbst wieder ver- schwinden. Sie mu ja nicht damit leben."

    Craig stand in seinem Badezimmer und blickte in den Spiegel. Er hatte bereits entdeckt, da seine Wunde noch immer gro und klaffend war. Nach- dem er geduscht hatte, wrde er einen neuen Ver- band anlegen mssen. Jetzt untersuchte er sein Gesicht. Es sah nicht viel schner aus als seine Rckseite. Verzerrt und bla mit einem leichten Grnstich.. . andererseits war er nie sehr braun gewesen. Kein Wunder, wenn man Tag fr Tag in der Kanalisation arbeiten mute.

    Craig schttelte den Kopf. Heute abend, bei sei- ner Verabredung, wrde es ihm bestimmt wieder besser gehen. Seit zwei Monaten hatte er versucht, Shirley einzuladen - bis sie endlich zugesagt hatte. Und jetzt das!

    Noch einmal drckte Craig frische Zahncreme aus der Tube. Vielleicht wrde es helfen, die Zhne ein drittes Mal zu putzen. Warum ging dieser frchterliche Geschmack nicht weg? Wenn der

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  • Geschmack in seinem Mund schon so ekelhaft war, wie mute dann erst sein Atem riechen? Falls Shir- ley diesen Gestank riechen wrde, dann hie es Ku und Lebewohl. .. wobei das mit dem Ku noch hchst fraglich war.

    Craig ffnete den Mund und putzte seine Zhne so grndlich er nur konnte. Dann zog er die Zahnbrste wieder heraus und lie den Schaum noch einige Male durch die Zahnzwischenrume gleiten, bevor er ihn ins Waschbecken spuckte. Er mute feststellen, da er wohl zu heftig gebrstet hatte: Der weie Schaum war voller Blut. Er blickte in den Spiegel. Bei dem Versuch, den frchterlichen Geschmack wegzuschrubben, hatte er sein Zahn- fleisch verletzt. Seine Lippen waren blutver- schmiert.

    Ekelhaft", grummelte er, doch damit meinte er nicht das Blut. Nein, so ein bichen Blut machte ihm nichts aus. Aber dieser faulige Geschmack .. . der machte ihn wirklich fertig.

    Er versuchte, nicht daran zu denken. Positives Denken war angesagt.

    Wenn ich mich mit Shirley unterhalte, halte ich mein Gesicht einfach nicht direkt in ihre Richtung, berlegte er sich. Und heute nacht werden wir nicht romantisch Wange an Wange tanzen. Ich nehme sie einfach mit in so einen Club, wo jeder fr sich tanzt, immer ein Stck von dem anderen entfernt. Und wenn wir uns Gute Nacht sagen, knnen wir uns ja

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  • einfach nur die Hand schtteln. Besser noch: wir winken uns nur zu. Sie denkt dann bestimmt, ich wre einer dieser sensiblen, hilfsbereiten Typen, die die Frauen immer so gut finden. Ein echter Gentle- man eben. Bei der nchsten Verabredung knnen wir uns dann ja nherkommen.

    Mit diesen Gedanken stieg Craig in die Dusch- wanne. Er drehte das heie Wasser auf und stellte den Duschkopf so ein, da der Strahl hart auf seine Haut prasselte. Es war heute schon das zweite Mal, da er unter der Dusche stand - doch bei der Arbeit, die er machte, konnte man sich gar nicht oft genug waschen. Vor allem heute. Schlielich hatte er Shirley erzhlt, da er Rechtsanwalt wre, und sie durfte den Geruch der Wahrheit einfach nicht in die Nase bekommen.

    Als das heie Wasser an ihm herunterflo, dachte Craig darber nach, da er nur noch 12 Jahre zu warten brauchte, bis er mit halbem Gehalt in den Ruhestand gehen konnte.

    Gut, da es die Gewerkschaft gab. Nicht, da er sich Sorgen machen mte, entlassen zu werden - jedenfalls nicht, solange die Stadt immer mehr Unrat in die Kanalisation leitete. Machmal ber- legte er, ob die Umweltschtzer vielleicht doch Recht hatten. Das Mllproblem geriet langsam auer Kontrolle, und er, er hoffte blo, da er nicht mehr in der Nhe war, wenn der ganze Mist hoch- kam.

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  • Vielleicht konnte er sich auf irgendeiner tropi- schen Insel zur Ruhe setzen, weit, weit weg. Aber wahrscheinlich hatten sie bis da hin auch den gan- zen Ozean versaut. . . vielleicht gab es dann gar keinen Ort mehr, wo man dem Dreck entkommen konnte.

    Doch pltzlich dachte Craig nicht mehr an seinen Job. Und auch nicht an Shirley.

    Und schon gar nicht an den Geschmack in sei- nem Mund.

    Er fhlte sich, als htte er einen Schlag in den Magen erhalten. Aber nicht von auen - sondern von innen!

    Ugghh!" sthnte er und krmmte sich nach vor- ne. Er mute sich an der Duschwand absttzen, um nicht in die Knie zu brechen.

    Dann traf es ihn wieder. Es schien aus der Tiefe seiner Lungen zu kommen . . . er kriegte kaum noch Luft und mute heftig husten. Er japste und fing sich noch einmal mit letzter Kraft. Doch es kam noch schlimmer.

    Erst rann das Blut nur tropfenweise, dann scho es in einem dicken Schwall aus seinem Mund.

    Und dann fhlte er, wie noch etwas anderes hochkam. Etwas Lebendes, etwas Zappelndes. Es glitt ber seine blutverschmierte Zunge und wand sich zwischen seinen Lippen hervor. Er starrte an seiner Nase vorbei auf einen schlei-

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  • migen, weien Kopf, der aus seinem Mund kroch und einen langen, wurmartigen Krper nachzog.

    Craig schwankte vor Schmerz und Ekel, whrend der Wurm aus seinem Mund glitt und in die Dusch- wanne platschte, um sich durch das blutige Wasser zu schlngeln und dann im gurgelnden Abflu zu verschwinden.

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  • 12

    Willkommen bei der stdtischen Abwasserzentra- le, Agent Mulder", sagte Ray Heintz herzlich, nach- dem Mulder sich vorgestellt hatte.

    Ray war der Vorarbeiter im Klrwerk von Newark. Seit er diesen Job hatte, war er von Freun- den und Verwandten immer wieder gehnselt wor- den, doch mittlerweile hatte er gelernt, Feuer mit Feuer zu bekmpfen und die Witzeleien abzuweh- ren.

    Wunderhbsch haben Sie es hier", kommen- tierte Mulder, whrend er sich im Kontrollraum des Klrwerks umsah. Alles war klinisch sauber, und die Luft roch slich. Die Computerbildschirme zeigten den Arbeitern, da in den Kanlen alles in Ordnung war - nichts wies darauf hin, da durch diese Rohre flssiger Unrat strmte. Dem Abwasser wurden in groen Tanks Chemikalien zugesetzt, um die Bakterien abzutten, dann flo es weiter durch ein langes Rohrsystem, bis es schlielich das Meer erreichte.

    Unsere Technik ist auf dem allerneuesten Stand", erluterte Ray. Er war ein kleiner, untersetz- ter Mann mit dunklem Bart und dicken Brillengl- sern, und er sprach extrem schnell, egal ob er nun

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  • einen Witz machte oder sachliche Informationen weitergab. Wir setzen wirklich nur die modernsten Methoden ein. Das mssen wir sogar, weil immer mehr Abwasser anfallt. Unser grtes Problem ist, da ein Teil der Kanalisation schon sehr alt ist. Stammt noch aus der Zeit um die Jahrhundert- wende."

    Ray drehte sich um und grinste einen Mann an, der gerade an ihnen vorbeischlurfte. Er war schon lter, bewegte sich recht langsam und hatte es offenbar nicht besonders eilig, hier herauszukom- men.

    Ich sagte gerade, da ein groer Teil der Abwas- serrohre schon ziemlich veraltet ist. Stimmt doch, Charlie, oder?" sprach Ray ihn an. Da luft die Brhe genauso langsam wie du."

    Oh ja, Sir", besttigte Charlie mit leiser Stim- me. Da seine Antwort so knapp ausfiel, hatte nichts mit seinem Alter zu tun, sondern eher mit Rays Witz, den er nun schon zum hundertsten Mal zu hren bekam. Whrend er sich den Weg durch seine hektischen Kollegen im Kontrollraum bahnte und dann durch die groe Doppeltr verschwand, verzog er keine Miene.

    Da die Tr offenstand, wehte ein bler Geruch in den Raum, begleitet vom Drhnen der Turbinen. Das Abwasser flo stndig weiter, weshalb die Tur- binen im Dauerbetrieb liefen. Charlie arbeitet hier schon seit der Zeit vor der

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  • Sintflut", wandte sich Ray wieder an Mulder. Ich wage gar nicht daran zu denken, wieviel Schmutz- wasser schon vor seinen Augen vorbeigeflossen ist. Ganz zu schweigen von seiner Nase. Ich glaube, es gibt nichts, was er noch nicht gesehen hat. Wenn Sie Fragen zum Arbeitsablauf haben, wenden Sie sich am besten direkt an ihn. Er ist stndig drauen und beobachtet, was da alles so vorbeirauscht."

    Mulder rmpfte die Nase und schttelte den Kopf. Ich glaube, das wird nicht ntig sein. Sie werden mir schon die Antworten geben knnen, die ich brauche. Es geht eigentlich nur um die typi- schen Routinefragen bei einer typischen Routineer- mittlung."

    Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann. Und glauben Sie mir, ich erzhle Ihnen keinen. .. Schei."

    Mulder grinste verhalten. Insgeheim fragte er sich, ob es eine Situation gab, in der dieser Typ keine dummen Witze reien wrde.

    Doch dann kam er auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. Sagen Sie mir bitte, in welchem Abschnitt der Kanalisation ich gewesen bin, als ich mir die Leiche angesehen habe, die Ihre Mnner gefunden haben."

    Das war in einem der ltesten Bereiche ... Groe Kanle von zweieinhalb Metern. Ist schon fast unheimlich da unten, was?" Unheimlich ist die richtige Bezeichnung dafr",

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  • stimmte Mulder zu. Ich hatte fast das Gefhl, da es da unten nicht nur Mll gibt, sondern auch ein paar dazu passende Monster."

    In den neueren Rhren gibt es beides nicht.. . Die sind aus Beton, nicht viel breiter als 70 Zenti- meter."

    Und das gesamte Abwasser der Stadt kommt durch diese Anlage?"

    An jedem Tag nehmen 560.000 Menschen Kon- takt mit mir auf, indem sie aufs Klo gehen oder auf den Knopf fr den Mllschlucker drcken." Ray zupfte an seinem Bart und lchelte schelmisch. Und Sie wrden nicht glauben, was fr Botschaf- ten da manchmal heruntergesplt werden."

    Mulder nickte und ffnete seinen Aktenkoffer. Er holte das Glasgef hervor, das er aus Scullys Bro mitgenommen hatte.

    Er reichte es Ray, der die Kreatur, die darin her- umschwamm, neugierig betrachtete. Haben Sie so etwas schon mal gesehen?"

    Sieht aus wie ein groer Wurm", vermutete Ray und starrte fasziniert auf das Gef.

    Es ist ein Plattwurm", erluterte Mulder. Er lebte in dem Leichnam, den wir aus der Kanalisati- on geborgen haben."

    Ray zuckte die Achseln und gab das Glasgef zurck. Das berrascht mich gar nicht. Wer wei, was da unten in den letzten hundert Jahren alles ausgebrtet wurde."

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  • Pltzlich klingelte das interne Telefon. Ray hob ab und meldete sich. Eine volle Minute hrte er schweigend zu.

    Dann sagte er: Key Charly, jetzt mal langsam. Immer mit der Ruhe. Mal sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. Du meinst, da da etwas in den alten Klrbecken schwimmt? Etwas Undefinierba- res?"

    Wieder mute er eine Minute zuhren, bevor er das Gesprch beenden konnte: Ja, ja, ich hab' ver- standen. Bleib ganz ruhig. Ich bin gleich da und seh' mir das Ganze mal an."

    Als Ray den Hrer aufgelegt hatte, schaute Mul- der den Vorarbeiter fragend an. Charlie scheint sich ja ziemlich aufgeregt zu haben."

    Ja, und er ist es immer noch ..." Sichtlich erregt griff Ray nach seinem Schutzhelm und setzte ihn auf. Erinnern Sie sich, da ich sagte, Charlie htte in der Kanalisation schon alles gesehen? Anscheinend habe ich mich geirrt."

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  • 13

    Ray und Mulder fanden Charlie, wie er auf einem Steg ber den Auffangbecken stand, in die der unbehandelte M ll geleitet wurde. Er starrte auf die dicke Brhe, als wrde er sie zum ersten Mal betrachten.

    Mulder trat neben ihn Was genau haben Sie gesehen?"

    Wenn ich Ihnen das erzhle, werden Sie mir bestimmt nicht glauben. .." Charlie glotzte noch immer auf das Abwasser.

    Lassen Sie es ruhig darauf ankommen", forderte Mulder ihn auf.

    Ich kann es nicht beschreiben!" gestikulierte Charlie, ohne dem Agenten einen Seitnblick zu schenken. Mir fehlen die Worte dafr. Es ist nichts, was ich schon mal gesehen habe. Nicht mal in meinen wildesten Alptrumen, meine ich."

    Aber Sie sind sicher, da Sie etwas gesehen haben?"

    Wahrscheinlich mache ich diesen Job schon zu lange. Vielleicht haben der Gestank und dieses Zeug da unten mein Gehirn aufgeweicht", knurrte Charlie. Dann rief er pltzlich: Da ist es!"

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  • Doch die beiden anderen sahen nicht schnell genug hin. Wo?" fragte Ray. Was?" wollte Mulder wissen.

    Es bewegt sich unglaublich schnell, aber es ist da. . . wirklich!" beteuerte Charlie. Er hastete den Steg entlang und drckte auf einen Knopf. Ich lasse das Wasser aus dem Becken ablaufen. Ich glaube nicht, da es durch den Abflu pat."

    Die Turbinen liefen an, und Mulder konnte beob- achten, wie der Wasserstand sich langsam senkte.

    Im gleichen Augenblick sahen Ray und er, wie es an die Oberflche kam. Es bewegte sich geschmei- dig durch den zhflssigen Mll - wie ein Fisch im Wasser. . . Doch es war kein Fisch.

    Erneut kam es an die Oberfl che, tauchte aber sofort wieder unter. Mulder schluckte schwer und rieb sich einmal kurz ber die Augen - es war ein Anblick, den er nie vergessen wrde.

    Die Kreatur war schmutzig-wei und glnzte schleimig. Ein ziemlich groes Ding.

    Ein verdammt menschen hnliches Ding. .. jedenfalls von hinten betrachtet: Der Kopf, der Krper, die Arme und Beine sahen aus wie die eines Menschen. Im Gegensatz zu seinem Gesicht.

    Ein graues Gesicht ohne Haare, Ohren und Nase, doch dafr hatte es zwei groe Schlitze, aus denen glhend rote Augen hervorstachen. Statt eines

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  • Munds klaffte nur ein groes Loch in der unteren Hlfte dieses Gesichts, und am Rand des Lochs saen wulstige Lippen. Vier scharfe Zhne ragten hervor, die wie geschaffen waren, um sich irgendwo festzubeien.

    Nein, man konnte es nicht als menschlich bezeichnen, nicht im eigentlichen Sinne. Aber... wie sollte man es dann nennen? Etwa zur selben Zeit sa Scully im FBI-Labor fas- ziniert vor einem Computerbildschirm, auf dem ein ekelerregendes Maul zu sehen war.

    Mit einigen Mausklicks holte sie weitere Bilder auf den Schirm und rief dann Informationen aus einer Datenbank ab.

    Dabei machte sie sich auf einem Sto gelbem Papier Notizen und diktierte: Plattwrmer sind frei- lebende Fleisch- bzw. Aasfresser, die auf der Jagd grere Entfernungen zurcklegen knnen-. Im allge- meinen sind sie nicht lnger als dreiig Zentimeter."

    Sie suchte noch weitere Daten heraus, um anschlieend fortzufahren: Es handelt sich um Hermaphroditen, das heit, sie weisen sowohl mnnliche als auch weibliche Geschlechtsorgane auf. Deshalb sind sie bei ihrer Vermehrung nicht auf das Vorhandensein eines andersgeschlechtli- chen Partners angewiesen. Viele Spezies bewegen sich auf der Suche nach Nahrung von einem Wirt zum nchsten."

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  • Erneut hielt Scully inne und rief die vollstndige Abbildung eines Plattwurms auf den Bildschirm. Sie studierte seine Physiognomie genau - als sie hinter sich das Rascheln von Papier hrte.

    Es kam von auerhalb der geschlossenen Labor- tr.

    Was zum ..." murmelte sie vor sich hin. Dann rief sie laut: Wer ist da?" Keine Antwort.

    Gerade als sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden wollte, bemerkte sie, da ein Blatt Papier unter der Tr durchgeschoben wurde.

    Sie ging zur Tr hinber, ffnete sie und sah nach unten: Vor ihren Fen lag eine Boulevardzei- tung.

    Mit schnellen Blicken prfte sie den Flur links und rechts vom Labor, doch es war niemand zu sehen.

    Stirnrunzelnd bckte sie sich und hob die Zei- tung auf. Nach einem letzten 'Blick in die Runde trat sie in den Raum zurck und schlo zur Vorsicht hinter sich ab.

    Warum sollte mir jemand eine Zeitung bringen? Und vor allem eine solche Zeitung? Sie warf das Blatt auf ihren Arbeitstisch. So etwas lese ich noch nicht mal, wenn ich im Supermarkt in der Schlange stehe. Das ist eher was fr Mulder.

    Normalerweise waren auf der Titelseite dieser Zeitung Schlagzeilen abgedruckt, die Entfhrungen

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  • durch Auerirdische, den geheimen Aufenthaltsort John F. Kennedys oder die Sichtung Elvis Presleys auf einer Party in Malibu meldeten.

    In dieser Ausgabe war auf der Titelseite ein groes Foto von Dinosauriern zu sehen, die angeb- lich im Herzen Afrikas gesichtet worden waren.

    Scully berflog diesen Bericht und fand nichts auer offensichtlich manipulierter Fotos und angeb- liche Augenzeugenberichte. Leicht verwirrt stu- dierte sie die folgenden Seiten. Auf Seite fnf stoppte sie.

    Es war nicht das Foto des russischen Frachters, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, und auch nicht die berschrift: Geheimnisvoller Unfall auf einem russischen Frachter lt die Behrden erschauern."

    Vielmehr war es die kleinere Titelzeile darunter, die ihre Augen wie magisch anzog: Seemann wur- de in Abwassertank von mysteriser Kreatur ange- griffen."

    . Sie berflog den Artikel und las ihn anschlieend noch ein zweites Mal.

    Dann legte Scully die Zeitung zur Seite, wandte sich wieder dem Computermonitor zu und klickte auf die Maus.

    Sie holte ein Bild auf den Schirm, das die Leiche zeigte, die in der Kanalisation gefunden worden war.

    Dann zoomte sie auf eine Nahaufnahme des Oberkrpers und lie eine des Oberarms folgen.

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  • Beharrlich klickte Scully weiter, um das Bild noch mehr zu vergrern.

    Das Zeichenfragment auf dem Arm des Toten wurde deutlicher. Eine Ttowierung, entschied sie zum zweiten Mal. Ganz sicher eine Ttowierung. Sie holte den Ausschnitt noch nher heran.

    Es waren Buchstaben.. . fremd aussehende Buchstaben.

    Buchstaben, die sich zu einem Wort zusam- menfgten.

    Sie grbelte noch, um welches Wort es sich mglicherweise handeln konnte, als das Telefon klingelte.

    Scully zog eine Grimasse. Sie wollte jetzt nicht gestrt werden, nahm aber schlielich doch den Hrer ab. Scully." Ich bin es", hrte sie Mulders Stimme. Wo sind Sie?"

    In der Psychiatrischen Klinik von Middlesex County, New Jersey." Geht es Ihnen gut?"

    Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin nicht verrckt geworden - obwohl Sie das bestimmt den- ken werden, wenn Sie sich meine Geschichte erst einmal angehrt haben", feixte Mulder. Dann fuhr er mit ernsterer Stimme fort: Erinnern Sie sich an den Plattwurm, den Sie in der Leiche gefunden haben?"

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  • Natrlich .. . was ist damit?" Wahrscheinlich haben wir es mit dem Bsen

    Geist der Gullys zu tun", verkndete Mulder geheimnisvoll. Wie meinen Sie das?"

    Das kann ich Ihnen nicht erklren . . . Es ist bes- ser, wenn Sie herkommen und sich das selbst an- sehen."

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  • 14

    Mulder, warum haben Sie denn veranlat, da der Verdchtige in einer Psychiatrischen Klinik unter- gebracht wird?" war Scullys erste Frage, als sie in Middlesex ankam.

    Eine normale Zelle schien mir nicht geeignet zu sein. Die anderen Hftlinge wrden sich nur aufre- gen, ganz abgesehen von den Wachen. Aber hier sind sie an alle Absonderlichkeiten gewhnt."

    Scully hob die Schultern. Sehen wir uns Ihren Fang mal an."

    Ich glaube, Sie werden wirklich begeistert sein", versprach Mulder mit einem ironischen Sei- tenblick auf seine leicht ratlose Partnerin.

    Er ging mit Scully an zwei bewaffneten Polizi- sten vorbei und bog in einen langen Korridor mit unzhligen Metalltren, die in Augenhhe mit einem Sichtfenster aus dickem Glas versehen waren.

    Vor der letzten Tr blieb Mulder stehen. Er bedeutete Scully, einen Blick durch das Sichtfenster zu werfen.

    Oh mein Gott!" entfuhr es ihr, obwohl sie diesen hysterischen Ausruf stets zu vermeiden suchte. Das Licht im Inneren war heruntergeregelt, doch

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  • Scully konnte eine nackte Kreatur ausmachen, die sich in der entferntesten Ecke des kahlen Raums zusammengerollt hatte.

    Der Schleim auf der haarlosen, schmutzig wei- en Haut schimmerte im trben Licht. Die roten Augen in den schmalen Schlitzen blickten wild umher. Offensichtlich suchte es nach einer Flucht- mglichkeit, konnte aber keine finden. Die Lippen an der groen Mundffnung machten saugende Bewegungen - fast wie ein Baby, das an seiner Fla- sche nuckelt. Doch die scharfen Zhnen, die hinter den Lippen zu sehen waren, erstickten jedes mitlei- dige Gefhl im Keim.

    Ist es mnnlich oder weiblich?" fragte Scully, ohne die Augen vom Fenster zu wenden.

    Weder noch, das heit, eigentlich beides", gab Mulder zur Antwort.

    berrascht suchte sie den Blick ihres Partners. Das pat zusammen, Mulder. Platyhelminthae sind meistens Hermaphroditen."

    Platyhelminthae?" wiederholte Mulder lang- sam.

    Sie knnen auch Wrmer dazu sagen .. . parasi- tre Wrmer." Wrmer, die sich von Menschen ernhren?"

    Von Menschen und anderen Lebewesen", ant- wortete Scully gedankenverloren. Dann fgte sie hinzu: Das ist interessant, Mulder. Die Gesichtsz- ge dieser Kreatur sind die eines parasitren Wur-

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  • mes, aber hundertmal vergrert. Sein Krper hin- gegen hnelt dem eines Primaten .. . einem Gorilla oder einem Menschen." Das pat ins Bild", stimmte Mulder zu. Aber wo, um Gottes Willen, kommt es her?"

    Das wei ich nicht... Ich wei noch nicht ein- mal, ob es berhaupt von der Erde kommt. Tja, Skinner wird bestimmt hocherfreut sein, wenn ich ihm sage, da unser Hauptverdchtiger ein blutsau- gender Wurm ist."

    Doch Scully konnte ber diesen Witz nicht lachen, zu sehr war sie mit ihren eigenen Gedanken beschftigt. Sein Mund sieht so aus, als knnte er die Wunde verursacht haben . . . die auf dem Foto, das Sie mir gezeigt haben", berlegte sie laut. Die Wunde auf dem Rcken dieses Kanalarbeiters - wie war noch sein Name?" Craig Jackson", half ihr Mulder.

    Wir sollten da noch einmal nachhaken", befand Scully. Er mu grndlich untersucht werden. Wir mssen auch ein paar Tests machen."

    Ich denke, bei diesen Tests wird lediglich her- auskommen, da die Wunde von dieser Kreatur ver- ursacht wurde .. . Aber uns fehlt noch eine andere wichtige Information. Die Leiche aus der Kanalisa- ton wurde immer noch nicht identifiziert." Er war Russe. Ein Russe namens Dmitri."

    Woher wissen Sie das?" Jetzt war es an Mulder, erstaunt zu sein.

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  • Er hatte einige Zeichen auf seinen Oberarm ttowiert. Sie ergaben erst gar keinen Sinn - bis ich darauf kam, da es kyrillische Buchstaben waren."

    Scully griff in ihren Aktenkoffer und holte einen Farbausdruck des fraglichen Bildausschnitts hervor sowie einige Vergrerungen der Ttowierung.

    Richtig, das russische Alphabet", nickte Mulder. Gute Arbeit, Scully. Aber wir mssen immer noch herausfinden, wer er war. Es mu mehr als eine Millionen Dmitris in Ruland geben."

    Sein vollstndiger Name ist Dmitri Protemkin, und er war Mechaniker auf einem Frachter."

    Wie haben Sie denn das nun wieder rausbekom- men? Haben die in Ruland neuerdings so wenig Papier, da sie sich auch ihre Arbeitsvertrge ein- ttowieren lassen?"

    Hier steht's drin", antwortete Scully. Sie zog die Boulevardzeitung aus der Tasche, schlug Seite fnf auf und berreichte sie Mulder.

    Mulder berflog den Artikel und strahlte. Scul- ly, ich bin beeindruckt - erstklassig recherchiert! Und das von Ihnen. . . haben Sie mir nicht mal gesagt, Sie wrden so eine Zeitung niemals lesen? Was war los? Haben Sie besonders lange im Super- markt an der Kasse herumgetrdelt? Oder hat Ihre unbezhmbare Neugier schlielich doch noch gesiegt?" Absolut nicht." Scully hob abwehrend die

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  • Hnde. Jemand hat sie unter meiner Labortr durchgeschoben."

    Sie bemerkte, wie sich Mulders Augen weiteten, und sie betrachtete ihn einen Moment lang sehr auf- merksam, bevor sie mit sanfter Stimme meinte: Anscheinend haben Sie wirklich einen Freund beim FBI."

    Mulder lchelte sie an, doch als er sich abwandte, wurden seine Zge grimmig.

    Ja, und ich habe auch schon einen Verdacht, wer das sein knnte", sagte er gepret. Mit dieser Art Freund habe ich schon meine Erfahrungen gemacht. Diesen Typ kenne ich."

    Wieso, was war denn?" erkundigte sie sich, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte.

    Bei dieser Art Freund braucht man keine Feinde mehr."

    Behutsam legte sie die Hand auf seinen Arm. Es war nicht leicht, die richtigen Worte fr das zu fin- den, was sie ihm erklren wollte. Doch sie mute es ihm einfach sagen.

    Mulder, wenn Sie zu Skinner gehen und ihm Ihren Bericht vorlegen .. . und wenn Sie dann Ihre Situation zur Sprache bringen, dann hoffe ich..." begann Scully. Sie stockte. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: Ich hoffe, Sie wissen, ich wrde es mehr als einen rein beruflichen Verlust betrachten, wenn Sie den Dienst quittierten." Geht schon in Ordnung", erwiderte Mulder

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  • rauh. Doch nach einer kurzen Pause fgte er lchelnd hinzu: Danke, Scully."

    Es gab nichts weiter dazu zu sagen, und so drehte er sich um und schaute den langen, leeren Gang hinunter. Das war angenehmer als in Scullys besorgtes Gesicht zu sehen. Oder in seine eigene Zukunft.

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