EGON SCHÜTZ.anthroplogie Und Funktion Der Skepsis.vierteljahrschaft Fur Wissenschaftliche Padagogik...

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Vierteljahrschaft fur wissenschaftliche Padagogik 70 (1994): 5-15 Anthropologie und Skepsis im Lichte Montaignes Clemens Menze zum 65. Geburtstag EGON SCHÜTZ I. Ein Schlußwort, genauer ein Schlußbild, das sich auf das vibrierende Verhältnis von Mensch und Anthropologie bezieht, hat große Aussicht, eine denk-und anthropologiegeschichtliche Titelkarriere zu machen. Dieses Schlußbild findet sich am Ende von Michel Foucauits Buch „Les mots et les choses", also am Ende jener „Archäologie der Humanwissenschaften", mit der sich ihr Autor die Aufgabe gestellt hatte, das wissende Selbstverhältnis des Menschen seit der Renaissance in seinen tiefengeschichtlichen Umbrüchen zu rekonstruieren. Ergebnis und Botschaft der Rekonstruktion Foucauits sind wenig schmeichelhaft für Thema und Solidität von Humanwissenschaften und Anthropologie. Der Mensch, so heißt es, sei eine „junge Erfindung". Er sei das Produkt einer historischen Wissensdisposition, einer bestimmten Wissenspraktik und er werde gleichsam als humanwissenschaftliches Selbstprodukt mit den Humanwissenschaften auch wieder verschwinden, und zwar „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." (Foucault 1966, dt. 1974, S. 462) — Verschwinden wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer? Die Provokation dieses Schlußbildes von Foucault ist deutlich, auch wenn man im Blick hall, daß seine Prognose sich nicht auf das Verschwinden des Menschen überhaupt bezieht, sondern auf das Verschwinden, den Untergang des anthropologischen, in den Humanwissenschaften gedachten und durch sie am Ende des 18. Jhs. zur Erscheinunggebrachten Menschen. Aber worin liegt die Provokation dieses für den Humanisten melancholischen Bildes, wenn es nicht die Abdankung des Menschen überhaupt, nicht sein Gattungsende anzeigen will? Sie liegt ohne Zweifel in der mitgedachten Aussichtslosigkeit aller neuzeitlichen anthropologischen Bemühungen, die insgesamt charakterisiert werden können als Versuche des Menschen, sich zuverlässig durch sich selbst zu wissen, um aus solchem zuverlässigen Wissen Anleitung für richtiges und möglichst gerechtes Handeln zu finden. Wenn sich der Mensch aber in den Intentionen, Methoden, Strategien, Forschungspraktiken immer nur erfindet und nicht verläßlich auffindet, wenn die Zugriffe seines Wissens von sich ihn immer nur vorstellen, sogar herstellen, niemals aber mit objektiver Gewißheit darstellen, wenn er sich immer mehr entzieht, je mehr er

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Vierteljahrschaft fur wissenschaftliche Padagogik 70 (1994): 5-15

Anthropologie und Skepsis im Lichte Montaignes

Clemens Menze zum 65. Geburtstag

EGON SCHÜTZ

I.

Ein Schlußwort, genauer ein Schlußbild, das sich auf das vibrierende Verhält-nis von Mensch und Anthropologie bezieht, hat große Aussicht, eine denk-und anthropologiegeschichtliche Titelkarriere zu machen. Dieses Schlußbild findet sich am Ende von Michel Foucauits Buch „Les mots et les choses", also am Ende jener „Archäologie der Humanwissenschaften", mit der sich ihr Autor die Aufgabe gestellt hatte, das wissende Selbstverhältnis des Menschen seit der Renaissance in seinen tiefengeschichtlichen Umbrüchen zu rekonstruieren. Ergebnis und Botschaft der Rekonstruktion Foucauits sind wenig schmei-chelhaft für Thema und Solidität von Humanwissenschaften und Anthropolo-gie. Der Mensch, so heißt es, sei eine „junge Erfindung". Er sei das Produkt einer historischen Wissensdisposition, einer bestimmten Wissenspraktik und er werde — gleichsam als humanwissenschaftliches Selbstprodukt — mit den Humanwissenschaften auch wieder verschwinden, und zwar „wie am Mee-resufer ein Gesicht im Sand." (Foucault 1966, dt. 1974, S. 462) — Verschwin-den wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer? Die Provokation dieses Schluß-bildes von Foucault ist deutlich, auch wenn man im Blick hall, daß seine Pro-gnose sich nicht auf das Verschwinden des Menschen überhaupt bezieht, son-dern auf das Verschwinden, den Untergang des anthropologischen, in den Humanwissenschaften gedachten und durch sie am Ende des 18. Jhs. zur Er-scheinunggebrachten Menschen. Aber worin liegt die Provokation dieses für den Humanisten melancholischen Bildes, wenn es nicht die Abdankung des Menschen überhaupt, nicht sein Gattungsende anzeigen will? Sie liegt ohne Zweifel in der mitgedachten Aussichtslosigkeit aller neuzeitlichen anthropolo-gischen Bemühungen, die insgesamt charakterisiert werden können als Versu-che des Menschen, sich zuverlässig durch sich selbst zu wissen, um aus sol-chem zuverlässigen Wissen Anleitung für richtiges und möglichst gerechtes Handeln zu finden. Wenn sich der Mensch aber in den Intentionen, Methoden, Strategien, Forschungspraktiken immer nur erfindet und nicht verläßlich auffindet, wenn die Zugriffe seines Wissens von sich ihn immer nur vorstellen, sogar herstellen, niemals aber mit objektiver Gewißheit darstellen, wenn er sich immer mehr entzieht, je mehr er wissenschaftlich auf sich eindringt, wenn — mit Foucault gesprochen — der Mensch sich im wissenden Selbstzu-griffpositiven Zuschnitts nur diszipliniert, aber nicht einholt, dann werden die Hoffnungen auf ein ebenso zuverlässiges wie orientierendes Selbstwissen, die

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Hoffnung einer Anthropologie der Selbstsouveränität, in der Tat prekär, wenn nicht zerstört. Anthropologie gerät in die Gefahr der Selbsttäuschung — es sei denn, man erneuert sie als das Problem, das sie am Anfang der Neuzeit war: nämlich als die Frage des Menschen nach sich selbst um seiner selbst willen. Vielleicht taucht dann ein neues Gesicht im Sand auf, aber es wäre immerhin noch ein Gesicht.

Foucaults Diagnose des verschwindenden Gesichts im Sand, also des Endes des ,anthropologischen Menschen' nach zweihundert Jahren anthropologi-scher Selbstbemühung, steht nicht allein. Sie hat Vorläufer und Nachbarn und kommt insofern nicht völlig überraschend. So läßt sich ein historischer Bogen spannen von Rousseau — bis beispielsweise zu Heidegger. Rousseaus Bemer-kungen im Vorwort des II. Discours hinsichtlich der Nützlichkeit und Schwie-rigkeit der Menschenkenntnis mischen Verlockung und Warnung. Menschen-kenntnis sei „eine der interessantesten Fragen, welche die Philosophie aufwer-fen kann". Das ist die Verlockung. Aber es folgt zugleich die Warnung: „zu unserem Unglück" sei diese interessante Frage eine der „dornenreichsten", welche die Philosophie sich überhaupt stellen könne. Und wenig später folgt der Warnung — fast mit dem Unterton der Resignation — die Festellung: „daß wir uns in gewissem Sinne durch das viele Studieren des Menschen außerstan-de gesetzt haben, ihn zu erkennen." (Rousseau 1984, S, 43 ff.) Das ist, unver-kennbar, ein Signal der Nachdenklichkeit und des Verdachts, das seine unter-schwellige Bedeutung von der Mitte des 18. Jhs. bis in die 20er und 30er jähre des 20. Jhs. und darüber hinaus bis in die Gegenwart behalten sollte. Wenn Heidegger etwa in seinem Kant-Buch sagt: „Keine Zeit hat so viel und so Man-nigfaltiges vom Menschen gewußt wie die heutige" und wenn er dann hinzu-fügt: „Aber auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heuti-ge. Keiner Zeit ist der Mensch so fragwürdig geworden wie der unsrigen" (Heidegger 41973, S, 203) — und wenn man diese anthropologische Bilan2 Heideggers zu Rousseau zurückspiegelt, dann erscheint sie in der Tat wie die Einlösung des früheren Verdachts von Rousseau, das Selbststudium des Men-schen könne ihn „in gewissem Sinne" an ebenso fruchtbarer wie notwendiger Selbsterkenntnis hindern und werfe am Ende günstigenfalls nur die Frage wie-der auf, um deren Beantwortung er sich bemühe.

II.

Nun sind auch Rousseaus anthropologische Bedenken hinsichtlich der Frag-würdigkeit und Effektivität menschlichen Selbststudiums ihrerseits nicht ohne Vorläufer. Eine wichtige Quelle, deren Einfluß auf Rousseaus Anthropologie und Erziehungskonzept mannigfach belegt und erforscht ist, sind jene „Essais" von Michel de Montaigne, in denen mit einsamer Radikalität und bohrender Hartnäckigkeit ein Leben sich zu begreifen, zu beschreiben und im Begreifen

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und Schreiben zu formulieren sucht. Montaigne war kein Anthropologe, wenn man unter Anthropologie nur den wissenschaftlich-wissenden Selbstzugriff des Menschen auf sich selbst versteht. Gleichwohl schrieb er eine Anthro-pologie in einem anderen Sinne, nämlich im Sinne einer sich selbst rechen-schaftgebenden Selbstkunde, einer Selbsterkundigungspraktik, die ihr Interes-se an sich selbst nicht in Theorien verallgemeinerte oder aus ihnen abzog, son-dern im Modus eines Beispiels ohne Belehrungsabsicht sich der Welt anheim-stellte. Man kann Montaignes Selbsrerkundigungen in den Essais als Anthro-pologie in einem Fall' fassen, als — im Negativen wie im Positiven — exempla-risches Portrait eines Lebens, das in keinem Augenblick sich in seiner Zeithaf-tigkeit übersprang und offenbar gerade dadurch eine frappierende Wirkungs-geschichte entfaltete. Montaigne betrieb Anthropologie ,live' — wenn man so will: in zwangsläufig beteiligter biographischer Feldforschung. Daß er aber da-mit eine Art,Gegenanthropologie' zum Teil gegen christliche wie auch antike menschliche Selbstgewißheiten entwickelte, war ihm nicht nur beiläufig be-wußt, sondern wurde zum durchgängigen, wenn auch verhangenen Motiv seiner Essais, die keineswegs nur eine neue Literaturgattung darstellten, son-dern adäquater Titel sind für Selbstexperimente mit offenem Ausgang und schwer kalkulierbaren Ergebnissen — allerdings geleitet von der Hoffnung auf eine distanzierende Gelassenheit inmitten der Risiken jener hochexplosiven historischen Situation der Glaubenskriege in Frankreich.

Was Montaigne mit Rousseau und über ihn hinaus mit den philosophischen Kritikern der Möglichkeit definitiver und zuverlässiger anthropologischer Selbstkenntnis des Menschen, also mit Foucault und Heidegger verbindet, ist ohne Zweifel das, was man seine anthropologische Skepsis nennen kann. Die-se anthropologische Skepsis entsteht in dem Augenblick, in dem der Mensch sich selbst ohne Fremdunterstützung durch höhere Einsichten zu denken ver-sucht, in dem e r (wie bereits angezeigt) sich anschickt, hinter sich selbst und durch sich selbst zu sich selbst zu kommen. Bei Montaigne wird das Problem des Selbstverlusts im Selbstzugriff (dem das Problem des Weltverlusts im Welt-zugriff und das Problem des Gottesverlusts im Vernunftzugriff korrespondie-ren) historisch anfänglich und in aller nur denkbaren Klarheit deutlich. In der „Apologie", die den Test auf die Reichweite menschlichen Wissens, den Test der Wahrheitsfähigkeit der Vernunft vor dem Anspruch einer rationalen Theo-logie macht, kommt Montaigne zu der brisanten Feststellung: „Das Ergebnis ist dies: es gibt keine irgendwie feststehende Existenz dessen, was wir als unser Wesen, noch dessen, was wir als Außenwelt [ny de nostre estre, ny de celuy des objects] bezeichnen; wir selbst, unser Urteil und alles, was sterblich ist, zerfließt immer wieder und rollt unaufhörlich dahin. Da sowohl der urteilende Mensch als die beurteilte Außenwelt ewig unsicher und veränderlich sind, kann über beide nichts Sicheres ausgesagt werden." (Übersetzung A. Franz, 1969, S. 232; Thibaudet - Ausgabe der Essais 1953, II, XII, S. 679) Die Brisanz

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dieses Satzes bliebe unterschätzt, wollte man in ihm gleichsam nur ein er-kenntnistheoretisches Lamento sehen, das im übrigen sich nicht einmal vor originellem Argumentationshintergrund gibt. Brisanter schon wird diese Er-gebnis-These, wenn man sie nicht nur als historischen Fall agnostizistischer Er-kenntnisenthaltung rubriziert, sondern wenn man nach den faktischen Konse-quenzen fragt, die jemand — wie Montaigne — für sich selbst aus der doppel-ten Uneinsehbarkeit von Mensch und Welt zieht. Konkreter und auf die Selbsterkenntnis gerichtet wäre zu fragen: Was tun, wenn zumindest darüber Gewißheit besteht, daß es für den Menschen keine letzlgültige Gewißheit gibt? Was tun, wenn das theoretische Gebot der Skepsis das Wissenwollen zur Fatalität verdammt, wenn, wie Montaigne mehrfach ausführt, schon die Spra-che sich wie ein Schleier über alle Dinge legt und auch dem Skeptizismus noch die Gewißheit seiner These nimmt? Was tun, wenn, bildlich gesprochen, das anthropologische Experiment der Selbsterkenntnis eigentlich nur eine Münchhausiade sein kann, wenn, abstrakt formuliert, das Sclbstwissenwollen des Menschen in eine Zirkularität gebannt ist — mit der Folge, daß es dem Menschen offenbar niemals möglich ist, hinter sich zu gelangen, in dem er sich wissend vor sich bringt? Es sind solche Fragen, welche erst die wahre Bri-sanz der erkenntnistheoretischen Conclusio von Montaigne hervorbringen. Skepsis hinsichtlich der Reichweite menschlicher Vernunft und im Hinblick auf Gott, Mensch und Welt ist eine Sache. Eine andere ist es, wie man sich innerhalb sich aufnötigender Skepsis zu dieser stellt. Kein Geringerer als Kant hat mit feinem und folgenreichem Unterscheidungssinn den „Skeptizismus" einerseits zwar als „Ruheplatz" endlicher Vernunft geschätzt, der es der Ver-nunft ermöglichen könne, sich auf ihre dogmatischen Anfälligkeiten zu besin-nen. Anderseits aber sei ein „Ruheplatz" kein „Wohnplatz" zu beständigem Aufenthalt, Einen Wohnplatz könne skeptisch angestachelte Vernunft nur fin-den, wenn sie sich der Grenzen ihrer Erkenntnis bewußt werde — worauf das Unternehmen der Selbstkritik der Vernunft bekanntlich hinaus läuft. (Vgl. Kri-tik der reinen Vernunft, Transzendentale Methodenlehre, I. Hauptstück, II. Abschnitt; Kant 1976, S. 695) Die Metaphorik Kants, in der er Sinn und Zweck des Skeptizismus faßt, läßt sich auf Montaignes existentielle Antwort auf sein eigenes Resümee erhellend beziehen: Montaigne findet in der Skepsis, die ihm von den Pyrrhonisten vertraut ist, durchaus einen „Ruheplatz" der Besin-nung, aber er findet in der Skepsis tatsächlich keinen „Wohnplatz" des Le-bens. Ähnlich wie für Kant ist ihm das SKEPTOMAI, das sich als Inschrift auf einem Längsbalken seiner Bibliotheksdecke findet, keine Aufforderung zur Resignation (sowenig wie das pyrrhonistische EPECHO eine Aufforderung zum Urtellsverzicht), sondern ein Stachel des Fragens und Abwägens. Mon-taigne mauert sich in der Skepsis nicht ein, sowenig wie in seinem Turm, son-dern er praktiziert sie als heuristisches Prinzip des Vorbehalts, als Bereitschaft, sich das Unauffällige auffallen zu lassen, und zwar in einem spähenden Fra-gen, das seinen gewissesten Gegenstand am Fragenden selbst hat.

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Montaignes Vehikel einer schöpferischen Skepsis, die nicht in Arroganz oder dogmatischen Nihilismus umschlägt (Hugo Friedrich nennt sie „blicköffnende Weisheit" in seinem Montaigne-Buch — s. Friedrich a1967, S. 123), ist eine einfache Frage-Formel, die, der ersten Fassung der Apologie spater (1588) hin-zugefügt, von ihrer Bedeutung nur wenig preisgibt, wenn man mit ihr unbese-hen Montaignes Denken abstempeln will. Die Formel lautet bekanntlich: „Que sçay-je?" (Il, XII, S. 589) Für Montaigne ist diese Frage-Formel eine Devise, ein Sinnspruch, eine Maxime, die eine ausgeglichene Waage charakterisiert. {Man denke an die Schaumünze, die Montaigne sich prägen ließ.) Die Devise aber, die Maxime, symbolisiert im Bild der ausgeglichenen Waage, läßt erkennen: das „Que sçay-je?" ist eine Maxime des Erwägens und Abwägens — eine ständige Herausforderung endlicher Urteilskraft, die gleichsam den idealen Balance-Zustand anstrebt und ihn doch niemals erreicht. Sie erreicht ihn aber um so weniger, je mehr sich der Akzent des Fragesatzes von dem „que" des Wißbaren auf das „je" des Wissenden verlagert, je mehr der Fragende sich durch seine Fragen selbst herausfordert, je mehr er sich als Fragender selbst erfragen und durch sich hindurch mit vollem Einsatz seiner Existenz auf die Dinge zugehen muß, die im Horizont des Ich als seine Welt, seine Zeit, sein Gott erscheinen. Das Waage-Bild kann täuschen, wenn man es nur statisch sieht. Verbunden mit dem Frage-Satz und mit voller Akzentuierung des Ich, das fragt, wird die Balance gleichsam zum stemenhaften Ideal eines Lebens, das durch seine eigene Fraglichkeit in den Fragen nicht zur Ruhe kommt und damit die bewegte Buntheit und Fülle seiner Welt gewinnt. Die Lehre der Skepsis, die sich von sich selbst nicht ausnimmt, ist also der Aufgang des Men-schen, der Welt — vielleicht der Gottheit. Freilich wußte Montaigne, daß die Insistenzaufdem Ich, nicht auf seiner Gewißheit, sondern auf seiner Fraglich-keit, ihn aus der Welt der Gelehrten, der Wissenden, der Kenner und Könner ausschloß. Ihnen mußte er wie ein verspäteter Barbar erscheinen, der sein „Que sçay-je?" noch nicht auf die Positivttäten abgestimmt hatte, die schon den Ruhm des alten Wissens ausmachten. Vor diesem Wissen mußte die Ge-burt seiner Welt aus der selbst eingestandenen Dauerfraglichkeit seines Ich phantastisch, chimärisch, sogar grund- und haltlos erscheinen und sein Um-gang mit den Autoritäten ebenso laienhaft wie willkürlich. War Montaigne mit seiner eigenwilligen Betonung des „Que sçay-je?" etwas anderes als ein hem-mungsloser Selbstdenker, ein querulatorischer Autodidakt, ein ungebremster Praktiker autistischer Selbstbespiegelung? Montaigne wußte, wie er sich zu wehren hatte. In dem späten Essay über die Reue („Du repentir") räumt er ein, daß für ihn „die Welt... eine ewige Schaukel" sei („Le monde n'est qu'une branloire perenne." Ill, II, S. 899; dt. S. 285); er gesteht zu, im Selbstbildnis seines Ich nur dessen Erscheinung und keineswegs irgendeine Wesenheit zu erfassen; er konzediert, daß die Dinge ihm immer wieder anders vorkommen (wie er sich selbst ebenfalls) und er ist überaus bereitwillig, sich in Sachen

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Selbsterkenntnis nur als Lernenden und Experimentierenden zu sehen. Aber die Sequenz dieser Ein- und Zugeständnisse vor einem imaginären Tribunal denkbarer Wissensexperten führt ihn nicht zu Selbstdisqualifikation, sondern nimmt eine dramatische und exemplarische Wendung: „Wenn die Leute mir vorwerfen [sc. die Grammatiker, die Dichter, die Rechtskundigen — mit ei-nem Wort: die »Experten'], daß ich zuviel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, daß sie überhaupt nicht über sich selber nachdenken" („il — sc. le monde — ne pense seulement pas à soy"; III, II, S. 900; dt. S. 286). Damit sind die Plätze gewechselt: der Angeklagte in der Rolle des Anklägers. Und der bleibt seine Argumente nicht schuldig. Das Handwerk der Selbsterkenntnis unter dem Symbol der Waage mag den allgemeinen Standards wissenschaftlichen Handwerks nicht genügen. In einem und zwar entscheidenden Grundzug aber teilt und übertrifft sie diese: darin nämlich, daß die wissenschaftlich ge-forderte Vertrautheit mit dem Gegenstand im Experiment der Selbsterkenntnis in einem Maße gegeben ist, die kein Gelehrter zum von ihm traktierten und ihn nicht sonderlich betreffenden Gegenstand haben kann. Unter dem Kriteri-um der Authentizität des Wissens verblaßt das wissenschaftliche Gelehrten-tum. Und Montaigne kann mit guten Gründen sagen, daß er im Thema der Selbsterkenntnis des Ich, in der Rekonstruktion seiner immer wechselvollen Geschichte „der gelehrteste [und weiseste] Mann [sei], den es gibt" („le plus sçavant homme qui vive") — wenn er sich an die Wahrhaftigkeit hält. (Ill, II, S. 900; dt. S. 287)

Das ist nicht nur ein Bravourstück gescheiter und listiger Argumentation, das Montaigne hier bietet, nicht nur ein Einblick in die positive Praxis des „Que sçay-je", sondern ein Einblick in den Stolz anthropologischer Authentizität, die schöpferische Skepsis freisetzt. Der dem dogmatischen Skeptizismus dro-hende Welt- und Selbstverlust wird abgefangen im Urakt der Stiftung eines Selbstvertrauens, das sich nicht plump und borniert beteuert, sondern selbst-kritisch ist, mit dem es sich leben und wohnen läßt, auch wenn das Leben stets neue Überraschungen bereithält und der Wind der Zeiten als Vergänglichkeit in der Geschichte den endlichen Willen zum Wissen nie zur Ruhe der Endgül-tigkeit gelangen läßt. Gegenüber der Wahrheit der Gelehrten ist die positive Bescheidung des Ich auf sich selbst, verbunden mit der Hartnäckigkeit, sich in der Bewegung seines Selbstseins zu ergreifen, nur ein Spiel der Wahrhaftig-keit mit kleinen Wahrheiten — aber auch ein heiterer Triumph des Existierens gegenüber den Verformelungen des Wissens, die offenbar in dem Maße sub-jektiv unbedeutend werden, in dem sie den Anspruch ihrer Allgemeinheit er-heben. Vom Maßstab eindrucksvollen Gelehrtentums befreit und gleichsam zurückgekehrt in die oszillierende Intimität einfachen Daseins mit seinen Fak-tizitäten gewinnt Montaigne Selbstvertrauen, Distanz und vor allem jene Frei-heit für sich', die sich der Stimmungen nicht entschlagen darf, um nicht nur wissend, sondern klug zu sein. Dabei ist sich Montaigne darüber im klaren, daß sein anthropologisches Selbstexperiment, daß seine Selbsterkundung im

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„Que sçay-je?" nicht zu einer demonstrierbaren Welt- und Menschenkunde führt, die — möglichst noch über die Zeiten hinweg — zur Belehrung des Men-schen führen könnte. Und er faßt dieses Wissen in den scheinbar lapidaren Satz: „Ich will nicht belehren, ich will erzählen." („|e n'enseigne poinct, je raconte." IM, II, S. 901; dl. S. 287) Dieses Erzählenwollen, anstelle des Beleh-renwollens ist ebenso konsequent, wie es unterschätzt wäre, wollte man in ihm nur im Unterschied zur Belehrungs- eine Unterhaltungsabsicht sehen. Montaigne kann gar nicht belehren wollen, wenn Lehre sich — gemäß dem aristotelischen Topos — auf Wissen aus (logischen, jedenfalls rationalen) Gründen bezieht und dadurch a priori allgemein ist. Aber er kann sehr wohl erzählen (oder berichten) und sich dadurch eine Ebene der Coexistenz er-schließen, auf der sich sein Experiment der Selbsterkenntnis in anderen fort-setzt und widerspiegelt. Erzählenwollen diesseits und unterhalh der Attitüde der Belehrung, der mit dem „Que sçay-jef" der Boden entzogen ist, ist nicht etwa ein purer Ausdruck der Bescheidenheit von Montaigne, sondern die al-lein übrigbleibende Möglichkeit sich zu vermitteln, wenn die Quelle der Frage und die Geltung der Antworten in der Individualität des Einzelnen verankert ist. Jetzt ist der Modus der Lehre das sich erzählende oder das erzählte Bei-spiel. Das bedeutet: Die Menschenkenntnis wird narrativ, und es wäre in der Tat keine Verkehrung des Satzsinns, wenn man formulieren würde: ,lch kann nicht belehren, ich kann (nur) erzählen.' Das Erzählen ist der didaktische Preis und die didaktische Chance anthropologischer Authentizität.

IV.

Der Vorwurf der Ungelehrtheit, in moderner Denk- und Sprachversion der ,Unwissenschaftlichkeit', verbindet sich immer mit dem Verdacht kruder Sub-jektivität, bedenklicher Autodidaktik und solipsistischer Ich-Abgeschiedenheit. Was ich meine, ist zwar mein — aber auch nur mein. Erst das Ich, das sich zum Subjekt der Intersubjektivität stilisiert, so meint ,man', habe Rede-und Anhörungsrecht vor dem Forum der Weisheit und Wahrheit, und nur dieses von seiner Zufallsgeschichte gereinigte Ich habe — gleichsam fremddidaktisch diszipliniert — auch die Lizenz, sich anthropologisch verlauten zu lassen. Ein Unterfangen wie dasjenige Montaignes in seinen Essais, das Unternehmen einer Selbsterkenntnis, die sich überdies unter dem schwankenden Symbol der Waage sieht, müsse schon deshalb scheitern, weil es sich monologisch verkapsele und über den Reiz der Anekdote nicht hinauskomme. Die Neu-schöpfung der Welt aus den Kontingenzen je-eigener Erfahrung und selbst aus hartnäckiger Selbstbeobachtung, so könnte man zusammenfassen, sei von ideographischer Buntheit, aber ohne nomothetischen Wert. Man könne sich bestenfalls daran erfreuen, aber nichts allgemeines daraus lernen — und zwar schon deshalb nicht, weil Montaigne unverhohlen zugestehe, nicht zu einem klaren Bild (zu einem deutlichen sprachlichen Selbstportrait) von sich zu ge-langen. Das Prinzip der Wahrhaftigkeit in der Geschichte steht dem entgegen.

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— Montaigne freilich sieht es anders — und man ist darauf vorbereitet, wenn man an das Erzählenwollen denkt, das (Montaigne gleichsam zum Trotz) wohl auf das Belehren, nicht aber auf das Lernen im Sinne des Sich-Austauschens verzichtet. Von sich, seinen Erfahrungen, von den Höhen und Tiefen der Selbstbeobachtung, in die die Welt- und Menschenbeobachtung immer schon eingeflochten ist, kann man sinnvollerweise nur dann etwas erzählen wollen, wenn man unterstellen darf, daß andere — in welchem Umfang und mit wel-cher Reaktion auch immer — zumindest etwas verstehen. Man muli also ein elementares Verstandigtsein voraussetzen, eine elementare gemeinsame Be-findlichkeit, ein Zusammenkommen in und über Grundthemen, soll das Er-zahlenwollen nicht zum Schweigen verdammt oder sinnloses Gerede sein. Erst im Blick auf die hintergründige, nicht identisch, aber sich ähnlich bleiben-de conditio humana und durch sie gibt es eine Basisresonanz des Erzählens— und sei es, daß diese Basisresonanz auch nur aus vielerlei Fraglichkeiten be-steht, die sich um Dreh- und Verstehenspunkte praktischen menschlichen Da-seins gruppieren, die kein Denken der Geschichte entreißen kann. Und im Hinblick auf diese Basisresonanz, die so elementare Themen wie .Freund-schaft', .Liebe', .Einsamkeit', ,Sitten', .Altern', .Grausamkeit', .Ruhm', .Dün-kel', .Zorn', .Lebenserfahrung', .Sprache', .Willen', .Recht' und so fort um-spielt, verknüpft, trennt und erneut arrangiert, und zwar noch bevor sie in ge-lehrter Analyse (oder in mythischen Dauerlegenden) systematisiert werden —• im Hinblick auf diese Elementantäten ist Montaignes Erzählenwollen nicht nur stimmig, sondern anthropologisch höchst evident. Er kann sein Erzählenwol-len praktizieren, die Essais einem Publikum vorlegen (das ihm bis heute treu geblieben ist), weil es eine Übereinkunft im Sinne einer Tiefenresonanz gibt— unabhängig davon, wie an der glatten Oberfläche der Intersubjektivitäten über Wahrheiten entschieden wird. Und nur im Hinblick auf diese elementare Übereinkunft gewinnt ein Satz Montaignes seine wirkliche und von jeder Ar-roganz freie Bedeutung — der Satz nämlich: „Caesars Leben ist nicht lehrrei-cher für uns als unser eigenes Leben". (La vie de Caesar n'a poinct plus d'exemple que la nostre pour nous...) (Ill, XIII, S. 1205; dt. S. 362) Im Origi-nal dieses Satzes aber fällt das entscheidende Stichwort: „L'exemple", das Bei-spiel. Montaigne kennt das Schillernde dieses Wortes, weiß um seine Pene-tranz als demonstratives Vorbild oder als Mittel der Abschreckung. Seine In-tention ist jedoch keine vordergründig pädagogische. Sie hat eine radikalere Perspektive, und diese bedeutet; Jedes Leben kann überhaupt nur Beispiel von Leben und nicht unüberbietbare Norm sein. .Beispiel' ist der Name für Coexistenz, die im Horizont der Elementaritäten sich verständigt, damit an kein Ende kommt und deshalb die Mannigfaltigkeit gewährleisten muß, die dem Erzähler, dem Ich, sein Recht gibt.,Beispiel' ist das ,verbum humanuni' und nicht Eingeständnis blasser Relativität. Wenn Caesar nicht mehr Beispiel sein kann als irgendein Mensch zu irgendeiner Zeit für andere, so entspringt diese Feststellung Montaignes keinem Qualifikationsvergleich, sondern der Einsicht, daß es überhaupt kein Mensch zu .mehr' als der beispielhaften Be-

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zeugung der conditio humana bringen kann. Darin liegt das gar nicht geheime Ethos einer manchmal melancholischen, manchmal fröhlichen, manchmal feinsinnigen, manchmal drastischen sich die Welt schöpferisch erzählenden Skepsis, die sich den Wert der Erfahrung durch keine Autorität abhandeln läßt — sowenig wie die fragile Authentizität seines Urteils. Das Gesicht des anthro-pologischen Menschen, so kann man, auf das Eingangsbild zurückkommend, sagen, mag am Strand des Meeres der Geschichte verschwinden, das Wissen um den Menschen mag immer schon zirkelhaft durch ihn selbst in Frage ge-stellt und quälend sein, das Studium des Menschen in objektiver Einstellung mag in Selbstkenntnissen seine Selbsterkenntnis verdunkeln — unbetroffen davon bleibt aus der Sicht und Erfahrung Montaignes jenes Kerninteresse prag-matisch vertrauender und mißtrauender Selbsterkenntnis, durch die sich der Mensch in immer neuen Gestalten in die Geschichte einschreibt und die ihn von seinen Vorgängern und Nachfahren im Modus des Beispiels zugleich trennt und ihn mit ihnen verbindet. Die conditio humana aber schimmert durch alle Gesichter hindurch — ungreifbar beständig in ihren vielfachen Übergängen.

V.

Kein Zweifel, auch die pädagogische Anthropologie und nicht nur die (moder-ne) philosophische kann man im Sog des von Rousseau artikulierten, von Montaigne verspürten Problems ihrer Chancen sehen. Mit kaum zu überbie-tender und bis heute aufschlußreicher Genauigkeit hat Wilhelm von Humboldt — zweihundert Jahre nach Montaigne — den kritischen Ort einer (päd-agogischen) Anthropologie in bildender Absicht markiert. Er warnt (im „Plan einer vergleichenden Anthropologie", Humboldt 1960, S. 337 ff.): die Anthro-pologie als bildende Menschenkenntnis muß sich vor einem „doppelten Feh-ler" hüten, nämlich davor, einen „zu unbestimmten und allgemeinen" oder „einen zu particulairen Begriff von dem Individuum zu bilden", (a. a. O., S. 338) Das heißt: Der Ort einer fruchtbaren Anthropologie liegt zwischen fol-genloser theoretischer Spekulation und borniertem Konkretismus; er liegt gleichsam auf einer praktischen Zwischenlinie, die sich in doppelter skepti-scher Distanz formuliert — einerseits in skeptischer Distanz gegenüber den spekulativen Allgemeinheiten, die vorgeben, endgültig zu wissen, was ,cler Mensch im allgemeinen' ist und sein kann; andererseits aber auch in skepti-scher Distanz zu einer blinden Pragmatik, die die Sache der Menschenkennt-nis gedankenlos dem Zufall preisgibt. In beiden Positionen'stiehlt sich für Humboldt der Mensch aus seiner Fraglichkeit davon, verliert er sich, bringt er sich schließlich um die Chancen seiner Entwicklung. Folglich kommt für Hum-boldt alles darauf an, in einer pädagogisch wirksamen Anthropologie nur Rah-mentypologien, nur Skizzen vorzustellen, die „mit Hülfe eigner Erfahrung wei-ter ausgezeichnet" werden können, (a. a. O., S. 338) — Blickt man von Hum-boldt auf Montaigne, dann sind elementare Denkverwandtschaften bei man-

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cherlei Unterschieden nicht zu übersehen. Humboldt löst das Erbe jenes Vor-behalts ein, das Montaigne von den Pyrrhonisten gelernt und umformuliert hatte: das Erbe des „Que sçay-je?" — den Respekt vor der Unerschöpflichkeil und Fragwürcligkeit des Ich und seiner Welt. Der Pädagoge, aber nicht nur er, sondern auch der Politiker, der Gesetzgeber und jener „Geschäftsmann", der die Geschäfte des Lebens mit Umsicht und Augenmaß betreibt — sie alle be-dürfen nach Humboldt einer Menschenkunde, die gleichweit entfernt ist von den Fallstricken eines bodenlosen Skeptizismus, in dem man mit Kants Wort nicht „wohnen" kann, wie sie auch entfernt sein muß von einem hybriden Dogmatismus, der Wahrheit letztlich als Sicherheit der Gefangenschaft propa-giert. Pädagogische Menschenkunde aber als pädagogische Anthropologie baut sich unablässig in einer Zwischenwelt des Handelns und der Besinnung auf. Sie hat ihren Ursprung in Gemeinsamkeiten und Differenzen von Lebens-erfahrungen, die man nicht über einen Leisten schlagen kann und aus denen dennoch eine tiefe F.lementarität menschlicher Befindlichkeit spricht, eine Elc-mentarität, die — angenommen und nicht wegdefiniert — jeden, den Lehren-den, Lernenden, zu sich im Blick des anderen herausfordert. Pädagogische Menschenkunde als solche Praxis ist immer vorläufig, denn sie gewinnt und formuliert sich am Ort der Geschichte. Wissenschaftliche Erkenntnis und phi-losophische Analysen mögen zur Hilfe kommen, mögen Bedingungen, Ge-sichter, Profile und Ziele zeigen. Ihre Grenze haben Erkenntnisse und Analy-sen an dem „Que sçay-je?". In ihm treffen Bildung und Selbstbildung, Selbsl-kenntnis und Selbsterkenntnis Individualitäten und Existenz bildend zusam-men.

Letztlich wird es sich an der Zulässigkeit und Sinnfälligkeit des „Que sçay-je?" im Sinne Montaignes entscheiden, ob Humboldts Forderung nach Eigentüm-lichkeit ohne Einseitigkeit (vgl. a. a. O., S. 339), die Montaigne so beispielhaft wie hartnäckig erfüllte, zu einer pseudo-idealistischen Leerformel herabsinkt — oder eine neue, revoltierende anthropologische Aktualität erhält. Freilich, die Zeichen stehen dafür offenbar nicht gut. Auch wenn man sich von Fou-caults Bilanz-Bild nicht beeindrucken läßt, wenn man sich Heideggers anthro-pologischer „Sperrklausel" nicht unterwirft (vgl. Plessner 1976, S. 180), wenn man sich von Rousseaus Zweifel an der wahren Effektivität des Menschenstu-diums nicht zur Resignation bringen läßt — auch dann kann man dem Ein-druck schlecht widerstehen, daß die Selbstfraglichkeit neuzeitlicher Anthro-pologie als deren Grundmotiv allmählich intersubjektiv verödet. Ein Denken in Strukturen, Systematizitäten, Vernetzungen breitet sich aus und dement-sprechend ein Handeln in Operationen, Dispositionen, Regelmetrien und ge-mäß hyperrealen Codierungen, in denen Anthropologien — und pädagogi-sche zumal — sich wie Restbestände eines überholten Denkens ausmachen. Anthropologische Selbstanfragen sind anscheinend vorzüglich zu Themen für Experten und Therapeuten geworden. Menschenkenntnis scheint psycholo-gisch trainierbar und im Versagensfall auch reparierbar zu sein. Und das Ich,

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das Montaigne so sehr zu schaffen machte im Spiel von Entdeckung und Ver-bergung und das Humboldt zur Selbstbildung im Zeichen der Menschheitsidee freisetzen wollte — dieses Ich verliert, glaubt man kenntnisreichen Auguren, ständig an Resonanz und entlarvt sich dabei als schlichter Mythos, also als Fiktion. Aber abgesehen davon, daß die Ich-Fiktion gebraucht wird, um sie zu formulieren: Das Ende der Anthropologie wird solange nicht besiegelt sein, wie Menschen um ihre Existenz kämpfen müssen. Anthropologie wird, selbst wenn sie sich in ihren Wissenspositivitäten erschöpfen sollte, solange als vitale Frage nicht erschöpft sein, wie menschliches Leben von praktischen Antworten abhängt, in denen es sich und seine Welt entwirft; sie wird im „Que sçay-je?" sich solange nicht preisgeben können, wie die Ambivalenzen des Ich faktisch durchmächtigt sind vom leibhaftigen Spiel um Leben und Tod. Man kann überlegen, ob das Gesicht im Sand sich ändern wird (es wird sich ändern), man kann anthropologische Wissenschaft in der Skepsis, die sie mit hervorbrachte, verlorengehen sehen — undenkbar ist die Auflösung des elementaren anthropologischen Selbstverhältnisses, als das der Mensch existiert und auf dessen Grund die wuchernden End-Theorien allererst möglich sind. Daß der Mensch sich selbst ins Gesicht sehen muß, um ein Gesicht zu haben, und daß er ohne Gesicht nicht Mensch ist, wie immer er sich damit gefallen möge, das ist die entscheidende Erzählbotschaft Montaignes, der entscheidende und überdauernde Inhalt des „Que sçay-je?".

Zitiert wurde nach folgenden Ausgalxn:

Michel de Montaigne: Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet. Bibliothèque de la Pléiade. Publiée à la Librairie Gallimard. Réimprimé a Bruges 1953.

Michel de Montaigne: Die Essais. Ausgewiihlt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Reclams Universal-Bibliothek. Stuttgart 1969.

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Koppen (Les mots et les choses. Editions Galli-mard 1966). suhrkamp tb 1974.

Hugo Friedrich: Montaigne. Bern. 2. Aufl. 1967.

Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1973.

Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: W. v. Humboldt, Werke in fünf Bänden I, Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Darmstadt 1960.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Aus-gabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt. PhB Hamburg 1976.

Helmuth Plessner: Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, suhrkamp tb 1976.

Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l'inégalité. Kriti-sche Ausgabe des integralen Textes. Mit sämlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn 1984.

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