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1. Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800, aus- gewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt, Transformationen der Antike 10 (Berlin & New York: Walter de Gruyter 2009). 2. Übersetzung und Transformation, hg. von Hartmut Böhme, Christof Rapp, Wolfgang Rösler, Transformationen der Antike 1 (Berlin & New York: Walter de Gruyter 2007); Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahr- hundert, hg. von Martin Harbsmeier, Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt, Transformationen der Antike 7(Berlin & New York: Walter de Gruyter 2008). Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz and Nina Mindt, Theorie der Übersetzung an- tiker Literatur in Deutschland seit 1800, Transformationen der Antike 9 (Berlin & New York: Walter de Gruyter, 2009), IX + 435 pp. Der vorliegende, mit einem Vorwort von Wolfgang Rösler und Ulrich Schmit- zer versehene Band ist aus dem Teilprojekt „Übersetzung der Antike“ im Rah- men des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen. Er steht in enger Beziehung zu dem Band Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutsch- land seit 1800 1 , in dem die wichtigsten der von Kitzbichler, Lubitz und Mindt untersuchten Arbeiten abgedruckt sind. Zuvor schon waren in derselben Buchreihe die Tagungsbände Übersetzung und Transformation und Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert er- schienen 2 , in deren Vorworten zugleich über den Sonderforschungsbereich insgesamt informiert wird. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert trat in Deutschland ein Pa- radigmenwechsel bei der Übersetzung griechischer und römischer Literatur ein, der sich vor allem in der Abkehr von dem rhetorischen, an der Zielspra- che orientierten Modell der Übersetzung und in der Hinwendung zu einem © Springer Science+Business Media B.V. 2010 International Journal of the Classical Tradition, Vol. 17, No. 4, December 2010, pp. 584-595. Ein Handbuch zur Geschichte der Übersetzungstheorie DOI 10.1007/s12138-010-022 - 14

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1. Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800, aus-gewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Josefine Kitzbichler,Katja Lubitz, Nina Mindt, Transformationen der Antike 10 (Berlin & New York:Walter de Gruyter 2009).

2. Übersetzung und Transformation, hg. von Hartmut Böhme, Christof Rapp, WolfgangRösler, Transformationen der Antike 1 (Berlin & New York: Walter de Gruyter2007); Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahr-hundert, hg. von Martin Harbsmeier, Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz, Nina Mindt,Transformationen der Antike 7 (Berlin & New York: Walter de Gruyter 2008).

Josefine Kitzbichler, Katja Lubitz and Nina Mindt, Theorie der Übersetzung an-tiker Literatur in Deutschland seit 1800, Transformationen der Antike 9 (Berlin& New York: Walter de Gruyter, 2009), IX + 435 pp.

Der vorliegende, mit einem Vorwort von Wolfgang Rösler und Ulrich Schmit-zer versehene Band ist aus dem Teilprojekt „Übersetzung der Antike“ im Rah-men des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“ an derHumboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen. Er steht in enger Beziehungzu dem Band Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutsch-land seit 18001, in dem die wichtigsten der von Kitzbichler, Lubitz und Mindtuntersuchten Arbeiten abgedruckt sind. Zuvor schon waren in derselbenBuchreihe die Tagungsbände Übersetzung und Transformation und Übersetzungantiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert er-schienen2, in deren Vorworten zugleich über den Sonderforschungsbereichinsgesamt informiert wird.

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert trat in Deutschland ein Pa-radigmenwechsel bei der Übersetzung griechischer und römischer Literaturein, der sich vor allem in der Abkehr von dem rhetorischen, an der Zielspra-che orientierten Modell der Übersetzung und in der Hinwendung zu einem

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International Journal of the Classical Tradition, Vol. 17, No. 4, December 2010, pp. 584-595.

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auf die Ausgangssprache ausgerichteten, die kulturelle Fremdheit und sprach-liche Individualität der Texte betonenden Modell äußerte. Dabei entstanden– meist im Zusammenhang mit eigenen Übertragungen – auch erstmals Theo-rien der Übersetzung: Theorien, die in der Folgezeit – teils systematisch, teilseher kursorisch als Reflexionen im Rahmen übersetzerischer Praxis – ausge-baut, auf verschiedene Weise modifiziert oder in Frage gestellt wurden. Zielder vorliegenden Publikation ist es, „diese prominenten Theorieentwürfe hi-storisch-deskriptiv darzustellen, die Linien, die zwischen ihnen verlaufen, zuverfolgen, die Diskussionszusammenhänge, in denen sie standen, sichtbar zumachen und sie so in literatur-, philologie- und sozialgeschichtliche Kontexteeinzubetten“. (S. 1)

In der Einleitung (S. 1-12) informieren die Verfasserinnen klar und präziseüber Anliegen und Leitgedanken ihrer Arbeit. Sie stellen zunächst die äußerstheterogenen Textsorten vor, die ihrer Analyse zugrunde liegen – eigenstän-dige theoretische Arbeiten, zu Übersetzungen gehörende Paratexte (wie Vor-und Nachworte), Übersetzungsreflexionen in literaturgeschichtlichen Arbei-ten, Rezensionen zu Übersetzungen, Übersetzungsreflexionen innerhalb un-terschiedlicher methodischer und theoretischer Schriften sowie Varia(Aphorismen, biographische und autobiographische Dokumente, Briefe, In-terviews oder fiktionale Texte) –, und betonen deshalb die Notwendigkeit,alle Aussagen in ihrem jeweiligen Kontext zu sehen und von einem ‚weiten’Theoriebegriff auszugehen, der über systematische Abhandlungen hinausauch mehr oder weniger sporadische Äußerungen umfaßt. Des weiterenheben die Verfasserinnen die epochale Bedeutung der Homer-Übersetzungvon Johann Heinrich Voß, die Sonderrolle der alten Sprachen, namentlich desGriechischen, innerhalb der neueren Übersetzungstätigkeit sowie den Primatder Versdichtung – und damit die besondere Berücksichtigung metrischer Fra-gen – hervor. (Allerdings spielt auch die Kunstprosa, etwa Platons und Cice-ros, eine wichtige Rolle.)

Schließlich wird in der Einleitung eine Periodisierung der Überset-zungstheorie in Deutschland seit 1800 vorgenommen und damit auch die Dis-position des Bandes vorgestellt. Der erste – von Josefine Kitzbichleruntersuchte – Zeitraum umfaßt die Jahre bis zum Ende der klassisch-roman-tischen ‚Kunstperiode’ und den ‚Vormärz’; der zweite – analysiert von KatjaLubitz – reicht von der Mitte des 19. bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts;zur dritten Periode – deren Darstellung Nina Mindt unternommen hat – zähltdie Zeit von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart.

Die Ausführungen zum ersten und zweiten Zeitraum sind, inhaltlich wiemethodisch, ebenso klar und überzeugend gehalten wie die Einleitung; diezur dritten Periode hingegen zeugen von der Schwierigkeit, Entwicklungender jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart adäquat zu erfassen, undwerfen hinsichtlich sowohl der historischen Fundierung als auch der Dispo-sition des Materials einige Fragen auf.

Kitzbichler nennt als Charakteristika des übersetzungstheoretischen Pa-radigmenwechsels um 1800 das Postulat der Treue gegenüber dem Originalbei gleichzeitiger Akzeptanz von dessen Fremdheit, die Orientierung an derAusgangssprache und die weitgehende Übernahme der antiken Versmaße.Zu Recht ordnet sie diese Neuorientierung ein in die vor allem durch Winckel-mann initiierte Entwicklung des deutschen Klassizismus mit seiner Priorität

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der griechischen gegenüber der römischen Antike, seiner Hochschätzung derkünstlerischen Form und seiner inneren Spannung zwischen Normativitätund Historizität. Nachdrücklich hebt sie auch die engen Bindungen zwischenDichtung, Übersetzung und Philologie hervor. (S. 15-35)

Als wegweisend interpretiert die Verf.n die Übersetzung der beiden homerischen Epen durch Johann Heinrich Voß aus dem Jahre 1793 – die Erst-fassung der Odyssee-Übersetzung von 1781 ist zwar nicht „[ü]bersetzungsge-schichtlich“ (S. 18 [Hervorhebung: V. R.]), wohl aber übersetzungstheoretischweniger relevant. In diesem Zusammenhang erfährt auch Vossens oft als „Irr-tum des Klassizismus“ verspottetes Buch Zeitmessung der deutschen Sprache(1802) eine verdiente Aufwertung; denn es sei ein „Versuch […], das deutschePrinzip des Akzents um ‚musikalische’ Elemente von Tonhöhe und Rhyth-mus zu ergänzen und damit eine Synthese zwischen antikem und modernemVers zu erreichen“. (S. 23)

Die eigentliche „Begründung moderner Übersetzungstheorie“ (S. 19)wird vor allem an drei Autoren analysiert: an Karl Wilhelm Ferdinand Solger,der in der Vorrede zum ersten Band seiner Sophokles-Übersetzung von 1808ausführte, daß eine Übersetzung „ein altes Kunstwerk, so wie es im Alter -thum selbst in allen seinen Beziehungen zu seiner Zeit da war, uns durchunser eigenthümliches Organ wieder zur lebendigen Anschauung bringen“soll (S. 46-52 [Zitat S. 50]); an Friedrich Schleiermacher, der in seiner Akade-mierede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens von 1813 (Erstdruck1816) – in der er sich (ohne dies zu erwähnen) auf die praktischen Erfahrungseiner Platon-Übertragung stützen konnte – die Übersetzung einerseits vombloßen Dolmetschen und andererseits von der Paraphrase und Nachbildungunterschied (S. 53-63); an Wilhelm von Humboldt, der in der Vorrede zu sei-ner Übertragung des Aischyleischen Agamemnon aus dem Jahre 1816 die obenerwähnten Merkmale des neuen Übersetzungsverständnisses am prägnante-sten formulierte und dabei das Übersetzen zwar für unmöglich, zugleich aberauch für notwendig erklärte, um Sprachunkundigen die Kenntnis fremder Li-teraturen zu ermöglichen und um „zur Erweiterung der Bedeutsamkeit undder Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache“ beizutragen. (S. 64-72 [Zitat S.70])

Kitzbichler weist darauf hin, daß Solger und Schleiermacher an roman-tisches Gedankengut anknüpfen (S. 29), und beleuchtet auch die Impulse, dievon den Frühromantikern, vor allem von August Wilhelm und FriedrichSchlegel, auf den übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsel ausgingen(S. 36-45). Ob freilich Goethes an Voß exemplifizierte und mit Schleiermacherund Humboldt korrespondierende Bevorzugung des ausgangssprachlich ori-entierten Übersetzens in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnisdes West-östlichen Divans (entstanden von 1816 bis 1818) damit erklärt werdenkann, daß er sich jetzt dem „romantischen Diskurs“ anschloß, während ernoch wenige Jahre zuvor – 1813 – in der Gedenkrede Zu brüderlichem Anden-ken Wielands mit seiner Sympathie für das zielsprachliche Modell „auf demBoden des rationalistischen 18. Jahrhunderts“ stand (S. 36), erscheint mir frag-lich; hier dürften wohl eher die unterschiedlichen Textsorten (Nachruf bzw.Bildungsprogramm) ausschlaggebend sein. Im weiteren Verlauf der Unter-suchung treten im Hinblick auf Goethes in beiden Schriften vorgenommeneTypologisierung mehrerer Übersetzungsarten die konträren Aussagen sogar

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in den Hintergrund. (S. 43-45)3 Es mag überraschend wirken, daß die Verf.nnicht auf die übersetzungstheoretischen Überlegungen Friedrich Hölderlinseingeht; da diese aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts stärker beachtetwurden, ist es begründet, sie auch erst im Zusammenhang mit dieser Zeit zubehandeln.

Das Ende der ‚Goethezeit’ bedeutete, wie Kitzbichler entgegen der land-läufigen Meinung überzeugend herausarbeitet, keineswegs ein „Ende derÜbersetzungstheorie“ (S. 73-79) – wenn auch die Debatten weniger program-matisch und theorie-intensiv waren. Dabei wurden einerseits – im Zeicheneines generellen Bedeutungsverlusts der Antike und einer allgemeinen Ab-grenzung von den Maximen des ‚Kunstzeitalters’ – beträchtliche Modifizie-rungen vorgenommen, andererseits aber die älteren Übersetzungstraditionendurchaus erfolgreich weitergeführt. Die Verf.n unterscheidet für die Zeit zwi-schen 1830 und 1850 drei Varianten. Am weitesten ging die Entfernung vonden klassizistischen Überlegungen der vorangehenden Phase in der Konzep-tion der „deutschen“ und „poetischen“ Übersetzung, wie sie vor allem vonLudwig Seeger in der Epistel an einen Freund – dem Vorwort zum ersten Bandseiner Aristophanes-Übersetzung von 1845 – vertreten wurde. Seeger zielteauf eine politische Deutung der antiken Autoren und auf eine unmittelbareWirkung der Übersetzungen in der Gegenwart; das Prinzip der Sprachmi-metik und die Übernahme der antiken Versmaße lehnte er ab. (S. 80-87) EineArt ‚Mittelweg’ zwischen sprachmimetischer und eindeutschender Überset-zung gingen unter anderen Johann Gustav Droysen und August Boeckh, diesich in den Vorreden zur Aischylos- und Aristophanes-Übersetzung von 1832und 1835 bzw. im Zusammenhang mit der Übertragung der SophokleischenAntigone (1843) zu übersetzungstheoretischen Fragen äußerten. (S. 88-94)Schließlich finden sich auch Zeugnisse einer historischen Rückbesinnung undeines neuen Formbewußtseins, die sich einerseits in Arbeiten zur Geschichtedes Übersetzens (Friedrich Wilhelm Riemer und Robert Prutz), andererseits ineiner Restitution des metrischen Prinzips (bei Johannes Minckwitz und OttoFriedrich Gruppe sowie – ohne theoretische Reflexion – in den zahlreichenÜbersetzungen Johann Jakob Christian Donners) niederschlugen. (S. 95-111)

Die Divergenzen innerhalb der übersetzungstheoretischen Positionen, die sichseit den 1830er Jahren abzeichneten, haben sich nach der Mitte des 19. Jahr-hunderts verstärkt. Als kennzeichnende Merkmale des von ihr untersuchtenZeitraums führt Katja Lubitz an: die Orientierung an den Bildungsvorausset-zungen und dem Geschmack eines sich verbreiternden Publikums (nament-lich auch von Leserinnen), die Übersetzungstätigkeit von Schriftstellern, denEinfluß schulischer Belange, die Akzeptanz von Übersetzungen durch Philo-logen und Diskrepanzen zwischen Philologie und Literatur.

Die Verf.n stellt zunächst die wichtigsten Übersetzungsreihen vor, diesich ausschließlich oder vornehmlich der griechischen und römischen Litera-tur widmeten und die sich zwar im großen und ganzen an die Vorgaben der

3. Vgl. Volker Riedel, „Ein ‚Grundschatz aller Kunst’. Goethe und die VossischeHomer-Übersetzung“, in: International Journal of the Classical Tradition 8(2001/2002), S. 522-563, hier S. 550-553 [Wiederabdruck in: Riedel, Literarische An-tikerezeption zwischen Kritik und Idealisierung. Aufsätze und Vorträge, Band III, JenaerStudien 7 (Jena: Bussert & Stadeler 2009), S. 188-228, hier S. 205-206].

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klassisch-romantischen Periode hielten – beispielhaft hierfür sind Minckwitzund Donner, deren Schaffen sowohl die Zeit vor wie die Zeit nach 1848 um-faßte –, im einzelnen aber oft auf die Übernahme der antiken Versmaße ver-zichteten und das Prinzip der Treue gegenüber dem Original und derBeachtung von dessen Fremdheit zugunsten der Verständlichkeit für die zeit-genössischen Leser auflockerten. Als die letzten, bis weit ins 20. Jahrhunderthinein wirkenden Übersetzer in der Tradition dieser Reihen werden LudwigGurlitt und Hans Bogner genannt. (S. 117-129)

Ebenso am Publikum orientiert, aber weniger philologisch als literarischausgerichtet und ganz in der Art der eigenen Dichtungen gehalten sind dieLyrik-Anthologien, die von Schriftstellern ausgewählt und mit Vorworten ver-sehen worden sind und die teils aus eigenen, teils aus überarbeiteten Über-setzungen anderer Autoren bestehen – insbesondere Eduard Mörikes schon1840 erschienene Classische Blumenlese und seine Ausgaben des Theokrit, Bionund Moschos sowie der anakreontischen Dichtungen (1855 und 1864) oderEmanuel Geibels Classisches Liederbuch von 1875. Noch stärker von den um1800 entwickelten Prinzipien lösten sich die Schweizer Literarhistoriker EmilErmatinger und Rudolf Hunziker in der Anthologie Antike Lyrik in modernemGewande (1898); sie forderten, daß „der Übersetzer die poetischen Gedanken,den poetischen Inhalt der alten Dichtungen im Geist der Gegenwart neu emp-finden“ müsse. (S. 130-147 [Zitat S. 146]) Eine ähnliche Entwicklung wie inder Lyrik vollzog sich in der Dramatik und in der Epik: Adolf Wilbrandt –von 1881 bis 1887 Direktor des Wiener Burgtheaters – achtete in seinen Über-setzungen mehrerer Sophokleischer und Euripideischer Tragödien vor allemauf die Bühnenwirksamkeit, und Wilhelm Jordan suchte bei der Übertragungder homerischen Epen (1875 und 1892) einen ‚Mittelweg’ zwischen wörtli-chem und freiem Übersetzen. (S. 148-159) Lubitz’ Resümee lautet, daß „sichdas allgemeine Interesse an antiker Literatur im Laufe des 19. Jahrhundertsimmer stärker von der Form auf die Wirkung verlagert“. (S. 158)

Es schließt sich ein längeres Kapitel „Übersetzungstheorie und Schulpo-litik“ an, in dem die Auswirkungen des jahrzehntelangen Streits zwischenden Verfechtern des altsprachlich ausgerichteten humanistischen Gymnasi-ums und den Anhängern der naturwissenschaftlich-neusprachlich orientier-ten Realgymnasien und Oberrealschulen auf die übersetzungstheoretischeDiskussion verfolgt werden. In ihrer ebenso präzisen wie differenzierten Zu-sammenfassung konstatiert Lubitz, daß die Vertreter der humanistischenRichtung sich einerseits auf die Autorität Humboldts beriefen – insbesondereauf seine Auffassungen über die Verschiedenartigkeit der Sprachen und dieUnmöglichkeit des Übersetzens –, um damit die Sonderstellung (und die Pri-vilegien) des altsprachlichen Unterrichts zu begründen, daß sie sich aber an-dererseits von der noch in den 1850er Jahren (etwa bei Tycho Mommsen)bevorzugten vers- und wortgetreuen Nachbildung abwandten und – ebensowie die in den vorhergehenden Kapiteln behandelten Autoren – eher „zu einerfreieren, zielsprachenorientierten und auf Wirkungsäquivalenz bedachtenÜbersetzung“ bekannten (Julius Keller, Paul Cauer, Carl Bardt und andere). (S.161-179 [Zitat S. 179])

Der Übergang von einer die Fremdheit des Originals abbildenden zueiner einbürgernden Übersetzung war auch für die philologische Wissen-schaft charakteristisch. Während Gelehrte wie Gottfried Hermann, August

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Boeckh und Moritz Haupt die Übersetzung allenfalls als ein Randgebiet derPhilologie akzeptiert hatten, fand sie seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr-hunderts zunehmend Anerkennung – etwa bei Rudolf Westphal, Jacob Ber-nays, Adolf Kiessling, Otto Crusius, Eduard Norden und Hermann Diels(dessen Lukrez-Übersetzung eine wichtige Brücke zwischen Philologie undmoderner Naturwissenschaft schlug und von Albert Einstein mit einem Ge-leitwort versehen wurde). Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung beiUlrich von Wilamowitz-Moellendorff, der nicht nur zahlreiche griechischeTragödien übertragen, sondern sich in der erstmals 1891 erschienenen Ab-handlung Was ist übersetzen? auch ausführlich mit übersetzungstheoretischenFragen beschäftigt hat. Wilamowitz ging es vor allem um das Verstehen derantiken Texte und um deren Vermittlung an das zeitgenössische Publikum;sein Anliegen war nicht eine Wort-, sondern eine Wirkungsäquivalenz. Er ver-zichtete auf die Übernahme der Versmaße und zielte auf eine Art intuitiverEinfühlung. (Ähnlich brachte auch Eduard Norden in seine Übersetzung dessechsten Gesangs der Vergilischen Aeneis von 1903 „das schwere Opfer derstrengen metrischen Geschlossenheit“, um damit „Freiheit für die Reproduk-tion der Stimmungen“ zu gewinnen. [S. 192]) Stilistisch suchte Wilamowitzsich vor allem an der Sprache der deutschen Klassik zu orientieren. (S. 181-207)

Obwohl seine Übersetzungen häufig gespielt wurden und offenbar demGeschmack des bürgerlichen Publikums in der wilhelminischen Ära entspra-chen, haben spätere Kritiker das allzu Zeitverhaftete, das Epigonale und insbesondere die Vermischung verschiedener Stilschichten bemängelt. Wi-derspruch erhob sich aber auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – undzwar dezidiert von Schriftstellern und unter Berufung auf literarische Vorbil-der. In dem Kapitel „Übersetzen als schöpferischer Prozeß“ geht die Verf.nzunächst auf die Kritik an Wilamowitz bei Rudolf Borchardt und im George-Kreis ein. (Die Kontroversen zwischen Borchardt und Stefan George sowiederen jeweiligen Anhängern spielen in dieser Hinsicht keine Rolle.) In DasGespräch über Formen (1901, gedruckt 1905) wirft Borchardt seinem Gegnermangelnde Formensensibilität vor, auf Grund deren dieser zwar ein Kunst-werk äußerlich wahrnehmen und beschreiben, nicht aber in seiner Bedeutungerfassen und in eine andere Sprache übertragen könne. Es komme jedoch dar-auf an, daß zwischen Autor und Übersetzer eine Seelenverwandtschaft be-stehe, daß das neue Werk eine lebendige Verbindung zu dem alten habe unddaß der Ton der Übersetzung Affinitäten zum Ton des Originals erkennenlasse. Ganz in derselben Art polemisierte Kurt Hildebrandt in seinem AufsatzHellas und Wilamowitz (1910) gegen „die Anpassung an den Publikumsge-schmack und die Vermittlung eines trivialen Antikebildes“ sowie gegen „dieMissachtung […] der sprachlichen und formalen Eigenschaften des Original-textes“. Ähnlich argumentierten Friedrich Gundolf und Karl Gustav Voll-möller. Mit Recht weist die Verf.n auch darauf hin, daß diese Autoren in ihrerForderung, die Distanz zum Original zu wahren und dessen Fremdheit auchfür den Leser spürbar zu machen, im Unterschied zu den Gepflogenheitender zeitgenössischen Philologie an die übersetzungstheoretischen Ansätze um1800 anknüpften. (S. 209-220 [Zitate S. 216 und 218])

In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß nun auch die Über-setzungstheorie und -praxis Friedrich Hölderlins in den Blickpunkt traten.

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Sowohl Borchardt als auch Hildebrandt hatten auf dessen ein Jahrhundertlang unbekannte oder verkannte Übersetzungen hingewiesen – und nament-lich Norbert von Hellingrath hat mit seiner Erstausgabe der Pindar-Übertra-gungen und mit den dazugehörigen Prolegomena (1910) nachdrücklich dieBedeutung dieses Dichters aus dem Umfeld der deutschen Klassik und Ro-mantik hervorgehoben. Es wurde nunmehr erkannt, daß die Härte und Dun-kelheit des Hölderlinschen Stils (trotz mancher sprachlicher Irrtümer) demOriginal durchaus adäquat war und dessen Kunstcharakter und innerer Formentsprach. (S. 221-229) Als Alternative zu dem Übersetzungskonzept von Wi-lamowitz entwickelte Borchardt seit der Mitte der 1920er Jahre ein Programmder „schöpferischen Restauration“, mit dem er „zu üblichen Hörgewohnhei-ten und bereits vorgeprägten Übertragungsmodellen“ Abstand zu gewinnenund „die historischen Brüche und Risse aufzuspüren“ suchte. Ihm schlossensich bis zu einem gewissen Grade Rudolf Alexander Schröder und Hugo vonHofmannsthal an – allerdings nahm Schröder, bei aller Orientierung am Aus-gangstext, mehr Rücksicht auf den Leser, und Hofmannsthal hat nicht Über-setzungen, sondern Bearbeitungen griechischer Tragödien (im Grunde wohleher Adaptationen griechischer Stoffe) geschaffen, ist also in erster Linie alseigenständiger, schöpferischer Dichter zu sehen. (S. 229-235 [Zitat S. 232])

Der dritte Abschnitt des Buches beginnt mit einem „Überblick“ über die„Übersetzungstheorie seit 1927“. Wie es schon in der Einleitung heißt, ist diesePeriode „durch eine große Pluralität der Methoden und Theorieansätze“ cha-rakterisiert und kann deshalb „durch eine linear chronologische Gliederungnur bedingt“ erfaßt werden (S. 11), so daß der von Mindt gewählten „Verbin-dung von chronologischem Nachvollzug und thematisch-systematischer Glie-derung“ grundsätzlich zuzustimmen ist – allerdings stellt sich konkret heraus,daß der Überblick zum einen auf einigen problematischen Entscheidungenberuht und zum anderen nicht immer mit den darauffolgenden Ausführun-gen korrespondiert.

Dies zeigt sich bereits bei der Fixierung des Beginns dieser Periode auf einbestimmtes Jahr. Derartige Festlegungen sind bei kulturgeschichtlichen Ent-wicklungen sehr selten möglich – und auch im vorliegenden Fall ist es rechtfragwürdig. 1927 ist das „Jahr des ersten dezidiert übersetzungstheoretischenBeitrages von Wolfgang Schadewaldt“ – doch so richtig es ist, dessen Kon-zeption der „dokumentarischen Übersetzung“ in den Mittelpunkt des ge-samten Abschnitts zu stellen, kann doch nicht übersehen werden, daß dieseKonzeption erst in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ausgearbeitet wurdeund die Berliner Antrittsvorlesung als Privatdozent noch keineswegs von sowegweisender Bedeutung war, wie es die Gliederung dieses Zeitabschnittssuggeriert, daß bereits vor 1927 Arbeiten zum Problem des Übersetzens er-schienen sind (Eduard Fraenkel 1919, Otto Regenbogen 1926) und daß auseiner Art ‚Systemzwang’ heraus die Überlegungen Rudolf Alexander Schrö-ders, die in den Fragestellungen der vorhergehenden Periode wurzeln undkeineswegs in der Nachfolge Schadewaldts stehen, jetzt erst behandelt wer-den. (Lubitz hat zwar das Jahr 1927 als Endpunkt ebenfalls im Titel genannt,dies aber in ihren Darlegungen souverän ignoriert und nicht nur BorchardtsArbeiten nach diesem Zeitpunkt einbezogen, sondern auch Wesentliches zuSchröder gesagt.)

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Dem „Überblick“ zufolge wird in dem Kapitel „Übersetzung zwischenKunst und Wissenschaft“ die Zeit von 1927 bis in die fünfziger Jahre behan-delt; erst in den sechziger Jahren sei es „zu einem durch den Generationen-wechsel entscheidend mitbedingten Umbruch an gesellschaftlichenWertvorstellungen und wissenschaftlichen Paradigmen“ gekommen. Im Jahre1960 habe „zudem“ die Grundsatzdebatte zwischen Wolfgang Schadewaldtund Emil Staiger über „dokumentarisches“ oder „transponierendes“ Über-setzen stattgefunden. Andere Strategien seien in dem Kapitel „Überset-zungsreflexionen zu antiken Dramen seit 1945“ zu untersuchen. Für die„übersetzungstheoretischen Positionen in der DDR“ werde „aufgrund derkulturpolitischen Bedingungen“ ein eigenes Kapitel erforderlich. Schließlichseien noch „die widersprüchlichen Tendenzen“ in den „Übersetzungsrefle-xionen seit den sechziger Jahren“ aufzuzeigen. (S. 239-240 [Zitate S. 239])

Daß in dem Kapitel „Übersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft“von Schadewaldt nur der Vortrag aus dem Jahre 1927 behandelt, die eigentli-che Entwicklung seiner Übersetzungstheorie und -praxis zwischen 1950 und1974 aber im Rahmen des darauffolgenden Kapitels nachgezeichnet wird, istnicht unbedingt zu erwarten, aber von der Sache her durchaus akzeptabel.Vollauf berechtigt ist (wenngleich das Wort „zudem“ irritierend wirkt), daßder übersetzungstheoretischen Kontroverse zwischen Schadewaldt und Stai-ger ein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Hingegen wird der angekündigteprogrammatische „Umbruch“ der sechziger Jahre in der Übersetzungstheorieund -praxis nirgends recht deutlich. Die Formulierungen „seit 1945“ und „seitden sechziger Jahren“ (von denen her auf einen derartigen „Umbruch“ ge-schlossen werden könnte) sind ziemlich unscharf – und tatsächlich werdenin dem einen Kapitel Arbeiten aus der Zeit von 1940 bis 2000 vorgestellt, in-nerhalb deren der Neuansatz der sechziger Jahre nur implizit und eher ver-steckt zum Ausdruck kommt, und das andere Kapitel behandelt keinepolitisch oder wissenschaftlich grundlegenden Neuansätze.

Problematisch sind auch die Darlegungen zu den übersetzungstheoreti-schen Reflexionen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) – so-sehr es anzuerkennen ist, daß davon überhaupt Kenntnis genommen wurde.Angesichts des Verlaufs der deutschen Geschichte zwischen 1945 und 1990wäre es angemessen gewesen, entweder den politischen Gegebenheiten Rech-nung zu tragen und Bundesrepublik Deutschland (BRD) und DDR getrenntzu behandeln oder von den historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten aus-zugehen und sie im Gesamtzusammenhang zu erfassen. Bedenklich aber istes, die Übersetzungen aus der DDR separat neben eine allgemeine Entwick-lung in „Deutschland“ zu stellen (wozu dann unreflektiert auch noch Öster-reich und die deutschsprachige Schweiz gerechnet werden).

Als charakteristisch für die übersetzungstheoretischen Überlegungenzwischen den zwanziger und den fünfziger Jahren – Mindt bezieht sich hieraußer auf Schadewaldts Vortrag von 1927 und auf Schröder insbesondere aufWolfgang Schildknecht, Rudolf Bayr, Richard Newald, Bruno Snell, Otto Re-genbogen und Horst Rüdiger – zeichnen sich generell eine Distanzierung vonWilamowitz und eine (ausdrückliche oder stillschweigende) Hinwendung zuPrinzipien Borchardts und des George-Kreises ab, also eine Höherbewertungder künstlerischen Form und der Originaltexte. Hinzu kam ein besonderesVerantwortungsbewußtsein für die deutsche Sprache – insbesondere Rüdiger

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forderte in dem Aufsatz Zur Problematik des Übersetzens (1938) eine „doppelteTreuepflicht“ gegenüber der „ursprüngliche[n] Dichtung“ wie gegenüber der„Muttersprache“. (S. 241-271 [Zitat S. 270])

In einem nur eine Seite umfassenden Exkurs „Übersetzung im ‚DrittenReich’“ (S. 248) stellt die Verf.n fest, daß die nationalsozialistische Ideologie„keine unmittelbare Veränderung in der Übersetzungstheorie“ gebracht habe.Dies trifft auf die Prinzipien selbst zu – doch geht aus den Biographien meh-rerer Übersetzer hervor, wie eng sie mit der Kulturpolitik der Nazis verfloch-ten waren, und die Begründung ihrer Arbeiten mit dem „Deutschen Geist“,dem „deutschen Formwillen“ und dem „Zusammenhang von Deutschtumund Antike“ (S. 250 und 269) sollten nicht euphemistisch als „zeittypische [ ]Terminologien“ und „‚Sprachgewohnheiten’ der Zeit“ abgetan werden.

Das Kapitel „Dokumentarische und transponierende Übersetzung“nimmt das Symposion „Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung“, dasder Artemis-Verlag 1960 veranstaltet hatte, als Ausgangspunkt, um die Kon-zeptionen der Hauptreferenten Staiger und Schadewaldt vorzustellen. Wäh-rend Staiger mit seiner Auffassung von „transponierendem Übersetzen“ vomPrimat der Zielsprache ausging – allerdings mit größerer Achtung vor demOriginal als Wilamowitz –, hat Schadewaldt mit der Theorie des „dokumen-tarischen Übersetzens“ sowie mit zahlreichen Übertragungen aus dem Grie-chischen wieder der Ausgangssprache stärkere Bedeutung zuerkannt. Erkonnte damit an Überlegungen aus der Zeit um 1800 anknüpfen – mit demUnterschied, daß er nicht nur auf die Übernahme der antiken Versmaße, son-dern auf Verse überhaupt verzichtete. Schadewaldts Konzeption wird vonMindt detailliert und überzeugend analysiert – nicht unkritisch, aber im we-sentlichen identifizierend. Als zentral stellt sie die Forderungen heraus, voll-ständig zu übersetzen, die antiken Vorstellungen zu bewahren und die Folgeder Vorstellungen nach Möglichkeit einzuhalten. Schließlich betont sie, daßSchadewaldt auf eine Vergegenwärtigung der antiken Literatur zielte unddabei insbesondere die Bühnenwirksamkeit der attischen Tragödien im Augehatte. (S. 277-297)

Im Unterschied zu der Stringenz der Darstellung von SchadewaldtsÜbersetzungstheorie wirkt das Kapitel „Übersetzungsreflexionen zu antikenDramen seit 1945“ wie eine Ansammlung von Einzelbeobachtungen. Zu Be-ginn stellt die Verf.n Äußerungen vor, die zum Teil aus der Zeit vor 1945 stam-men, zum Teil den späten vierziger und den fünfziger Jahren angehören undsich mehr oder weniger mit Schadewaldt sowie mit den Überlegungen be-rühren, die unter „Kunst und Wissenschaft“ behandelt wurden. Warum KarlReinhardt, Heinrich Weinstock und Ernst Buschor anders als die zuvor ana-lysierten Übersetzer eingeordnet werden, ist nicht ersichtlich; Rudolf Bayr –im ‚Dritten Reich’ Mitarbeiter des Völkischen Beobachters, nach 1945 Trägerhoher staatlicher Auszeichnungen in Österreich – wird sogar auf beide Kapi-tel aufgeteilt. Für die sechziger bis achtziger Jahre konstatiert Mindt – bei Wal-ter Jens, Claus Bremer und Erich Fried – eine Aktualisierung, Ideologisierungund Politisierung antiker Dramen, eine besondere Affinität zu Aristophanesund eine Bevorzugung von Klarheit und Einfachheit des Stils, also eine aber-malige Hinwendung zur zielsprachenorientierten Übersetzung. Sie berührtdabei auch die Gattung der Bearbeitungen – allerdings ohne deren Verhältniszu Übersetzungen tiefer zu analysieren. Bei Manfred Fuhrmann, Peter Stein

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und Peter Handke stellt die Verf.n wieder stärkere Annäherungen an Scha-dewaldtsche Prinzipien fest. Am Schluß des Kapitels geht sie auf Arbeitenvon Durs Grünbein aus den Jahren 2000 bis 2002 ein – wobei sie eingangs aufdie Herkunft aus DDR-Traditionen verweist, die erst Gegenstand des näch-sten Kapitels sind. Grünbein hat sich – in deutlichem Unterschied zu den an-sonsten dominierenden Tendenzen – in starkem Maße an der römischenAntike orientiert und hat für die Übersetzung von Senecas Thyestes eine ei-gene metrische Version gewählt. Den poetischen Spezifika seines Werkes stehtMindt unter übersetzungstheoretischem Aspekt allerdings skeptisch gegen-über. (S. 299-315)

Unter dem Titel „Übersetzungstheorie in der DDR“ informiert die Verf.nzunächst über die Lage der Altertumswissenschaften in diesem Lande sowieüber eine relativ breite Übersetzungstätigkeit und über die Tagung „Überset-zungsprobleme antiker Tragödien“, die das Eirene-Komitee (die Vereinigungvon Altertumswissenschaftlern der sozialistischen Länder) 1967 in Görlitzveranstaltet hat. Danach stellt sie die theoretischen Überlegungen RudolfSchottlaenders, Dietrich Ebeners und Volker Ebersbachs vor. (Warum dasNachwort zu Gerhard Scheibners Ilias-Übersetzung von 1972 erst en passant ineiner Fußnote am Schluß des Buches erwähnt wird, ist mir nicht verständlich.[S. 353]) Schottlaender hat sich mit seiner Konzeption des „wirkungstreuenÜbersetzens“ explizit mit Schadewaldt auseinandergesetzt: indem er aus-führte, daß bei der Wahl eines deutschen Wortes die aus der Worthöhe derVorlage resultierende Wirkung zu berücksichtigen sei, daß hinsichtlich derWortstellung und der syntaktischen Konstruktion die Beibehaltung der grie-chischen Wortfolge nicht zwangsläufig dieselbe Wirkung im Deutschen her-vorbringe und daß zu einer analogen Wirkung eine möglichst engeAnlehnung an das griechische Versmaß gehöre. Auch Ebener hat eine demantiken Original angemessene äußere Form gesucht, sich aber stärker an dieWortstellung der Ausgangssprache gehalten. Ebersbach hingegen forderte,mehr auf eine historische als auf eine philologische Textparallelität zu achten,und gab der Prosa gegenüber dem Vers den Vorzug. Mindt bemerkt mit Recht,daß die Diskussion zur Übersetzung antiker Literatur in der DDR „nichtstreng von der in der Bundesrepublik geführten abgegrenzt“ war – sympto-matisch ist aber auch die Beobachtung, daß sie „in der Bundesrepublik so gutwie gar nicht wahrgenommen“ wurde. (Dies trifft allerdings nur cum granosalis zu: Aus Tübingen zumindest kam ein regelrechter ‚Verriß’ von EbenersEuripides- und vor allem von Schottlaenders Sophokles-Übersetzung.4) (S.317-330)

Lediglich wie ein Anhang wirkt die Passage „Übersetzen und Theater“.Hier geht Mindt knapp auf Peter Hacks und Heiner Müller ein: WährendHacks ausschließlich Bearbeitungen Aristophanischer Komödien geschriebenund dabei mehr oder weniger ältere Übersetzungen zu Rate gezogen habe,habe Müller, auf der Grundlage von Interlinearübersetzungen Peter Witz-

4. Vgl. Joachim Goth in: Gymnasium 74 (1967), S. 455-458. – Goth beschränkt sich imGrunde darauf, gegen Schottlaenders Konzeption die entgegenstehenden Mei-nungen von ‚Autoritäten’ anzuführen, und scheut nicht davor zurück, die vonihm monierten Verse inkorrekt (unter Vernachlässigung einer Hervorhebung) zuzitieren.

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manns, neben Bearbeitungen auch Übersetzungen verfaßt, die sich eng an den„Gestus des Originals“ hielten. Daß dem Ödipus Tyrann die Übertragung Höl-derlins zugrunde lag, hätte freilich einige tiefergreifende Ausführungen undzumindest einen Hinweis auf das gleichartige Vorgehen Bertolt Brechts in derAntigone des Sophokles erfordert – zeugt es doch von der epochalen Bedeutungder ‚Entdeckung’ Hölderlins zu Beginn des 20. Jahrhunderts. (S. 331-334 [ZitatS. 333])

Für die Zeit seit den 1960er Jahren stellt die Verf.n ein anhaltendes Inter-esse an Übersetzungen aus der Antike in traditionellen und neugegründetenReihen fest. Sie geht auf die zunehmende Berücksichtigung linguistischer Fra-gestellungen bei Rainer Nickel, Katharina Reiß und insbesondere ManfredFuhrmann ein, der sich – im Unterschied zu Schadewaldt – der Kunstprosa(insbesondere auch der lateinischen) zuwandte, die „normale“, „rhetorische“und „poetische“ Schreibweise unterschied und zwar primär ausgangsspra-chenorientierte Übersetzungen schuf, aber dabei stärker Elemente der Ziel-sprache verwandte und auf diese Weise bewußt auf rhetorische Prinzipiendes 18. Jahrhunderts zurückgriff. Während Übertragungen aus dem Griechi-schen schon innerhalb der vorhergehenden Kapitel berücksichtigt wurden,betrachtet Mindt die Übersetzung lateinischer Literatur unter dem Einflußvon Schadewaldt und Fuhrmann jetzt im Zusammenhang (Bernhard Kytzler,Niklas Holzberg, Michael von Albrecht, Gerhard Fink, Manfred Rosenbach,Jürgen Blänsdorf). Den Abschluß bilden die übersetzungstheoretischen Über-legungen von Raoul Schrott im Zusammenhang mit seiner umstrittenen Ilias-Übersetzung von 2008. Schrott hat ausdrücklich Schleiermachers Forderung,die Fremdheit des Originals zu bewahren, abgelehnt und das von Schade-waldt kritisierte „transponierende Übersetzen“ praktiziert, wobei er um-gangssprachliche Wendungen nicht vermied und im Interesse einerAktualisierung sich von philologischen Rücksichten abgrenzte. (S. 335-353)

Angesichts der Vielschichtigkeit der Konzeptionen konnten die Verfasserin-nen nach ihren minutiösen Analysen auf ein Resümee verzichten und habenes auch vermieden, eine bestimmte Richtung für allgemeinverbindlich zu er-klären. Obwohl nicht alle Teile des Buches gleichermaßen gelungen sind, kannes als ein unentbehrliches Handbuch für die Theorie der Übersetzung antikerLiteratur im deutschsprachigen Bereich seit 1800 eingeschätzt werden. Nichtunerwähnt soll auch die Informationsfülle in den Fußnoten und im Anhangbleiben: in den Kurzbiographien der erwähnten Autoren, in einer umfangrei-chen Bibliographie5 (S. 355-418) sowie in einem Personen- und einem (selbst

5. Nicht recht glücklich ist es, daß die Verfasserinnen für die Bibliographie den Ter-minus „Literaturverzeichnis“ und für die Untergruppen die Begriffe „Literatur“und „Übersetzungen“ gewählt haben. Auch hätten sie den Leser informieren kön-nen, nach welchen Prinzipien die Einordnung der Titel vorgenommen wurde. Inder ersten Gruppe sind sämtliche übersetzungstheoretisch relevanten Texte ver-zeichnet – einschließlich Vor- und Nachworten zu Übersetzungen. In der zweitenGruppe stehen die Übersetzungen selbst – und zwar in der Regel ohne nochma-lige Erwähnung der bereits unter „Literatur“ genannten Werke. Dies allerdingsist nicht ganz konsequent durchgeführt. Es empfiehlt sich deshalb, jeden Autorund Titel in beiden Gruppen zu suchen.

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in anspruchsvollen wissenschaftlichen Publikationen nicht allzu häufig an-zutreffenden) Sachregister6 (S. 419-435).

Volker RiedelBerlin

6. Die Titel von Anonyma und Periodica sind dabei im Sachregister erfaßt. Stich-proben haben ergeben, daß die Register nicht ganz zuverlässig sind: So fehlenetwa Bertolt Brecht (S. 314) und Abraham Voß (S. 23) sowie die Reihen „Biblio-thek der Antike“, „Reclams Universal-Bibliothek“ und „Schriften und Quellen deralten Welt“ (jeweils S. 318).