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Fakultät Wirtschaft und Soziales Department Soziale Arbeit Ein Leben voller Herausforderungen Wie Kinder depressiver Mütter widrigen Lebensumständen trotzen und zu zufriedenen Erwachsenen heranwachsen können Bachelor-Thesis Abgabedatum: 29.02.2012 Vorgelegt von: Denise Reinhard Erstprüfer: Prof. Dr. phil. habil. Gerhard Suess Zweitprüfer: Prof. Dr. Gunter Groen

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Fakultät Wirtschaft und Soziales

Department Soziale Arbeit

Ein Leben voller Herausforderungen

Wie Kinder depressiver Mütter widrigen Lebensumständen trotzen

und zu zufriedenen Erwachsenen heranwachsen können

Bachelor-Thesis

Abgabedatum: 29.02.2012

Vorgelegt von: Denise Reinhard

Erstprüfer: Prof. Dr. phil. habil. Gerhard Suess

Zweitprüfer: Prof. Dr. Gunter Groen

Hindernisse und Schwierigkeiten sind Stufen,

auf denen wir in die Höhe steigen.

Friedrich Nietzsche

1

INHALTSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG ................................................................................................................... 3

2 EPIDEMIOLOGIE AFFEKTIVER STÖRUNGEN .................................................................. 6

3 AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT AUF KINDER AUS SICHT DER

BINDUNGSTHEORIE ................................................................................................................ 9

3.1 Säuglings- und Kleinkindalter ............................................................................... 10

3.2 Schulalter ............................................................................................................... 13

3.3 Adoleszenz ............................................................................................................. 15

4 BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER ...... 19

4.1 Parentifizierung ...................................................................................................... 19

4.2 Tabuisierung .......................................................................................................... 21

4.3 Ängste .................................................................................................................... 23

5 DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT ................................................................. 25

5.1 Risikofaktoren ........................................................................................................ 27

5.2 Schutzfaktoren ....................................................................................................... 30

5.3 Bewältigungsstrategien .......................................................................................... 32

2

6 EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT ........... 35

6.1 „Hoffnung, Sinn & Kontinuität - Ein Programm für Familien depressiv erkrankter

Eltern“ von Prof. Dr. William Beardslee .......................................................................... 35

6.2 AURYN – ein Hilfsangebot für Kinder und Familien mit seelisch belasteten und

psychisch kranken Eltern .................................................................................................. 40

6.3 Stationäre Mutter-Kind-Aufnahme ........................................................................ 42

7 FAZIT ............................................................................................................................ 45

ABBILDUNGSVERZEICHNIS .................................................................................................. 47

TABELLENVERZEICHNIS ...................................................................................................... 47

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................................................. 47

LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................................... 48

ANHANG ............................................................................................................................... 54

EINLEITUNG DENISE REINHARD

3

1 EINLEITUNG

„Depressionen gehören weltweit zu den häufigsten Formen psychischer Erkrankungen“

(RKI, 2006, 29) und werden voraussichtlich im Jahr 2020 den zweiten Platz des am meisten

vorkommenden Erkrankungsbildes einnehmen (vgl. RKI, 2006, 29). Es handelt sich also

längst nicht mehr nur um eine soziale Randerscheinung, sondern ist ein zunehmendes

Problem und bedarf deshalb einer weitaus höheren Beachtung in unserer Gesellschaft. Da

psychisch Kranke häufig auch Kinder haben und diese, als schwächstes Glied der Familie,

ganz besonders von der Erkrankung der Eltern in ihrer eigenen psychischen Gesundheit

gefährdet sind, muss insbesondere den Kindern Hilfe geboten werden. Lag der Fokus der

Öffentlichkeit zunächst ausschließlich auf der erkrankten Person selbst, traten erstmals auf

dem Kongress „Hilfen für Kinder psychisch Kranker“ im Jahr 1996 auch deren Kinder ins

öffentliche Bewusstsein (vgl. BApK, 2011). Eine psychische Erkrankung eines Elternteils

wurde nunmehr als Familienerkrankung angesehen und geeignete Hilfemaßnahmen, welche

die gesamte Familie mit einbeziehen, wurden entwickelt. Dass diese Hilfen jedoch in den

entsprechenden Familien häufig nicht ankommen, wurde durch die Tragödie im schleswig-

holsteinischen Darry im Dezember 2007 schmerzlich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit

gerufen. Eine 31-jährige Mutter brachte ihre fünf Kinder um und gestand danach ihre Tat.

Der Grund für diese grausame Tat waren psychische Wahnvorstellungen der Mutter. Laut

des psychologischen Gutachtens trieben diese sie dazu, ihre Kinder aus dieser

„schrecklichen“ Welt zu befreien (vgl. Wiegand, 2008).

Nach Hilfe zu rufen ist gerade für psychisch erkrankte Eltern sehr schwer, unabhängig

davon, ob sie in einem sozial schwachen oder gut situierten Umfeld leben. Dazu tragen

besonders die immer noch stark ausgeprägte gesellschaftliche Tabuisierung und

Stigmatisierung sowie das fehlende allgemeine Wissen über psychische Erkrankungen in

unserer Gesellschaft bei.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich exemplarisch auf das Krankheitsbild Depression.

Viele der in dieser Arbeit aufgeführten Bedingungen, Auswirkungen und Hilfen können

jedoch auch für andere psychische Erkrankungen, wie z.B. Schizophrenie oder neurotische

Störungen, gleichgesetzt werden. Untersuchungen ergaben, dass das Geschlecht der

erkrankten Person eine wesentliche Rolle bei den Auswirkungen auf die Kinder spielt (vgl.

Remschmidt/ Mattejat, 1994, 67). Da die Mütter in den meisten Fällen die primäre

EINLEITUNG DENISE REINHARD

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Bezugsperson der Kinder darstellen und Frauen fast doppelt so häufig an Depressionen

leiden wie Männer, bezieht sich diese Arbeit ausschließlich darauf, welche Auswirkungen

eine mütterliche Depression auf die eigenen Kinder hat (vgl. RKI, 2006, 19).

Die zugrundeliegende Leitfrage dieser Arbeit lautet, inwiefern sich eine depressive

Erkrankung der Mutter auf die kognitive, psychosoziale und emotionale Entwicklung von

Kindern auswirkt und welche Folgen daraus möglicherweise für den weiteren Lebenslauf

der Kinder resultieren. Um diese Frage untersuchen zu können, wurde exemplarisch ein

qualitatives, leitfadengestütztes Interview mit einer 25-jährigen Frau geführt. Sie wuchs bis

zu ihrem 23. Lebensjahr mit einer depressiven und später auch alkoholabhängigen Mutter

und ohne einen Vater auf. Retrospektive Aussagen sind zwar für Verzerrungen anfällig,

dennoch lassen sich durch die empirisch erhobenen Aussagen die Ernsthaftigkeit und die

Wichtigkeit dieses Themas plastischer illustrieren.

Aus Sicht der Autorin lässt sich das Erleben und die Erfahrungen von betroffenen Kindern

besser nachvollziehen, wenn der persönliche Bezug zu einer Biografie hergestellt wird.

Ferner wurde aus illustrativen Gründen das Interview zergliedert und an den passenden

Passagen in den Kapiteln 3, 4 und 5 eingefügt.

Um der oben genannten Leitfrage nachgehen zu können, wird im 2. Kapitel ein

epidemiologischer Überblick über affektive Störungen geschaffen. In Anbetracht dessen

wird deutlich, dass bereits ein enorm großer Handlungsbedarf bei an Depressionen

Erkrankten besteht und dieser stetig wächst.

Da psychische Krankheiten nicht nur weitreichende Folgen für die erkrankten Personen

selber haben, sondern insbesondere auch für ihr soziales Umfeld, wird im 3. Kapitel der

Frage nachgegangen, inwieweit sich eine depressive Erkrankung der Mutter auf das Kind

auswirkt. Dabei wurde sich den Annahmen der Bindungstheorie von John Bowlby bedient.

Diese Bindungstheorie stellt eine der bedeutendsten Theorien für die Erklärung der Mutter-

Kind-Interaktion dar. Zwar gibt es in der Fachliteratur noch weitere Erklärungsansätze,

jedoch lässt der Umfang dieser Arbeit die Einbeziehung und genaue Betrachtung weiterer

Theorien nicht zu. Um die möglichen Auswirkungen einer mütterlichen Depressivität auf

die Kinder möglichst differenziert zu beschreiben, wurde das Kapitel nach drei Altersstufen

untergliedert. Dabei findet Beachtung, dass jede Altersstufe unterschiedliche Entwicklungs-

aufgaben beinhaltet, die es vom Kind zu bewältigen gilt. Die Erziehungsaufgaben, vor

denen jede Mutter steht, sind für depressive Mütter meist nicht einfach und

selbstverständlich. Das, was viele gesunde Mütter intuitiv richtig machen, stellt für

EINLEITUNG DENISE REINHARD

5

erkrankte Mütter eine große Herausforderung dar. Sie können ihrem Kind aufgrund ihrer

Erkrankung nicht ausreichend emotional zur Verfügung stehen, so dass sie es schwieriger

haben, eine stabile Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen. Unsichere Bindungserfahrungen

stellen für Kinder ein erhöhtes Risiko für psychopathologische Auffälligkeiten im Kindes-

und Jugendalter dar (vgl. Groen/ Petermann, 2011a, 88).

Die Besonderheiten in der Lebenswelt von Kindern depressiver Mütter werden im 4.

Kapitel beschrieben. Die Familie ist das wichtigste Lebensumfeld der Kinder. Dort lernen

sie sich selbst und den sozialen Umgang kennen. Kinder depressiver Mütter sind allerdings

innerhalb der Familie mit diversen Problemen, wie z.B. der Parentifizierung oder der

Tabuisierung der Krankheit und damit einhergehenden Ängsten, konfrontiert, die Kinder

aus gesunden Familien nicht kennen. Die Erfahrungen und das Leben mit diesen ständigen

Risikofaktoren stellen eine große Herausforderung für die Kinder dar.

Die kindliche Widerstandsfähigkeit und die damit verbunden Risiko- und Schutzfaktoren,

welchen Kinder depressiv erkrankter Mütter ausgesetzt sind, werden im weiteren Verlauf

der Arbeit genauer betrachtet. Dabei wird in Kapitel 5 deutlich, welchen enormen Risiken

die Kinder während ihrer gesamten Entwicklungslaufbahn ausgesetzt sind. Allerdings

bedeutet das nicht, dass diese Kinder per se psychopathologisch auffällig werden, sondern

lediglich, dass sie einem erhöhtem Risiko ausgesetzt sind, Auffälligkeiten zu entwickeln.

Im 6. Kapitel dieser Arbeit werden exemplarisch mögliche Interventionsprogramme

vorgestellt. Jedes dieser Programme versteht die psychische Erkrankung eines Elternteils

als eine Familienerkrankung, die die komplette Familie in die Hilfen mit einbezieht.

Anschließend wird im Fazit die Leitfrage der Arbeit wieder aufgegriffen und die Ergebnisse

diesbezüglich zusammengefasst.

EPIDEMIOLOGIE AFFEKTIVER STÖRUNGEN DENISE REINHARD

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2 EPIDEMIOLOGIE AFFEKTIVER STÖRUNGEN

Affektive Störungen, mit den zwei Hauptgruppen Major Depression und affektive bipolare

Störungen, in der zehnten Auflage der International Classification of Deseases (ICD-10) der

Weltgesundheitsorganisation (WHO) „gehören weltweit zu den häufigsten Formen

psychischer Erkrankungen“ (RKI, 2006, 29). Die Häufigkeit von Krankheitsfällen zum

Zeitpunkt einer Untersuchung findet in der Fachsprache als Prävalenz Gebrauch. Die

Lebenszeitprävalenz1 bei Erkrankung an einer affektiven Störung liegt bei der

Allgemeinbevölkerung bei 19%, indes die Prävalenz bei Frauen mit 25% deutlich höher

liegt als bei Männern mit 12% (vgl. Wittchen [u.a.], 2010, 19).

Die Lebenszeitprävalenzen der beiden Hauptgruppen affektiver Störungen weisen

erhebliche Unterschiede auf. Während sie bei der Major Depression zwischen 5,2 % und

17,1 % rangiert, liegt sie bei den bipolaren affektiven Störungen mit nur etwa 1 % deutlich

niedriger (vgl. Davison/ Neale/ Hautzinger, 2007, 310f).

Das Disability Adjusted Life Years - Konzept (DALYs) stellt eine Messmethode dar, die

verlorene Lebensjahre aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung oder vorzeitigem Tod

zählt. Gemessen an den sogenannten DALY belegen die unipolaren Depressionen, laut der

Global Burden of Desease 2000 (GBD), bei Frauen den vierten und bei Männern den

siebten Platz. Für das Jahr 2020 prognostiziert die WHO den zweithöchsten Verlust an

potenziellen Lebensjahren durch Depression (vgl. RKI, 2006, 29). Ferner berichten die

Krankenkassen über eine stetige Zunahme von diagnostizierten Depressionen, wodurch

auch die Krankheitskosten konstant ansteigen. Zwischen 2004 und 2008 wuchsen diese von

4,1 Millionen Euro auf 5,2 Millionen (vgl. StBA, 2010, 20ff). Dennoch gehen Experten von

einer hohen Dunkelziffer an Depression Erkrankten aus. Die Symptome und

Begleiterscheinungen einer Depression werden häufig nicht entdeckt und/oder adäquat

behandelt (vgl. Wittchen [u.a.], 2010, 21).

Basierend auf den repräsentativen Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 (BGS 98)

beträgt die 12-Monats-Prävelanz2 affektiver Störungen 10,9 % bei den 18- bis 65- jährigen

Personen der erwachsenen Allgemeinbevölkerung. Frauen leiden im Vergleich zu Männern

1 Lebenszeitprävalenz gibt die Häufigkeit einer Krankheit, bemessen an der verstrichenen Lebenszeit bis zum

Untersuchungszeitpunkt, an. 2 12-Monats-Prävalenz gibt die Häufigkeit einer Krankheit binnen eines Jahres an.

EPIDEMIOLOGIE AFFEKTIVER STÖRUNGEN DENISE REINHARD

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doppelt so häufig an einer depressiven Störung (vgl. Wittchen [u.a.], 2010, 19). „Das

mittlere Erkrankungsalter liegt indes für Frauen bei 32 und für Männer bei 33 Jahre.“ (RKI,

2006, 30)

Tabelle 1: 12-Monats-Prävalenz affektiver Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung (RKI, 2006, 19)

Das Erkrankungsrisiko bei Kindern und Jugendlichen vor der Pubertät liegt mit einer

Prävalenz von 2 % bis 3 % sehr niedrig. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind in

diesem Alter nur in geringem Maße zu verzeichnen. Jugendliche ab etwa 15 Jahren weisen

eine „ähnlich hohe Querschnittsprävalenz wie bei jungen Erwachsenen“ (Wittchen [u.a.],

2010, 19) auf, gekoppelt mit der geschlechtsspezifischen Verteilung depressiver

Erkrankungen.

Eine Komorbidität geht häufig mit einer depressiven Störung einher. Unter Komorbidität

wird ein zusätzlich diagnostiziertes Krankheitsbild, psychischer oder physischer Form,

verstanden. Nach Daten des BGS 98 weisen „60 % der Personen mit einer depressiven

Episode und 80 % derjenigen mit einer Dysthymie3 mindestens eine weitere psychische

Störung“ (Wittchen [u.a.], 2010, 21) auf. Unklar ist bis dato, ob eine depressive Störung

Auslöser oder Folge einer weiteren psychischen Erkrankung ist oder ob eine reziproke

Beziehung zwischen den Erkrankungen besteht (vgl. ebd., 2010, 21).

Ein häufiges Symptom der depressiven Störungen ist unter anderem wiederkehrende

3 Dysthymie „ist eine über mindestens 2 Jahre an der Mehrzahl der Tage auftretenden depressive

Verstimmung, ohne dass die vollen Kriterien einer Episode einer Major Depression erfüllt sind.“ (Klinische

Psychologie & Psychotherapie, 2006, 735)

EPIDEMIOLOGIE AFFEKTIVER STÖRUNGEN DENISE REINHARD

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Suizidvorstellung. Bei 20 % bis 60 % der von einer Major Depression Betroffenen besteht

im Verlauf ihrer Krankheit ein Suizidversuch. 15 % der Erkrankten kommen durch einen

vollendeten Suizid ums Leben (vgl. Beesdo/ Wittchen, 2006, 740). „Insgesamt gehen 40 bis

70 Prozent aller Selbstmorde auf eine Depression zurück.“ (RKI, 2006, 30)

In Anbetracht der hohen Erkrankungsrate von affektiven Störungen in der

Allgemeinbevölkerung ist von einer hohen Zahl von Kindern auszugehen, die mit

mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen. „Untersuchungen zur

Elternschaft psychisch kranker Menschen sind […] relativ selten und kommen zu teilweise

sehr unterschiedlichen Ergebnissen.“ (Jungbauer/ Lenz, 2008, 9) Nach den

epidemiologischen Daten der 12-Monats-Prävalenz ergeben konservative Abschätzungen,

dass innerhalb eines Jahres circa 3 Millionen Kinder in Deutschland einen Elternteil mit

einer psychischen Störung erleben. Geht man allerdings nur von der Anzahl der Menschen

aus, die aufgrund psychischer Störungen Hilfsangebote in Anspruch nehmen, leben

lediglich 250.000 Kinder in solchen Familien. 175.000 Kinder machen jährlich die

Erfahrung, dass ein Elternteil wegen einer psychischen Erkrankung einen stationären

Klinikaufenthalt benötigt (vgl. Mattejat, 2008, 74f).

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

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3 AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT AUF

KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE

Das Familienleben ist der bedeutendste Ort der Kinder für das emotionale Lernen. Hier

lernen die Kinder, wie sie sich selbst empfinden sollen und wie andere auf diese

Empfindungen reagieren, was sie von den Empfindungen denken sollen, wie sie ihre

Hoffnungen und Befürchtungen deuten und ausdrücken sollen und welche Reaktionen

ihnen offenstehen. Die Art und Weise, wie Eltern auf ihre Kinder im Laufe der Kindheit

reagieren, hat tiefreichende Folgen für das Gefühlsleben der Kinder (vgl. Goleman, 2007,

240); Kötter [u.a.], 2010, 115). Laut Beardslee [u.a] (1999, 115) ergaben zahlreiche

Studien, dass depressiv erkrankte Mütter anders mit ihren Kindern umgehen, als nicht

erkrankte Mütter. Das hat zur Folge, dass diese Kinder einem erhöhten Risiko für

emotionale und Verhaltensprobleme ausgesetzt sind. Die Prävalenz, selbst depressiv zu

werden, ist bei diesen Kindern zwei- bis vier Mal so hoch, wie bei ihren Altersgenossen in

unbelasteten Familien (vgl. Beardslee, 2009, 18). Das Risiko für Angststörungen und

Substanzabhängigkeiten ist jeweils um das Dreifache erhöht (vgl. Mattejat, 2008, 78).

Welche Auswirkungen die mütterliche Depression auf die Kinder hat und wie nachhaltig

diese für ihre weitere Entwicklung sind, hängt mit dem Alter und der jeweiligen

Entwicklungsstufe der Kinder zusammen, in welchem die Kinder erstmalig die Erkrankung

erleben (vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 69). Je früher ein Kind einer depressiven

Erkrankung der Mutter ausgesetzt ist, desto prägender und weitreichender sind die

möglichen Folgen auf die psychosoziale Entwicklung des Kindes. Wichtig ist hierbei,

festzuhalten, dass die Chronizität und „der Schweregrad [einer Depression] wichtiger sein

[kann] als die Art der Depression.“ (ebd., 66; Denke, 2005, 62) Schafft es die Mutter, ihre

Depression nicht mit in die Interaktion mit ihrem Kind einfließen zu lassen, steht einer

normalen und altersgerechten Entwicklung des Kindes nichts im Wege. Im Folgenden

werden die Entwicklungsanforderungen der jeweiligen Altersstufen aufgezeigt, um

anschließend mögliche Fehlanpassungen der Kinder aufzuzeigen, die durch eine

Depression der Mutter entstehen können.

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

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3.1 Säuglings- und Kleinkindalter

In der Interaktion mit einer Bezugsperson, meistens sind das Mutter und Vater, lernen

Säuglinge ihre eigenen Gefühle zu regulieren, sowie eine emotionale Bindung zu ihnen

aufzubauen. Lächelt das Baby die Mutter beispielsweise an und erhält ein Lächeln zurück,

wird es immer wieder versuchen, diese positive, emotionale Reaktion bei der Mutter

auszulösen. Der Säugling macht sich so mit der Bezugsperson vertraut (vgl. Goleman,

2007, 132). Der wichtigste Faktor ist hierbei die mütterliche Sensibilität bzw. die

Feinfühligkeit der Mutter. Dieses Einfühlungsvermögen beinhaltet zunächst die

Wahrnehmung des kindlichen Bedürfnisses sowie deren richtige Deutung. Darauf

aufbauend soll eine prompte und altersangemessene Reaktion bzw. Interaktion der Mutter

erfolgen. Diese elterliche Fürsorge in den ersten Lebensjahren ist von entscheidender

Bedeutung für die seelische Entwicklung des Kindes (vgl. Bowlby, 2008, 105f.; Schone/

Wagenblass, 2002, 19). In dieser Zeit wächst das Gehirn auf zwei Drittel seines endgültigen

Volumens an und nimmt in seiner Komplexität schneller zu, als jemals wieder im Leben.

Wichtige Lernprozesse werden verinnerlicht, und Erfahrungen werden tief im Inneren

abgespeichert (vgl. Goleman, 2007, 247).

Die „Feinfühligkeit“, als adäquates Antwortverhalten der Eltern, wurde 1978 von der

Bowlby4-Schülerin Mary Ainsworth geprägt. Im gleichen Jahr entwickelte sie einen Test,

der heute noch als Meilenstein in der Erforschung kindlicher Bindungsmuster gilt. Die

sogenannte „Fremde Situation“, „in der ein 12 bis 18 Monate altes Kind einem

zunehmenden Trennungsstreß von Mutter oder Vater ausgesetzt wird, […]“ (Köhler, 1999,

108f) untersucht die Qualität der Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind. Dieser

Test führte zu dem Ergebnis, dass es drei bis vier unterschiedliche Bindungsstile gibt. Diese

Bindungsstile entwickeln sich aus der Interaktion mit einer Bindungsperson heraus (vgl.

Bowlby, 2008, 101). Mit großer Wahrscheinlichkeit lernen die Säuglinge jede der unten

aufgeführten Interaktionen kennen. Welcher Bindungsstil sich jedoch manifestiert, hängt

davon ab, welches Verhalten der Mutter gegenüber dem Kind im Laufe der Jahre überwiegt

(vgl. Goleman, 2007, 246).

Werden die kindlichen Bedürfnisse adäquat und altersangemessen von der Mutter

beantwortet, entsteht ein sicherer Bindungsstil. Diese Kinder „wissen, dass ihnen ihre

Eltern in Stress- oder Angstsituationen emotional und tatkräftig zur Seite stehen, ein ihrem

4 J. Bowlby entwickelte mit M. Ainsworth seit den 1950ern die Bindungstheorie.

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

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Explorationsdrang förderlicher Rückhalt, den in den ersten Lebensjahren meist die Mutter

bildet, indem sie feinfühlig auf die Signale ihres Kindes reagiert und sich ihm liebevoll

zuwendet, es insbesondere beschützt und/oder tröstet.“ (Bowlby, 2008, 101)

Kinder, dessen Bedürfnisse nicht zuverlässig beantwortet werden, entwickeln einen

unsicher-ambivalenten Bindungsstil. Sie „leben […] in der Ungewissheit, ob und wenn ja,

wann sie auf ihre Eltern zählen können, weshalb sie Trennungsängste entwickeln,

„klammern“ und nur selten Explorationsdrang zeigen.“ (Bowlby, 2008, 101) Diese Kinder

suchen ständig voller Kummer die Nähe der Mutter (Bezugsperson). In der Gegenwart der

Mutter können sie sich jedoch nicht beruhigen, da die Mutter sich nicht verlässlich und

konstant verhält. Das Verhalten der Kinder wird somit massiv von der Angst verlassen zu

werden dominiert.

„Kinder mit „unsicher-vermeidender“ Bindung wissen hingegen, dass sie von ihren Eltern

nur Ablehnung zu erwarten haben, weshalb sie fortan auf Zuneigung und fremde Hilfe zu

verzichten suchen, […].“ (Bowlby, 2008, 101) Im Beisein der Mutter ignorieren die Kinder

die Mutter und spielen einfach weiter. Aus ihren Erfahrungen lernten sie, dass ihre

Wünsche nach Nähe und Trost nicht erfüllt werden.

Der desorganisierte bzw. desorientierte Bindungsstil ist gekennzeichnet durch eine

fehlende Strategie der Kinder, auf die Verhaltensweisen der Mutter zu reagieren (vgl.

Köhler, 1999, 112). So „wirken manche Kinder verstört und/oder desorganisiert, erstarren

regelrecht, zeigen stereotype Verhaltensweisen oder halten aus unerklärlichen Gründen

plötzliche inne.“ (Bowlby, 2008, 102) Als Ursache dieses Bindungsstils werden starke

Vernachlässigungen, Misshandlungen und/oder psychische Erkrankungen der

Bindungspersonen gezählt (vgl. ebd., 102).

Ist eine Mutter depressiv erkrankt, fehlt es ihr ihrem Kind gegenüber meistens an der

Feinfühligkeit. Sie kann die Signale ihres Babys, sein Brabbeln, Schreien, Gurgeln, Seufzen

und Lächeln nicht richtig deuten und dementsprechend nicht adäquat reagieren. Dies kann

auf unterschiedlichste Weise passieren. Die eine Mutter redet laut auf das Kind ein, berührt

es immerzu, um mit ihrem Kind zu kommunizieren. Ist die Mutter in dieser Situation

jedoch nicht aufnahmebreit, also nicht feinfühlig genug, wirkt sie auf das Baby zudringlich,

sodass sich das Baby möglicherweise abwendet. Die Mutter versteht das Verhalten ihres

Kindes nicht und macht immer weiter. Dieses Verhalten der Mutter wird als

überstimulierend bezeichnet. Eine andere Mutter beachtet ihr Kind so gut wie gar nicht und

lässt keinen Blickkontakt entstehen. Dieses Verhalten wird als unterstimulierend definiert.

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

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Zunächst versuchen die Kinder noch die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu gewinnen,

resignieren nach einiger Zeit jedoch und ziehen sich zurück. Zum Trösten und Beruhigen

weinen und quengeln sie oft. Sie reagieren mit Kummer und Bestürzung. Somit entsteht ein

Teufelskreis durch die missglückte Kommunikation zwischen Mutter und Kind (vgl.

Goleman, 2007, 133; Wimmer, 2009, 88).

Im Allgemeinen reagieren depressive Mütter „weniger selektiv und langsamer auf ihre

Kinder als nicht depressive Mütter. Sie sprechen weniger mit ihren Kindern und hemmen so

deren Sprachentwicklung.“ (Remschmidt/ Mattejat, 1994, 76; Breznitz/ Sherman, 1987,

395) Darüber hinaus zeigen sie weniger positive Gefühle ihrem Säugling bzw. Kleinkind

gegenüber. Dieses Verhalten führt bei Säuglingen und Kleinkindern zu deutlichen

emotionalen und Verhaltensstörungen und, wie bereits erwähnt, zu einer verzögerten

Sprachenwicklung (vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 76). Die Säuglinge „leiden darunter,

wenn sie nicht spüren und erleben, dass andere für sie da sind und feinfühlig auf sie

eingehen.“ (Groen/ Petermann, 2011a, 91) Ferner entstehen Störungen in der emotionalen

Bindung zur Mutter, sodass die Kinder nicht in der Lage sind, angemessen auf das

Verhalten der Mutter zu reagieren. Keinen ‚sicheren Hafen‘ zu haben belastet die Säuglinge

nicht nur, sondern macht es ihnen auch sehr schwer, die Welt zu entdecken (vgl. ebd., 91).

Experimentelle Untersuchungen zeigen, dass Säuglinge depressiver Mütter „die Stimmung

ihrer Mütter, während sie mit ihnen spielten, in der Weise wider [spiegeln], dass sie öfter

Gefühle des Zorns und der Trauer und sehr viel seltener spontane Neugier und Interesse

zeigten als Kinder, deren Mütter keine Depression hatten.“ (Pickens/ Field, 1993, zit. n.

Goleman, 2007, 133) Die Säuglinge stellten sich auf die eingeschränkte Affektivität und

Gleichförmigkeit ihrer Mutter ein und zeigten selbst ein Ausdrucksverhalten auf, welches

mit der Mutter vergleichbar ist (vgl. Clausen/ Eichenbrenner, 2010, 95).

Die Erfahrungen, die ein Säugling in der Interaktion mit der Mutter macht, werden im

Gehirn gespeichert und beeinflussen das Verhalten im Kleinkindalter. In dieser Altersphase,

in der Kinder üblicherweise in den Kindergarten kommen, wenden sie ihre erlernten

Verhaltensweisen an. Es entsteht ein erster Übungsraum, um sich Gleichaltrigen sowie

Erwachsenen zu nähern. Da Kinder depressiver Mütter keine sichere Bindung zu ihrer

Mutter aufbauen konnten, fällt es ihnen besonders schwer, Emotionen richtig zu deuten und

ihre eigenen Emotionen zu regulieren. „Wenn man in den emotionalen Botschaften, die

man aussendet, Fehler macht, erlebt man andauernd, dass die anderen merkwürdig auf

einen reagieren - man wird abgewiesen und weiß, nicht warum. […] Sie fühlen sich

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

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ohnmächtig, deprimiert und apathisch.“ (Goleman, 2007, 159) Ferner können sie ihre

Impulse, insbesondere ihre aggressiven Impulse, nicht kontrollieren und mit anderen

Kindern weder teilen noch kooperieren, so dass solche Kinder häufig zu Einzelgängern

werden (vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 74ff.).

Aufgrund der spärlichen Kommunikation zwischen einer depressiven Mutter und ihrem

Kind, sind Kinder aus unbelasteten Familien diesen Kindern oft verbal überlegen (vgl.

Breznitz/ Sherman, 1987, 395). Diese Situationen stellen für Kinder negative Erfahrungen

dar. Die dadurch entstehenden Gefühle und Emotionen bergen einen möglichen

Kontrollverlust, wodurch ein negativer Teufelskreis entsteht.

3.2 Schulalter

Als Schulalter wird der Lebensabschnitt zwischen Schuleintritt und Beginn der Pubertät

bezeichnet. Bereits in der jungen Kindheit zählt die Schule zu dem bedeutendsten Umfeld

eines Kindes. Neue Entwicklungsaufgaben, wie die soziale Integration mit Gleichaltrigen,

angemessenes soziales Rollenverhalten im Klassenraum, Aufbau einer positiven

Einstellung zu sich selbst, Entwicklung von Gewissen, Moral und Werten, sowie das

Erreichen einer unabhängigen Persönlichkeit stehen im Mittelpunkt. Um diese neuen

Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, brauchen Kinder einen „sicheren Hafen“.

Von dort aus können sie ihre Umgebung explorieren und sich kognitiv, emotional und

sozial an die jeweilige Situation anpassen. Fehlt dieser „sichere Hafen“ jedoch, besteht ein

erhöhtes Risiko, dass diese Kinder die neuen Entwicklungsaufgaben nicht erfolgreich

bewältigen (vgl. Cicchetti, 2006, 159).

Kinder depressiver Mütter weisen bereits im Schulalter eine Vielzahl von Fehlanpassungen

auf. Durch die erworbene unsichere emotionale Bindung zur Mutter fällt es den Kindern

schwer, stabile Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Aus Scham über die familiäre

Situation laden die Kinder ihre Freunde nicht nach Hause ein. Durch ihre Erfahrungen

wirken sie oft ernst, verschlossen und „erwachsener“ als andere Kinder. Die Themen, mit

denen sich Gleichaltrige beschäftigen, sind meist ganz andere als die, mit denen Kinder

depressiver Mütter konfrontiert sind, sodass sie noch mehr eine Außenseiterposition

einnehmen (vgl. Clausen/ Eichenbrenner, 2010, 94; Schone/ Wagenblass, 2002, 182;

Müller, 2008, 146)).

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

14

„Also wie gesagt, also ich weiß auch selber dieses, das ich mich, also das ich

sehr vernünftig war. Irgendwie das ich mich sehr n Stück weit erwachsen war,

auch irgendwie schon anders als die anderen Kinder irgendwie auch.[…] Ich

hatte dadurch in der Schule schon ein Stück weit Probleme, dass ich so ein

Stück weit Außenseiterin war und ich halt auch recht ruhig war und joa…“

Das Verhalten der Kinder ist häufig von Aggressivität, oppositionellem Auftreten und

Rivalitäten geprägt, welches ihre große Unsicherheit widerspiegelt. Dieses Verhalten

erschwert es den Kindern, stützende Freundschaften aufzubauen. Durch das Fehlen solcher

Freundschaften entsteht eine Negativ-Spirale. Hierdurch wirdnes den Kindern immer

weniger gelingen, Unterstützung, Akzeptanz und Anerkennung von Gleichaltrigen zu

bekommen. Auch ein sozialer Ausschluss (Mobbing) in der Klasse kann eine mögliche

Folge sein. Durch den ungelernten Umgang mit den eigenen Emotionen wird ein Kind

„einen Lehrer ebenso missverstehen und falsch auf ihn reagieren wie auf ein anderes Kind.

Die Angst und Verwirrung, die daraus entstehen, genügen schon, seine Fähigkeit zu

effektivem Lernen zu beeinträchtigen.“ (Goleman, 2007, 159) Defizite in der

Aufmerksamkeit des Kindes entstehen. Als Resultat werden vermehrte Schulprobleme von

Kindern depressiver Mütter verzeichnet, als bei Kindern aus unbelasteten Familien (vgl.

Cicchetti, 2006, 160; Remschmidt/ Mattejat, 1994, 77). „Lehrer schätzen diese Kinder als

aggressiv und störend ein und als kognitiv und sozial weniger kompetent als ihre

Mitschüler.“ (Remschmidt/ Mattejat, 1994, 77)

Desweiteren ergaben Untersuchungen von Gelfand und Teti (1990) (zit. n. Remschmidt/

Mattejat, 1994, 86ff), dass depressive Mütter ihre Kinder häufiger kritisieren und

bestrafendes Verhalten aufzeigen als nicht erkrankte Mütter (vgl. Goodman/ Gotlib, 1999

zit. n. Kötter [u.a.], 2010, 215). Daraus resultiert nicht selten eine emotionale Labilität der

Kinder. Sie geraten schnell aus ihrem seelischen Gleichgewicht und brauchen lange, um

sich zu regenerieren. Ihre Emotionen können sie nur schlecht kontrollieren und Misserfolge

nur schwer ertragen und verarbeiten. „Kinder, die wenig Liebe, Anerkennung und positive

Aufmerksamkeit für sich erfahren haben, haben es schwer, sich selber zu mögen und

anzuerkennen.“ (Groen/ Petermann, 2011a, 91) Die Kinder entwickeln zunehmend ein

negatives Selbstbild, welches ein schlechtes Selbstwertgefühl zur Folge hat. Diese fehlende

Wertschätzung von sich selbst ähnelt sehr dem Selbstbild der Mutter (vgl. Remschmidt/

Mattejat, 1994, 78). In vielen Fällen endet dieses verzerrte Selbstbild der Kinder im

Rückzug und/oder in der Isolation.

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

15

„[…] das ich sehr ne schon ne Distanz zu meiner Mutter aufgebaut habe. Das,

gerade so gefühlsmäßig, also es hat mir also total weh getan wie sie sich dann

verändert hat und joa, und noch mehr und alles, und äh dann konnte ich dann

auch irgendwie irgendwann gar nicht mehr so, ich, ich hab dich lieb sagen zu

ihr oder so. Das war wie richtig eine Blockade drin und hab mich dann auch

von ihr distanziert... n Stück weit, aber irgendwo hab ich mich ja immer noch

verantwortlich gefühlt und irgendwie…“

Die durch die Depression einhergehende Lethargie der Mutter belastet die Kinder sehr. Sie

haben ständig das Gefühl, Spaß zu haben, Lust zu empfinden und Dinge zu genießen,

gehöre sich nicht oder sei nicht erlaubt. Ihre Interaktionen zu Hause reduzieren sie folglich

auf ein Minimum (vgl. Breznitz/ Sherman, 1987, 399).

„Ähm, ja es war dann schon auch früher dann, das sie dann keine Lust hatte

mit mir raus zugehen, irgendwie so von wegen du kannst dich doch alleine

beschäftigen. Sie wollte nicht so unbedingt mit mir spielen…“

Dieses elterliche Vorbild und die nicht vorhandene sichere Bindung können zu den

bereits erwähnten Beeinträchtigungen in der kindlichen Entwicklung führen (vgl.

Groen/ Petermann, 2011a, 91).

3.3 Adoleszenz

Die Adoleszenz hält generell für Jugendliche eine große Spanne von zu bewältigen

Anforderungen und Aufgaben bereit. Als zentrale Entwicklungsaufgabe in dieser

Altersphase werden die Autonomieentwicklung sowie die Abgrenzung von den Eltern

angesehen. Das Denken der Jugendlichen unterscheidet sich stark von der vorherigen

Entwicklungsphase, es herrschen neue Thematiken in den Köpfen der Jugendlichen vor. Sie

sind „immer stärker dazu in der Lage, kritisch über sich selber nachzudenken, die eigene

Person einzuschätzen und sich mit andern zu vergleichen.“ (Groen/ Petermann, 2011a, 80)

Einhergehend mit dieser kritischen Selbstreflexion werden auch die eigenen Stärken und

Schwächen hinterfragt und beurteilt. Sie versuchen, ein stabiles und adäquates Bild von

sich zu schaffen, sodass eine Identitätsentwicklung der Jugendlichen möglich ist. Sie

beginnen Zukunftsperspektiven zu entwickeln und schätzen ihre eigenen Möglichkeiten

und Grenzen ab (vgl. ebd., 80). Zudem nehmen der Aufbau enger Freundschaften und die

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

16

Zugehörigkeit zu sogenannten Peer-Groups stark an Bedeutung zu. „Freundschaften im

Jugendalter [werden] in der Regel enger, exklusiver und vertrauensvoller.“ (Groen/

Petermann, 2011a, 80) Interesse an Sexualität und folglich intimen Beziehungen entstehen

und Jugendliche erproben sich zunehmend. Neben diesen Gefühlsveränderungen wächst

gleichzeitig der schulische Druck. Leistung und Erfolg werden wichtige Indikatoren, um

sich mit Gleichaltrigen zu messen. Neben dem eigenständigen Vergleich mit Gleichaltrigen

steigen auch die gesellschaftlichen, schulischen und elterlichen Erwartungen nach Leistung

und Erfolg (vgl. Groen/ Petermann, 2011a, 81).

Diese Reihe von Entwicklungsaufgaben, die Stress und Belastungen mit sich führen,

können am ehesten bewältigt werden, wenn sich die Jugendlichen auf Grundlage einer

sicheren Bindung auf ihre Eltern verlassen können. Die Bindungsprobleme aus den

vorherigen Altersstufen ziehen sich jedoch weit in die Adoleszenz hinein. In der frühen

Kindheit haben sie, durch eine negative Mutter-Kind-Interaktion, nicht lernen können, dass

Bindungen eine sichere Basis darstellen können. Ihre Erfahrungen lehrten sie, dass sie statt

Fürsorge und Hilfe hauptsächlich Ablehnung erfahren würden. Daraus entwickelte sich

gegebenenfalls eine Abneigung von weiteren Beziehungen. Sie lernten, alleine zurecht zu

kommen. Damit einhergehend ist auch eine gewisse Unfähigkeit entstanden, Beziehungen

aufzubauen, sei es zu Gleichaltrigen oder Lehrern. Ihr Verhalten und Auftreten ist durch

Verstimmungen und durch altersspezifisches oppositionelles und antisoziales Verhalten

gekennzeichnet (vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 69ff).

Die Sexualität, Berufsfindung und der wachsende Wunsch nach Unabhängigkeit stellen die

Jugendlichen vor eine große Herausforderung. Diese Herausforderung kann jedoch ohne

Unterstützung und Zuwendung der Eltern schnell zu einer Überforderung bei den

Jugendlichen führen (vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 79). Durch die krankheitstypische

Verhaltensweise der Mutter ist die Identifikation des Kindes mit der Mutter beeinträchtigt.

Somit ist nur eine eingeschränkte Vorbildfunktion der Mutter vorhanden. Diese erschwert

es den Kindern, sich als eigenständiges Individuum von der Familie abzulösen. Ferner

zeigen depressive Mütter häufig nur wenig Interesse und Aufmerksamkeit den Kindern

gegenüber und wirken starr und reaktionsarm (vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 87).

„[…] das hat sie, das war ihr gar nicht wichtig, das ich gute Noten mit nach

Hause bringe eigentlich. Also natürlich hat sie sich mal gefreut, aber ähm aber

es war ihr gar nicht wichtig. Also, da hat sie mich auch nie mal n bisschen äh,

wie soll man sagen dazu, angestrebt, ne mich animiert, sodass ich mich da

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

17

wirklich bemühe oder so und - ja.“

Selbst unterstützende Gespräche sind für Kinder depressiver Mütter nur begrenzt möglich,

da die Mütter häufig nicht in der Lage sind, ihre eigenen Probleme hintenanzustellen und

sich auf die kindlichen Sorgen und Nöte zu konzentrieren. Zudem findet man in Familien

mit einer depressiven Mutter häufig keinen einheitlichen Erziehungsstil von Vater und

Mutter, weil die Eltern mit ihren eigenen Problemen meist selbst überfordert sind (vgl.

Groen/ Petermann, 2011a, 88; Sollberger/ Byland/ Widmer, 2008, 170).

„Ähm oder auch nein zu sagen, also so Konflikte, das konnte sie auch

überhaupt gar nicht und deswegen hab ich das auch nie, gar nicht so wirklich

gelernt […]“

Grenzen und Verbote gibt es nur wenige, da depressive Mütter Auseinandersetzungen aus

dem Wege zu gehen versuchen (vgl. Cicchetti, 2006, 142).

„[…] sie hat mir auch sehr wenige Regeln aufgestellt. Eigentlich, ... kaum was.

Also ich durfte schon sehr früh, sehr lange Aufbleiben. Ich durfte relativ lange

draußen bleiben, ich hatte eigentlich keine, ja gut, ja wie gesagt Bettgehzeit, ja.

Ich durfte recht früh Horrorfilme gucken... Ich weiß gar nicht, also ... da hab

ich von den anderen immer nur zu hören bekommen, von wegen „oah, du hast

ja ne coole Mutter!“ Aber gerade jetzt so im Endeffekt, äh jetzt so später merke

ich, dass es echt viel besser gewesen wäre, wenn ich einige mehr Regeln gehabt

hätte...

Dabei belastet das Fehlen von Grenzen und Verboten die Kinder sehr, „wenn die Welt für

sie nicht überschaubar ist, wenn viele Dinge sich oft unvorhersehbar ereignen und sie

keinen Einfluss darauf haben“ (Groen/ Petermann, 2011a, 91).

AUSWIRKUNGEN DER MÜTTERLICHEN DEPRESSIVITÄT

AUF KINDER AUS SICHT DER BINDUNGSTHEORIE DENISE REINHARD

18

Tabelle 2: Beispiele von Entwicklungsaufgaben und -Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter (in

Anlehnung an Wustmann, 2004, 21)

Altersstufen Entwicklungsaufgaben Entwicklungsbeeinträchtigungen

Säuglings-

und

Kleinkind-

alter

Bindung an Bezugspersonen

Sprachentwicklung

Selbstkontrolle/Selbststeuerung

(motorisch)

Unsichere Bindung

Gehemmte

Sprachentwicklung

Geringer

Explorationsdrang/

Selbstwirksamkeit

Schulalter Entwicklung von

Impulskontrolle

Beziehungen zu Gleichaltrigen

Anpassung an schulische

Anforderungen

Schwierigkeiten bei der

Emotionsregulation

Beziehungsprobleme zu

Gleichaltrigen

Aufmerksamkeits- und

Schulprobleme

Adoleszenz Identitätsentwicklung

Aufbau enger Freundschaften

moralisches Bewusstsein

Schulische Leistungsfähigkeit

Erschwerte Identitäts-

entwicklung durch fehlende

Identifikation mit der

erkrankten Mutter

Beziehungsprobleme zu

Gleichaltrigen

Loyalitätskonflikte

Vermehrte Schulprobleme

BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER DENISE REINHARD

19

4 BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN

DEPRESSIVER MÜTTER

Eine Depression der Mutter hat nicht nur weitreichende Folgen für sie selbst, sondern auch

für ihr gesamtes soziales Umfeld, insbesondere für ihre Kinder. Die prägnantesten Risiken,

denen Kinder depressiver Mütter ausgesetzt sind, werden im Folgenden dargestellt.

4.1 Parentifizierung

Einhergehend mit einer depressiven Erkrankung der Mutter entsteht häufig eine

Parentifizierung der Kinder. Als eine Parentifzierung wird in der Fachsprache eine

Rollenumverteilung innerhalb einer herkömmlichen Familienstruktur bzw. im Eltern-Kind-

Verhältnis verstanden (vgl. Weiß, 2006, 35). Eine Depression der Mutter kann das

Familienleben stark beeinflussen und verändern (vgl. Schone/ Wagenblass, 2002, 12) Zu

den vermeintlich gesunden Familienmitgliedern zählen häufig die Kinder. Sie übernehmen

immer mehr die Aufgaben der depressiven Mutter, die sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht

mehr bewältigen kann. Kochen, Waschen, Putzen und die Erziehung jüngerer Geschwister

gehören fest in den Alltag (vgl. Weiß, 2006, 35; Schone/ Wagenblass, 2002, 181ff).

„[…] einkaufen, ja ich glaub damals haben wir das erst noch ein Stückweit

noch zusammen gemacht. Ja und wo dann bei ihr die Angsterkrankung auch

kam, ähm war dann auch das ich dann viel doch das ich dann immer

regelmäßig allein einkaufen war.“

Ihr Verhalten richten die Kinder am Tagesablauf und anhand den Bedürfnissen der

erkrankten Mutter aus (vgl. Jungbauer/ Lenz, 2008, 11). Die Beweggründe sind zum einem

die Entlastung der Mutter und zum anderen das Gefühl, Schuld an der Erkrankung durch

„Fehlverhalten“ zu sein. „Bei einer emotionalen Abwesenheit der Eltern wird den Kindern

oft das Gefühl gegeben, mitverantwortlich für die Stabilität der Familie zu

sein.“ (Gutmann, 2008, 123)

„Der Haushalt war auch schon immer schwierig, weil das ja weil war halt auch

schon immer so ne Sache. Meine Mutter war halt immer äh, also es war immer

chaotisch bei uns, weil meine Mutter dann halt auch so Haushalt, Kochen, das

BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER DENISE REINHARD

20

waren, weiß ich nicht, das hatte sie alles auch nicht so richtig drauf. Also das

hat sie alles nicht so richtig hinbekommen. Und gerade Chaos, so aufräumen,

also das weiß ich nicht, das war dann bei ihr auch so ‘n, halbwegs verwahrlost

(lacht). […] Ich hab für mich alleine gekocht. Aber ich hab auch dann

irgendwie dann nach und nach einiges übernommen.“

Aus Angst, dass ihre Mutter immer stärker erkrankt und eventuell stationär behandelt

werden muss, versuchen die Kinder, eine gewisse Alltagsstruktur beizubehalten. Dass viele

Kinder durch diese zusätzlichen Aufgaben meist überfordert sind und nach einer Weile

selbst an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit geraten, findet bei den depressiven Müttern

kaum Aufmerksamkeit (vgl. Denke, 2005, 65). „Die Gefahr dieser Umkehr der

Rollenverhältnisse ist, dass Kinder ihre Kindheit nicht ausleben können.“ (Gutmann, 2008,

123)

Neben der Unterstützung im Haushalt kommt häufig eine emotionale Versorgung der

Mutter hinzu. Diese Aufgabe wächst mit dem Alter der Kinder. Je älter die Kinder werden,

desto mehr teilen sie die Sorgen der Mutter. Häufig werden die Kinder auch als

Partnerersatz emotional missbraucht, was zu weitreichenden psychopathologischen

Auffälligkeiten der Kinder führen kann (vgl. Müller, 2008, 140 & 145f).

„[…] ja also meine Mutter hat halt auch oft gesagt, dass sie ähm sich mehr äh

will mehr meine Freundin sein, als meine Mutter. Das hat sie mir auch gesagt.

[…] Was halt auch leider war das meine Mutter mich sehr so als

Erwachsenenersatz genutzt hat und mit mir geredet hat äh, ja mit mir auch

Probleme besprochen hat, halt was ja nicht so für Kinderohren ist, was sie mir

dann auch öfters mal gesagt hat.

Kommen die Jugendlichen in die Entwicklungsphase, sich von der Mutter emotional zu

lösen, geraten sie nicht selten in massive Loyalitätskonflikte. Sie befürchten, „dass sie ihre

Eltern im Stich lassen und diese die Situation nicht selbstständig bewältigen

können.“ (Gutmann, 2008, 123)

„Und ähm ja ansonsten war halt das ich immer sehr ähm mich für meine

Mutter verantwortlich gefühlt habe. Irgendwie das ich auf sie aufpassen muss,

sie beschützen muss ähm… […] Ja...ja und was, wie gesagt, meine Mutter hat

mir auch öfters gesagt, mit das sie, wenn ich nicht da wäre, würde sie sich n

BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER DENISE REINHARD

21

Strick nehmen.“

Die Kinder fühlen sich verantwortlich für die Mutter und sind nicht fähig, ihre eigenen

Wünsche und Bedürfnisse auszuleben. Sie sind „in einer symbiotischen Beziehung

gefangen, die sehr schwer aufzulösen ist.“ (ebd., 123)

„Mein Gefühl […]hilflos, geschockt, überfordert und ja und dann, danach hatte

ich vielleicht noch mehr das Gefühl, dass ich aufpassen muss auf meine Mutter

und weil irgendwie auch sonst niemand anderes wirklich da war. Niemand

anderes hat wirklich irgendwas gemacht.“

„[…] eigentlich wollte ich auch zu Hause ausziehen, aber auch schon länger

[…] Aber, ja ich hab mich es dann auch irgendwo nicht getraut, weil ich auch

so Angst um sie hatte. Dass sie sich dann umbringt, wenn ich nicht da bin. Das

sie dann total abstürzt. Noch mehr als vorher.“

4.2 Tabuisierung

In vielen Familien wird häufig nicht über die Erkrankung der Mutter gesprochen. Um die

Kinder zu schonen, wird aus falsch verstandener Rücksichtnahme das Thema

verschwiegen. Ein weiterer Grund dafür kann die Überforderung der Eltern sein, „die nicht

wissen, wie sie mit ihren Kindern altersgemäß über die Erkrankung reden können.“

(Müller, 2008, 144) Aus Scham und Angst der Eltern, den Kindern auf irgendeiner Weise zu

schaden, wird das Thema innerfamiliär tabuisiert. Verbunden mit der Tabuisierung und der

gegenwärtigen gesellschaftlichen Stigmatisierung psychischer Krankheiten glauben Kinder,

„ihre Gefühle wie Wut, Angst, Ärger, Schuld, Scham oder Mitleid nicht zeigen zu dürfen.

Das bringt sie in eine ständige Stresssituation.“ (Schone/ Wagenblass, 2002, 186) Die

Entwicklung von Bewältigungsstrategien ist enorm erschwert (vgl. Clausen/ Eichenbrenner,

2010, 95). Laut Schone und Wagenblass kann „die Verleugnung und Tabuisierung der

Krankheit […] dabei auf mehreren Ebenen stattfinden und hat in seinem Zusammenwirken

folgenreiche Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem.“ (Schone/ Wagenblass, 2002,

186) Die fehlende Krankheitseinsicht der Mutter wird als subjektive Verleugnungstendenz

beschrieben. Die Mutter sieht viel mehr die Außenwelt als krankhaft und problembelastet

an, sodass eine Bereitschaft zur Inanspruchnahme von psychiatrischen Hilfen nicht besteht.

Eine weitere Ebene stellt die innerfamiliäre Verleugnungstendenz dar. Die Mutter ist sich

BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER DENISE REINHARD

22

der Krankheit bewusst, trotzdem wird sie in der Familie nicht thematisiert. Diese

mangelnde Kommunikation kann bei Kindern zu Schuldgefühlen führen (vgl. Schone/

Wagenblass, 2002, 186f.).

„Und dann kam teilweise auch, ähm das sie mir Schu... Ja gesagt hat sie, ich

wäre schuld äh das es ihr so schlecht geht, weil ich ja mit meinen Problemen

mit den Essstörungen, weil ich ihr so Sorgen mache und so…“

Die Kinder nehmen die Symptome der Depression war und erleben sie jeden Tag aufs

Neue, können diese Beobachtungen jedoch nicht richtig einordnen und/oder

nachvollziehen. „In dieser Situation entwickeln Kinder die Vorstellung, sie könnten mit

ihrem (Wohl-)Verhalten das Befinden des erkrankten Elternteils beeinflussen […].“

(Müller, 2008, 144f)

Durch die externe Verleugnungstendenz erweist sich die Familie als ein geschlossenes

System. Es entwickelt sich eine meist unausgesprochene Familienregel, dass über dieses

Thema geschwiegen wird. Die einzelnen Familienmitglieder sind gut über die Krankheit

der Mutter informiert, ein Austausch mit der Außenwelt findet jedoch nicht statt. Jegliche

Kommunikation mit Dritten käme einem Verrat an der Familie gleich. Aufgrund von

entstehenden Loyalitätskonflikten müssen die Kinder mit ihren Sorgen und Nöten weiterhin

alleine fertig werden. Durch das Redeverbot fällt es Kindern insbesondere schwer,

Freundschaften aufzubauen bzw. aufrechtzuhalten (vgl. Schone/ Wagenblass, 2002, 188;

Müller, 2008, 144f.).

Als letzte Ebene muss die gesellschaftliche Verleugnungstendenz beachtet werden. Jede

Form psychischer Krankheiten hat in der Gesellschaft noch stigmatisierende Wirkung.

„Viele Menschen sind verunsichert im Umgang mit psychisch kranken Menschen […]“

(Schone/ Wagenblass, 2002, 189) und meiden den Kontakt. Aus Erfahrungen oder aus der

Angst heraus, bemitleidet oder abgelehnt zu werden, verschweigt die betroffene Familie die

Erkrankung in ihrem privaten Umfeld.

„[…] ich wollte das natürlich auch niemanden erzählen mit z.B. meine Mutter

mit Alkohol und, weil wir hatten in der Schule auch irgendwie das Thema

wegen Alkoholismus und gerade meine Klassenkameraden haben sich dann alle

irgendwie so n Penner auf der Straße vorgestellt, mit Alkohol so. Und joa ...

oder auch von den psychischen Problemen von meiner Mutter oder so hab ich

da nie was gesagt.“

BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER DENISE REINHARD

23

Die gesellschaftliche Stigmatisierung geht unweigerlich mit einer Tabuisierung der

Krankheit einher. Ein sozialer Ausschluss und die Isolation sind mögliche Folgen. „Dies

führt dazu, dass für alle Familienmitglieder tragende außerfamiliäre Beziehungen als

Bewältigungsressource nicht zur Verfügung stehen.“ (Müller, 2008, 145) Besonders bei

Kindern entstehen Gefühle wie Einsamkeit und das Alleingelassen werden. Häufig haben

die betroffenen Familien aber auch selber Vorurteile und Vorbehalte von psychischen

Krankheiten, dadurch werden familiäre Abwehrmechanismen entwickelt. Umbenennungen

und Normalisierungen des Verhaltens werden vorgenommen, sodass das Verhalten der

Mutter nicht als krankhaft identifiziert wird. Diese Entstigmatisierung führt zu einer

gewissen Entlastung der Familie (vgl. Schone/ Wagenblass, 2002, 190).

Ein zusätzlicher signifikanter Grund, weshalb die Krankheit oftmals in der Öffentlichkeit

oder sogar innerhalb der Familie verschwiegen wird, ist die Angst der Mutter, das

Sorgerecht für die Kinder zu verlieren (vgl. Müller, 2008, 145; Clasen/ Eichenbrenner,

2010, 96).

4.3 Ängste

Bei Kindern, die mit einer depressiven Mutter aufwachsen, bestimmen Ängste den Alltag

(vgl. Remschmidt/ Mattejat, 1994, 72). Angst um die erkrankte Mutter, Angst vor der

erkrankten Mutter und Angst, selbst zu erkranken, dominieren bewusst als auch unbewusst

die Gefühlswelt der Kinder (vgl. Schone/ Wagenblass, 2002, 190). Viele dieser

Angstzustände können reduziert werden, wenn den Kindern altersangemessene

Informationen über die Erkrankung der Mutter vermittelt werden. Ohne eine solche

Aufklärung erleben die Kinder für sie nur schwer verständliche und verwirrende

Verhaltensweisen der depressiven Mutter. Sie können das Verhalten ihrer Mutter weder

einordnen noch abschätzen (vgl. Schone/ Wagenblass, 2002, 190ff.).

„Hat sie mich, äh, später auch, äh, mal geschlagen, wo sie wohl auch

betrunken war oder sich durch den Alkohol schon ein Stück weit verändert hat.

Ähm z.B. hat sie mich einmal auf den Boden niedergeschlagen, wollte noch

zutreten, mir einmal fast die Nase gebrochen, oder angebrochen war sie wohl.

Hat auf jeden Fall auch extrem geblutet. […] auch so mit dem, gerade als der

Alkohol dann dazu kam, ähm, wie gesagt, da wurde das Ganze noch viel

schlimmer, da kam das alles noch viel mehr heraus, hervor.“

BESONDERHEITEN IN DER LEBENSWELT VON KINDERN DEPRESSIVER MÜTTER DENISE REINHARD

24

„Hatte ich auch Angst vor ihr, weil sobald ich, weil irgendwann habe ich dann

bei diesen ganzen Gesprächen hab ich dann irgendwann schon mal gesagt, von

wegen mal ich müsste jetzt schon mal gehen, äh ins Bett und keine Ahnung und,

und dann kam von ihr gleich total so von wegen „Ja dann geh doch äh“

(Stimme verstellt) und wurde auch gleich sauer und auch so wurde sie auch oft

schnell sauer, wenn sie dann betrunken war.“

Es kommt zudem häufig vor, dass depressiv Erkrankte offen von Suizidgedanken sprechen

oder Suizidversuche ausführen (vgl. Schone/ Wagenblass, 2002, 191).

„[…] Ähm ja und was dann halt auch kam, ähm das sie mir dann öfters dann

auch gesagt hat wenn ich nicht wäre, würde sie sich ein Strick nehmen...ähm,

ja, wenn ich nicht wäre, wenn ich weg wäre oder so, joa Strick nehmen...wäre

sie schon längst nicht mehr... ja oder Kugel geben und irgendwie so...ähm, joa

und zwischendurch war sie richtig ein seelisches Wrack.“

Diese Konfrontation kann bei Kindern „zu traumatischen Ängsten führen, die mit

Schuldgefühlen und Verantwortungsübernahme einhergehen.“ (Wagenblass, 2002, 6) Die

Angst um die Mutter ist bei Kindern somit im Alltag stets präsent. Die Äußerungen der

Mutter lassen große Sorgen bei den Kindern aufkommen, sodass „auch eine kleine

Abweichung vom eigentlichen Tagesablauf in der Familie Ängste aufkommen“ (Gutmann,

2008, 119) lässt. Ist die Mutter außerplanmäßig unterwegs und hat niemanden informiert,

entstehen häufig enorme Angstzustände bei den Kindern. „Dadurch wird es für sie auch

schwierig, sich auf ihre eigenen Entwicklungsaufgaben zu konzentrieren oder einfach

ausgelassen zu sein.“ (Gutmann, 2008, 199) Ferner beschäftigen sich viele Kinder mit einer

Vererbung der Krankheit. Durch unzureichendes Wissen über die Erkrankung sowie der

genetischen Disposition einer Depression entsteht bei Kindern der Glaube, dass sie früher

oder später auch daran erkranken (vgl. Wagenblass, 2002, 7). Nicht selten kommt es noch

hinzu, dass die Eltern diese Ängste noch verstärken. Sie „entdecken immer wieder

Ähnlichkeiten zwischen […] sich selbst und den Kindern und deuten diese als Veranlagung,

ebenfalls zu erkranken.“ (Gutmann, 2008, 118)

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

25

5 DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT

Es ist deutlich geworden, dass Kinder einer depressiv erkrankten Mutter mit einer Vielzahl

von Risikofaktoren in ihrer gesamten Entwicklungslaufbahn konfrontiert werden. Hierzu

zählen u.a. die zusätzlichen alltäglichen Anforderungen im Haushalt, Konflikte und

Spannungen innerhalb der Familie als auch im außerfamiliären Umfeld, wie z.B. in der

Schule und im Freundeskreis (vgl. Lenz, 2008, 96). Trotz andauernder hoher

Risikokonstellationen entwickeln sich viele dieser Kinder dennoch gesund und ohne

nennenswerten Verhaltensauffälligkeiten. Somit kann ausgeschlossen werden, dass widrige

Lebensumstände und extreme Risikosituationen per se die kindliche Entwicklung

beeinträchtigen (vgl. Wustmann, 2004, 27; Beardslee, 2002, 65). Ob Kinder psychische

Störungen entwickeln hängt stark vom Einzelfall und den Ausprägungen der vorhandenen

Risiko- und Schutzfaktoren und deren Balance zueinander ab. Eine Vielzahl verschiedener

Faktoren und Einflüsse und deren komplexes Zusammenspiel bzw. die Wechselwirkungen

spielen dabei die entscheidende Rolle (vgl. Werner, 2007, 28). Damit einhergehend können

ein und dieselben Risikofaktoren sehr unterschiedliche Effekte bei jedem Individuum

auslösen. Dies wird als Multifinalität bezeichnet (vgl. Beardslee, 2002, 82). Bei einer

depressiv erkrankten Mutter muss das Kind nicht zwingend eine Depression entwickeln,

sondern der Risikofaktor „Depression“ kann auch zur Entstehung anderer Störungen oder

aber zu gar keiner Beeinträchtigung führen (vgl. Cicchetti, 2006, 165). Zudem besteht die

Möglichkeit, dass ein Risikofaktor zu einem Schutzfaktor werden kann und vice versa. Als

Beispiel kann man das Selbstvertrauen nennen. Es gilt als wichtigster Schutzfaktor

gegenüber Stress. Bei starken Aggressionen kann ein überhöhtes Selbstvertrauen jedoch

auch ein Risiko darstellen (vgl. Lösel/ Bender, 2007, 65; Groen/ Petermann, 2011b, 87;

Fröhlich-Gildhoff [u.a.], 2010, 44).

„Also Mitgefühl habe ich sehr stark. Ähm kann mich, pff, kann mich in andere

Personen hineinversetzten. Ähm also das finde ich irgendwo schon ne Stärke,

wobei das teilweise ist das natürlich auch eher das Gegenteil, weil man sich

dann zu sehr hineinversetzen kann, oder das einen zu sehr mitnimmt irgendwo,

wenn jemand anderes dann auch ein Problem hat.“

„Diese Multifinalität von Resilienz macht deutlich, dass Resilienz immer kontextuell

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

26

betrachtet werden muss und nicht ein universeller, auf alle Individuen gleich übertragener

Begriff ist.“ (Fröhlich-Gildhoff [u.a.], 2010, 44) Als das Pendant der Multifinalität gilt die

Äquifinalität. Sie beschreibt die Tatsache, dass unterschiedliche Risikofaktoren zu einem

gleichen Entwicklungsergebnis (Störungen) führen können (vgl. Groen/ Petermann, 2011b,

87; Lösel/ Bender, 2007,65). Die kindliche Widerstandsfähigkeit ist kein angeborenes

Persönlichkeitsmerkmal. Vielmehr stellt sie eine erworbene Kompetenz dar, die durch die

Kind-Umwelt-Interaktion entsteht. Sie repräsentiert keine absolute Verwundbarkeit, die

einmal gelernt und niemals verlernt wird. Vielmehr variieren die resilienten Eigenschaften

über die Zeit und Situationen hinweg (vgl. Rutter, 2000/ Waller 2001, zit. n. Wustmann,

2004, 30). Daher wird häufig von einer situations- und lebensbereichsspezifischen

Resilienz gesprochen (vgl. Luthar, 1993/ Scheithauer [u.a.], 2000, zit. n. Wustmann, 2004,

32). Besonders die Entwicklungsübergänge bei Kindern stellen eine Phase erhöhter

Vulnerabilität dar. Neue Anforderungen wie „die körperliche Reifung im Jugendalter, der

Wechsel in eine weiterführende Schule oder der Eintritt in das Berufsleben“ (Groen/

Petermann, 2011b, 87) machen die Kinder anfälliger bzw. verletzlicher für ungünstige

Umwelteinflüsse (vgl. Groen/ Petermann, 2011b, 87; Wustmann, 2004, 31).

Komplexe und spezifische Erklärungsansätze wurden zur Ätiologie und Aufrechterhaltung

psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter konzipiert. Darunter befindet sich das

entwicklungspsychologische Modell von Cicchetti und Toth (1998). Das wissenschaftlich

fundierte Erklärungsmodell ist stark mit dem Konzept von Risiko-und Schutzfaktoren

verbunden. Bezugnehmend auf Cicchettis Forschungsergebnisse werden im Folgenden die

möglichen Risiko- und Schutzfaktoren von Kindern depressiver Mütter näher betrachtet.

Anschließend werden mögliche Bewältigungsstrategien aufgezeigt, die durch schwierige

Lebensumstände erworben werden. Den entscheidenden Einfluss auf das Belastungserleben

des Kindes haben nicht die Häufigkeit und Intensität der Stresssituation, sondern die Art

und Weise wie die Belastungen bewältigt werden (vgl. Lenz, 2008, 96).

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

27

Abbildung 1: An ecological-transactional model of child maltreatment (Cicchetti, 2006, 135)

5.1 Risikofaktoren

Als Risikofaktoren wurden eine Reihe von Umweltfaktoren identifiziert, die die

Wahrscheinlichkeit einer Entstehung von psychischen Störungen erhöhen. Beim Vorliegen

eines Risikofaktors ist zwar die Wahrscheinlichkeit von Störungen in der Entwicklung

erhöht, jedoch nicht determiniert (vgl. Wolke, 2001, zit. n. Wustmann, 2004, 36). Ein

Kausalzusammenhang zwischen Risiko und Störung besteht somit nicht. Das Aufwachsen

bei einem psychisch erkrankten Elternteil, besonders wenn die Mutter betroffen ist, gilt als

ein wichtiger Risikofaktor für psychische Störungen/Fehlanpassungen in der Entwicklung

von Kindern (vgl. Groen/ Petermann, 2011b, 106). Dieses Risiko hat häufig eine Vielzahl

von Problemen bzw. Risikofaktoren zu Folge.

„Zur Einordnung der vielfältigen […] möglicherweise beteiligten Risikofaktoren

verwenden Cicchetti und Toth (1998) das ökologische Modell von Bronfenbrenner (1979)

als Ordnungssystem.“ (Groen/ Petermann, 2011b, 102) Vier Ebenen, die reziprok

miteinander interagieren, werden dabei unterschieden: Das Makrosystem, das Exosystem,

das Mikrosystem sowie die ontogenetische Entwicklung. Auf jeder dieser vier Ebenen

können Risiko-und Schutzfaktoren vorhanden sein und die Prozesse auf den anderen

Ebenen beeinflussen. Dieses geschieht sowohl vertikal als auch horizontal. Kein

Risikofaktor kann somit isoliert betrachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Störung in

der Entwicklung eines Kindes ist durch die Balance von Risiko- und Schutzfaktoren

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

28

bestimmt. Dabei gilt, je näher ein Risikofaktor am Kind dran ist, desto größer ist die

Wahrscheinlichkeit, dass er das Kind beeinflusst (vgl. Cicchetti, 2006, 134).

Das Makrosystem spiegelt die gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren wieder. Damit

sind gesellschaftliche Normen und Werte gemeint, die ein Individuum im gesamten Leben

beeinflussen können. Im Falle von psychischen Erkrankungen im Elternhaus ist immer

noch eine mangelnde öffentliche Sensibilisierung zu verzeichnen (vgl. Groen/ Petermann,

2011b, 103). Die daraus resultierende Stigmatisierung kann im Familienleben verheerende

Folgen mit sich ziehen. Die Tabuisierung (siehe 4.2) und Folgeerscheinungen sind als

solche zu nennen. Auf Grund von Tabuisierung wird häufig die Hilfebedürftigkeit der

betroffenen Kinder unterschätzt oder gar nicht erst registriert (vgl. ebd., 103).

Als Exosystem gelten die Netzwerke der Familie. Sowohl die Nachbarschaft, die Schule,

der Arbeitsplatz, die Peergroup als auch der sozioökonomische Status der Familie zählen

dazu. Häufig befinden sich Familien mit einem psychisch kranken Elternteil in einer

schlechten finanziellen Lage, die mit möglicher Arbeitslosigkeit, schlechten

Wohnverhältnissen und sozialer Isolation verbunden ist (vgl. Groen/Petermann, 2011b, 108;

Mattejat, 2008, 84f; Buist/ Bilszta, 2005 zit. n. Wilkinson/ Mulcahy, 2010, 252). Weiterhin

sind Schwierigkeiten bei der Kinderziehung bzw. Eltern-Kind Bindung zu verzeichnen

(siehe Kapitel 3). Dies sind Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass

Kinder Auffälligkeiten in ihrer Entwicklung zeigen. Zwar können durch

Netzwerkaktivierung und Informationsvermittlung die Risikofaktoren in ihrer Intensität

abnehmen, doch durch die soziale Isolation und durch die gesellschaftliche Stigmatisierung

fällt es vielen Familie schwer, Hilfe anzunehmen (vgl. Cicchetti, 2006, 138).

Das Mikrosystem stellt die Faktoren der unmittelbaren Umgebung des Kindes dar (vgl.

Groen/ Petermann, 2011b, 103). Angesiedelt sind hier die Familiendynamik, der

Erziehungsstil und die persönlichen Beziehungserfahrungen des Kindes. In Familien mit

einem psychisch kranken Elternteil erfahren Kinder häufig unorganisierte und chaotische

Situationen. Ängste können entstehen und die kindliche Entwicklung stark beeinflussen

(siehe Kapitel 4.3). Der Erziehungsstil ist häufig durch Negativ-Spiralen geprägt.

Besonders Kinder depressiver Mütter sind einem hohem Risiko ausgesetzt. Sie werden

weniger gelobt und unterstützt und spüren eine ständige Unzufriedenheit von Seiten der

Eltern bzw. der Mutter (vgl. Cicchetti 140f.). Ein negatives Selbstkonzept wird durch ein

solches Verhalten geschürt, welches immense Risiken für die weitere Entwicklung eines

Kindes mit sich zieht. Weiterhin wurden starke Verzerrungen in der Eltern-Kind

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

29

Konstellation festgestellt. Die Eltern haben häufig unangemessene Erwartungen den

Kindern gegenüber, sodass nicht selten die Kinder Verantwortung übernehmen, denen sie

selbst noch nicht gewachsenen sind (siehe Kapitel 4.1).

Als prägendste Ebene gilt die ontogenetische Entwicklung. Sie beschreibt die

personenbezogenen Faktoren wie z.B. die Emotionsregulation, das Bindungsverhalten, die

Entwicklung der Autonomie, der Moral und eines positiven Selbstwertgefühles,

Freundschaften etc. (vgl. Cicchetti, 2006, 143; Groen/ Petermann, 2011b, 101). Der Erwerb

dieser Faktoren ist hierarchisch aufgebaut und ein Prozess über die gesamte Lebensspanne

hinweg. Jede Entwicklungsstufe baut dabei auf die vorherige auf. „Die angemessene

Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben fördert die allgemeinen und spezifischen

Kompetenzen der Person und verhilft ihr zu besseren Voraussetzungen für weitere

Entwicklungsaufgaben.“ (Groen/ Petermann, 2011b, 101) Nicht angemessen bewältigte

Entwicklungsaufgaben können die nächsten Stufen in Form von Fehlanpassungen

beeinflussen (vgl. Cicchetti, 2006, 143; Groen/ Petermann, 2011b, 101). Risikofaktoren auf

der personenbezogenen Ebene werden in der Fachsprache als Kindbezogene- bzw.

Vulnerabilitätsfaktoren bezeichnet. „Damit ist die Verletzbarkeit, Verwundbarkeit oder

Empfindlichkeit einer Person gegenüber äußeren (ungünstigen) Einflussfaktoren gemeint.“

(Jungmann/ Reichenbach, 2011, 9) Hierbei lassen sich primäre und sekundäre

Vulnerabilitätsfaktoren differenzieren.

Als primäre Vulnerabilität zählen prä-, peri- und postnatale Faktoren, wie z.B. genetische

Disposition, Geburtskomplikationen, Frühgeburten oder dysfunktionale Kognitionen (vgl.

Groen/ Petermann, 2011b, 87).

Die sekundäre Vulnerabilität wird erst durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt

erworben. Gemeint sind hiermit die Interaktionen zu Bezugs- und Bindungspersonen.

Erleben Kinder positive Bindungserfahrungen, entwickelt sich eine geringere Vulnerabilität

als bei Kindern mit negativen Bindungserfahrungen. Die durch negative Bindungserfahrung

entstehende „Anfälligkeit [bei Kindern] kann sich in psychobiologischen, kognitiven,

affektiven, verhaltensbezogenen und interpersonalen Auffälligkeiten äußern.“ (Groen/

Petermann, 2011b, 107) Die fehlende emotionale Sicherheit von der Mutter erhöht die

Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Risikofaktoren gegenüber weniger gut gewappnet sind.

Ein geringes Selbstwertgefühl, unsichere Bindungen, dysfunktionale Emotionsregulation

sowie mangelnde soziale Kompetenzen sind als Folge zu verzeichnen. Da depressive

Mütter Schwierigkeiten haben, ein positives und stabiles Bindungsverhalten zu ihren

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

30

Kindern aufzubauen (siehe Kapitel 3), entwickeln die Kinder eine erhöhte Vulnerabilität.

Daraus resultiert, dass Kinder depressiver Mütter in doppelter Weise belastet sind. Zum

einen reagieren die Kinder empfindlicher auf Umweltbelastungen als andere und sind

aufgrund der psychischen Erkrankung der Mutter dauerhaft einer multiplen Risikobelastung

ausgesetzt (vgl. Mattejat, 2008, 85).

Ein niedriger sozioökonomischer Status der Familie, Arbeitslosigkeit, beengte

Wohnverhältnisse, Disharmonie zwischen den Eltern, Scheidung oder Trennung der Eltern,

Betreuung durch einen alleinerziehenden Elternteil, Verlust von wichtigen Bezugspersonen

etc. können die Lebenswelt von Kindern stark beeinflussen (vgl. Groen/ Petermann, 2011b,

108; Mattejat, 2008, 84f). „Das Familienklima ist häufiger negativ und von einem

dysfunktionalen Umgang mit Problemen gekennzeichnet.“ (Groen/ Petermann, 2011b, 108)

Kommen diese Risikofaktoren vereinzelt vor, lassen sie sich meist gut von Kindern

bewältigen. Akkumulieren sich die Risikofaktoren jedoch, summieren sie sich nicht nur,

sondern können sich auch gegenseitig verstärken. Infolgedessen kann eine erhöhte

Belastung für Kinder entstehen, die zu psychischen Beeinträchtigungen führen kann (vgl.

Lösel/ Bender, 2007, 62; Mattejat, 2008, 85). Ferner kann festgestellt werden, dass das

Aufwachsen unter risikoerhöhenden Bedingungen in einem frühen Entwicklungsstadium

des Kindes die Wahrscheinlichkeit für weitere risikoerhöhende Bedingungen zu einem

späteren Zeitpunkt der Entwicklung steigen lässt (vgl. Wustmann, 2004, 41).

5.2 Schutzfaktoren

Trotz diverser Risikofaktoren, denen Kinder depressiver Mütter ausgesetzt sind, können

abweichende Entwicklungen bzw. Störungen ausbleiben. Mit Hilfe von Schutzfaktoren,

welche die psychische Widerstandsfähigkeit stärken, wappnen sich die Kinder gegenüber

starken Belastungen (vgl. Wustmann, 2004, 44ff). Schutzfaktoren schwächen im

Allgemeinen die stressreichen Lebensumstände (potenzielle Risikofaktoren) in ihrer

Intensität ab, so dass negative Folgereaktionen reduziert werden können. Aufgrund der

kompensatorischen Eigenschaft werden ‚risikomildernde‘ Faktoren synonym zu

Schutzfaktoren gebraucht (vgl. Jungmann/ Reichenbach, 2011, 11). Durch empirische

Untersuchungen wurden Schutzfaktoren bzw. Faktoren, die eine positive Entwicklung

fördern, identifiziert (vgl. Mattejat, 2008, 86). Sie differenzieren sich in Schutzfaktoren, die

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

31

im Kind (ontogenetische Entwicklung), in der Familie (Mikrosystem), im sozialen Umfeld

(Exosystem) und der Umwelt (Makrosystem) vorkommen.

„Schutzfaktoren, die im Kind liegen, werden als Resilienz (Widerstandsfähigkeit)

bezeichnet.“ (Jungmann/ Reichenbach, 2011, 11) Dabei werden konstitutionelle Faktoren

und Faktoren unterschieden, die durch die Entwicklung bzw. der Kind-Umwelt-Interaktion

zu erwerben sind. Erstere beschreiben „ein positives Temperament, was durch Flexibilität,

Aktivität und Offenheit gekennzeichnet ist und eine überdurchschnittliche Intelligenz.“

(ebd., 11) Zu den letzteren Schutzfaktoren zählt die Entwicklung eines positiven

Selbstwertgefühls, eines positiven Sozialverhaltens, einer guten Selbstwirksamkeits-

überzeugung sowie eines konstruktiven Bewältigungsverhaltens des Kindes (vgl. Groen/

Petermann, 2011b, 88; Jungmann/ Reichenbach, 2011,11).

Auf der Ebene des Mikrosystems, im familiären Umfeld, tragen folgende Faktoren zu einer

Entwicklung von Resilienz bei: „Ein offenes unterstützendes Erziehungsklima, eine stabile

emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson, familiärer Zusammenhalt und Modelle

positiven Bewältigungsverhaltens.“ (Jungmann/ Reichenbach, 2011,11) Kindern

depressiver Mütter fehlt es häufig an einer stabilen Beziehung zur Mutter. Hier ist es umso

wichtiger, dass den Kindern eine andere gesunde Bezugsperson zur Verfügung steht. Diese

Aufgabe können die Väter, die Großeltern, aber auch die älteren Geschwister oder

Erzieher/Lehrer übernehmen (vgl. Werner, 2007, 23f.). Zudem ist das Gefühl der Kinder,

auch von der erkrankten Mutter geliebt werden, von zentraler Bedeutung. Ebenso gibt eine

stabile häusliche Umgebung Kindern das Gefühl von Sicherheit, sodass eine weitgehend

normale Entwicklung möglich ist (vgl. Mattejat, 2008, 86).

Schutzfaktoren des Exosystems spiegeln sich in Erfahrungen positiver Freundschaften,

sozialer Unterstützungen sowie in positiven Schulerfahrungen wieder (vgl. Jungmann/

Reichenbach, 2011, 11; Groen/ Petermann, 2011b, 88). Hobbies und Erfolg außerhalb der

Familie stellen weitere wichtige Ressourcen der Kinder dar.

Auf der Makroebene gehören ein gesellschaftliches Verständnis und öffentliche

Sensibilisierung für psychische Erkrankungen zu den zentralen Schutzfaktoren (vgl.

Schone/ Wagenblass, 2002, 190).

Wie im Falle der Risikofaktoren kumulieren sich auch die Schutzfaktoren und verstärken

sich gegenseitig. Als ein Beispiel sei hier eine positive Bindung zu einer Bezugsperson

genannt. Daraus kann ein positives Selbstbild des Kindes entstehen, welches ein erhöhtes

Gefühl der Selbstwirksamkeit hervorruft. „Personen mit einem positiven Selbstbild sind im

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

32

weiteren Entwicklungsverlauf wiederum verstärkt in der Lage, zwischenmenschliche

Beziehungen aufzubauen und soziale Unterstützung durch andere zu mobilisieren.“

(Wustmann, 2004, 47) Sie unterliegen der ständigen gegenseitigen Wechselwirkung und

dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Welche Faktoren eine protektive Wirkung auf die

Kinder haben, hängt von der individuellen Bedingungskonstellation des Kindes ab.

Faktoren bzw. Eigenschaften des Kindes erweisen sich auch erst dann als protektiv, wenn

ein „passender/entsprechender“ Risikofaktor vorhanden ist (vgl. Wustmann, 2004, 53;

Werner, 2007, 27).

Als einer der wichtigsten Schutzfaktoren bzw. Bewältigungsressourcen von Kindern

depressiver Mütter gilt das Wissen und Verstehen der Krankheit. „Krankheitsbedingte

Veränderungen [der Mutter] werden von Kindern oft früh wahrgenommen“ (Sollberger/

Byland/ Widmer, 2008, 163), können jedoch durch fehlende Informationen über die

Krankheit nicht richtig eingeordnet werden. Die Kinder können sich die Verhaltensweise

der Mutter weder erklären noch nachvollziehen. Es entsteht der Glaube, dass sie durch ihr

eigenes Verhalten schuld an der Situation sind. Laut den Studienergebnissen von Sollberger,

Byland, Widmer (2008) wurden rund 67 % der Kinder eines psychisch kranken Elternteils

nicht professionell über die elterliche Diagnose aufgeklärt. Dies geschah, obwohl

nachweislich herausgefunden wurde, dass eine altersangemessene Informationsvermittlung

über die Krankheit „ […] Verwirrungen, Unsicherheiten, Ängste und Stress vermindert

[und] die Explorationsentwicklung […] unterstützt.“ (Sollberger/ Byland/ Widmer, 2008,

162)

5.3 Bewältigungsstrategien

Als Bewältigungsstrategien werden konkrete Handlungsversuche bezeichnet, mit denen in

belastenden Situationen emotional und kognitiv umzugehen versucht wird. Dabei handelt

es sich um einen andauernden Prozess, der bei jeder Stresssituation von Neuem beginnt. Zu

den Hauptaufgaben des Bewältigungsverhaltens zählen die Verringerung von schädigenden

Einflüssen der Umwelt, die Verbesserung von Erholungsmöglichkeiten sowie die

Aufrechterhaltung und Sicherung von emotionalem Wohlbefinden, sozialen Beziehungen

und eines positiven Selbstbildes. Um diese Aufgaben bewältigen zu können, bedarf es laut

Lazarus und Launier immer zweier subjektiver Bewertungsprozesse im Voraus. Zum einem

die Einschätzung der Stresssituation in Bedrohung und Herausforderung und der Vergleich

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

33

zu früheren Erfahrungen. Hierbei werden Information aus der Umwelt herangezogen. Zum

anderen wird die Einschätzung der persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten gegenüber der

Stresssituation, in Form der Ressourceneinschätzungen, benötigt. Dabei werden Merkmale

der Person, wie z.B. Wertevorstellung, Überzeugung und ihre Kompetenzen sowie die

verfügbare soziale Unterstützung mit einbezogen. Somit wird deutlich, dass „die

Stresssituation […] ihre Bedeutung erst durch das Selbstbild des Individuums hinsichtlich

seiner eigenen Handlungskompetenzen und Kontroll-möglichkeiten“ (Holtz, 2000, zit. n.

Wustmann, 2004, 77) gewinnt.

Bewältigungsstrategien lassen sich in verschiedene Kategorien einordnen. Die defensive

Bewältigungstrategie hat zum Ziel, die Stresssituation zu vermeiden (vgl. Beyer/ Lohaus,

2007, 16f.). Hierzu zählen Handlungen wie der Rückzug, die Vermeidung der Situation,

Verleugnung, soziale Abkapselung oder die Isolation, mit möglichem Drogenkonsum und

Gewalt (vgl. Wustmann, 2004, 77ff.).

„Hab mich auch sehr zurück gezogen, zu Hause auch fast nur noch in meinem

Zimmer gewesen. Um mir das mit meiner Mutter nicht mehr angucken zu

müssen. Diesen Gesprächen aus dem Wege zu gehen, wenn´s ging…“

Mit der aktiven Bewältigungsstrategie setzt sich das Individuum mit dem Stressereignis

konkret auseinander. Hier sind Handlungen wie die Suche nach Informationen oder nach

sozialer Unterstützung zu nennen (ebd., 2004, 77ff.; Werner, 2007, 28; Beyer/ Lohaus,

2007, 17).

„Ja, ich hatte halt meinen Freund, mit dem ich jetzt noch ja zusammen bin.

Ähm mit ihm bin ich zusammen gekommen als ich, äh, fast 14 war und er fast

16. Und joa, er war mir dann eine sehr große Stütze, weil sonst weiß ich nicht,

sonst würde ich heute vielleicht nicht hier sitzen.“

Ferner lassen sich die problemorientierten und emotionsorientierten Strategien voneinander

unterscheiden.

Die problemorientierte Bewältigungsstrategie konzentriert sich auf das Problem bzw. die

Bedingungen der Stresssituation, welche es zu lösen gilt. Diese Strategie kann eine

Veränderung der Umweltbedingungen, des eigenen Verhaltens oder der Bewertung der

Stresssituation beinhalten. Es wird also versucht, sich durch Aneignung neuer Fertigkeiten

oder Änderungen von Gewohnheiten an die Situation anzupassen, um so dem Stress der

DIE KINDLICHE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT DENISE REINHARD

34

Situation aus dem Wege zu gehen (vgl. Wustmann, 2004, 77).

„Also ich war auch relativ früh alleine auf dem Spielplatz. So das weiß ich

auch noch. Aber irgendwie ja mit anderen Kindern, ja aber auch alleine. Und

das meine Mutter dann zu Hause war. Gerade mit Spielen, so das weiß ich,

eher das sie da nicht so mit gemacht hat, so richtig. Das sie dann, ja es hieß

von ihr: nö kein Bock, nö keine Lust oder so.“

Die emotionsorientierte Bewältigungsstrategie dient „der Kontrolle bzw. Regulierung der

somatischen und emotionalen Reaktionen.“ (Wustmann, 2004, 78) Hierbei wird versucht,

die emotionale Erregung, die bei einer Stresssituation entsteht, abzubauen. Das Ziel stellt

nicht die Problemlösung dar, sondern den Schutz der eigenen Person. Entspannung,

Träumereien oder sich abreagieren sind mögliche Verhaltensmuster.

„An einige Gefühle kann ich mich auch nicht mehr so ganz so richtig dran

erinnern, weil irgendwann, habe ich halt auch irgendwie so eine Mauer

aufgebaut. Ähm, und ich sehe, vieles ist irgendwie, sind so verschwommene

Gefühle ...wie, wie unter, ich weiß nicht, wie unter Milchglas oder so.“

„[…]sie hat mir dann halt trotzdem, des Öfteren gesagt, sie hat mich lieb und...

aber ich konnte das dann einfach nicht mehr sagen. Das war dann irgendwie,

ich hab´s natürlich immer noch getan, aber es war halt so, ich konnte das halt

nicht mehr sagen.“

Welche dieser Strategien verwendet wird, hängt stark vom Einzelfall und der Einschätzung

der Situation ab. Wird die Stresssituation als kontrollierbar eingeschätzt, werden

problemlösende Strategien verwendet. Bei unkontrollierbaren Situationen kommen meist

die emotionsregulierenden Strategien zum Einsatz (Lazarus, 1993, zit. n. Beyer/ Lohaus,

2007, 18). Je jünger die Kinder sind, desto häufiger werden die problemorientierten

Strategien benutzt, und im Verlauf der Entwicklung eignen sich die Kinder immer mehr die

emotionsregulierenden Strategien an. Schwierigkeiten bestehen jedoch in der Fähigkeit der

Kinder bei der Einschätzung der Situation. Somit können nicht alle Bewältigungsversuche

per se als Linderung von Stress angesehen werden. Einige können sogar die Situation

verschlimmern und zur Akkumulation von Risikofaktoren beitragen (vgl. Wustmann, 2004,

76ff).

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

35

6 EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER

SOZIALEN ARBEIT

Nicht alle Kinder schaffen es, die Herausforderungen, die sich beim Aufwachsen mit einer

depressiven Mutter ergeben, erfolgreich zu bewältigen. Da die Kinder von heute die Eltern

von morgen sein werden, ist es umso wichtiger, adäquate Hilfen so früh wie möglich

bereitzustellen. Bis 1996 lag der Fokus der Hilfen nur auf der erkrankten Person selbst und

evtl. dessen Lebenspartner, und die Bedürfnisse der Kinder wurden kaum wahrgenommen.

Dass eine Depression der Mutter jedoch auch immer eine Familienerkrankung impliziert,

wurde erstmalig 1996 auf dem Kongress „Hilfen für Kinder psychisch Kranker“

thematisiert und öffentlich diskutiert. Verschiede Angebote sind seitdem von Seiten der

Sozialen Arbeit entstanden, um besonders den schwächsten Mitgliedern der Familie zu

helfen. Auch wenn Kinder resiliente Eigenschaften aufweisen und ihr Leben bislang gut

gemeistert haben, ist es dennoch wichtig, auch ihnen präventive Hilfen zukommen zu

lassen. Denn Resilienz im Jetzt kann nicht generell als Resilienz in der Zukunft gesehen

werden.

Im Folgenden wird das Präventionsprogramm „Hoffnung, Sinn & Kontinuität“ von W.

Beardslee näher betrachtet. Es ist auf die Problematiken eines depressionserkrankten

Elternteils spezialisiert. Das Programm ist für Familien mit Kindern zwischen 9-14 Jahren

konzipiert und wirkt somit möglichen Risiken in der Adoleszenz entgegen. Als zweites

Hilfsangebot wird das Kindergruppenangebot AURYN vorgestellt. Hier sind Kinder im

Schulalter die Zielgruppe, wobei auch jüngeren Kindern Hilfen geboten werden. Als letzte

exemplarische Interventionsmöglichkeit steht die stationäre Mutter-Kind-Aufnahme. Dieses

Hilfsangebot richtet sich besonders an Mütter mit ihren Kindern bis zum vierten

Lebensjahr.

6.1 „Hoffnung, Sinn & Kontinuität - Ein Programm für Familien

depressiv erkrankter Eltern“ von Prof. Dr. William Beardslee

Das US-amerikanische Präventionsprogramm „Hope, Meaning and Continuity: A Program

for Helping Families When Parents Face Depression” wurde in den Jahren 1994 bis 2001

von W. Beardslee entwickelt und zahlreich erprobt. Die Besonderheit dieses

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

36

Präventionsprogrammes liegt darin, dass es für Familien aus unterschiedlichsten kulturellen

und sozialen Herkünften konzipiert wurde. Folglich handelt es sich bei diesem Programm

nicht um ein striktes Therapiemanual, sondern vielmehr um ein Programm mit vorgebenden

Rahmenbedingungen und individuellen Ausgestaltungsmöglichkeiten. Dies ist wichtig, um

sich an die Besonderheiten einer jeden Familie, wie z.B. Anzahl und Alter der Kinder, das

Vorhandensein einer komorbiden Erkrankung, den sozioökonomischen Status etc., anpassen

zu können (vgl. Beardslee, 2009, 9). Die intensive, psychoedukative, familienzentrierte

Kurzzeitintervention mit Langzeit-Follow-Up ist für Familien sowie für Ein-Eltern-

Familien konzipiert worden, wenn mindestens ein Elternteil Episoden affektiver Störungen

erfahren hat/ hatte und mindestens ein Kind zwischen 9 und 14 Jahren in der Familie lebt.

Diese Altersspanne wurde, aufgrund des erhöhten Risikos für psychische Erkrankungen

während der mittleren Adoleszenz gewählt. In der Regel erstreckt sich die Intervention,

welche von Sozialarbeitern, Kinderärzten, Erziehungsberatern durchgeführt werden kann,

auf sechs bis acht Sitzungen, mit einem Langzeit-Follow-Up auf unbestimmte Zeit. In den

Sitzungen werden Einzelinterviews mit den Eltern und den Kindern durchgeführt sowie

eine Diskussion mit der gesamten Familie. Dies setzt voraus, dass sich die komplette

Familie für die Durchführung der Intervention bereiterklärt. Im Laufe der Intervention wird

eine Reihe von Strategien verwendet, um den Familien zu helfen. „Sie umfassen die

Vermittlung von Informationen über Depressionen […], eine umfassende Diagnostik aller

Familienmitglieder, die Veranlassung entsprechender Überweisungen […], sowie die

Förderung einer hoffnungsvollen Haltung bezüglich der Zukunft.“ (ebd., 2009, 43)

Durch die Informationsvermittlung über affektive Erkrankungen soll eine Verbindung

geschaffen werden, die der Familie dabei hilft, aus ihrer individuellen und familiären

Perspektive sowie aus der eigenen Lebenserfahrung heraus ein gemeinsames Verständnis

für die Krankheit zu entwickeln. Dabei sollen die objektiven Informationen allen

Familienmitgliedern Kontrolle über die Situation (zurück)-geben, welche das Gefühl der

Hilflosigkeit mindern soll. Speziell den Eltern wird zusätzlich noch das Wissen vermittelt,

wie sie die Stärken ihrer Kinder fördern können. So haben die Kinder die Chance, trotz

hoher Belastungen zu einem zufriedenen Erwachsenen heranwachsen zu können (vgl.

Beardslee, 2002, 8; Beardslee, 2009, 46f.).

Als oberstes Ziel dieser Intervention respektive Präventionsprogramms ist die Prävention

psychiatrischer Erkrankungen im Kindesalter zu verstehen. Dies geschieht auf drei Ebenen.

Auf der ersten Ebene soll durch die Förderung der kindlichen Resilienz und des familiären

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

37

Verständnisses für die Krankheit eine Verminderung zukünftiger depressiver oder anderer

psychischer Erkrankungen der Kinder erreicht werden. Auf der zweiten Präventionsebene

werden kognitive Informationen über Warnsignale für depressive Erkrankungen im

Kindesalter vermittelt. Somit entsteht ein besseres Frühwarnsystem von Seiten der Eltern

aus. Als letzte Präventionsebene ist die Sensibilisierung des elterlichen Bewusstseins

einzuordnen. Dies soll dazu dienen, dass bisher nicht erkannte Fälle kindlicher

Fehlanpassungen bzw. Störungen identifiziert und behandelt werden können (vgl.

Beardslee, 2009, 44).

Im Allgemeinen lassen sich laut W. Beardslee die folgenden sieben Ziele des

Präventionsprogrammes zusammenfassen:

1. Unterrichtung der Eltern über die Krankheit Depression sowie

diesbezügliche Risiko- und Resilienzfaktoren für Kinder;

2. Hilfe beim Verständnis von Resilienz und ihrer Förderung bei den eigenen

Kindern;

3. Hilfe beim Erkennen der gegenwärtigen Bedürfnisse der Kinder und

Beratung über mögliche Maßnahmen für den Fall einer Zuspitzung der

Schwierigkeiten;

4. Hilfe beim Planen der eigenen Zukunft;

5. Hilfe beim Entwickeln neuer Strategien der Kommunikation über die

Erkrankung und damit in Zusammenhang stehender Schwierigkeiten;

6. Entwicklung neuer Verhaltensweisen und Einstellungen gegenüber der

Erkrankung;

7. Entwicklung grundlegend neuer Strategien zur Erhöhung der Resilienz und

Verbesserung der Kommunikation. (ebd., 2009, 44)

Um die Intervention besser beschreiben zu können, wurde ein sechsstufiges Grundgerüst

entwickelt. Die Stufen können untereinander variieren und mehr oder weniger deutlich

während des Verlaufes der Intervention zum Vorschein kommen (vgl. ebd., 2002, 14).

Als erste Stufe ist die „familiäre Krankheitsgeschichte“ zu nennen. Zwei Sitzungen werden

für diese Stufe benötigt, um ein Einzelgespräch nur mit den Eltern und eins nur mit den

Kindern zu führen. In der ersten Sitzung, in der nur die Eltern anwesend sind, wird die

Familiengeschichte erfasst. Aktuelle und frühere Erfahrungen mit der Erkrankung werden

besprochen. Der Interventionsleiter hilft dabei den Eltern, das Verständnis von den

Ursachen und Auswirkungen der Krankheit zu artikulieren. Zusätzlich werden Fragen über

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

38

die Kinder gestellt. Von Interesse sind das jetzige und frühere psychosoziale

Funktionsniveau der Kinder sowie mögliche Auswirkungen der elterlichen Depression auf

die Kinder. Ferner werden die Eltern nach ihrem persönlichen Anliegen befragt und welche

Hilfe sie sich durch die Intervention erhoffen. Während dieser und allen folgenden

Sitzungen ist es von höchster Priorität, die elterliche Kompetenz zu respektieren. Das soll

dazu führen, dass die Eltern ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Kindern aufbauen

können, um so die Coping-Strategien der Kinder fördern zu können (vgl. Beardslee, 2009,

46; Beardslee, 2002, 10).

In der Einzelsitzung mit den Kindern werden diese nach ihren Erfahrungen in der Schule,

mit Freunden, in der Familie und nach außerhäuslichen Aktivitäten befragt. Es wird den

Kindern Raum gegeben, ihre Sorgen bezüglich der Erkrankung der Eltern zu äußern.

Während der Sitzungen werden die Kinder auf mögliche Symptome einer psychischen

Störung hin untersucht (vgl. ebd., 2009, 46).

Die zweite Stufe ist die „Psychoedukation“. In dieser Phase werden kognitive

Informationen über die Krankheit präsentiert und vermittelt. Dies geschieht, ganz

individuell auf die Familie abgestimmt, durch das Referieren der Informationen oder durch

Literaturempfehlungen. Zur Aufklärung der Krankheit gehören die Ätiologie, der Verlauf,

Anzeichen und Symptome, die biologische und physiologische Grundlage, psychosoziale

Folgen und die Risiken für Kinder bei einer depressiven Erkrankung eines Elternteils. Auch

werden mögliche Risiko- und Resilienzfaktoren von Kindern und spezifische Merkmale

widerstandsfähiger Kinder beschrieben. Diese kognitive Wissensvermittlung zieht sich

durch alle Sitzungen hindurch. Ziel der Psychoedukation ist, die Informationen zu einem

geteilten Verständnis umzuwandeln. Dieser Schritt ist von großer Bedeutung, weil die

Eltern häufig unter einer kognitiven Verzerrung leiden. „Diese Verzerrungen

[…][beeinflussen] häufig die Wahrnehmung und Attribuierung des Verhaltens des

Kindes.“ (ebd., 2009, 47) Es sollen die Verzerrungen korrigiert werden, hin zu einer

realistischen Einschätzung der Eltern über die Entwicklung ihrer Kinder (vgl. Kötter [u.a.],

2010, 115).

Die „Konzentration auf das Kind“ während der Intervention stellt die dritte Ebene dar. Dies

bedeutet, dass die Eltern erkennen, lernen und auch aushalten müssen, welche negativen

Auswirkungen die Depression auf die Kinder hat. In ständiger Reflexion müssen die Eltern

erlernen, wie bestimmte Ereignisse von ihren Kindern interpretiert worden sein könnten.

Ferner müssen die Eltern realistische Einschätzungen über die Stärken und Schwächen ihrer

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

39

Kinder abgeben. Zum einem übt diese Benennung einen beruhigenden Effekt auf die Eltern

aus, und zum anderen verhilft es dazu, ihre Kinder besser zu schützen und ihre

Bewältigungsstrategien zu verbessern. Am Ende dieser Sitzungen müssen die Eltern noch

die Ziele für die kommende Familiensitzung definieren (vgl. Beardslee, 2002, 18 & 35).

Die vierte Stufe, die „Familienzentrierung“, involviert die gesamte Familie. Im Laufe der

Sitzung stehen die Kinder im Mittelpunkt, während die Eltern einen Lernprozess

durchlaufen. Sie sollen ihren Kindern Verständnis über die Krankheit nahebringen. Darauf

aufbauend soll dann ein aus den individuellen und persönlichen Bedeutungen der

Krankheitsproblematik eines jeden Familienmitgliedes geteiltes Verständnis entwickelt

werden. Dieses geteilte Verständnis soll befreiende Wirkung auf die Familienmitglieder

ausüben und sie dazu befähigen, ihr eigenes Leben fortzusetzen. Während der offenen

Darstellung der Problemlage eröffnet diese sogleich eine Perspektive auf die vorhandenen

Ressourcen der Familie. Der Interventionsleiter unterstützt hiermit die Eltern, „diese

Ressourcen im Hinblick auf das Wohlbefinden der Kinder zu erkennen und zu

mobilisieren.“ (ebd., 2009, 49)

Die vorletzte Stufe beinhaltet die „zeitliche Begrenzung der Intervention mit

anschließendem Langzeit-Follow-Up.“ (ebd., 2009, 49) Dies muss von Beginn an der

Intervention der Familie transparent gemacht werden. Es ist also darauf hinzuweisen, dass

„die Struktur dieser Intervention […] aus einer intensiven Initialphase gefolgt von

periodischen Langzeit-Follow-Up-Sitzungen“ (ebd., 2009, 49) besteht.

Das „Langzeit-Follow-Up“ impliziert zum einem den Kontakt zum Interventionsleiter auf

unbestimmte Zeit, zum anderen bedeutet es, dass die Intervention als Beginn des Prozesses

zu sehen ist und es ggf. noch langer Zeit bedarf, um mit der Krankheit innerhalb und

außerhalb der Familie umgehen zu können (vgl. ebd., 2009, 49).

Die letzte Stufe stellt die „Zukunftsorientierung“ der Intervention dar. Davon ausgehend,

dass viele Familien ihre Zukunftshoffnung aufgrund der Depression eingeschränkt haben,

versucht dieses Programm, die Hoffnung der Familie wieder zu stärken. Durch das

Vermitteln von Wissen über realistische Maßnahmen sollen Hoffnungen und

Zukunftsträume, insbesondere in Bezug auf die Kinder, wieder entfacht werden (vgl. ebd.,

2009, 49). Es soll ein Gefühl geschaffen werden, dass Kinder trotz widriger Umstände zu

zufriedenen Erwachsenen heranwachsen können.

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

40

6.2 AURYN – ein Hilfsangebot für Kinder und Familien mit

seelisch belasteten und psychisch kranken Eltern

Die erste Auryngruppensitzung fand 1995 in Freiburg statt. Im Jahr 1999 folgte Hamburg

dieser Idee und erschuf die erste Auryngruppe. Der Name der Gruppe „Auryn“, ist

gleichnamig mit dem Schutzamulett aus der Unendlichen Geschichte von Michael Ende. Es

soll seinem Träger Kraft und Mut verleihen. In Anlehnung an dieses Sinnbild wurde dieser

Name für das Hilfsangebot gewählt. Die Gruppe soll vor allem Kinder im Schulalter „in

ihren gesunden Kräften stärken, damit sie die vermehrten Belastungen durch die

Erkrankung der Eltern gut bewältigen.“ (Seelennot e.V., 2012). Das Hilfsangebot hat somit

einen starken präventiven Charakter, wobei auch Kriseninterventionsangebote vorhanden

sind.

Damit die Hilfe auch dort ankommt, wo sie am meisten benötigt wird, sind die

Auryngruppen sehr niedrigschwellig angelegt. Die Gruppen sind kostenfrei und somit nicht

an Überweisungen durch Ärzte oder Krankenkassen gekoppelt. Desweiteren suchen

Mitarbeiter bereits den Kontakt mit den betroffenen Müttern in den Kliniken auf. Eine

engmaschige Zusammenarbeit mit den Allgemeinen Sozialen Diensten und

Jugendenhilfeeinrichtungen ist darüber hinaus zu verzeichnen (vgl. Lägel, 2008, 188).

Das Konzept der Auryngruppen lässt sich in Kinder-, Eltern- und Familienangebote

unterteilen Es finden einmal wöchentlich Gruppenangebote für 1-2 Stunden sowohl für

Kinder als auch für deren Eltern und in größeren Abständen Einzelgespräche mit Kindern

und Eltern statt. Außerdem werden Freizeitaktivitäten für die gesamte Familie angeboten.

Insgesamt ist das Präventionsprogramm jedoch zeitlich auf ca. 25 Sitzungen begrenzt (vgl.

Schone/ Wagenblass, 2002, 227; Denke/ Beckmann/ Dierks, 2008, 71).

Die Gruppen für Kinder sind nach Altersstufen untergliedert. Bei der Einordnung der

Kinder wird allerdings immer individuell geschaut, welche Entwicklungsstufe das Kind

gerade durchläuft. Mit Ausnahme der Säuglings- und Kleinkindergruppe finden die Treffen

unter Ausschluss der Eltern statt. Dies soll dazu dienen, dass in kindgerechter Umgebung

die Kinder miteinander über ihre Erlebnisse, Wahrnehmungen, Gefühle, Sorgen und auch

über ihre Ängste von zu Hause reden können, ohne ein schlechtes Gewissen ihren Eltern

gegenüber zu haben. „Die Angebote verstehen sich deshalb zugleich als Schutzraum,

Übertragungsraum, Überarbeitungsraum [und] Übergangsraum“ (Haas, 2000, zit. n.

Schone/ Wagenblass, 2002, 227).

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

41

In der Säuglings- und Kleinkindergruppe erlernen die Mütter die Feinfühligkeit ihrem Kind

gegenüber zu schärfen. Sie werden darin unterstützt und sensibilisiert, die kindlichen

Bedürfnisse wahrzunehmen und darauf angemessen zu reagieren. Es soll eine Basis

geschaffen werden, damit die Kinder eine sichere Bindung zu ihrer Mutter aufbauen

können (vgl. Lägel, 2008, 183).

Die Kinder- und Jugendgruppen sind in die Altersstufen 4-5 Jahre, 6-8 Jahre, 9-11 Jahre,

12-16 Jahre und ab 16 Jahren unterteilt. Ziele der Gruppen sind die Förderung von sozialen

Fähigkeiten und von Problemlösestrategien der Kinder sowie ein besserer Umgang mit

Stress. Jedes Kind erhält ein soziales Kompetenztraining, welches in den Freizeitgruppen

erprobt und betreut wird. Weiterhin erlernen die Kinder verschiedene

Entspannungstechniken, um sich in stressreichen Situationen zu Hause besser unter

Kontrolle halten zu können. Da die häuslichen Probleme häufig auch zu schulischen

Problemen führen, wurde extra eine „Lernhilfe“ für die Kinder eingerichtet. Dort wird den

Kindern bei den Hausaufgaben sowie bei der Organisation der allgemeinen schulischen

Aufgaben geholfen. Ferner werden den Kindern Lernstrategien vermittelt, damit

Erfolgserlebnisse wieder Einzug halten können (vgl. Lägel, 2008, 182ff).

Da viele Kinder psychisch kranker Eltern von klein auf lernten, über die Erkrankung und

die damit verbundenen Probleme nicht zu sprechen, fällt es den Kindern oft schwer, sich in

der Gruppe zu öffnen. Möglicherweise ist es ihnen unangenehm, wenn es zu Hause

schwierig ist und sie geben vor, als wäre alles in Ordnung.

Aus diesem Grund führen die Interventionsleiter mit jedem Kind Einzelgespräche. Dort

können die Kinder, ohne Angst vor Demütigung und Bloßstellung oder in

Loyalitätskonflikte zu geraten, ihre Sorgen und Ängste sowie mögliche Schuldgefühle

offen aussprechen. Alle Gespräche unterliegen der Schweigepflicht. Das wird den Kindern

von Anfang an mitgeteilt. Nur im Falle einer Kindeswohlgefährdung hat der

Interventionsleiter die Pflicht, dies weiterzuleiten. In Einzelgesprächen wird den Kindern

Raum gegeben, Fragen über die Krankheit, über das Verhalten des erkrankten Elternteils

oder sich selbst zu stellen. Ferner werden die Kinder altersspezifisch über die Krankheit der

Eltern aufgeklärt und es werden zusammenhängende Symptome aufgezeigt (vgl. Deneke,

2005, 77). Zudem wird gemeinsam mit den Kindern ein sog. Krisenplan erstellt. Er

beinhaltet wichtige Ansprechpartner, Telefonnummern und Notizen für einen akuten

Krankheitsfall der Eltern. Dies soll den Kindern Sicherheit in Krisensituationen und das

Gefühl der Kontrolle vermitteln (vgl. ebd., 2008, 185f).

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

42

Je jünger die Kinder sind, desto schwieriger fällt es ihnen, ihre Sorgen und Ängste zu

kommunizieren. „Sie brauchen ein stellvertretendes Medium, mit dessen Hilfe sie sich und

ihre Befindlichkeiten auch nonverbal mitteilen können“ (Schone/ Wagenblass, 2002, 228).

Aus diesem Grund wird viel mit Musik, künstlerischem Gestalten, Kinderbüchern oder

spielerischem Tun den Kindern die Möglichkeit geboten, ihre Gefühle, Wünsche und

Bedürfnisse nonverbal auszudrücken (vgl. ebd., 2002, 228).

Neben den Gruppen für die Kinder gibt es auch Elterngruppen. In diesen Sitzungen erhalten

die Eltern ein soziales Kompetenztraining und ein Erziehungs- und

Kommunikationstraining. Es soll die Eltern stärken, auch in schwierigen Situationen

angemessen auf ihre Kinder eingehen zu können. Unterschiedliche Entspannungsangebote,

die erlernt werden, sollen die Eltern unterstützen. Neben dem Verhaltenstraining findet auch

eine Psychoedukation statt. Dort werden den Eltern wichtige Informationen über die

entsprechende psychische Erkrankung vermittelt, und sie erlernen Strategien zur besseren

Bewältigung des Alltags. Idealerweise soll somit eine Erleichterung im familiären Leben

geschaffen und die Rückfallquote gesenkt werden (vgl. Lägel, 2008, 184).

In den Familien- und Freizeitangeboten, wie z.B. kunsttherapeutische Malkurse, können

Kinder und ihre Eltern das gelernte Verhalten in die Praxis umsetzen und/oder üben. „Mit

Hilfe von therapeutisch-pädagogischer Begleitung werden ungünstige Verhaltensmuster

erkannt und können durch gesundes Verhalten ersetzt werden“ (Lägel, 2008, 186). Die

sozialen Kontakte innerhalb der Familie werden in dieser Zeit gefördert. Dies ist von

besonderer Bedeutung, damit die Familie sich gegenseitig als Unterstützung wahrnimmt

und wieder einen besseren Kontakt zueinander findet (ebd., 2008, 186).

6.3 Stationäre Mutter-Kind-Aufnahme

Das Konzept einer stationären Mutter-Kind-Aufnahme hat den Aufbau, Erhalt und die

Förderung einer stabilen Bindung zwischen Mutter und ihrem Kind zum Ziel, „da die

Qualität dieser frühen Beziehung erhebliche Auswirkungen auf die zukünftige

psychosoziale Entwicklung des Kindes hat.“ (Sroufe, 1989, Grossmann und Grossmann

1991, zit. n. Hartmann, 2003, 253) Die Zielgruppe einer stationären Mutter-Kind-

Aufnahme stellen Eltern mit Kindern bis zum vierten Lebensjahr dar. In diesem Zeitraum

stehen Eltern vor besonderen Herausforderungen bzw. Schwierigkeiten. „Neben

auftretenden Beziehungsschwierigkeiten ist auch die Gefahr des Suizids, Infantizids bzw.

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

43

erheblicher negativer Einwirkungen auf das Verhalten und die affektiv-kognitive

Entwicklung des Säuglings zu berücksichtigen.“ (Murray, 1992, zit. n. Hartmann, 2003,

247) Kommt noch eine depressive Erkrankung (postnatale Depression) der Mutter hinzu,

sind im Allgemeinen die Auswirkungen auf die Kinder in ihrer psychosozialen Entwicklung

umso schwerwiegender (vgl. Hartmann, 2003, 246). Derzeit sind 10-20 % aller gebärenden

Frauen weltweit von einer postnatalen Depression betroffen (vgl. Buist/ Bilszta, 2005, zit.

n. Wilkinson/ Mulcahy, 2010, 252). Würde nur die Mutter stationär behandelt werden,

könnte es dazu führen, dass ihr Kind Verlust- und Trennungsängste entwickelt. Diese

Ängste in der frühen Kindheit sind extreme Risikofaktoren für die Entwicklung späterer

psychischer Störungen. „Die Bedeutung der frühen Bindung begründet entscheidend die

gemeinsame Aufnahme von Mutter und Kind, besonders in den ersten Wochen und

Monaten postpartal.“ (Hartmann, 2003, 254) Bedingt durch den Klinikaufenthalt und der

Psychotherapie der Mutter, können Mütter und ihre Kinder im Kleinkindalter ihr

Bindungsverhalten immer noch nachhaltig verändern (Bowlby, 2008, 103).

Die Interventionen gliedern sich während des gesamten Klinikaufenthaltes in mehrere

„Arbeitsfelder“. Die Mutter wird bei der Ernährung und Pflege ihres Kindes angeleitet und

unterstützt, um so die grundlegende Versorgung ihres Kindes zu lernen. Ferner wird die

Mutter unterstützt, sich in altersangemessener Weise mit dem Kind zu beschäftigen. Durch

die spielerische Beschäftigung mit dem Kind sollen Kenntnisse über eine kindgerechte

Lebensweise erlangt werden. Dieses Wissen soll das Mutter-Kind-System von emotionalen

Überforderungen, Ängstlichkeiten und Unsicherheiten entlasten. Das Gefühl der Mutter, im

Umgang mit dem Kind zu versagen oder dem nicht gewachsen zu sein, soll minimiert

werden (vgl. Wilkinson/ Mulcahy, 2010, 255). Der Mutter wird vermittelt, „sich weniger

egozentrisch als altruistisch dem Säugling gegenüber zu verhalten.“ (Hartmann, 2003, 256)

Dies bedeutet, dass der Mutter die kindliche Perspektive verdeutlicht wird, um so die

Bedürfnisse des Kindes befriedigen zu können.

Auf der kognitiven Ebene wird der Mutter Wissen über Beziehungsentwicklungen

zwischen dem Neugeborenen und der Mutter vermittelt. Die Wichtigkeit einer frühen

Bindung wird thematisiert und damit auch die möglichen Auswirkungen auf das Kind,

wenn die Mutter emotional nicht erreichbar für das Kind ist (vgl. ebd., 2003, 256).

Durch die Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion können individuelle und angemessene

Hilfen angeboten werden, sodass die Beziehung zwischen Mutter und Kind weiter wachsen

kann. „Diese Hilfen reichen von der momentanen Entlastung der Mutter (Zigarettenpause,

EXEMPLARISCHE INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN DER SOZIALEN ARBEIT DENISE REINHARD

44

psychotherapeutisches Gespräch) bis zu gemeinsamen Spaziergängen mit der Mutter und

dem Kind, stützende Anleitung bis hin zu Tagesplänen bei Umgang mit dem Kind

[…].“ (ebd., 2003, 256) Ziel aller Hilfestellungen ist, die Sicherheit der Mutter im Umgang

mit ihrem Kind zu fördern. Der Mutter werden Anleitungen gegeben, damit sie in der Lage

ist, die Versorgung des Kindes selbst durchführen zu können. „Mit Hilfe einer stützenden

und bemutternden Umgebung (die Mutter bemuttern) kann die psychisch kranke Mutter

schrittweise die Säuglingspflege üben und lernt, die Belastung durch den Säugling zu

steuern.“ (ebd., 2003, 257) Die gemeinsame Behandlung ermöglicht zum einem eine

stabilere Entwicklung des Kindes durch einen besseren Kontakt zur Mutter und zum

anderen wird die Mutter in ihrer Affektregulation unterstützt, sodass sie sich mit

angemessenen Reaktionen ihrem Kind gegenüber verhalten kann (ebd., 2003, 257).

In der stationären Mutter-Kind-Aufnahme ist es neben dem stabilen Bindungsaufbau

zwischen Mutter und Kind auch möglich, eine vorübergehende oder endgültige Trennung

des Kindes von der Mutter angemessen zu bearbeiten (vgl. ebd., 2003, 258)

VERZEICHNISSE DENISE REINHARD

45

7 FAZIT

Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen in Bezug auf die eingangs gestellte Leitfrage

eingeordnet werden. In Anbetracht der Tatsache, dass psychische Erkrankungen in ihrer

Prävalenz, Vielfalt und Intensität in der Gesellschaft stark zunehmen, ist eine

Auseinandersetzung mit dieser Thematik und deren Auswirkungen von größter Relevanz.

Da die Soziale Arbeit vermehrt mit Familien zu tun hat, in der mindestens eine psychische

Erkrankung vorliegt, muss sie sich zunehmend dafür sensibilisieren und angemessene

Angebote schaffen. Psychische Erkrankungen können sehr unterschiedlich verlaufen. Der

Verlauf ist nicht nur durch den Schweregrad der Krankheit, sondern auch vom Verhalten

der Patienten selbst und von der Unterstützung durch Angehörige und Fachleute abhängig.

In dieser Arbeit wurden exemplarisch die Auswirkungen einer mütterlichen Depression auf

die Kinder untersucht. Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, leidet bei einer

depressiven Erkrankung nicht nur die erkrankte Person selbst, sondern auch das gesamte

soziale Umfeld. Insbesondere Kinder sind bei einer mütterlichen Depression besonders

gefährdet, weil sie den Großteil ihrer Entwicklung noch vor sich haben. Sie sind einer

Vielzahl von Risikofaktoren während ihrer gesamten Kindheit ausgesetzt, die eine

unbeschwerte kindliche Entwicklung fast unmöglich machen.

Dennoch gibt es eine Vielzahl von Kindern, die diesen widrigen Lebensumständen zu

trotzen wissen. Trotz diverser, aus der mütterlichen Depressivität resultierenden

Risikofaktoren, überstehen sie ihre Kindheit ohne psychopathologische Auffälligkeiten. Sie

besitzen eine Reihe von Schutzfaktoren und aktiven Bewältigungsstrategien, welche ihnen

beim Umgang mit den großen Herausforderungen helfen. Jedoch müssen auch als resilient

eingeschätzte Kinder mit ihren Familien durch präventive Maßnahmen unterstützt werden,

da ihnen diese resiliente Eigenschaften nicht permanent zur Verfügung stehen. Der Fokus

der Hilfen sollte auf der Förderung der kindlichen Stärken liegen. Im Idealfall führt dies bei

den Kindern dazu, dass sie die durch mütterliche Depression entstehenden Schwierigkeiten

nicht als Belastung, sondern als Herausforderung wahrnehmen. Das Gefühl der Ohnmacht

soll minimiert werden. Stattdessen soll sich das Kind als „fähiges Individuum“

wahrnehmen, welches Herausforderungen zu bewältigen weiß und durch

Bewältigungsstrategien gestärkt wird. Hierzu müssen die Kinder altersangemessen über die

Erkrankung der Mutter aufgeklärt werden. Das soll verhindern, dass die Kinder sich selbst

VERZEICHNISSE DENISE REINHARD

46

die Schuld für die Krankheit der Mutter geben und sich mit den damit verbundenen

alltäglichen Schwierigkeiten belasten. Zudem sollen den Eltern Möglichkeiten zur

Förderung der Stärken – und somit der Bewältigungsstrategien – der Kinder aufgezeigt

werden. Das setzt voraus, dass die Eltern Verständnis dafür entwickeln, inwiefern ihre

Krankheit die Entwicklung ihrer Kinder negativ beeinflussen kann. Wichtig ist hierbei der

Abbau der immer noch bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung psychischer

Erkrankungen. Die Öffentlichkeit muss über psychische Krankheiten informiert und

aufgeklärt werden, sodass die Tabuisierung und das Schamgefühl der Betroffenen kein

Hindernis darstellen geeignete Hilfsangebote anzunehmen. Denn nur wenn ein offener

Umgang mit psychischen Erkrankungen erreicht wird und die betroffenen Familien aktiv

Unterstützung von Fachleuten und vom sozialen Umfeld erhalten, kann die

Wahrscheinlichkeit möglicher psychopathologischer Auffälligkeiten der Kinder bedeutend

minimiert werden. Zum Abschluss der Arbeit wird mit folgendem Zitat die Kernaussage

dieser Arbeit deutlich gemacht:

„The message is: Get help for yourself before depression can lead to the

‘negative chain’ of other events that, together, can harm your child. Build your

child´s protective resources and do not let your depression cascade into the

multiple risk factors that can undermine your child´s health.” (Beardslee, 2002,

87)

VERZEICHNISSE DENISE REINHARD

47

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: An ecological-transactional model of child maltreatment (Cicchetti, 2006,

135) ........................................................................................................................................... 27

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1: 12-Monats-Prävalenz affektiver Störungen in der erwachsenen

Allgemeinbevölkerung (RKI, 2006, 19) ..................................................................................... 7

Tabelle 2: Beispiele von Entwicklungsaufgaben und -Beeinträchtigungen im Kindes- und

Jugendalter (in Anlehnung an Wustmann, 2004, 21) .............................................................. 18

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

RKI - Robert-Koch-Institut

StBA – Statistisches Bundesamt

BApK – Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V.

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EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG DENISE REINHARD

Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe selbstständig verfasst und

nur die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinn nach

aus anderen Werken entnommene Stellen sind in allen Fällen unter Angabe der Quelle

kenntlich gemacht.

Ort, Datum Unterschrift

ANHANG DENISE REINHARD

ANHANG

Interview

Das Thema der BA-Thesis wurde erklärt. Die Fragestellung der Arbeit, inwiefern sich

eine depressive Erkrankung der Mutter auf die kognitive, psychosoziale und emotionale

Entwicklung von Kindern auswirkt und welche Folgen daraus möglicherweise für den

weiteren Lebenslauf der Kinder resultieren, war zugleich die erste Frage des Interviews.

Ähm,...wo soll man da anfangen. Ähm, ja am besten ja, also mein Vater ist gestorben, ähm, 15

Tage nach meinem ersten Geburtstag. Und ja das heißt, hieß, seitdem an waren wir alleine,

eigentlich so weit, ähm, meine Mutter hatte dann wo ich 3 war mal ne kurze Beziehung und

dann eine wo ich 12 war. Joa und dann mit, äh, mit 14 glaube ich, so dann die nächste und

sonst waren wir halt alleine. Und ja dadurch halt auch sehr so (klatscht) schon aneinander

geschweißt.

Was halt auch leider war, dass meine Mutter mich sehr so als Erwachsenenersatz genutzt hat

und mit mir geredet hat, äh, ja mit mir auch Probleme besprochen hat. Halt was ja nicht so für

Kinderohren ist, was sie mir dann auch öfters mal gesagt hat, auch z.B. wegen

Geldproblemen, weil die waren halt immer da, nachdem mein Vater ja gestorben war, weil

meine Mutter dann eigentlich nur Renten bekommen hat, oder ja Witwenrente.

Ähm, das sie gearbeitet hat weiß ich gar nicht so… Also ich glaub irgendwann auch mal, als

ich 12, 13 war oder so. Da hat sie ne kurze Zeit lang mal gearbeitet, aber ich wüsste nicht,

dass wir irgendwie Hartz 4 oder Sozialhilfe dann damals bekommen haben. Das wüsste ich

nicht.

Joa, ähm… wo macht man als nächstes weiter. Ja also dadurch hab ich halt schon oft dann zu

hören bekommen, dass ich, äh, sehr erwachsen wirke, wo ich noch so klein war und ähm,

ähm, ja ähm, mit 12 (langezogen) ja also mein Mutter hat halt auch oft gesagt, dass sie, ähm,

sich mehr ,äh, will mehr meine Freundin sein, als meine Mutter. Das hat sie mir auch gesagt

und sie hat mir auch sehr wenige Regeln aufgestellt. Eigentlich... kaum etwas. Also ich durfte

schon sehr früh sehr lange aufbleiben, ich durfte relativ lange draußen bleiben, ich hatte

eigentlich keine, ja gut, ja, wie gesagt, Bettgehzeit, ja. Ich durfte recht früh Horrorfilme

gucken... Ich weiß gar nicht, also ... da hab ich von den anderen immer nur zu hören

bekommen, von wegen ‚oah du hast ja ne coole Mutter!‘ Aber gerade jetzt so im Endeffekt,

ANHANG DENISE REINHARD

äh, jetzt so später, merke ich, dass es echt viel besser gewesen wäre, wenn ich einige mehr

Regeln gehabt hätte...Was halt auch immer sehr war, meine Mutter ist, war oder ist auch sehr

inkonsequent. Allein was sie mal irgendwie anfängt, was sie ... irgendetwas mal richtig

durchzuziehen, nicht... sie hat eigentlich irgendwie kein Ehrgeiz. Und weiß nicht... und das

hat sie mir dann auch alles so mitgegeben.

Joa was auch zu Hause war...es war immer sehr chaotisch...eigentlich. Zumindest so, dass halt

Sachen überall rumlagen. Ähhhm, joa, und mit 12, äh, fing das dann bei mir an mit, äh,

Essstörung, Magersucht, ähm. Ja zu der Zeit war zu Hause, hatte sie halt gerad den

Lebensgefährten damals, 97, der war bei uns mit eingezogen, ähm, und dann gab es immer

mehr Streitereien. Und der hat meine Mutter richtig fertig gemacht, sie war ihm gegenüber ja

auch schon ne wesentlich schwächere Persönlichkeit. Er war sehr stark und hat sie dann auch

sehr nieder gemacht. Sie dann nen Nervenzusammenbruch hatte und, joa, und danach fingen

bei ihr Angsterkrankung an.

Ähm, joa, und daraus mit kam dann irgendwann der Alkohol dazu bei ihr. Ähm, weil halt bei

ihr irgendwann auch hochkam Missbrauch, äh, in der Kindheit, über mehrere Jahre, ähm, von

einem Bekannten der Familie und auch ähm ja...Folter dabei, Zigaretten wurden auf ihr

ausgedrückt, von einem Freund, den er noch mit dazu geholt hatte. Ähm, ja später wollte sie

sich, sie hat ja noch 6 Geschwister, wollte sie sich, äh, ihrem großen Bruder anvertrauen, das

er ihr vielleicht irgendwie hilft...Joa und er hat sie auch missbraucht.

Ähm, ja und das hat sie mir dann alles irgendwie nach und nach erzählt. Also so vom Gefühl

her ist alles so irgendwie so ab 12, ist bei mir irgendwie gefühlsmäßig alles irgendwie ähm,

das es dann so richtig angefangen hat mit dem ganzen Erzählen. Und ich weiß nicht, kann

vielleicht auch sein, das es erst 1-2 Jahre später war. Der Alkohol kam ja bei ihr nach und

nach ja erst. Wurde mehr. Und gerade wenn sie dann betrunken war, dann hat sie mir so

richtig, so alles Mögliche erzählt. Also richtig auch ins Detail und dann ist sie vor mir auch

richtig zusammen gebrochen...hat geheult...und, und, joa und das Ganze ging dann auch

irgendwie so mindestens immer so 2-3 Stunden oder so... und ich konnte dann ja nicht

irgendwie sagen, das war dann auch Abends immer eigentlich immer, ich muss dann auch

irgendwie ins Bett, wegen morgens Schule. Ich konnte ihr dann auch nicht sagen, irgendwie

‚ähm, ja, du, ähm, ich müsste jetzt vielleicht mal ins Bett, so weil…‘, weil wenn sie mir da

schlimme Sachen erzählt und so...und weint und keine Ahnung...da kann ich sie ja nicht

irgendwie, da kann ich nicht einfach weg gehen, und sagen ‚so ja, mhm, joa, ich muss jetzt

ANHANG DENISE REINHARD

so‘(macht sich über sich selbst lustig) Joa und dann hat sie mir auch sehr oft, nach und nach

immer wieder das Gleiche erzählt, das war auch immer, da wusste sie schon gar nicht mehr,

dass sie mir das erzählt hatte... Hat sie es mir wieder erzählt und dann auch immer wieder

dieses, äh, das ist eigentlich nichts für Kinderohren, das ist eigentlich nichts für deine Ohren

(seufzen) ähm, ja und irgendwie so. Das hab ich auch noch niemanden erzählt und so Sachen.

Ähm, ja und was dann halt auch kam, ähm, dass sie mir dann öfters dann auch gesagt hat,

wenn ich nicht wäre, würde sie sich ein Strick nehmen...ähm,.ja, wenn ich nicht wäre, wenn

ich weg wäre oder so, joa Strick nehmen...wäre sie schon längst nicht mehr... Ja oder Kugel

geben und irgendwie so, ähm, joa und zwischendurch war sie richtig ein seelisches Wrack.

Also auch so, ohne, sie ist so ne Pegeltrinkerin, also so ,ähm, sie trinkt den Tag über ne

gewisse Menge, was, aber man merkt es nicht, das sie Alkohol getrunken hat, eigentlich, ähm,

und ja sie betrinkt sich halt nur ab und an, wenn dann irgendwas, äh, sie runter reißt, wenn

irgendwas passiert ist, dann betrinkt sie sich so richtig. Bis sie im Grunde nicht mehr, joa,

nicht mehr stehen kann oder konnte... Ich wohn ja jetzt nicht mehr da zum Glück. Ja, das war

dann halt oft, das war schon Schlimm. Und wie gesagt, dann auch noch immer mit diesen

Gesprächen, das war immer echt...recht horrormäßig.

Ja und dann auch, ich war dann wie gesagt, ja noch in der Schule und das lief ja auch sehr

schlecht alles da. Na wegen dem Ganzen zu Hause und ich wollte das natürlich auch

niemanden erzählen mit z.B. meine Mutter mit Alkohol und… Weil wir hatten in der Schule

auch irgendwie das Thema wegen Alkoholismus und gerade meine Klassenkameraden haben

sich dann alle irgendwie so n Penner auf der Straße vorgestellt mit Alkohol so. Und joa... oder

auch von den psychischen Problemen von meiner Mutter oder so hab ich da nie was gesagt.

Ich war in der Schule mal, äh, ne Zeitlang bei der Vertrauenslehrerin, weil, ähm, die halt ja

gemerkt haben, das da irgendwie was irgendwie nicht stimmt und ja, ich hatte auch viele

Fehlzeiten oder Verspätungen sehr viel und joa… Ne Zeitlang lief es eigentlich recht gut mit

meinen Noten und dann, ich weiß nicht ob das ab 12 war, als es dann alles schlechter wurde.

Wie kam es zu den Verspätungen und Fehlzeiten?

Ja wie gesagt, ähm, dann ja öfters, weil meine Mutter mich halt dann irgendwie lange wach

gehalten hat, wegen diesen Gesprächen, ähm... Joa und ich weiß nicht genau, ich hab einfach

irgendwie einfach Schwierigkeiten dabei irgendwie pünktlich zu ein. Ist auch jetzt noch, ich

weiß es nicht. Also meine Mutter war eigentlich immer, so früher zumindest, so wo ich

kleiner war, äh, lieber zu früh als zu spät kommen irgendwohin. Aber bei mir weiß ich nicht.

Irgendwie, also ich schaff es natürlich auch mal irgendwie pünktlich zu sein, klar, aber halt, es

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ist sehr oft das es irgendwie, ich weiß nicht, es liegt vielleicht auch bei mir am irgendwie so

Perfektionismus, dass ich mich dann irgendwie immer so an Kleinigkeiten zulange aufhalte

und so. Dass ich es irgendwie perfekt hinbekommen will, obwohl man es ja nicht perfekt

schaffen kann (lacht).

Ja n Stück weit schon. Also wie gesagt, ich hab schon ja gemerkt, das sie irgendwie, äh…

Obwohl früher bei den Pfadfindern mit, so als Betreuerin, ähm, da hat sie sich eigentlich

irgendwie noch besser gehalten, aber, ähm, also so von, von, von, ich weiß nicht alles, so

Selbstsicherheit und, und ich weiß nicht. Ich hab irgendwie ja schon gemerkt, dass sie

irgendwie ja eher ne schwache Persönlichkeit ist und, und ja es kommt halt auch noch mit,

das hat meine Mutter mir auch alles erzählt, dass sie halt früher von ihren Eltern auch

geschlagen wurde. Sie und ihre Geschwister, also weil die wohl auch ein Stück weit

überfordert waren mit 7 Kindern. Ähm, ja sie haben sich z.B. ne Peitsche gebastelt aus so

Wäscheleinen. Ähm, joa und, äh, meine Mutter hat halt zu hören bekommen, ich weiß nicht

genau von wem, nur von meiner Oma oder von beiden, irgendwie ‚du bist nichts, du kannst

nichts du wirst nichts‘. Ähm, ja und auch nie, äh, ja eigentlich nie, äh, ich liebe dich oder hab

dich lieb. Und das meint sie auch, dass hat sie total vermisst, das hätte sie so gerne gehört,

deswegen hat sie es mir auch sehr doll gezeigt, eigentlich, also sie war schon sehr liebevoll zu

mir. Und auch Schläge, ähm, war sie so gar nicht für.

Ähm, also ich hab schon n paar Mal nen Arschvoll von ihr bekommen, ähm, dann war es aber

auch, weil ich wirklich irgendwas angestellt habe (lacht). Äh, ja so was hat sich z.B. auch

verändert mit dem Alkohol. Hat sie mich, äh, später auch, äh, mal geschlagen, wo sie wohl

auch betrunken war oder sich durch den Alkohol schon ein Stück weit verändert hat. Ähm,

z.B. hat sie mich einmal auf den Boden niedergeschlagen, wollte noch zutreten, mir einmal

fast die Nase gebrochen oder angebrochen war sie wohl. Hat auf jeden Fall auch extrem

geblutet. Naja, aber es war halt für mich total schlimm...auch so mit dem, gerade als der

Alkohol dann dazu kam, ähm, wie gesagt, da wurde das Ganze noch viel schlimmer. Da kam

das alles noch viel mehr heraus, hervor, äh, ja und auch vorher mit der Angsterkrankung, äh,

hat meine Mutter ja auch sehr drunter gelitten, weil sie ja früher Betreuerin war mit kleinen

Kindern und so weiter. Verreisen, das hat sie geliebt. Das war irgendwie genau ihr Ding und,

ähm, ja und dann konnte sie fast nur noch zu Hause sein. D.h. sie konnte mich dann ja auch

nicht mehr wirklich zu irgendwas mal mitbegleiten, irgendwo mitkommen.

Kannst du deine Gefühlslage genauer beschreiben?

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Ähhhm, ich glaub gerade da, wo sie so zugeschlagen hat, das war, da haben wir uns irgendwie

gestritten und dann kam teilweise auch, ähm, das sie mir Schu... ja gesagt hat sie, ich wäre

schuld, äh, dass es ihr so schlecht geht, weil ich ja mit meinen Problemen, mit den

Essstörungen, weil ich ihr so Sorgen machen und so... Und dann ja...ich weiß nicht, es war

dann auch so n bisschen gegenseitige Schuldzuweisung, äh.

Ja und Angst, äh, also in dem Moment war es irgendwie fast eher, eher mehr so n Trotzgefühl,

auch n Stück weit Angst, weil ich das von meiner Mutter absolut nicht kannte... Und dann

noch dieses, da wie sie da auf mich eingeschlagen hat und dann noch zutreten wollte, wo ich

auf dem Boden lag (empört), das, klar könnte man ja auch so einiges davon tragen, nä. Und

ja, ähm, später tat es ihr sehr, sehr leid, auch gerade das z.B. mit der Nase, ähm, hat sie

danach auch immer wieder gesagt, ‚es tut mir so leid‘ und, und, äh, ja. Aber naja.... Ich hatte

auch oft Angst vor ihr, wenn sie was getrunken hat, also gerade sehr doll sich betrunken hat.

Hatte ich auch Angst vor ihr, weil sobald ich, weil irgendwann habe ich dann bei diesen

ganzen Gesprächen hab ich dann irgendwann schon einmal gesagt, von wegen, ich müsste

jetzt schon mal gehen, äh, ins Bett und keine Ahnung und, und, dann kam von ihr gleich total

so von wegen ,Ja dann geh doch!‘ (Stimme verstellt) und wurde auch gleich sauer und auch

so, wurde sie auch oft schnell sauer, wenn sie dann betrunken war. Ich weiß nicht, bei

irgendwas bei irgendwelchen Kleinigkeiten auch, und dann war sie recht anders, und auch

so...

Durch den Alkohol hat sie sich noch mehr verändert. Das war auch alles sehr schlimm, also

sehr traurig hat mich das gemacht, extrem. Oder auch so, meine Mutter ist dann halt auch

irgendwie sehr selbstzerstörerisch. Sie hat irgendwann dann später auch, äh, immer mehr

angefangen sich ihre Haare selbst zu schneiden. Also sie trägt kurze Haare und dann, ähm,

macht sie dann manchmal mit so nem Haarrasierer, damit macht sie sich dann auch, äh, mal

öfter die Haare schneiden. Also sie geht eigentlich nie zum Friseur und dann aber manchmal

schneidet sie sie dann halt und dann macht sie an manchen Stellen dann richtig, so richtig

kahle Stellen, also so fast Glatze und joa und so entstellt sich so selber. Und dann auch so,

weiß nicht, sobald sie Mückenstiche hat oder so, dann pult sich dann so auf, das es dann so ne

richtige Wunde ist. Oder wenn sie sonst irgendwas hat, also schon...recht selbstzerstörerisch.

Wie war euer Verhältnis bzw. euer Alltag vor der Alkoholproblematik deiner Mutter?

Ja wie schon gesagt, dass sie sehr inkonsequent war, ähm. Ja stimmt, ja was mit dem auch so

kam ist z.B. wie gesagt, sie hat mir sehr viele Sachen sehr früh erlaubt, ähm, dadurch kam

dann auch das ich dann mit 10 1/2 das erste Mal betrunken war. Von ihrem Glas auch. Da

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waren wir bei irgendeinem Bekannten von den Pfadfindern und, ähm, ja gut, es war dann halt

so, dass der halt nichts Antialkoholisches zu Hause hatte zu trinken und seine Wasserleitungen

wurde dann gerade repariert oder was ... ähm, ja und dann hat sie mir halt von ihrem Wein

halt mit angeboten, ‚ja gut wenn du halt Durst hast, dann hier‘ Ähm, ja und ich hatte den

Abend über dann halt natürlich auch immer wieder Durst und hab dann halt immer wieder

nach ihrem Glas gegriffen und die haben sich dann da unterhalten. Und erst später, als wir

dann gegangen sind, haben sie auf einmal gesehen, dass ich total am Torkeln war und dann

musste ich mich auch übergeben. Ja, und mit, so ab 12, hab ich recht regelmäßig getrunken.

Also, ähm, auch im Dasein von meiner Mutter. Sie hat es mir ein Stück weit auch so erlaubt.

Also sie hat halt immer gesagt, äh, wenn, dann soll ich solch Sachen, ja Alkohol oder auch

Rauchen, aber Rauchen hab ich einmal ausprobiert, aber wollte ich nicht, mochte ich nicht,

ähm, so was soll ich lieber vor ihren Augen machen, als es dann heimlich, weil so kann sie es

dann mehr kontrollieren. Und joa, n Joint haben wir auch zusammen geraucht...also, joa. Hier

gab es nicht wirklich Regeln, Verbote.

Hast du so etwas wie Schuldgefühle verspürt?

Ja, so wo das dann bei mir mit den Essstörungen so anfing, dann hatte ich schon irgendwie

natürlich so n Schuldgefühl, so dass sich meine Mutter so Sorgen mache... Ja früher, ganz am

Anfang, wusste ich ja vielleicht auch nicht ganz woher ihre Sorgen, Probleme so richtig

kommen. Also einmal, dass sie sich um mich Sorgen gemacht hat, aber auch so hab ich ja

gemerkt, dass mit ihr irgendwie, dass sie ja irgendwie nicht, dass sie was belastet oder dass,

ja. Dass halt so. Da hab ich mir schon irgendwie Schuldgefühle gemacht, dass dadurch jetzt

noch mehr mit ihren Problemen kommen. Bis sie mir dann ja irgendwann mehr davon erzählt

hat, was bei ihr halt los war damals.

Und, ähm, ja ansonsten war halt, dass ich immer sehr, ähm, mich für meine Mutter

verantwortlich gefühlt habe. Irgendwie dass ich auf sie aufpassen muss, sie beschützen muss,

ähm, ich hab wo ich klein war z.B. hab ich auch meine Mutter mal gefragt, wenn ich ein

Mann wäre, würdest du mich dann heiraten (lacht) und so, irgendwie. Das war vielleicht auch

schon ein kleines Zeichen, dass ich mich so, ja so für sie verantwortlich gefühlt hab. Ja...ja

und was, wie gesagt, meine Mutter hat mir auch öfters gesagt, mit dass sie, wenn ich nicht da

wäre, würde sie sich n Strick nehmen.

Ja und was dann auch halt einmal war, ähm, ich bin nach Hause gekommen, ich war

irgendwie unterwegs, und dann war auch das Wohnzimmer voll mit Sanitätern, Ärzten und

dann hat sie halt ein Selbstmordversuch da auch begangen. Ähm, joa und sie war halt kaum

ANHANG DENISE REINHARD

mehr ansprechbar, total vollgepumpt mit Alkohol und Tabletten und sie wollte dann auch

nicht gehen. Und dann haben die zu mir gesagt, ‚ja machen sie mal was, überreden sie ihre

Mutter das sie mit gehen soll‘...ähm ja das war für mich total so (Luft auspusten) zu viel! Ich

war total geschockt. Meine Mutter hat mir auch schon erzählt, dass früher, noch bevor ich

geboren wurde, dass sie da halt auch schon mehrere Selbstmordversuche, ähm, hinter sich

hatte. Pulsadern aufschneiden und Tabletten auch und joa... Also das, so Sachen, hat sie mir

schon früher auch erzählt, also dass ihre Eltern sie geschlagen haben halt, dass sie ihr das

gesagt haben, mit ‚du bist nichts, du kannst nichts, du wirst nichts‘. Also, hatte ich da auch

schon immer n Stück weit immer schon so n Mitleid mit meiner Mutter auch.

Wie hast du dich in solchen Situationen gefühlt?

Mein Gefühl in Worte fassen... Schwer, sehr schwer. Hilflos...hilflos, geschockt, überfordert

und ja und dann, danach hatte ich vielleicht noch mehr das Gefühl, dass ich aufpassen muss

auf meine Mutter und weil, irgendwie auch sonst niemand anderes wirklich da war. Niemand

anderes hat wirklich irgendwas gemacht. Auch ihr jetziger Lebensgefährte, mit dem ist sie ja,

ich weiß nicht, seit 98/99 zusammen, der hatte nie irgendwas so, ähm, gemacht. Also z.B. hat

er ihr noch Alkohol gekauft, äh, wenn sie ihm drum gebeten hat, weil sie wegen ihrer

Angsterkrankung nicht so raus gehen mochte. Äh, so was hab ich komplett abgelehnt, immer

von Anfang an! Ähm ja...ja und was halt, also durch den Alkohol gerade, wo der noch damit

dazu kam, ähm, war, dann auch dass ich sehr ne schon ne Distanz zu meiner Mutter aufgebaut

habe. Das, gerade so gefühlsmäßig, also es hat mir also total weg getan, wie sie sich dann

verändert hat und joa und noch mehr und alles, und ,äh, dann konnte ich dann auch irgendwie,

irgendwann gar nicht mehr so, ‚ich, ich hab dich lieb‘ sagen zu ihr oder so. Das war, wie

richtig eine Blockade drin und hab mich dann auch von ihr distanziert n Stück weit, aber

irgendwo hab ich mich ja immer noch verantwortlich gefühlt. Und irgendwie, und eigentlich

wollte ich auch zu Hause ausziehen, aber auch schon länger, weil ich mich dann mit ihrem

Lebensgefährten nicht verstanden habe. Aber, ja ich hab mich dann auch irgendwo nicht

getraut, weil ich auch so Angst um sie hatte. Dass sie sich dann umbringt, wenn ich nicht da

bin. Dass sie dann total abstürzt. Noch mehr als vorher.

Hattest du zu der Zeit Hilfe bzw. Unterstützung von jemand erfahren?

Eigentlich nicht. Ja, ich hatte halt mein Freund, mit dem ich jetzt noch ja zusammen bin.

Ähm, mit ihm bin ich zusammen gekommen als ich, äh, fast 14 war und er fast 16. Joa, er war

mir dann einer sehr große Stütze, weil sonst, weiß ich nicht, sonst würde ich heute vielleicht

nicht hier sitzen. Äh, weil ich hab auch schon mal ein Selbstmordversuch, äh, ja, so begangen.

ANHANG DENISE REINHARD

Ne Überdosis Tabletten, lag ich auch 3 Tage auf der Intensivstation. Joa, also er war dann

meine große Stütze, obwohl ich ihn auch immer nicht zu sehr belasten wollte. Obwohl, er hat

es ja auch einige Male mitbekommen bei mir zu Hause. Er kam ja immer zu mir, weil seine

Eltern mich so noch nicht, so akzeptiert hatten. Und dann hat er es auch einige Male

mitbekommen, als meine Mutter dann betrunken war oder ja. Was halt auch, ähm, früher bei

ihr schon war, bevor sie, ähm, bevor sie auch mit dem Alkohol angefangen hat oder auch die

Angsterkrankung kam, ähm, das, ähm, ähm, dass sie sich halt sehr für andere, na wie soll man

es sagen, verstellt hat nicht, wie sie sie haben wollten. Sie hat sich für jeden so angepasst.

Ähm, das hat sie mir dann auch erzählt. Also für meinen Vater damals war sie so die hübsche

Frau, hat viele Kleider getragen, und sich schön geschminkt und, und weiß ich gar nicht, mit

‘m Lockenstab so Wellen gemacht und so. Ihr Lebensgefährte, da 97, der wollte mehr so n

Kumpeltyp haben, so bei den Pfadfindern. Dann war sie mehr so und auch derbe und versaut

und, und irgendwie.

Und sie hat mir auch erzählt, auch damals schon, dass sie immer, äh, für alle immer den

Clown spielt. Immer so ne Clownsmaske irgendwie auf hat. Dass sie eigentlich traurig ist

irgendwo und sie es nicht will und sie selber gar nicht so richtig so weiß, wer sie ist. Ja wer

sie ist irgendwie oder wo sie steht im Leben und sie hat auch immer sehr Probleme andere um

Hilfe zu beten. Ähm, oder auch Nein zu sagen, also so Konflikte. Das konnte sie auch

überhaupt gar nicht und deswegen hab ich das auch nie, gar nicht so wirklich gelernt und

deswegen habe ich damals in der Schule auch schon Probleme bekommen und ich war recht

schüchtern.

Hattest du familiäre Unterstützung?

Ja mit meiner Oma war das Ganze ja ein bisschen schwierig. Meine Mutter hatte auch einige

Jahre kein Kontakt mit ihr. Ähm, weil sie auch der Meinung ist, das sie von dem Missbrauch

damals irgendwie was mitbekommen hat oder das geahnt hat. Und ja nichts gemacht hat.

Ähm, pffff, ja, ähm, weiß ich gar nicht. Ja, irgendwann kam wir wieder zu ihr und sie hat

mich auch, ja also meine Oma hat mich sehr, sehr gemocht und haben zu mir, glaub ich, auch

gesagt, also sie haben mich sehr lieb gehabt. Die haben das glaub ich auch zu mir gesagt. Und

da war meine Mutter auch ein Stück eifersüchtig auf mich. Hat sie dann auch gesagt, weil sie

das nie zu ihr gesagt haben. Ähm, ja und irgendwann später kam mehr und mehr so der

Kontakt mit meinen, also zumindest 2 von meinen Tanten. Ähm, und mit denen hab ich dann

irgendwann später auch darüber geredet, aber, n Stück weit, aber, pfff, ich weiß nicht. Da kam

halt auch nicht wirklich was. Die waren auch hilflos. Die wussten auch nicht was sie da

ANHANG DENISE REINHARD

machen sollen, also. So ungefähr, ja irgendwie keine Ahnung, das musst du selber wissen,

oder schlimm und naja in meiner Familie gibt´s auch so. Ja und zu dem Rest der Familie

haben wir auch nicht, keinen Kontakt. Und auch gerade seit dem meine Oma gestorben ist,

97, vom Rest der Familie gar nicht mehr. Nur meine 2 Tanten. Ja und, äh, es haben halt auch

einige aus meiner Familie und so sonst auch halt einige Probleme. Deswegen, ein Onkel von

mir ist spielsüchtig, auch und mein Opa war Alkoholiker. Ähm, ja meine Tante, mit der man

jetzt auch noch Kontakt hat, äh, die ist so joa mehr oder weniger ein Messi. Ähm, joa, also die

haben alle schon n Stück weit ihre Probleme. Ich glaub, also es wurden auch irgendwie noch

mehr 1-2 von den Schwestern meiner Mutter, also meine Tanten, wurden auch missbraucht

damals von dem Freund der Familie, von dem meine Mutter missbraucht wurde.

Hast du dich also nie jemand richtig anvertrauen können?

Ähm, also wo das Ganze so war, stattfand, da hatte ich hauptsächlich eine beste Freundin.

Ähm, joa und mit der hab ich schon einiges geredet. Auch darüber mit meiner Mutter. Aber

ich weiß nicht mehr genau inwieweit. Sie konnte mir auch nicht wirklich ne Hilfe sein. Sie

war sogar 1-2 Jahre jünger als ich, also ja. Ich konnte schon ein Stück weit, ein bisschen mit

ihr darüber reden, ja. Aber es war dann halt eher einfach so, wie man sich über Eltern so, so

ein bisschen, ein Stücke weit unterhält. So halt, so etwas über sie meckern über sie oder ich

weiß nicht, sich beschwert. Und ne, wie gesagt, sie konnte mir auch nicht, nicht helfen. Und

in ihrer Familie war es auch nicht so leicht. Deswegen, dann...

Waren die Gespräche trotzdem für dich in gewisser Weise entlastend?

Eine Entlastung war das schon n Stück weit, klar. Weil, wenn ich mit niemanden hätte drüber

reden können, pfff, joa, also sie war dann auch irgendwo ne Stütze für mich, so dass ich das

Ganze mit durch gehalten habe, irgendwie, ja doch. Ja und später irgendwann hatte ich auch,

da kam ein Mädchen zu uns mit in den Stadtteil, äh, die hatte das auch, dass ihre Mutter, ähm,

diese Angsterkrankung hat. Dass sie kaum mehr vor die Tür gehen kann. Oder ich glaub sie

geht sogar gar nicht alleine vor die Tür. Also sie konnte das natürlich, also mit ihr konnte ich

auch ein Stück weit reden. Also zumindest in der Hinsicht, so. Dass sie das ja auch ganz gut

nachvollziehen konnte.

Hast du mit deiner Mutter über ihre Erkrankung gesprochen?

Wir haben viel über die Erkrankung geredet. Über meine Erkrankung, über ihre Erkrankung.

Also meine Mutter hat bei mir halt versucht zu verstehen, ähm, mit den Essstörungen, wieso

das so ist, äh, wieso ich das mache. Ich hab dann natürlich schon ein paar Mal gesagt, so joa,

mhh, natürlich hat mich dies oder das auch irgendwie belastet. Aber ich hab´s mich dann auch

ANHANG DENISE REINHARD

irgendwie kaum getraut zusagen, weil ich wollte ihr nicht noch mehr Schuldgefühle machen,

weil sie sich ja irgendwo schuldig fühlt. Sie sagte, sie meint, sie dachte, dass sie irgendwas

falsch gemacht hat. Ähm, ja und dann hab ich ja, irgendwann später, haben wir dann auch

über ihre Probleme mehr geredet. Ich weiß nicht, sie hat schon Einsicht gezeigt, äh, wie

gesagt, sie hat halt damals auch schon immer zu mir gesagt, von wegen das ist eigentlich

nichts für deine Ohren, so was sie mir erzählt hat. Dafür bist du eigentlich noch viel zu jung.

Ich sollte das mit irgendeinem Erwachsenem besprechen...und so weiter. Joa, also wir haben

schon relativ offen darüber geredet.

Hatte deine Mutter jemanden, mit dem sie über ihre Probleme reden konnte?

Mit ihren Schwestern, ähm, hab ich sie z.B. nie so richtig drüber reden gehört. Es ist immer

nur so eher angeschnitten, ja gut, vielleicht hat sie das auch gemacht, wenn ich nicht dabei

war. Das weiß ich nicht. Ja und dann hatte sie, pff, sie hatte auch immer nur mal hier und da

eine beste Freundin. Also damals Steilshoop weiß ich nicht, weil wir, äh, als wir da weg

gezogen sind war ich 7. Und danach hat sich die Freundschaft auch so verloren. Und dann

später, Rothenburgsort, von meiner besten Freundin mit der Mutter, die haben sich halt auch

angefreundet und der hat sie schon, später zumindest, auch alles Mögliche erzählt. Aber wie

gesagt, in der Familie lief es halt auch schwierig. Äh, sie war halt auch recht überfordert, mit

irgendwie auch 5 Kindern und mit ihrem Mann, die Ehe lief schlecht und, und tja ich weiß es

nicht, die haben sich dann einfach über ihre Probleme gegenseitig so ausgetauscht. Und meine

Mutter hatte ja auch schon, äh, hat auch schon was versucht, also therapiemäßig. War sie

schon ne Zeitlang Ginsterhof. Weiß gar nicht, 16 oder 18 Wochen lang. Dann war sie für ein

paar Wochen in der Tagesklinik in Bergedorf und ambulant auch irgendwie Therapie. Aber sie

hat das, die hat sie dann irgendwann abgebrochen und, äh, und hat dann auch gesagt, so sie

meinte, sie ist vielleicht auch übertherapiert und keine Ahnung und, ja.

Und mit, ähm, ihrer Angsterkrankung, äh, gerade als das so anfing, da hat sie mir

wahrscheinlich auch ein bisschen mehr Ängste übertragen mit, äh. Ja, so dass sie sich ja vieles

nicht getraut hat. Ähm, allein dieses ja nicht raus zu gehen, das ist ja gerade diese Angst und

dann, äh, hat sie mir das ja auch ein Stück weit mit vermittelt, vor allem mögliche, das sie

dann so Angst hatte auch. Auch früher, auch da hat sie sich auch schon einiges nicht so, nicht

so wirklich getraut, äh, oder war für sie - allein irgendwo anzurufen war puhhh, erst mal so

aufregend und ja. Dadurch kommt das bei mir wahrscheinlich dann auch alles dadurch, ähm,

Selbstunsicherheit, Persönlichkeitsstörung. Das war ja bei mir Diagnose jetzt. Neben den

Essstörungen. Und das die wahrscheinlich auch vorher schon da war.

ANHANG DENISE REINHARD

Wie war das bei euch mit den alltäglichen Aufgaben?

Also ich hab mich seitdem ich 12 war im Grunde eh schon selbst versorgt, wo das mit den

Essstörungen anfing. Weil ich wollte dann ja vieles nicht mehr essen und, und irgendwie,

ähm, ja einkaufen. Ja ich glaub damals haben wir das erst noch ein Stückweit noch zusammen

gemacht. Ja und wo dann bei ihr die Angsterkrankung auch kam, ähm, war dann auch, dass

ich dann viel, doch das ich dann immer regelmäßig allein einkaufen war.

Mit wie viel Jahren fing das an?

Ja wie gesagt, in meinem Kopf ist alles irgendwie so ab 12. So gefühlsmäßig. Aber es kann

auch sein, dass es - ich bin fast der Meinung, dass es mit dem Streit des damaligen

Lebensgefährten, mit ihrem Nervenzusammenbruch, kurz danach kam, das bei ihr mit der

Angsterkrankung.

Wie waren die Aufgaben im Haushalt aufgeteilt?

Der Haushalt war auch schon immer schwierig, weil das, ja weil, war halt auch schon immer

so ne Sache. Meine Mutter war halt immer, äh, also es war immer chaotisch bei uns, weil

meine Mutter dann halt auch so Haushalt, Kochen - das waren, weiß ich nicht, das hatte sie

alles auch nicht so richtig drauf. Also das hat sie alles nicht so richtig hinbekommen. Und

gerade Chaos, so aufräumen, also das weiß ich nicht, das war dann bei ihr auch so, halbwegs

verwahrlost (lacht). Ich hab für mich alleine gekocht. Aber ich hab auch dann irgendwie, dann

nach und nach einiges übernommen. Gerade wo der Alkohol dann dazukam, kam es auch,

dass es immer schlimmer wurde. Dass es dann auch nach und nach ein Stück weit dreckig

wurde. Also ähm, vorher war es einfach immer nur Chaos, das dann vieles, alles Mögliche

rumlag, alles vollgestellt war, der ganze Tisch immer und auf dem Boden lag einiges rum.

Aber ja, pfff, dadurch kam dann auch noch, noch dann so Dreck. Dass sie denn Haushalt auch

immer mehr vernachlässigt hat und joa. Ja und später kam dann auch, ähm, noch so für sie

Computer noch dazu. Ähm, also sie sitzt jetzt eigentlich jeden Tag irgendwie am Computer,

weil das für sie noch, ja noch so n Stück Kontakt nach Außen ist. Braucht sie nicht raus

gehen, kann aber mit Leuten Kontakt haben und ja. Was sie jetzt auch dann auch so macht,

dass sie zumindest regelmäßig, also fast jeden Tag einmal, ja gut, es ist nur die Straße, zu

einem Laden geht und einkauft. Kleinigkeiten. Ein andere Laden, der irgendwie, wo sie über

2 Straßen muss und, äh, da geht sie dann nicht hin, obwohl es günstiger ist. Es ist Penny, das

andere Edeka. Ja und früher war das dann auch, also meistens, ich glaub, sie wollte mich auch

damals, äh, mit der Angsterkrankung, äh, dann auch oft mit beim Einkaufen dabei haben. Hat

mich gebeten das ich mit komme auch. Äh, weil sie sich das alleine dann nicht so getraut hat.

ANHANG DENISE REINHARD

Also war ich dadurch ne Stütze mit für meine Mutter und, und ich hab mich dadurch ja

logischerweise auch noch verantwortlich mit für sie gefühlt.

Hattest du Sorgen selbst zu erkranken?

Pfff, weiß ich gar nicht, kann ich gar nicht genau sagen. Also wie gesagt, also ich weiß auch

selber dieses, dass ich mich, also das ich sehr vernünftig war. Irgendwie, dass ich mich sehr n

Stück weit erwachsen war, auch irgendwie schon anders als die anderen Kinder irgendwie

auch. Dann kam aber irgendwie auch bei mir so ne Schüchternheit n Stück weit dazu. Dass

ich mich irgendwie einerseits sehr erwachsen, anderseits mich auf vieles nicht getraut habe

irgendwie. Das war bei mir auf jeden Fall schon komisch. Gut, ich hab mir dann irgendwie

schon immer ein bisschen Gedanken gemacht, oder weiß ich nicht genau, wie ich das später

dann so hinkriegen soll. Auch so Sachen, wo ich mich Behaupten soll im Leben. Also wie

gesagt, ich auf jeden Fall auch schon gemerkt, dass gegenüber den anderen Kindern war ich

schon anders. Ich hatte dadurch in der Schule schon ein Stück weit Probleme, dass ich so ein

Stück weit Außenseiterin war und ich halt auch recht ruhig war.

Als ich dann, ich hab mich dann ja auch, dann wo meine Probleme so anfingen, habe ich mich

schon auch dafür interessiert, hab, ähm, dann auch einiges gelesen, ähm, joa. Und auch so,

weil ich da ja schon gemerkt habe, das da irgendwie irgendwie, pfff, das alles irgendwie nicht

ganz so richtig oder normal ist wie bei den andern irgendwie. So Psychologie habe ich mich

dann, äh, auch sehr früh so interessiert.

Welche Erfahrungen hast du als Belastung oder auch als Stärkung wahrgenommen?

Ja wie gesagt, n Stück weit halt, dass sie sehr, sehr liebevoll zu mir war. Mir das dadurch, joa,

auch so recht übermittelt hat. So mit, äh, mit andern, für andere Mitgefühl zu haben. Also

Mitgefühl habe ich sehr stark. Ähm, kann mich, pfff, kann mich in anderen Personen

hineinversetzten. Ähm, also das finde ich irgendwo schon ne Stärke, wobei das teilweise ist

das natürlich auch eher das Gegenteil. Weil man sich dann zu sehr hineinversetzen kann, oder

das einen zu sehr mitnimmt irgendwo, wenn jemand anderes dann auch ein Problem hat.

Ähm, ja wie gesagt schon dieses, dass meine Mutter mit mir halt recht früh also, pfff, joa, wie

so mit einer Erwachsenen geredet hat, irgendwo. Und ihre Probleme mir erzählt hat und, ähm,

ANHANG DENISE REINHARD

ja und auch irgendwo, dass sie mehr ne Freundin für mich sein wollte, irgendwie dieses so

dann. Wie gesagt, das Ganze. Dass es keine Regeln gab, das gar nicht so Vorschriften - dieses

irgendwie. Man konnte sich an nichts irgendwie festhalten, so war das dann. Ja so was habe

ich dann auch schon mit gesehen bei anderen, pfff, bei denen lief das ganz anderes...joa.

Hätte eine dauerhafte Beziehung deiner Mutter etwas an der Situation ändern können?

Na, kommt ja immer drauf an wie derjenige ist. Ähm, also die Beziehungen die so hatte, dass,

die liefen ja alle nicht ganz so gut. Ähm, also der wo ich 3 war, der hat sie z.B. dann auch

verlassen, als, ja stimmt, das hat sie mir dann auch erzählt, dass sie ihm irgendwie von

Problemen erzählt hat damals und dass das auch gerade psychisch oder von ihrer

Vergangenheit als Kind, ich weiß es nicht genau. Ähm und ja, das er sie dann verlassen hat.

Dass er dann weg gegangen ist, joa, das war für ihn irgendwie zu viel oder wollte das nicht. Ja

der 97, der, der hat sie nur fertig gemacht. Ähm, naja gut, das kam dann auch noch durch

andere Gründe, weil er hat sich später auch als Kinderschänder herausgestellt. Meine Mutter

hat ihn aufgedeckt oder hat es ganz aufgedeckt. Und mit dem Mann hat sie zusammen gelebt!

Äh, ja, ähm, ja und ihr jetziger Freund, wie gesagt, pfff, also wie gesagt, ich kann da nicht so

ganz aus Erfahrungen sprechen. Weil die Freunde, die so hatte, das war alles nicht so wirklich

ne Hilfe. Na gut, es war vielleicht ne Hilfe, das sie, äh, am Leben geblieben ist. Dass sie sich

nicht vielleicht doch wirklich umgebracht hat oder ich vor allem. Naja, ich eigentlich noch

mehr, aber auch, dass sie sich irgendwie geliebt gefühlt hat. Der Freund von ihr jetzt, der

Lebensgefährte, der hat halt auch so einige Macken und die akzeptiert sie auch irgendwie so

einfach, weil er sie liebt wie sie ist und zu ihren ganzen Probleme oder ihren Erlebnissen und

so, ähm, dazu sagt er auch nicht viel. Ich weiß nicht, er hört sich das an auch, aber, tjoa, keine

Ahnung. Das kann ich nicht so sagen.

Hättest du dir Unterstützung in der Zeit gewünscht?

Also ich denke, wenn mein Vater noch da gewesen wäre, das wär, ähm, dann wär so einiges

wesentliche besser gelaufen. Denke ich, also was meine, aus den Erzählungen meiner Mutter,

wie er so war. Ähm, also z.B. er war also schon sehr intelligent. Er konnte 8 Sprachen

fließend sprechen, er war Abteilungsleiter bei Karstadt. Sie hat ja auch damals bei Karstadt

ANHANG DENISE REINHARD

gearbeitet, so haben sie sich kennen gelernt. Äh, ja z.B. hat sie mir dann davon erzählt, wie sie

es bewundert hat, er konnte Kreuzworträtsel, riesig großes so aus Zeitungen, konnte fast

komplett lösen. Ähm ja, also denke ich halt schon, wenn er halt noch da gewesen wäre, auch

wenn sie dann vielleicht geschieden gewesen wären, aber, ähm, tja das ich dadurch allein von

meiner Persönlichkeit her, äh, viel stärker wäre. Dass vieles einfach wesentlich besser

gelaufen wäre. Vielleicht wäre ich dann sogar irgendwann zu ihm gezogen, statt bei meiner

Mutter zu bleiben. Ich weiß es nicht. Wobei ich hing auch irgendwie sehr an meiner Mutter.

Also vielleicht weil wir halt immer so, so dann halt immer so alleine waren. Nur uns beide

hatten und wie gesagt, sie hat mir ja schon ein sehr, sehr liebesvolles zu Hause irgendwo

geboten oder ja, wie gesagt auch schwierig aber ja. Also ich häng auch jetzt noch ziemlich an

meiner Mutter, trotz der ganzen Sachen.

Triffst du dich mit deiner Mutter regelmäßig?

Ab und an, also ich geh sie so circa alle 2 Wochen mal besuchen. Und telefonieren, joa, jetzt

in letzter Zeit war es relativ wenig, aber es ist halt auch sehr schwierig, weil ich ihren

Lebensgefährten halt komplett aus dem Weg gehe. Also mit dem verstehe ich mich halt

absolut nicht. Und mit dem will ich, gerade jetzt wo ich da nicht mehr wohne, äh, gar nichts

mehr zu tun haben eigentlich. Und deswegen ist es halt auch teilweise schwierig so am

Wochenende, geht dann gar nicht, außer er ist dann mal weg. Ja und ansonsten, ja im Grunde

schon. Zieht mich auch irgendwo dahin. Einmal wie gesagt, wegen der Bindung, dieser engen

Bindung und andererseits irgendwie auch immer noch dass ich mir immer noch Sorgen mir

mache. Ähm, ja und es halt für mich auch immer noch sehr schwierig, wenn dann da

irgendwas, wenn ich dann da bin, teilweise auch, wenn ich das so sehe, wie das da alles so

läuft. Wie es da aussieht allein, die Wohnung und auch wenn ich von ihren Problemen

irgendwas mitbekomme wieder. Das ist dann halt schon sehr schwierig.

An einige Gefühle kann ich mich auch nicht mehr so ganz so richtig dran erinnern, weil

irgendwann habe ich halt auch, irgendwie so, eine Mauer aufgebaut. Ähm, und ich sehe,

vieles ist irgendwie, sind so verschwommene Gefühle – wie, wie unter, ich weiß nicht, wie

unter Milchglas oder so. Also, das kann ich teilweise gar nicht mehr so richtig sagen oder ich

ANHANG DENISE REINHARD

hab‘s halt, also wie gesagt, irgendwann so ne Mauer aufgebaut. Hab mich auch sehr

zurückgezogen. Zuhause auch fast nur noch in meinem Zimmer gewesen. Um mir das mit

meiner Mutter nicht mehr angucken zu müssen. Diesen Gesprächen aus dem Wege zu gehen,

wenn’s ging.

Wie hat sich die Beziehung zu deiner Mutter dadurch verändert?

Ähm, also wie gesagt, von meiner Seite ja schon, wie gesagt, sie hat mir dann halt trotzdem,

des Öfteren gesagt, sie hat mich lieb und...aber ich konnte das dann einfach nicht mehr sagen.

Das war dann irgendwie, ich hab’s natürlich immer noch getan, aber es war halt so, ich konnte

das halt nicht mehr sagen. Das war dann irgendwie, weil weiß ich nicht, weil sie sich ja selber

so zerstört hat und ich weiß nicht und, und, kann ich nicht sagen. Und ja vielleicht auch

irgendwo auch nach und nach, also es war dann mit dem Alkohol, da hat sie mir dann oft

gesagt, ja was ich will jetzt aufhören, sie sieht das selber immer noch bis jetzt nicht ein, dass

sie da wirklich ein Problem hat. Da hat sie mir auch immer wieder gesagt, sie will aufhören.

Dann hat sie doch wieder getrunken…

Wie hast du dich dann gefühlt?

Pfff, joa also irgendwie so Misstrauen und, und, und, und. Ja gut, mittlerweile weiß ich auch

so einiges über Süchte. Dass es halt nicht so einfach ist...Alleine mit mir, weil, ähm, ja das

hab ich bis jetzt noch nicht gesagt, weil seit 2000 habe ich ja, äh, auch Bulimie. Also so seit

dem sie mit ihrem jetzigen Lebensgefährten zusammen wohnt. Ähm, ja gut und bestimmt

auch so durch ihre Probleme, weil die waren ja auch schon gerade auch vorher auch schon da

oder auch das mit dem Alkohol dann. Ähm, ja ich, ich, ja es war halt irgendwie so ziemliche

eine Unsicherheit da, ähm, ja wie, inwieweit kann ich mich jetzt noch auf sie verlassen. In

wieweit kann ich ihr vertrauen. Äh, es ist halt ein ziemlicher Misstrauen da, weil sie dann

teilweise auch gelogen hat, so mit dem Alkohol, so dass man es erst mal noch nicht

mitbekommt, das sie dann doch wieder was trinkt.

Hast du so was wie Wut gefühlt?

ANHANG DENISE REINHARD

Ja, schon auch. Ja und wie gesagt, sie hat mir dann auch teilweise vorgeworfen, ihr geht es so

schlecht, weil ich, dass ich ihr das im Grunde so antue mit meinen Problemen auch, äh. Das

ist, dann auch total irgendwie, pfff, irgendwie, so ja ‚Hallo! Woher kommen wohl so meine

Probleme irgendwo?‘ Na gut, andererseits ist es natürlich auch, ich weiß ja, das sie da

irgendwo auch nichts für kann, für ihre Probleme, weil, ich mein, was in ihrer Kindheit ihr

angetan wurde. Das ist echt schrecklich und dann ist das irgendwie auch kein Wunder und

auch was ihre Eltern ihr angetan haben. Kein Wunder, dass sie so geworden ist, wie sie ist.

Aber andererseits, ja es war schon so eine gewisse Wut. Ja irgendwie, oder auch Ärger, auch

wie sie mich halt auch so erzogen hat. Von den ganzen Regeln und alles. Äh, das ist halt

irgendwie, jetzt, dass ich jetzt weniger Probleme in meinem jetzigen Leben hätte, wenn das

alles viel mehr dagewesen wäre.

Waren dir deine eigenen Probleme bewusst?

Natürlich, also das mit der Magersucht, äh, wie gesagt, das fing dann an, äh, weil dann zu

Hause einige Probleme waren und, äh, und in der Schule war dann halt irgendwie so. Da

entstand so ein kleiner Diätwettbewerb sozusagen und die Mädchen haben sich dann auch

langsam so, äh, pfff, so mehr auf ihren Körper geachtet, geguckt. Ich, ich, bin zu dick und, äh,

und weniger essen, abnehmen und dann haben die halt auch so gesagt von wegen, ich hab

jetzt die letzten Tage so und so wenig gegessen, und so und so viel abgenommen und so

weiter. Ja und dann wollte ich das irgendwie so auch. Auch irgendwie, weil ich so ein

bisschen, so n Stück weit wahrscheinlich dazu gehören wollte. Oder denen, ja oder denen das

beweisen wollte, weil das auch gerade sehr beliebte Mädchen waren. Ähm, ja es war mir, ja es

war mir irgendwie schon bewusst, weiß nicht.

Hast du dir professionelle Hilfe für deine Mutter gewünscht?

Mit 12 war mir das bestimmt auch noch nicht so ganz klar, dass es, was es da so für

Möglichkeiten so gibt ja auch. Ähm, sicherlich oder auch später. Ja und dann hat sie ja

teilweise Hilfe angenommen, aber das hat dann leider auch nicht so geholfen. Auch dann

gerade, ähm, wo der Alkohol dazu kam, weil der das Ganze dann noch eher ... dadurch, äh,

ANHANG DENISE REINHARD

schlägt die Therapie ja auch nicht so an. Eigentlich müsste sie den Alkohol jetzt erst mal

komplett, äh, weg haben, dass sie dann alle ihre Probleme angehen könnte. Ähm, ja das da

war irgendwie schon Hilfe, man denkt eigentlich, gut, es könnte jetzt gut werden, besser

werden, aber dann im Endeffekt. Joa, also weiß ich nicht, weiß nicht so recht, was man sich

da so gedacht hat irgendwie.

Wann bist du ausgezogen bei deiner Mutter?

Letztes Jahr mit, äh, 24. Ich glaube ich bin am 1.9. bin ich ausgezogen.

Wie ist die derzeitige Situation mit deinem Freund?

2007 haben mich, äh, seine Eltern mich, äh, erst so, äh, ja akzeptiert. 1998 sind wir zusammen

gekommen. Wir waren nicht so wirklich häufig bei ihm. Ich hab erst einmal bei ihm

geschlafen. Das war kurz nachdem sie mich dann so akzeptiert haben. Wollte er dann auch

irgendwie unbedingt gerne, dass ich dann mal bei ihm übernachte mit. Ansonsten bin ich nur

da, wenn da irgendwie irgendwelche Feierlichkeiten sind. Ich hab ihm früher auch nicht so

wirklich viel erzählt. Er hat das dann halt eher so mitbekommen und darüber haben wir dann

ein bisschen geredet.

Wie hat sich die Depression auf eure Beziehung ausgewirkt?

Depression war, wahrscheinlich auch, auch ein Stück weit bevor die Angst da war. Ein Stück

weit dass Depressionen schon bei ihr da waren, ähm. Wie gesagt, sie hat ja Probleme mit mir

besprochen. Also es hat ihr immer zu schaffen gemacht mit dem Geld. Das war dann schon

immer irgendwie, äh, das sie mir dann nicht so viel bieten konnte und irgendwie durch ihre, ja

irgendwie durch ihre Vergangenheit, äh. Ich kann es eigentlich gar nicht so genau sagen. Ja

wie gesagt, das mit der Wohnung hat sie meistens nicht so geschafft. Sie hat schon immer mal

wieder aufgeräumt und dann war’s aber auch sehr schnell wieder sehr chaotisch. Das war

meistens wenn Besuch kam. Wenigstens doch noch mal schnell aufräumen und so und dann

hielt es vielleicht 1-2 Tage. Ja vielleicht das Ganze, dass sie das mit dem Haushalt, dass sie

das nicht so hinbekommen hat.

Wie hat sich deine Mutter dir gegenüber verhalten?

ANHANG DENISE REINHARD

Ja das ist ein bisschen schwierig zu sagen. Ich glaub, äh, naja Humor war eigentlich irgendwo

immer da. Ähm, aber das war auch immer noch, wo es ihr ganz, ganz schlecht ging. Oder

auch wo es mir ganz, ganz schlecht geht, ist irgendwie Humor immer noch ein Stück weit da,

also Galgenhumor dann auch irgendwie. So ein Lächeln kriegt man dann doch noch immer

irgendwie hin. Ja das ist irgendwie schwierig zu sagen, ähm, ja es war dann schon auch früher

dann, dass sie dann keine Lust hatte mit mir raus zugehen. Irgendwie so von wegen, du kannst

dich doch alleine beschäftigen. Sie wollte nicht so unbedingt mit mir spielen. Also sie war

eigentlich schon immer recht fröhlich, aber wie gesagt, sie hat es mir dann auch selber gesagt,

so dass sie für alle den Clown gespielt hat, dass sie so ne Maske aufgesetzt hat. So ne

Clownsmakse, das sie nach außen fröhlich war und so weiter. Das hat sie mir dann auch früh

erzählt, dass sie zwar fröhlich war, aber innen drinnen eigentlich sehr traurig.

Sind dir Stimmungsschwankungen aufgefallen?

Schon ein Stückweit Stimmungsschwankungen, aber - so dass es so extrem war wüsste ich

jetzt nicht so richtig. Ja gut, mit der Angsterkrankung kam das Ganze dann mehr. Also da

wurde das dann immer mehr. Das weiß ich auch noch so. Das habe ich noch mehr im Kopf.

Da wurde das dann alles sehr schlimm, weil sie es halt auch sehr belastet hat, das sie dann

alleine nicht mehr so richtig vor die Tür gehen kann. Und gerade mit den Kindern, wie gesagt,

das hat sie ja immer sehr, das hat ihr irgendwie was gegeben, so, ähm, das hat ihr sehr viel

Freude gemacht. Und joa...das war dann auf einmal so weg (lacht).Dann war für sie auch so n

Stück weit der Halt, ihr Halt, den Boden unter den Füßen weggezogen.

Konnte sich deine Mutter mit dir freuen bzw. dir Freude zeigen?

Soweit ich erinnern, äh, kann, eigentlich schon. Also das sie sich schon gefreut hat, wie ich

auch - naja Noten war auch immer so n Thema. Also das hat sie, das war ihr gar nicht wichtig,

dass ich gute Noten mit nach Hause bringe eigentlich. Also natürlich hat sie sich mal gefreut,

aber, ähm, aber es war ihr gar nicht wichtig. Also, da hat sie mich auch nie mal n bisschen,

äh, wie soll man sagen dazu, angestrebt, ne mich animiert, sodass ich mich da wirklich

bemühe oder so und ...ja. Also vielleicht war es bei ihr auch alles, dieses mit den ganzen

Regeln, das sie dafür dann auch nicht, oder für alles so ermutigen und das dafür dann auch

nicht so dir Kraft aufgebracht hat. Dass sich das n Stück weit damit gezeigt hat. Ja und wie

gesagt, ich weiß noch mit Spielen halt, des Öfteren. Als ich noch kleiner war, hatte ich dann

auch meisten auch noch Freunde, mit denen ich die Zeit verbracht hab. Also ich war auch

relativ früh alleine auf dem Spielplatz. So das weiß ich auch noch. Aber irgendwie ja mit

anderen Kindern, ja aber auch alleine und das meine Mutter dann zu Hause war. Gerade mit

ANHANG DENISE REINHARD

Spielen, so das weiß ich eher, dass sie da nicht so mit gemacht hat so richtig. Dass sie dann, ja

ist hieß von ihr: ‚nö kein Bock, nö keine Lust‘ oder so.

Hast du diese Lustlosigkeit noch in andern Situationen bemerkt?

Ja auch so mit Haushalt z.B. oder irgendwo, ja weiß nicht, irgendetwas unternehmen. Dann

teilweise auch privat eher. Also wie gesagt, mit den Pfadfindern haben wir ja schon einiges

unternommen, aber, äh, dann so...dann hat sie auch auf vieles keine Lust gehabt.